Language of document : ECLI:EU:C:2024:37

BESCHLUSS DES VIZEPRÄSIDENTEN DES GERICHTSHOFS

11. Januar 2024(*)

„Rechtsmittel – Streithilfe – Informationsgesellschaft – Gesetz über digitale Dienste – Beschluss zur Benennung von Zalando als ,sehr große Online-Plattform‘ – Verbraucherorganisation – Berechtigtes Interesse am Ausgang des Rechtsstreits“

In der Rechtssache C‑647/23 P(I)

betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 57 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 30. Oktober 2023,

European Information Society Institute o.z. (EISi) mit Sitz in Košice (Slowakei), vertreten durch M. Husovec, Advokát,

Rechtsmittelführer,

andere Parteien des Verfahrens:

Zalando SE mit Sitz in Berlin (Deutschland),

Klägerin im ersten Rechtszug,

Europäische Kommission,

Beklagte im ersten Rechtszug,

erlässt

DER VIZEPRÄSIDENT DES GERICHTSHOFS

nach Anhörung des Generalanwalts M. Szpunar


folgenden

Beschluss

1        Mit seinem Rechtsmittel beantragt das European Information Society Institute o.z. (EISi) die Aufhebung des Beschlusses der Präsidentin der Siebten Kammer des Gerichts der Europäischen Union vom 16. Oktober 2023, Zalando/Kommission (T‑348/23, im Folgenden: angefochtener Beschluss, EU:T:2023:665), mit dem diese seinen Antrag auf Zulassung als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Europäischen Kommission, der Beklagten im ersten Rechtszug in der Rechtssache T‑348/23, zurückgewiesen hat.

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

2        Am 25. April 2023 erließ die Kommission den Beschluss K(2023) 2727 final zur Benennung von Zalando als sehr große Online-Plattform gemäß Art. 33 Abs. 4 der Verordnung (EU) 2022/2065 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Oktober 2022 über einen Binnenmarkt für digitale Dienste und zur Änderung der Richtlinie 2000/31/EG (Gesetz über digitale Dienste) (ABl. 2022, L 277, S. 1) (im Folgenden: streitiger Beschluss).

 Verfahren vor dem Gericht und angefochtener Beschluss

3        Mit Klageschrift, die am 27. Juni 2023 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob Zalando Klage auf Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses.

4        Mit Schriftsatz, der am 6. Juli 2023 bei der Kanzlei des Gerichts einging, beantragte das EISi, in der Rechtssache T‑348/23 als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen zu werden.

5        Mit dem angefochtenen Beschluss wies die Präsidentin der Siebten Kammer des Gerichts diesen Antrag auf Zulassung als Streithelfer mit der Begründung zurück, dass das EISi nicht nachgewiesen habe, ein Interesse am Ausgang des vor dem Gericht anhängigen Rechtsstreits zu haben.

 Rechtsmittelanträge

6        Das EISi beantragt,

–        den angefochtenen Beschluss aufzuheben und

–        ihrem Antrag auf Zulassung als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission in der Rechtssache T‑348/23 stattzugeben.

 Zum Rechtsmittel

 Vorbringen

7        Mit dem zweiten Teil seines einzigen Rechtsmittelgrundes, der zuerst zu prüfen ist, trägt das EISi vor, die Präsidentin der Siebten Kammer des Gerichts habe das in seinem Antrag auf Zulassung als Streithelfer vorgetragene Argument nicht berücksichtigt, dass unabhängig von seiner Repräsentativität die Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses unmittelbar die Wirkung habe, dass er das Recht, auf der Grundlage von Art. 90 der Verordnung 2022/2065 eventuelle Verstöße gegen die Art. 38, 39 und 42 dieser Verordnung gegenüber Zalando zu verfolgen, und das Recht auf Zugang zu bestimmten Daten von Zalando nach Art. 40 Abs. 4 und 12 dieser Verordnung verliere.

