Language of document : ECLI:EU:C:2014:178

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NILS WAHL

vom 20. März 2014(1)

Rechtssache C‑255/13

I

gegen

Health Service Executive

(Vorabentscheidungsersuchen des High Court [Irland])

„Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – Art. 19 und 20 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Begriffe ‚Aufenthalt‘ und ‚Wohnort‘– Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 – In einem Mitgliedstaat wohnender Bürger, der sich während eines Urlaubsaufenthalts in einem zweiten Mitgliedstaat ein schweres Leiden zugezogen hat – Seit mehr als elf Jahren währender Aufenthalt im zweiten Mitgliedstaat wegen dieser Erkrankung und weil es im ersten Mitgliedstaat an einer Behandlungsmöglichkeit mangelt“





1.        Gesundheitliche Probleme können plötzlich während eines Urlaubsaufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat auftreten. In solchen Fällen ermöglicht es die – mit der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71(2) eingeführte und gegenwärtig aufgrund der Verordnung (EG) Nr. 883/2004(3) geltende – EU-Regelung über die Koordinierung der sozialen Sicherheit, im Aufenthaltsmitgliedstaat eine medizinische Behandlung zu erhalten, deren Kosten vom Wohnmitgliedstaat zu erstatten sind. Ist aber bei einer besonders langen Dauer der Behandlung im Ausland der Wohnmitgliedstaat berechtigt, die Kostendeckung wegen dieser langen Behandlungsdauer einseitig einzustellen? Kann mit anderen Worten die bloße Ausübung des mit diesen Verordnungen verliehenen Rechts möglicherweise zu dessen Verlust führen?

2.        Für Herrn I endete eine Urlaubsreise mit seiner Lebensgefährtin fern von seiner irischen Heimat mit einem – ich kann es nicht anders bezeichnen – Unglück. Aus verschiedenen Gründen lebt er nunmehr am Ort seiner Erkrankung – in Deutschland –, um sich dort behandeln zu lassen. Er ist gewissermaßen eine Art „medizinischer Flüchtling“. Nachdem er jedoch mehr als elf Jahre lang in Deutschland geblieben ist, vertreten der Irish Health Service Executive (HSE, irischer Gesundheitsdienst) und die irische Regierung nunmehr die Ansicht, dass Herr I nicht länger als in Irland wohnhaft angesehen werden könne. Der HSE hat daher angekündigt, die Kosten der Behandlung von Herrn I nicht länger zu tragen. Diese Entscheidung hat zu dem Verfahren vor dem vorlegenden Gericht geführt.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Verordnung Nr. 883/2004

3.        Die Art. 19 und 20 der Verordnung Nr. 883/2004 haben im Wesentlichen Art. 22 der Verordnung Nr. 1408/71 ersetzt(4).

4.        Art. 19 („Aufenthalt außerhalb des zuständigen Mitgliedstaats“) bestimmt:

„(1)      Sofern in Absatz 2 nichts anderes bestimmt ist, haben ein Versicherter und seine Familienangehörigen, die sich in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat aufhalten, Anspruch auf die Sachleistungen, die sich während ihres Aufenthalts als medizinisch notwendig erweisen, wobei die Art der Leistungen und die voraussichtliche Dauer des Aufenthalts zu berücksichtigen sind. Diese Leistungen werden vom Träger des Aufenthaltsorts nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften für Rechnung des zuständigen Trägers erbracht, als ob die betreffenden Personen nach diesen Rechtsvorschriften versichert wären.“

5.        Art. 20 („Reisen zur Inanspruchnahme von Sachleistungen”) sieht vor:

„(1)      Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, muss ein Versicherter, der sich zur Inanspruchnahme von Sachleistungen in einen anderen Mitgliedstaat begibt, die Genehmigung des zuständigen Trägers einholen.

(2)      Ein Versicherter, der vom zuständigen Träger die Genehmigung erhalten hat, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um eine seinem Zustand angemessene Behandlung zu erhalten, erhält Sachleistungen, die vom Träger des Aufenthaltsorts nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften für Rechnung des zuständigen Trägers erbracht werden, als ob er nach diesen Rechtsvorschriften versichert wäre. Die Genehmigung wird erteilt, wenn die betreffende Behandlung Teil der Leistungen ist, die nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats der betreffenden Person vorgesehen sind, und ihr diese Behandlung nicht innerhalb eines in Anbetracht ihres derzeitigen Gesundheitszustands und des voraussichtlichen Verlaufs ihrer Krankheit medizinisch vertretbaren Zeitraums gewährt werden kann.

…“

B –    Verordnung Nr. 987/2009

6.        Art. 11 („Bestimmung des Wohnortes“) der Verordnung (EG) Nr. 987/2009(5) lautet:

„(1)      Besteht eine Meinungsverschiedenheit zwischen den Trägern von zwei oder mehreren Mitgliedstaaten über die Feststellung des Wohnortes einer Person, für die die [Verordnung Nr. 883/2004] gilt, so ermitteln diese Träger im gegenseitigen Einvernehmen den Mittelpunkt der Interessen dieser Person und stützen sich dabei auf eine Gesamtbewertung aller vorliegenden Angaben zu den einschlägigen Fakten, wozu gegebenenfalls die Folgenden gehören können:

a)      Dauer und Kontinuität des Aufenthalts im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats;

b)      die Situation der Person, einschließlich

i)      der Art und der spezifischen Merkmale jeglicher ausgeübten Tätigkeit, insbesondere des Ortes, an dem eine solche Tätigkeit in der Regel ausgeübt wird, der Dauerhaftigkeit der Tätigkeit und der Dauer jedes Arbeitsvertrags,

ii)      ihrer familiären Verhältnisse und familiären Bindungen,

iii)      der Ausübung einer nicht bezahlten Tätigkeit,

iv)      im Falle von Studierenden ihrer Einkommensquelle,

v)      ihrer Wohnsituation, insbesondere deren dauerhafter Charakter,

vi)      des Mitgliedstaats, der als der steuerliche Wohnsitz der Person gilt.

(2)      Können die betreffenden Träger nach Berücksichtigung der auf die maßgebenden Fakten gestützten verschiedenen Kriterien nach Absatz 1 keine Einigung erzielen, gilt der Wille der Person, wie er sich aus diesen Fakten und Umständen erkennen lässt, unter Einbeziehung insbesondere der Gründe, die die Person zu einem Wohnortwechsel veranlasst haben, bei der Bestimmung des tatsächlichen Wohnortes dieser Person als ausschlaggebend.“

II – Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefrage

7.        Herr I ist irischer Staatsangehöriger. Er hat sowohl in Irland als auch im Vereinigten Königreich gearbeitet. Im Sommer 2002, im Alter von 45 Jahren, verbrachte er mit seiner Lebensgefährtin, Frau B, einer rumänischen Staatsangehörigen, einen Urlaub im Ausland.

8.        Während dieses Urlaubs wurde Herr I als Notfallpatient in das Universitätsklinikum Düsseldorf (im Folgenden: Uniklinik) aufgenommen. Zunächst wurde diagnostiziert, dass er an Tetanus erkrankt sei, doch später stellte sich heraus, dass Herr I einen seltenen bilateralen Infarkt seines Hirnstamms erlitten hatte. Er erlitt, offensichtlich aufgrund der Schwierigkeiten bei der Diagnose in Verbindung mit den Folgen des Infarkts, eine schwere Tetraplegie und einen Verlust der Motorik. Kurz nach Mai 2003 wurde bei Herrn I eine genetische Veränderung festgestellt, die sich auf die Zusammensetzung seines Blutes auswirkte. Dieser Umstand erfordert eine ständige Beobachtung und Behandlung. Überdies wurde bei Herrn I seit dem Beginn des Verfahrens vor dem High Court eine Krebserkrankung diagnostiziert, wegen der er ebenfalls behandelt wird(6).

9.        Somit ist Herr I seit August 2002 schwer krank und bedarf der ständigen Pflege und Aufmerksamkeit durch die Fachärzte der Uniklinik. Er ist derzeit vollständig an den Rollstuhl gebunden und kann Arme und Hände nur sehr begrenzt benutzen. Seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus im Jahr 2003 lebt er mit Frau B zusammen, die ihn pflegt. Sie wohnen in einer für Rollstuhlfahrer geeigneten Mietwohnung in Düsseldorf.

10.      Herr I erhält eine Invaliditätsbeihilfe aus Irland(7) und eine kleine Betriebsrente aus dem Vereinigten Königreich. Von Deutschland erhält er keine Beihilfe oder Leistung. Herr I erklärt, wegen seines Gesundheitszustands und der Notwendigkeit einer kontinuierlichen Behandlung sei er gezwungen, in Deutschland zu leben, einem Mitgliedstaat, zu dem er nur wenig Verbindung habe; sein Wunsch sei es jedoch, nach Irland zurückzukehren. Im Einzelnen führt Herr I aus, er verfüge nicht über ein deutsches Bankkonto oder Eigentum in Deutschland, habe jedoch ein irisches Bankkonto und stehe in regelmäßigem Kontakt zu seinen beiden (1991 und 1994 geborenen) Kindern in Irland. Er spreche nicht deutsch und habe auch nicht versucht, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren.

11.      Dem Vorlagebeschluss zufolge hat Herr I seit seiner Erkrankung wenig gearbeitet. Bei verschiedenen Gelegenheiten zwischen 2004 und 2007 hielt er mit Hilfe von Frau B Vorträge an der Universität Düsseldorf gegen Honorar. Für die Zwecke des deutschen Systems der sozialen Sicherheit erklärte Frau B, die dem deutschen System angeschlossen ist, diese Einkünfte als solche von Herrn I. Außerdem akzeptierte sie 2004 ihre betriebsbedingte Entlassung, um auf Vollzeitbasis für Herrn I sorgen zu können. Sie erhält Leistungen bei Arbeitslosigkeit von Deutschland. Nach den Ausführungen des High Court wurde Frau B das deutsche Äquivalent einer Carer’s allowance (Beihilfe für eine Pflegeperson) mit der Begründung verweigert, dass Herr I in Irland wohnhaft sei und nach dem irischen Versicherungssystem keine entsprechende Maßnahme getroffen worden sei.

12.      Seit seiner Erkrankung hat Herr I nur selten Auslandsreisen unternommen. 2004 begab er sich nach Lissabon (Portugal), um dort einen Vortrag zu halten, und einige Male reiste er nach Irland, zuletzt im Jahr 2009. In Anbetracht seines Gesundheitszustands weist der High Court jedoch darauf hin, dass nach übereinstimmender Auffassung der Beteiligten Reisen für Herrn I – zumindest mit Linienflügen – fast unmöglich seien.

13.      Die Kosten der medizinischen Versorgung von Herrn I in Deutschland wurden aufgrund einer in Irland ausgestellten Bescheinigung nach Vordruck E 111 übernommen(8). Diese Bescheinigung fällt unter Art. 19 der Verordnung Nr. 883/2004, wonach ein Versicherter, der sich in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat aufhält, Anspruch auf die Sachleistungen hat, die sich während seines Aufenthalts als medizinisch notwendig erweisen, wobei die Art der Leistungen und die voraussichtliche Dauer des Aufenthalts zu berücksichtigen sind.

14.      Im März 2003 änderte der HSE den Status von Herrn I, indem er ihm mit sofortiger Wirkung eine Bescheinigung nach Vordruck E 112 erteilte, die seither mindestens 20-mal erneuert wurde. Dieser Vordruck entspricht Art. 20 der Verordnung Nr. 883/2004, der die Lage eines Versicherten betrifft, der vom zuständigen Träger die Genehmigung erhalten hat, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um dort eine seinem Zustand angemessene Behandlung zu erhalten.

15.      Am 25. November 2011 verweigerte der HSE Herrn I die Erneuerung der Bescheinigung nach Vordruck E 112 mit der Begründung, dass Herr I im Sinne der EU-Vorschriften über die soziale Sicherheit in Deutschland wohnhaft sei. Daraufhin beantragte dieser beim High Court die gerichtliche Überprüfung mit dem Begehren, den HSE zu verpflichten, ihm den Vordruck E 112 weiter auszustellen.

16.      Der High Court, der Zweifel hinsichtlich der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 883/2004 hat, hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist bei einem versicherten Bürger eines Mitgliedstaats (des ersten Mitgliedstaats), der seit elf Jahren an einer schweren Krankheit leidet, die auf eine schwerwiegende Erkrankung zurückgeht, die sich erstmals äußerte, als er zwar im ersten Mitgliedstaat wohnhaft war, sich aber in einem anderen Mitgliedstaat (dem zweiten Mitgliedstaat) im Urlaub befand, davon auszugehen, dass sich der Betroffene im genannten Zeitraum im zweiten Mitgliedstaat im Sinne von Art. 19 Abs. 1 oder von Art. 20 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 883/2004 „aufhält“, wenn er wegen seines akuten Krankheitszustands und der zweckmäßigen Nähe zu einer fachärztlichen Versorgung tatsächlich gezwungen ist, für die genannte Dauer in diesem Mitgliedstaat zu bleiben?

17.      Der High Court hat den Gerichtshof im Vorlagebeschluss ersucht, im beschleunigten Verfahren nach Art. 105 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung zu entscheiden. Der Präsident des Gerichtshofs hat diesen Antrag auf Vorschlag des Berichterstatters nach Anhörung des Generalanwalts mit Beschluss vom 18. Juli 2013 zurückgewiesen.

18.      Schriftliche Erklärungen sind von Herrn I, vom HSE, von der irischen, der griechischen und der niederländischen Regierung sowie von der Kommission eingereicht worden. In der mündlichen Verhandlung vom 29. Januar 2014 haben Herr I, der HSE, die irische Regierung und die Kommission mündliche Ausführungen gemacht.

III – Prüfung

A –    Allgemeine Bemerkungen

19.      Der vorliegende Fall wirft, sieht man einmal von seinem tragischen Sachverhalt ab, unbestreitbar eine interessante und bedeutsame Frage auf.

20.      Nach einhelliger Meinung war Herr I vor seiner Urlaubsreise nach Deutschland in Irland wohnhaft. Der High Court möchte deshalb mit der Vorlagefrage im Wesentlichen wissen, ob nach den Umständen des vorliegenden Falles nicht mehr gesagt werden kann, dass sich Herr I im Sinne der Art. 1 Buchst. k, 19 und 20 der Verordnung Nr. 883/2004 in Deutschland lediglich „aufhält“.

21.      Ich habe zur Kenntnis genommen, dass die irische Regierung, nachdem sie aufgefordert worden war, sich zum Erfordernis einer mündlichen Verhandlung zu äußern, geantwortet hat, ihr sei daran gelegen, dass der Gerichtshof sein Augenmerk mehr auf den Begriff „Aufenthalt“ und weniger auf den des „Wohnorts“ richte, der zugegebenermaßen im Wortlaut der Vorlagefrage nicht auftaucht. Wie ich jedoch noch näher ausführen werde, sind diese Begriffe ihrem Wesen nach miteinander verknüpft. Es erscheint mir nicht möglich, den Begriff „Wohnort“ bei der Auslegung des Begriffs „Aufenthalt“, auf den die Art. 19 und 20 der Verordnung Nr. 883/2004 Bezug nehmen, außer Betracht zu lassen.

22.      Zudem wirft die vorliegende Rechtssache in einem weiteren Sinne eine Frage auf, die in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht potenziell heikel ist, die Frage nämlich, ob ein Mitgliedstaat die Kosten einer ärztlichen Behandlung, die dort wohnenden Personen zuteilwird, in andere Mitgliedstaaten „exportieren“ kann. So meint die griechische Regierung, die irischen Behörden könnten sich nicht einseitig auf Art. 11 der Verordnung Nr. 987/2009 berufen. Besonders bedeutsam wird dieser Punkt, wenn die Kosten einer solchen Behandlung über die üblichen Kosten einer entsprechenden Behandlung im Wohnmitgliedstaat hinausgehen. Andererseits ist die Geschichte von Herrn I so ungewöhnlich, dass sie eindeutig nicht als typischer Fall angesehen werden kann.

23.      Beim vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen scheinen einige Parameter vom vorlegenden Gericht durch die Formulierungen, die den Rahmen der Frage bilden, klar festgelegt worden zu sein. Der High Court beschreibt nämlich die besonderen Umstände des vorliegenden Falls als eine Situation, in der der Betroffene „wegen seines akuten Krankheitszustands und der zweckmäßigen Nähe zu einer fachärztlichen Versorgung tatsächlich gezwungen ist, für die genannte Dauer in diesem Mitgliedstaat zu bleiben“.