 Würdigung

8        Hierzu ist zum einen festzustellen, dass sich im Rechtsmittelverfahren die Kontrolle durch den Gerichtshof insbesondere darauf richtet, zu prüfen, ob das Gericht auf alle vom Kläger vorgebrachten Argumente rechtlich hinreichend eingegangen ist, und zum anderen, dass mit dem Rechtsmittelgrund, mit dem geltend gemacht wird, das Gericht sei auf im ersten Rechtszug vorgebrachte Argumente nicht eingegangen, im Wesentlichen ein Verstoß gegen die Begründungspflicht gerügt wird, die sich aus Art. 36 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, der nach Art. 53 Abs. 1 der Satzung für das Gericht entsprechend gilt, und Art. 117 der Verfahrensordnung des Gerichts ergibt (Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 17. August 2022, SJM Coordination Center/Magnetrol International und Kommission, C‑4/22 P[I], EU:C:2022:626, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

9        Diese Begründungspflicht verlangt nicht, dass das Gericht bei seinen Ausführungen alle von den Parteien des Rechtsstreits vorgetragenen Argumente nacheinander erschöpfend behandelt; die Begründung kann daher implizit erfolgen, sofern sie es den Betroffenen ermöglicht, die Gründe zu erkennen, aus denen das Gericht ihrer Argumentation nicht gefolgt ist, und dem Gerichtshof ausreichende Angaben liefert, damit er seine Kontrolle ausüben kann (Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 17. August 2022, SJM Coordination Center/Magnetrol International und Kommission, C‑4/22 P[I], EU:C:2022:626, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

10      Im vorliegenden Fall geht aus Rn. 10 des angefochtenen Beschlusses hervor, dass die Präsidentin der Siebten Kammer des Gerichts es für die Klärung der Frage, ob das EISi ein Interesse an der Zulassung als Streithelfer in der Rechtssache T‑348/23 hat, für erforderlich gehalten hat, „zunächst zu prüfen, ob das [EISi] eine beträchtliche Zahl von Verbrauchern vertritt“.

11      In den Rn. 11 bis 14 dieses Beschlusses hat die Präsidentin der Siebten Kammer des Gerichts die Auffassung vertreten, dass mit den vom EISi vorgetragenen Argumenten und vorgelegten Beweisen nicht dargetan werden könne, dass es sämtliche europäischen Verbraucher oder zumindest eine beträchtliche Zahl von ihnen vertrete.

12      In Rn. 15 dieses Beschlusses hat die Präsidentin der Siebten Kammer des Gerichts daraus geschlossen, dass das EISi nicht nachgewiesen habe, dass es ein berechtigtes Interesse am Ausgang des Rechtsstreits in der Rechtssache T‑348/23 im Sinne von Art. 40 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union habe.

13      Es ist allerdings festzustellen, dass das EISi, wie es geltend macht, in seinem Antrag auf Zulassung als Streithelfer ausdrücklich vorgetragen hat, dass eine Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses zum einen zur Folge hätte, dass es nicht mehr in der Lage wäre, in seinem Namen auf der Grundlage der Art. 86 und 90 der Verordnung 2022/2065 etwaige Verstöße von Zalando gegen eine Reihe von sehr großen Online‑Plattformen auferlegten Pflichten geltend zu machen, und dass es zum anderen keinen Zugang mehr zu Daten von Zalando nach Art. 40 dieser Verordnung erhalten könne.

14      Die Gründe des angefochtenen Beschlusses beziehen sich jedoch nicht auf dieses Vorbringen und enthalten keine ausdrückliche Antwort darauf. Insbesondere wird in den Rn. 11 bis 14 des angefochtenen Beschlusses lediglich die Repräsentativität des EISi geprüft, ohne darauf einzugehen, inwiefern die Entscheidung des Rechtsstreits in der Rechtssache T‑348/23 geeignet sein könnte, ihm im Antrag auf Zulassung als Streithelfer genannte Rechte aus der Verordnung 2022/2065 vorzuenthalten oder die Reichweite dieser Rechte zu schmälern.

15      Darüber hinaus deutet in Ermangelung jedweder Analyse der Voraussetzungen für die Ausübung dieser Rechte nichts darauf hin, dass die Präsidentin der Siebten Kammer des Gerichts implizit davon ausgehen wollte, dass der fehlende Nachweis der Repräsentativität des EISi bedeutet, dass es auch nicht nachgewiesen habe, dass es tatsächlich Inhaber der Rechte sei, auf die es sich berufen habe.