24.      Angesichts der Tatsache, dass Herr I nicht zu reisen vermag (zumindest nicht mit Linienflügen), führt der High Court im Vorlagebeschluss weiter aus, es sei nicht anzunehmen, dass Herr I unter den jetzigen Umständen nach Irland zurückkehren könnte oder müsste, um sich dort einer medizinischen Untersuchung zu dem Zweck zu unterziehen, eine vorherige Genehmigung für eine ärztliche Behandlung im Ausland zu erhalten.

25.      Jedenfalls ist nicht völlig klar, ob Herrn I gegenwärtig eine vergleichbare Behandlung in Irland zuteilwerden könnte. Er macht geltend, eine solche Behandlung sei dort nicht verfügbar (zumindest sei der HSE außerstande, ihm eine solche Behandlung anzubieten und dabei gleichzeitig die seine Pflege ergänzenden Anforderungen, wie die Notwendigkeit einer angemessenen Unterbringung, zu erfüllen). Der HSE führt seinerseits in seinen schriftlichen Erklärungen – recht paradoxerweise – aus, dass die Kosten einer Behandlung von Herrn I in Deutschland deutlich niedriger seien, als es die Kosten einer Behandlung in Irland wären, wenn er dorthin zurückkehren sollte(9). Dies ist allerdings eine tatsächliche Frage, über die das nationale Gericht zu befinden hat.

26.      In der Folge werde ich mich zunächst dem Begriff „Wohnort“ zuwenden, mit dem sich der Gerichtshof bereits mehrmals auseinandergesetzt hat. Anschließend werde ich anhand der Umstände des vorliegenden Falls und des Vorbringens der Beteiligten, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, den Begriff „Aufenthalt“ untersuchen.

27.      Schließlich bedarf es noch der nachstehenden Klarstellungen zur zeitlichen Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 883/2004. Zwar war zum Zeitpunkt der plötzlichen Erkrankung von Herrn I die Verordnung Nr. 1408/71 anwendbar, doch ist sie inzwischen durch die Verordnung Nr. 883/2004 ersetzt worden. Wie die Kommission dargelegt hat, hat sich aber die diesbezügliche Rechtslage nach der neuen Verordnung im Großen und Ganzen sachlich nicht geändert(10). Jedenfalls wurde die streitige Entscheidung des HSE, mit der die Deckung der künftigen Behandlungskosten von Herrn I abgelehnt wurde, am 25. November 2011 und damit nach Inkrafttreten der Verordnung Nr. 883/2004 getroffen. Ich werde deshalb bei meiner Prüfung im Einklang mit dem Wortlaut der Vorlagefrage auf die jüngere Verordnung abstellen.

B –    Der Begriff „Wohnort“ im Sinne der Verordnung Nr. 883/2004

28.      Nach Art. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 bezeichnet „Wohnort“ den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts einer Person.

29.      Diese schlichte Definition beruht auf der Rechtsprechung des Gerichtshofs, die zu diesem Begriff weitere Hilfestellung gibt. Der Gerichtshof hat nämlich bereits in frühen Jahren und seither im Zusammenhang mit der nach der Verordnung Nr. 1408/71 auf Arbeitnehmer anwendbaren Regelung entschieden, dass der Wohnort in dem Mitgliedstaat liegt, „in dem sich auch der gewöhnliche Mittelpunkt [der] Interessen [des Arbeitnehmers] befindet“, und dass, wenn „ein Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat über einen festen Arbeitsplatz [verfügt,] vermutet [wird], dass er dort wohnt, auch wenn er seine Familie in einem anderen Staat zurückgelassen hat“(11). Diese Vermutung spiegelt sich nunmehr in Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 883/2004 wider. Demgemäß wird der Wohnort mit dem Mittelpunkt der Interessen einer Person gleichgesetzt.

30.      Aus eben diesem Grund kann ein Versicherter seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht gleichzeitig in zwei oder mehr Mitgliedstaaten haben(12).

31.      Hinsichtlich der maßgeblichen Kriterien für die Feststellung des Mittelpunkts der Interessen einer Person hat der Gerichtshof im Urteil Swaddling ausgeführt, zu berücksichtigen seien „insbesondere die Familiensituation des Arbeitnehmers, die Gründe, die ihn zum Wandern veranlasst haben, die Dauer des Wohnens, gegebenenfalls die Innehabung einer festen Anstellung und die Absicht des Arbeitnehmers …, wie sie sich aus einer Gesamtbetrachtung ergibt“(13).

32.      Diese Kriterien finden im Einklang mit dem zwölften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 987/2009 nunmehr ihren Niederschlag in deren Art. 11(14). Wie bereits im Wesentlichen von der griechischen und der niederländischen Regierung sowie der Kommission vorgetragen worden ist, enthält diese Bestimmung, obwohl sie sich auf Meinungsverschiedenheiten zwischen den zuständigen Trägern von zwei oder mehreren Mitgliedstaaten bezieht und daher auf die beim vorlegenden Gericht anhängige Rechtssache nicht unmittelbar anwendbar ist, doch eine hilfreiche Aufzählung, mit der die maßgeblichen Kriterien für die Bestimmung des Wohnorts eines Versicherten kodifiziert worden sind. Wie Herr I, die niederländische Regierung und die Kommission bin ich der Auffassung, dass die Aufzählung nicht abschließend ist(15), und ich pflichte Herrn I und der Kommission bei, dass für die in Art. 11 Abs. 1 niedergelegten Kriterien keine Rangfolge festgelegt worden ist. Ganz wichtig ist es nämlich, im Gedächtnis zu behalten, dass der Gerichtshof im Urteil Swaddling klargestellt hat, dass „die Dauer des Wohnens in dem [Mitgliedstaat] nicht zum Begriff des Wohnorts [gehört]“(16).

33.      Darüber hinaus ist zu beachten, dass Art. 11 Abs. 3 Buchst. a bis d der Verordnung Nr. 883/2004 einige konkrete Beispiele für Situationen mit Anknüpfungspunkten zu einem Mitgliedstaat aufführt, die es diesem erlauben, seine Rechtsvorschriften gegenüber einem Versicherten zur Anwendung zu bringen. Am häufigsten sind die Situationen, in denen der Betreffende in einem Mitgliedstaat beschäftigt ist oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt. Obwohl diese spezifischen Anknüpfungspunkte vorbehaltlich der Art. 12 bis 16 dieser Verordnung dem allgemeineren Kriterium des Wohnorts vorgehen(17), lassen sie sich auch einfach als besonderer Ausdruck des Wohnortsprinzips ansehen. Insoweit sollen sie nur unterstreichen, dass die Anwendbarkeit der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats über die soziale Sicherheit eine besondere Verbindung zu diesem Mitgliedstaat, sei es über den Wohnort oder auf andere Weise, voraussetzt.

34.      Schließlich sollte auch nicht übersehen werden, dass es in vielen Fällen, die den Begriff „Wohnort“ im Zusammenhang mit der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit betreffen, um die Frage ging, ob der Versicherte, soweit er eine Leistung von einem unwilligen Mitgliedstaat begehrte, den Status einer in diesem Mitgliedstaat wohnhaften Person erlangt hatte(18). Der vorliegende Fall betrifft jedoch die umgekehrte Situation: Unter welchen Umständen kann ein Versicherter diesen Status und die entsprechenden Leistungen verlieren(19)?

35.      Nachdem ich versucht habe, das Recht zum Begriff „Wohnort“ zusammenzufassen, will ich nun dazu übergehen, mich im Licht der besonderen Merkmale des vorliegenden Falls näher mit dem Begriff „Aufenthalt“ zu befassen.

C –    Der Begriff „Aufenthalt“ im Sinne der Verordnung Nr. 883/2004

36.      Meines Wissens hat der Gerichtshof den Begriff „Aufenthalt“ im Sinne der Verordnung Nr. 883/2004 bisher noch nicht geklärt. Daher möchte ich folgende Überlegungen anstellen.

37.      Nach der englischen Sprachfassung von Art. 1 Buchst. k der Verordnung Nr. 883/2004 hat „stay“ (Aufenthalt) die Bedeutung von „temporary residence“ (vorübergehender Aufenthalt).

38.      Demgemäß nimmt die Definition von „stay“ in Art. 1 Buchst. k der englischen Sprachfassung der Verordnung Nr. 883/2004 auf den Begriff „residence“ Bezug, wenn auch mit dem Attribut „temporary“. Insofern handelt es sich um einen Zirkelschluss, der nicht sehr hilfreich ist. Gerade dieser Umstand macht aber deutlich, dass die beiden Begriffe entgegen dem von der irischen Regierung vertretenen Standpunkt nicht völlig getrennt behandelt werden können.

39.      Zur zutreffenden Auslegung des Begriffs „stay“ sind verschiedene Ansichten vorgetragen worden.

40.      Die irische Regierung warnt vor einer gekünstelten Auslegung der Art. 19 und 20 der Verordnung Nr. 883/2004 und macht geltend, das Wort „temporary“ in der Definition des Begriffs „stay“ sollte in seiner gewöhnlichen Bedeutung als „von begrenzter Dauer, nicht ständig“ verstanden werden. Auch sei „stay“ nicht gewöhnlich oder ständig, und andere Sprachfassungen der Verordnung Nr. 883/2004 stützten die Ansicht, dass unter „stay“ der Besuch eines anderen Mitgliedstaats zu verstehen sei (etwa die französische Fassung, in der das Wort „séjour“ gebraucht werde). Der HSE weist darauf hin, dass eine der gewöhnlichen Bedeutungen von „to stay“ die sei, „an einem bestimmten Ort vorübergehend als Besucher oder Gast zu leben“, und dass man dieser Bedeutung Gewalt antäte, beschriebe man die Situation von Herrn I in der Weise, dass er sich in Deutschland vorübergehend aufhalte.

41.      Dazu möchte ich erstens bemerken, dass, wie in Nr. 37 der vorliegenden Schlussanträge festgestellt worden ist, „stay“ in der englischen Sprachfassung der Verordnung Nr. 883/2004 als „temporary residence“ definiert ist. Da „residence“ (Wohnort) wiederum als „the place where a person habitually resides“ (Ort des gewöhnlichen Aufenthalts einer Person) definiert ist, lässt sich „temporary residence“ zwanglos dahin auslegen, dass er den Ort bezeichnet, „where a person resides temporarily“ (Ort des vorübergehenden Aufenthalts einer Person). Dementsprechend könnte, wenn man sich bewusst macht, dass der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung den Wohnort mit dem Ort gleichgesetzt hat, an dem sich der gewöhnliche Mittelpunkt der Interessen einer Person befindet, der Aufenthaltsort dahin verstanden werden, dass er den Ort bezeichnet, an dem sich der vorübergehende Mittelpunkt der Interessen einer Person befindet.

42.      Zweitens besteht – nach der gleichen Logik wie derjenigen der in den Nrn. 30 und 38 der vorliegenden Schlussanträge entwickelten Argumente – meines Erachtens insofern eine strukturelle Verknüpfung zwischen den Begriffen „stay“ und „residence“, als ein Aufenthalt einen Wohnort an einem anderen Ort voraussetzt. Daher muss das zur Bestimmung des Wohnorts des Versicherten herangezogene Kriterium die negative Folge haben, dass dieser Ort nicht der Aufenthaltsort sein kann.

43.      Drittens wird – was bedeutsamer ist – der Begriff „stay“ durch die Verwendung des Wortes „temporary“ näher bestimmt. „Temporary“ bedeutet nicht endgültig, sondern vorübergehend. Daher impliziert „temporary“ keine feste Dauer. Wie die Kommission meine ich, dass weder Art. 19 noch Art. 20 der Verordnung Nr. 883/2004 eine besondere zeitliche Begrenzung der Aufenthaltsdauer regelt. Ein Aufenthalt muss mit anderen Worten nicht notwendigerweise ein Besuch von kurzer Dauer sein.

44.      Unterstellt man, das Wort „séjour“ würde im Französischen einen Besuch von kürzerer Dauer bezeichnen, genügt im Übrigen der Hinweis, dass die unterschiedlichen Sprachfassungen nicht zweifelsfrei in die von der irischen Regierung und vom HSE befürwortete Richtung weisen(20). Vielmehr wird das Vorbringen der irischen Regierung und des HSE durch eine systematische Auslegung der Verordnung Nr. 883/2004 widerlegt, wie in den folgenden beiden Abschnitten erläutert werden soll.

45.      Wie Herr I zutreffend bemerkt hat, umfasst der in Art. 19 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 883/2004 genannte Begriff „Sachleistungen“ nach der Definition des Art. 1 Buchst. va Ziff. i dieser Verordnung (in ihrer geänderten Fassung) – einer Bestimmung, die auf Titel III Kapitel 1 Anwendung findet, in dem sich die Art. 19 und 20 befinden – auch Sachleistungen bei Pflegebedürftigkeit(21). Somit beruht die Systematik der Verordnung Nr. 883/2004 selbst schon auf der Annahme, dass sich ein Versicherter über längere Zeit in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten und Sachleistungen erhalten kann.

46.      Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 1408/71 in Art. 22 Abs. 1 Ziff. i eine Bestimmung enthielt, wonach „[sich] die Dauer der Leistungsgewährung … nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates [richtet]“. Diese Bestimmung findet aber nach der Neufassung dieser Verordnung weder in Art. 19 noch in Art. 20 der Verordnung Nr. 883/2004 ihren Niederschlag. Stellt man sie nämlich der neuen Definition von „Sachleistungen“ in Art. 1 Buchst. va Ziff. i der Verordnung Nr. 883/2004 gegenüber, stellt sich die Frage, ob die Mitgliedstaaten die Gewährung von Sachleistungen einseitig zeitlich begrenzen können(22).

47.      Gleichwohl macht die irische Regierung geltend, eine teleologische Auslegung des Begriffs „stay“ schließe die Folgerung aus, dass sich Herr I in Deutschland nur aufhalte. Nach ihrer Ansicht ist eine Person weder nach den Verträgen noch nach der Verordnung Nr. 883/2004 berechtigt, das System der sozialen Sicherheit, dem sie angeschlossen ist, frei zu wählen. Bei dieser Verordnung handele es sich um einen Koordinierungsrechtsakt, der sicherstellen solle, dass auf eine bestimmte Person ein einziges System anwendbar sei. Hätte Herr I, so die irische Regierung, Anspruch auf Kostendeckung nach dem deutschen System, würde ein damit konkurrierender Anspruch darauf, dem irischen System angeschlossen zu bleiben, dem gesamten Zweck des Systems zuwiderlaufen. Sollte festgestellt werden, dass sich Herr I in Deutschland aufhalte, könnte daraus geschlossen werden, dass er nicht durch das deutsche System der sozialen Sicherheit gedeckt sei; das wäre aber nach Ansicht der irischen Regierung mit dem Gesamtzweck der Verordnung unvereinbar.

48.      Bevor ich mich umfassend mit dem Standpunkt der irischen Regierung zur teleologischen Auslegung des Begriffs „stay“ auseinandersetze, möchte ich mich kurz dem Argument dieser Regierung widmen, dass Herr I Anspruch auf Beitritt zum deutschen System der sozialen Sicherheit habe.

49.      Sowohl die irische Regierung als auch der HSE machen geltend, trotz der Ansicht des High Court, dass „[d]er vorliegende Fall … eher zwischen [Art. 19 und Art. 20 der Verordnung Nr. 883/2004] angesiedelt [ist]“, bestehe nicht die Gefahr einer Lücke in der Kostendeckung für Herrn I. Der HSE trägt seinerseits vor, dass „die deutschen Behörden die Behandlungskosten [von Herrn I] decken werden, wenn er ihrem System angeschlossen ist“, und dass, „soweit dem HSE bekannt, die maßgeblichen deutschen Behörden mit einem Wechsel von Herrn I zu ihrem System für die Zwecke seiner medizinischen Behandlung einverstanden waren“. In Anbetracht der ersten Bemerkung erklärt die irische Regierung, dass „[Herr I] dem deutschen System beitreten [kann], sofern er kooperier[t] und dabei einen entsprechenden Antrag stell[t]“, und weiter, dass „[Herr I] Anspruch auf Beitritt zum deutschen System hat“.