16      Der angefochtene Beschluss enthält somit keine Begründung, mit der ausdrücklich oder stillschweigend die Zurückweisung der vom EISi im ersten Rechtszug vorgetragenen in Rn. 13 des vorliegenden Beschlusses genannten Argumentation gerechtfertigt werden soll. Daher ist die Begründung des angefochtenen Beschlusses nicht geeignet, dem EISi zu ermöglichen, die Gründe zu erkennen, aus denen die Präsidentin der Siebten Kammer des Gerichts dieser Argumentation nicht gefolgt ist, und dem Gerichtshof ausreichende Angaben zu liefern, damit er seine Kontrolle in Bezug auf die Stichhaltigkeit dieser Gründe ausüben kann.

17      Folglich weist der angefochtene Beschluss einen Begründungsmangel auf.

18      Dieser Begründungsmangel nimmt dem Tenor des angefochtenen Beschlusses die Grundlage.

19      Mit dem in Rn. 13 des vorliegenden Beschlusses genannten vom EISi im ersten Rechtszug geltend gemachten Vorbringen sollte nachgewiesen werden, dass die Entscheidung des Rechtsstreits in der Rechtssache T‑348/23 geeignet ist, seine Rechtsstellung zu ändern. Da ein Antragsteller auf Zulassung als Streithelfer ein unmittelbares Interesse an der Entscheidung des Rechtsstreits hat, wenn diese Entscheidung geeignet ist, seine Rechtsstellung zu ändern (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 1. September 2021, Kommission/HSBC Holdings u. a., C‑806/19 P, EU:C:2021:703, Rn. 8 und die dort angeführte Rechtsprechung), ist nicht auszuschließen, dass mit einer solchen Argumentation, wenn ihr gefolgt würde, das Interesse des EISi auf Zulassung als Streithelfer nachgewiesen werden könnte.

20      Daraus folgt, dass dem zweiten Teil des einzigen Rechtsmittelgrundes stattzugeben und infolgedessen der angefochtene Beschluss in vollem Umfang aufzuheben ist, ohne dass der erste Teil dieses Rechtsmittelgrundes geprüft zu werden braucht.

 Zum Antrag auf Zulassung zur Streithilfe vor dem Gericht

21      Nach Art. 61 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann der Gerichtshof, wenn er die Entscheidung des Gerichts aufhebt, den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist, oder die Sache zur Entscheidung an das Gericht zurückverweisen.

22      Im vorliegenden Fall geht aus den Schriftsätzen des EISi hervor, dass es nicht geltend macht, dass sein Interesse an der Zulassung als Streithelfer aus der Tatsache geschlossen werden sollte, dass es eine beträchtliche Zahl von Verbrauchern vertrete.

23      Folglich ist nicht zu prüfen, ob sein Interesse an der Zulassung als Streithelfer gegebenenfalls aus seiner Eigenschaft als Verbraucherorganisation abgeleitet werden kann.

24      Aus den Rn. 13 und 18 des vorliegenden Beschlusses ergibt sich aber, dass für die Entscheidung über den Antrag des EISi auf Zulassung als Streithelfer zum einen zu prüfen ist, ob es tatsächlich Inhaber von Rechten aus den Art. 40, 86 und 90 der Verordnung 2022/2065 ist, und zum anderen, ob die Entscheidung des Rechtsstreits in der Rechtssache T‑348/23 geeignet ist, ihm diese Rechte vorzuenthalten oder ihre Reichweite zu schmälern.

25      Da eine Entscheidung darüber eine Auslegung der maßgeblichen Bestimmungen der Verordnung 2022/2065 sowie eine Beurteilung der tatsächlichen und rechtlichen Situation des EISi erfordert, die die Präsidentin der Siebten Kammer des Gerichts bei ihrer Prüfung des Antrags auf Zulassung zur Streithilfe nicht vorgenommen hat, ist die Sache an das Gericht zurückzuverweisen.

 Kosten

26      Da die Sache an das Gericht zurückverwiesen wird, ist die Kostenentscheidung vorzubehalten.

Aus diesen Gründen hat der Vizepräsident des Gerichtshofs beschlossen:

1.      Der Beschluss der Präsidentin der Siebten Kammer des Gerichts der Europäischen Union vom 16. Oktober 2023, Zalando/Kommission (T348/23, EU:T:2023:665), wird aufgehoben.

2.      Die Sache wird an das Gericht der Europäischen Union zurückverwiesen.

3.      Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Luxemburg, den 11. Januar 2024

Der Kanzler

 

Der Vizepräsident

A. Calot Escobar

 

L. Bay Larsen


*      Verfahrenssprache: Deutsch.