50.      Sieht man einmal davon ab, dass die deutsche Regierung keine dieser Angaben bestätigt hat, treffen die Ausführungen der irischen Regierung und des HSE durchaus zu. Wie bereits ausgeführt, kann im Sinne der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit niemand gleichzeitig mehrere Wohnorte haben. Ist Herr I nicht in Irland wohnhaft, so kommt er für die Zwecke der Verordnung Nr. 883/2004 als in Deutschland wohnhaft in Betracht. Sofern sich der Mittelpunkt seiner Interessen dort befindet, steht es ihm frei, nach dem Verfahren des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009(23) bei den zuständigen deutschen Trägern einen Antrag auf Beitritt zum System der sozialen Sicherheit in Deutschland zu stellen.

51.      Das entspricht jedoch offensichtlich nicht dem Wunsch von Herrn I, und die Erklärungen der irischen Regierung und des HSE scheinen mir ganz bewusst neben der Sache zu liegen. Die vom Gerichtshof erbetene Auskunft betrifft gerade die Frage, ob von einer Person in der Lage von Herrn I gesagt werden kann, dass sie sich nach wie vor im Behandlungsmitgliedstaat nur „aufhält“, und ob demnach der ursprüngliche Wohnmitgliedstaat oder aber der Behandlungsmitgliedstaat für die anhaltende (vermutlich kostspielige) ärztliche Behandlung zahlen muss, die eine Person wie Herr I benötigt.

52.      Auch hat die irische Regierung zwar zutreffend darauf hingewiesen, dass Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 von einem Versicherten verlangt, mit dem maßgeblichen zuständigen Träger zusammenzuarbeiten, damit dieser die auf ihn anwendbaren Rechtsvorschriften bestimmen kann, doch gilt eine solche Verpflichtung nach Art. 3 Abs. 4 dieser Verordnung auch umgekehrt gegenüber dem Betroffenen(24).

53.      Übrigens besteht meines Erachtens eine solche Kooperationspflicht – nach dem letzten Satz von Art. 3 Abs. 4 der Verordnung Nr. 987/2009 in Verbindung mit Art. 11 Abs. 1 und, allgemeiner, Art. 20(25) dieser Verordnung sowie dem in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit – auch im Verhältnis zu den Trägern anderer beteiligter Mitgliedstaaten, wenn ein zuständiger Träger die einer Person nach seinen Rechtsvorschriften zu zahlenden Leistungen begrenzen oder ablehnen will, weil der Betroffene seinen Wohnort in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat(26). Diesen Trägern muss Gelegenheit gegeben werden, zu erklären, ob sie mit der Feststellung, dass der Betroffene seinen Wohnort geändert hat, einverstanden sind, da klar ist, dass diese Feststellung wahrscheinlich finanzielle Folgen für sie haben wird. Die entgegengesetzte Auffassung würde Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 die Wirkung nehmen, die gerade darin besteht, Meinungsunterschiede zwischen den Trägern von zwei oder mehreren Mitgliedstaaten über den Wohnsitz einer Person auszuräumen.

54.      In diesem Zusammenhang kann ich nicht umhin, festzustellen, dass der Vorlagebeschluss von einiger gegenseitiger Korrespondenz zwischen dem HSE und der Kommission abgesehen keine Angaben über eine Vereinbarung zwischen den irischen und den deutschen Behörden enthält(27). Angesichts dessen kann ich nicht erkennen, wie die Behauptung, dass Herr I nicht mit dem oder den maßgeblichen Träger(n) zusammengearbeitet habe, die irischen Behörden von ihrer entsprechenden Pflicht zur Kooperation mit den entsprechenden deutschen Stellen hätte entbinden können(28).

55.      Daher sollte auf das Vorbringen der irischen Regierung und des HSE zur Bereitschaft der deutschen Behörden, den Beitritt von Herrn I zu ihrem System der sozialen Sicherheit zuzulassen und die finanzielle Verantwortung für seine Behandlung zu tragen, nicht näher eingegangen werden.

56.      Ich wende mich nunmehr wieder dem Zweck der Verordnung Nr. 883/2004 zu, zu dem ich mich bereits bei anderer Gelegenheit(29) in dem Sinne geäußert habe, dass diese Verordnung die in den Mitgliedstaaten geltenden Systeme der sozialen Sicherheit koordiniert. Sie sucht das in Art. 48 AEUV festgelegte Ziel dadurch zu erreichen, dass die nachteiligen Wirkungen, die die Ausübung der Freizügigkeit für Arbeitnehmer in Bezug auf den Genuss von Leistungen der sozialen Sicherheit durch sie und ihre Familienangehörigen haben könnte, verhindert werden(30). In Übereinstimmung mit ihrem vierten Erwägungsgrund(31) schafft die Verordnung Nr. 883/2004 aber kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit, sondern lässt unterschiedliche nationale Systeme der sozialen Sicherheit weiterbestehen und soll diese nur koordinieren. Nach Art. 11 Abs. 1 dieser Verordnung unterliegen die Personen, für die sie gilt, „den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats“, wobei diese Rechtsvorschriften nach ihrem Titel II zu bestimmen sind(32). Die Verordnung lässt somit unterschiedliche Systeme bestehen, die zu unterschiedlichen Forderungen gegen unterschiedliche Träger führen, gegen die dem Leistungsberechtigten unmittelbare Ansprüche entweder allein nach dem nationalen Recht oder nach dem erforderlichenfalls durch Unionsrecht ergänzten nationalen Recht zustehen(33).

57.      Deshalb wird mit dem durch die Verordnung Nr. 883/2004 geschaffenen Koordinierungsmechanismus im Ergebnis bezweckt, einen Mitgliedstaat als für die Ansprüche der Versicherten letztlich verantwortlich zu bestimmen. Umgekehrt hat diese Verordnung ergänzend zum Ziel, Versicherte an der Geltendmachung der Verantwortlichkeit anderer Mitgliedstaaten zu hindern, wenn insoweit keine unmittelbaren Ansprüche bestehen. In monetärer Hinsicht dient die Verordnung Nr. 883/2004 somit, wenn auch nur mittelbar, zudem dazu, dem Grundsatz der finanziellen Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten Grenzen zu setzen.

58.      Daher stellt das durch die Verordnung Nr. 883/2004 geschaffene System den Versuch dar, das naturgegebene Spannungsverhältnis aufzulösen, das zwischen dem Erfordernis, die Gewährung von Leistungen an Versicherte zu erleichtern, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, und dem Erfordernis besteht, die allgemeinen Steuermittel derjenigen Mitgliedstaaten zu schützen, die für diese Versicherten nach den nationalen oder den unionsrechtlichen Vorschriften über die soziale Sicherheit nicht eintreten müssen.

59.      Angesichts dessen ist es nicht ganz korrekt, wenn die irische Regierung vorbringt, dass die Verordnung Nr. 883/2004 einer Person keinerlei Recht gebe, das System der sozialen Sicherheit zu wählen, dem sie beizutreten wünsche. Im Einklang mit dem grundlegenden Prinzip der Freizügigkeit, das diese Verordnung fördern will, resultiert nämlich der Ort, an dem sich eine Person gewöhnlich aufhält, von Anfang an in ganz erheblichem Maße aus einer zutiefst persönlichen Entscheidung. Diese Entscheidung kann z. B. die sein, in einem anderen Mitgliedstaat gleichberechtigt mit dessen Angehörigen leben und arbeiten zu wollen oder eben nicht.

60.      In gleicher Weise kann in unvorhergesehenen medizinischen Notfällen nicht sinnvoll von einer „Entscheidung“ gesprochen werden, und die Situation einer Person, die gezwungen ist, sich in einem Mitgliedstaat einer ärztlichen Behandlung zu unterziehen, kann nicht mit derjenigen einer Person verglichen werden, die sich in einer Lage befindet, in der sie sich zu dieser Behandlung aus freien Stücken entscheiden kann. Tatsächlich hat Herr I nach dem Vorlagebeschluss – dem einzigen Bezugsrahmen für den Gerichtshof, was den Sachverhalt dieser Rechtssache angeht – zweifelsohne nicht die Möglichkeit einer Wahl. Das vorlegende Gericht betont, dass Herr I seit elf Jahren an einer schweren Krankheit leide, die auf eine schwerwiegende Erkrankung zurückgehe, die erstmals aufgetreten sei, als er sich in Deutschland im Urlaub befunden habe, und dass er wegen seines akuten Krankheitszustands und der zweckmäßigen Nähe zu einer fachärztlichen Versorgung nunmehr faktisch gezwungen sei, in Deutschland zu bleiben.

61.      Ich stimme daher nicht mit der Auffassung der irischen Regierung überein, eine teleologische Auslegung der Verordnung Nr. 883/2004 führe zu dem Schluss, dass sich eine Person in der Lage von Herrn I gewissermaßen dafür „entscheide“, in Deutschland zu bleiben, und sich deshalb dort gewöhnlich aufhalte. Die Tatsache, dass der HSE Herrn I für seine Behandlung ohne Unterbrechung die Vordrucke E 112 ausgestellt hat, spricht nämlich für sich(34). Jedenfalls muss bei der Prüfung der Frage, ob Herr I seinen Wohnort frei wählen kann, sein gegenwärtiger Gesundheitszustand berücksichtigt werden, der sich unstreitig über die Jahre verschlechtert hat.

62.      Das Hauptargument zur Stützung der Ansicht, dass sich Herr I im Sinne der Art. 19 und 20 der Verordnung Nr. 883/2004 in Deutschland nicht mehr nur „aufhalte“, besteht darin, dass er dort schon über elf Jahre lebe. Tatsächlich trägt die niederländische Regierung, insoweit im Wesentlichen unterstützt durch die irische Regierung und den HSE, vor, dass das Verbleiben in einem anderen Mitgliedstaat für längere Zeit von großer Bedeutung für die Bestimmung des Wohnorts sei.

63.      Ich bin nicht dieser Meinung. Sie wird im Wesentlichen widerlegt durch die oben wiedergegebenen Ausführungen im Urteil Swaddling(35) sowie in anderen, ähnlichen Urteilen(36).

64.      Meines Erachtens genügt nämlich die bloße Tatsache, dass sich ein Versicherter in einem Mitgliedstaat aufhält, um dort eine medizinische Behandlung für eine Dauer zu erhalten, die als lang (oder sogar als sehr lang) beschrieben werden mag, als solche nicht für eine Bejahung – oder aber Verneinung – des gewöhnlichen Aufenthalts. Eine solche Aufenthaltsdauer hat nämlich, weil der Betroffene schließlich gewillt ist, wieder gesund zu werden und nach Hause zurückzukehren, nicht automatisch zur Folge, dass der vorübergehende Mittelpunkt seiner Interessen zum gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Interessen wird(37).

65.      Diese Auffassung wird durch Art. 25 Abschnitt A Abs. 3 der Verordnung Nr. 987/2009(38) erhärtet. Der Sinn und Zweck dieser Bestimmung scheint zu bestätigen, dass ein Versicherter, der dringend einer ärztlichen Behandlung bedarf, während er sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, nicht gezwungen werden sollte, diese Behandlung zu unterbrechen, um zu dem Zweck, sich im Wohnmitgliedstaat um eine entsprechende Behandlung zu bemühen, dorthin zurückzukehren, wenn hiervon aus medizinischen Gründen abzuraten wäre. Der Gerichtshof hat nämlich befunden, dass selbst der Umstand, dass die durch die Entwicklung des Gesundheitszustands des Versicherten während seines vorübergehenden Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat erforderliche Behandlung möglicherweise mit einer chronischen Erkrankung und deshalb einer anhaltenden oder langwierigen Krankheit zusammenhängt, nicht ausreicht, um dem Betroffenen diese Behandlung zu verwehren(39).

66.      Aus dem gleichen Grund halte ich die Auffassung für inkohärent, dass Art. 11 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 den Willen eines Versicherten niedriger einstufe als die in Art. 11 Abs. 1 aufgeführten objektiven Kriterien. Aus der letztgenannten Bestimmung folgt nämlich, dass es auf den Willen des Versicherten nur ankommt, wenn der Wohnort nicht auf der Grundlage der in Art. 11 Abs. 1 aufgeführten Kriterien festgestellt werden kann. Zwar bezweckt diese Verordnung u. a. die Kodifizierung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den für die Frage des gewöhnlichen Aufenthalts maßgeblichen Kriterien. Ich gehe jedoch davon aus, dass der Gerichtshof im Urteil Swaddling(40) keine Hierarchie zwischen den einzelnen zu berücksichtigenden Kriterien errichtet hat und seine Ausführungen nicht dahin zu verstehen sind, dass der Wille, auch wenn er letztlich durch die gegebenen Umstände bestimmt wird, nicht den gleichen Stellenwert wie die übrigen maßgeblichen Kriterien hat. Der Mittelpunkt der Interessen einer Person muss nämlich anhand einer umfassenden Prüfung aller verfügbaren Informationen über die maßgeblichen Umstände ermittelt werden, wie auch die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen anerkennt.

67.      Jedenfalls ist Art. 11 der Verordnung Nr. 987/2009, wie ich in Nr. 32 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, auf den vorliegenden Fall nicht unmittelbar anwendbar. Daher fällt der Umstand, dass diese Verordnung den Willen möglicherweise als zweitrangiges Kriterium einstuft, bei der Prüfung der Frage, wo sich der Mittelpunkt der Interessen von Herrn I befindet, nicht ins Gewicht.

68.      Auch möchte ich darauf hinweisen, dass nach Ansicht des Gerichtshofs nichts in der Verordnung Nr. 1408/71 die Annahme zulässt, dass Geldleistungen bei Invalidität entzogen werden dürfen, weil der Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Staates wohnt, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat(41). Ich sehe keinen Grund, warum im Hinblick auf die Erbringung von Sachleistungen in Form einer ärztlichen Behandlung, die einer Person in der gesundheitlichen Lage von Herrn I Linderung verschaffen soll, ein anderer Standpunkt eingenommen werden sollte als bei Geldleistungen(42). Wenn also ein Mitgliedstaat nicht einmal dann zur Einstellung einer solchen Leistung befugt ist, wenn der Betroffene tatsächlich im Ausland wohnt, ist umso weniger einzusehen, warum er so sollte verfahren können, wenn der Wohnort streitig ist.

69.      Im Licht der vorstehenden Ausführungen erscheint es mir nicht möglich, eine goldene Regel dazu aufzustellen, ab welcher konkreten Zeitdauer sich ein „Aufenthalt“ in einem anderen Mitgliedstaat in einen „Wohnort“ wandelt. Ich möchte jedoch hinzufügen, dass ein derart bedeutsames rechtliches Ereignis nicht spontan oder zufällig eintreten können sollte. Man muss sich nämlich in Erinnerung rufen, dass, wie der HSE eingeräumt hat, „[d]as Recht der Europäischen Union zu Gesundheitsfragen … gewährleisten [soll], dass sich für eine Person keine Versorgungslücken auftun dürfen und ihr nicht die finanzielle Unterstützung versagt werden darf, nur weil sie sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhält“.

70.      Daher kann, wie ich in Erweiterung meiner Ausführungen in den Nrn. 52 und 53 der vorliegenden Schlussanträge zu den Pflichten der Beteiligten unterstreichen möchte, ein Versicherter nicht einfach ohne Vorwarnung von dem System der sozialen Sicherheit, dem er bisher angehörte, ausgeschlossen werden. Solches würde entweder eine – positive – Maßnahme des Versicherten im Zusammenhang mit dem Wechsel seines Wohnorts innerhalb der Europäischen Union (wobei der neue zuständige Träger über diesen Wechsel gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 informiert werden müsste) oder zumindest eine Vereinbarung zwischen den maßgeblichen Trägern von zwei oder mehr Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 erfordern. Eine solche Vereinbarung würde es dem Betroffenen im Einklang mit Art. 3 Abs. 4 der Verordnung Nr. 987/2009 ermöglichen, sie bei Meinungsverschiedenheiten (wie im vorliegenden Fall) anzufechten.

71.      Im Ergebnis bin ich der Auffassung, dass der Begriff „Aufenthalt“, auf den in der Verordnung Nr. 883/2004 (z. B. in den Art. 1 Buchst. k, 19 und 20) Bezug genommen wird, im Sinne des vorübergehenden Mittelpunkts der Interessen einer Person zu verstehen ist. Ein aus medizinischen Gründen erzwungener Aufenthalt in einem Mitgliedstaat hat, auch wenn er sehr lange dauert, als solcher nicht zur Folge, dass der Ort der Behandlung, der bislang der vorübergehende Mittelpunkt der Interessen des Betroffenen war, automatisch zum Ort des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne dieser Verordnung wird.

72.      Wie alle Beteiligten, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, übereinstimmend ausgeführt haben, ist es jedenfalls Sache des High Court, das Recht auf den Sachverhalt anzuwenden und den Wohnort von Herrn I aufgrund einer umfassenden Beurteilung aller maßgeblichen Umstände festzustellen und dabei zu prüfen, ob Herr I weiterhin aus medizinischen Gründen gezwungen ist, in Deutschland zu bleiben, um dort die nötige Behandlung zu erhalten. Dabei ist mir durchaus bewusst, dass das vorlegende Gericht, obwohl viele Umstände etwas anderes nahelegen, vorläufig den Standpunkt vertritt, dass die Vorlagefrage bejaht werden sollte.

IV – Ergebnis

73.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Frage des High Court (Irland) wie folgt zu beantworten:

Art. 1 Buchst. k der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass im Sinne der Art. 19 und 20 dieser Verordnung ein mehr als elf Jahre dauernder Aufenthalt einer Person in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihres Wohnsitzes, zu dem sie eine schwere Krankheit, die erstmals auftrat, als sie sich in diesem anderen Mitgliedstaat im Urlaub befand, zwang und den sie wegen ihres akuten Gesundheitszustands und der Nähe zu fachärztlicher Versorgung faktisch für die genannte Dauer beibehalten musste, als solcher nicht zur Folge hat, dass nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass sie sich im Mitgliedstaat der Behandlung nur „aufhält“. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, den Wohnort dieser Person aufgrund einer umfassenden Würdigung aller maßgeblichen Umstände zu ermitteln und dabei auch zu prüfen, ob sie weiterhin aus medizinischen Gründen gezwungen ist, im Behandlungsmitgliedstaat zu bleiben, um dort die nötige Behandlung zu erhalten.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 –      Verordnung des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2) in geänderter Fassung.


3 –      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1) in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 (ABl. L 284, S. 43), die Verordnung (EU) Nr. 1244/2010 der Kommission vom 9. Dezember 2010 (ABl. L 338, S. 35) und die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 (ABl. L 149, S. 4) geänderten Fassung.


4 –      Die Verordnung Nr. 1408/71 wurde durch Art. 90 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 mit Wirkung vom Beginn der Anwendung dieser Verordnung (1. Mai 2010) aufgehoben.


5 – Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 284, S. 1).


6 – Der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, dass Herr I im März 1998 einen Herzinfarkt erlitten hatte.


7 – Die Kommission hat darauf hingewiesen, dass diese Beihilfe, die in Anhang X der Verordnung Nr. 883/2004 aufgeführt ist, nach deren Art. 70 Abs. 4 ausschließlich in dem Mitgliedstaat, in dem die betreffende Person wohnt, nach seinen Rechtsvorschriften vom Träger des Wohnorts zu dessen Lasten gewährt wird.


8 – Dem Vorlagebeschluss ist allerdings zu entnehmen, dass Herr I vor Antritt seiner Urlaubsreise im Sommer 2002 keine solche Bescheinigung besaß.


9 – Den im Gerichtshof übermittelten Akten ist jedoch auch zu entnehmen, dass nach Ansicht von Vertretern des HSE eine solche Behandlung in Irland gewährt werden könnte (vgl. u. a. E-Mail des HSE vom 19. September 2011 an Herrn I). Dies wurde in der mündlichen Verhandlung bestätigt.


10 – Siehe indessen unten, Nr. 46 sowie die Fn. 39 und 41.


11 – Vgl. Urteil vom 17. Februar 1977, Di Paolo (76/76, Slg. 1977, 315, Rn. 17 und 19); vgl. auch Urteil vom 8. Juli 1992, Knoch (C‑102/91, Slg. 1992, I‑4341, Rn. 21 und 22).


12 – Vgl. Urteil vom 16. Mai 2013, Wencel (C‑589/10, Rn. 48 und 51).


13 – Urteil vom 25. Februar 1999, Swaddling (C‑90/97, Slg. 1999, I‑1075, Rn. 29).


14 – Der zwölfte Erwägungsgrund lautet: „Viele Maßnahmen und Verfahren dieser Verordnung stellen auf mehr Klarheit für die Kriterien ab, die von den Trägern der Mitgliedstaaten im Rahmen der Verordnung … Nr. 883/2004 anzuwenden sind. Solche Maßnahmen und Verfahren ergeben sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs …, aus den Beschlüssen der Verwaltungskommission und aus über dreißig Jahren Praxis in der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit im Rahmen der im Vertrag verankerten Grundfreiheiten.“ Vgl. auch Urteil Wencel (Rn. 50).


15 – Dies folgt aus der Verwendung des Wortes „gegebenenfalls“ in Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 sowie aus derjenigen des Wortes „insbesondere“ durch den Gerichtshof im Urteil Swaddling.


16 – Vgl. Urteil Swaddling (Rn. 30).


17 – Vgl. Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004.


18 – Das Urteil Swaddling betraf einen britischen Staatsangehörigen, der etwa 13 Jahre, nur unterbrochen durch einen sechsmonatigen Aufenthalt im Vereinigten Königreich, in Frankreich gearbeitet hatte, bevor er in das Vereinigte Königreich zurückkehrte, wo er noch im selben Monat eine Einkommensbeihilfe (income support) beantragte. Während die Absicht von Herrn Swaddling, im Vereinigten Königreich zu wohnen, nicht in Frage gestellt wurde, war streitig, ob er die Voraussetzung erfüllte, während eines beträchtlichen Zeitraums vor der Stellung des Antrags auf Einkommensbeihilfe im Vereinigten Königreich gewohnt zu haben (vgl. Rn. 27 dieses Urteils). In der Rechtssache Knoch, in der es um die Versagung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit durch die deutschen Behörden ging, hatte Frau Knoch für die Dauer von etwas über zwei Jahren, die sie nur für kurze Sommeraufenthalte in Deutschland unterbrach, im Vereinigten Königreich gewohnt und die meiste Zeit auch gearbeitet. In der Rechtssache Stewart (Urteil vom 21. Juli 2011, C‑503/09, Slg. 2011, I‑6497) hatten die deutschen Behörden einer am Downsyndrom leidenden britischen Staatsangehörigen, die etwa elf Jahre in Spanien gelebt hatte, die Gewährung von kurzfristigem Arbeitsunfähigkeitsgeld für junge Menschen u. a. wegen ihres (unstreitigen) gewöhnlichen Aufenthalts in Spanien verweigert. Diese Fälle betrafen somit die Entstehung und nicht die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf eine Leistung.


19 – Andererseits wirft die vorliegende Rechtssache zugegebenermaßen auch die Frage auf, von welchem Zeitpunkt an sich ein Versicherter in einem anderen Mitgliedstaat nicht nur „aufhält“. In der vom vorlegenden Gericht angeführten Rechtssache Keller (Urteil vom 12. April 2005, C‑145/03, Slg. 2005, I‑2529) dauerte der Aufenthalt von Frau Keller im Ausland, während dessen sie eine dringende Behandlung ihres bösartigen Tumors erhielt, höchstens acht Monate.


20 – Ein Überblick darüber, wie das Wort „stay“ in einigen anderen Amtssprachen wiedergegeben wird (DE: „Aufenthalt“, DK: „ophold“, ES: „estancia“, FI: „oleskelulla“, IT: „dimora“, PT: „estada“, NL: „verblijfplaats“, RO: „ședere“, SV: „vistelse“), deutet nicht zweifelsfrei darauf hin, dass es sich um eine kurze Dauer handelt.


21 – Nach Art. 1 Buchst. va Ziff. i der Verordnung Nr. 883/2004 bedeutet „‚Sachleistungen‘ … für Titel III Kapitel 1 (Leistungen bei Krankheit sowie Leistungen bei Mutterschaft und gleichgestellte Leistungen bei Vaterschaft) Sachleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgesehen sind und die den Zweck verfolgen, die ärztliche Behandlung und die diese Behandlung ergänzenden Produkte und Dienstleistungen zu erbringen bzw. zur Verfügung zu stellen oder direkt zu bezahlen oder die diesbezüglichen Kosten zu erstatten. Dazu gehören auch Sachleistungen bei Pflegebedürftigkeit“ (Hervorhebung nur hier). Diese Definition wurde durch die Verordnung Nr. 988/2009 eingefügt. Der Grund für die Änderung geht jedoch weder aus den Erwägungsgründen dieser Verordnung noch aus ihren Materialien hervor.


22 – Ich verstehe daher die Ausführungen des Gerichtshofs in Rn. 51 des Urteils Keller, wonach es den Mitgliedstaaten freisteht, die Gültigkeit der vom zuständigen Träger des Wohnmitgliedstaats erteilten Genehmigung zu begrenzen, in dem Sinne, dass sich diese Begrenzung nur auf den Zeitraum bezieht, in dem sich ein Versicherter auf eine solche Genehmigung berufen kann, um von einem Aufenthaltsmitgliedstaat Sachleistungen erhalten zu können, und nicht auf die tatsächliche Dauer der Leistungsgewährung.


23 – Diese Bestimmung lautet: „Personen, für die die [Verordnung Nr. 883/2004] gilt, haben dem maßgeblichen Träger die Informationen, Dokumente oder Belege zu übermitteln, die für die Feststellung ihrer Situation oder der Situation ihrer Familie sowie ihrer Rechte und Pflichten, für die Aufrechterhaltung derselben oder für die Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften und ihrer Pflichten nach diesen Rechtsvorschriften erforderlich sind.“


24 – Diese Bestimmung lautet: „Soweit es für die Anwendung der [Verordnung Nr. 883/2004] und der [Verordnung Nr. 987/2009] erforderlich ist, übermitteln die maßgeblichen Träger unverzüglich und in jedem Fall innerhalb der in der Sozialgesetzgebung des jeweiligen Mitgliedstaats vorgeschriebenen Fristen den betroffenen Personen die Informationen und stellen ihnen die Dokumente aus. Der entsprechende Träger hat dem Antragsteller, der seinen Wohnort oder Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat hat, seine Entscheidung unmittelbar oder über die Verbindungsstelle des Wohn- oder Aufenthaltsmitgliedstaats mitzuteilen. Lehnt er die Leistungen ab, muss er die Gründe für die Ablehnung sowie die Rechtsbehelfe und Rechtsbehelfsfristen angeben. Eine Kopie dieser Entscheidung wird den anderen beteiligten Trägern übermittelt.“


25 – Die Überschrift dieser Bestimmung lautet: „Zusammenarbeit zwischen Trägern“.


26 – Vgl. zu einer ähnlichen Fallgestaltung wie der vorliegenden Urteil vom 25. Februar 2003, IKA (C‑326/00, Slg. 2003, I‑1703, Rn. 51 und 52). Diese Rechtssache betraf einen in Griechenland wohnhaften Rentner, der unter einer chronischen Herzkrankheit litt. Während er sich in Deutschland aufhielt, war der Betroffene, dem zuvor eine Bescheinigung nach Vordruck E 111 erteilt worden war (deren Geltungsdauer auf etwa 1,5 Monate begrenzt war), gezwungen, ärztliche Behandlung in Anspruch zu nehmen. Der deutsche Träger des Aufenthaltsorts ersuchte den griechischen Träger um Ausstellung eines Vordrucks E 112, was dieser ablehnte.


27 – Jedoch enthalten die Angaben in den dem Gerichtshof übermittelten irischen Verfahrensakten einige Hinweise auf Kontakte zwischen dem HSE und dem zuständigen deutschen Träger. Der HSE stand nämlich u. a. mit der Deutschen Verbindungsstelle Krankenversicherung – Ausland am 14. September 2011 oder nahe diesem Datum wegen eines etwaigen Wechsels von Herrn I vom Vordruck E 112 zum Vordruck E 106 (nunmehr Vordruck S1) in Kontakt, allerdings ohne Ergebnis.


28 – In der mündlichen Verhandlung hat die irische Regierung erklärt, das Verfahren des Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 sei deshalb nicht angewandt worden, weil es zwischen dem HSE und dem zuständigen deutschen Träger keine „Meinungsverschiedenheit“ gegeben habe. Ich sehe indessen nicht, wie sich dieser Umstand auf die Kooperationspflicht des zuständigen Trägers des Wohnmitgliedstaats auswirken soll, wenn dieser, obwohl der Träger eines anderen Mitgliedstaats keine formelle Stellungnahme abgegeben hat, die Kostendeckung mit der Begründung einstellt, dass ein Wechsel des Wohnorts in den anderen Mitgliedstaat stattgefunden habe. Zur Pflicht von Herrn I zur Zusammenarbeit mit dem HSE hat der ihn vertretende Anwalt erklärt, Herr I habe angeboten, sich einer medizinischen Untersuchung durch einen vom HSE benannten Arzt zu unterziehen, sofern diese Untersuchung in Anbetracht seines Gesundheitszustands in Deutschland stattfinde.


29 – Vgl. Nrn. 46 und 51 bis 53 meiner Schlussanträge in der Rechtssache C‑140/12, Brey (Urteil vom 19. September 2013).


30 – Vgl. Urteil Brey (Rn. 51).


31 – Nach dem vierten Erwägungsgrund ist es „notwendig, die Eigenheiten der nationalen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit zu berücksichtigen und nur eine Koordinierungsregelung vorzusehen“.


32 – Vgl. auch den 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 883/2004, wonach es „erforderlich [ist], Personen, die sich innerhalb der [Europäischen Union] bewegen, dem System der sozialen Sicherheit nur eines Mitgliedstaats zu unterwerfen, um eine Kumulierung anzuwendender nationaler Rechtsvorschriften und die sich daraus möglicherweise ergebenden Komplikationen zu vermeiden“.


33 – Vgl. Urteil Brey (Rn. 43).


34 – Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung dargelegt hat, kann der Umstand, dass diese Bescheinigungen, wie die irische Regierung vorträgt, aus humanitären Gründen erteilt worden sein mögen, nichts daran ändern, dass sie tatsächlich erteilt wurden mit allem, was damit verbunden ist.


35 – Oben in Nr. 31 angeführt.


36 – Siehe dazu Urteil Knoch (Rn. 26 und 27 und die dort angeführte Rechtsprechung), wo der Gerichtshof im Zusammenhang mit Art. 71 Abs. 1 Buchst. b Ziff. ii der Verordnung Nr. 1408/71 (der die Gewährung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit koordinierte) ausgeführt hat, dass im Zusammenhang mit dem in dieser Bestimmung genannten Wohnortbegriff „das Kriterium der Dauer der Abwesenheit … nicht genau definiert und nicht das einzige zu berücksichtigende Kriterium ist“ und dass „[d]ie Verordnung Nr. 1408/71 … keine Vorschrift [enthält], die eine Höchstdauer festsetzt, bei deren Überschreitung die Anwendung des Artikels 71 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer ii zwangsläufig ausgeschlossen wäre“.


37 – Den Angaben zufolge, die in den dem Gerichtshof übermittelten nationalen Verfahrensakten enthalten sind, hat Herr I versucht, nach Irland zurückzukehren, und in diesem Zusammenhang u. a. die Assistenz durch den HSE gewünscht, jedoch ohne Erfolg. Dies wurde auch vom Anwalt von Herrn I in der mündlichen Verhandlung erwähnt, wozu sich der HSE jedoch nicht geäußert hat.


38 – Art. 25 Abschnitt A Abs. 3 lautet: „Sachleistungen im Sinne von Artikel 19 Absatz 1 der [Verordnung Nr. 883/2004] sind diejenigen, die im Aufenthaltsmitgliedstaat nach dessen Rechtsvorschriften erbracht werden und sich als medizinisch notwendig erweisen, damit der Versicherte nicht vorzeitig in den zuständigen Mitgliedstaat zurückkehren muss, um die erforderlichen medizinischen Leistungen zu erhalten.“


39 – Vgl. Urteil IKA (Rn. 41). Dieses Urteil betraf zwar die Situation eines Rentners, die damals in der besonderen Bestimmung des Art. 31 und nicht in Art. 22 der Verordnung Nr. 1408/71 geregelt war. In der Verordnung Nr. 883/2004 sind aber die Vorschriften über den Aufenthalt von Rentnern in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnmitgliedstaat im Großen und Ganzen den für andere Versicherte geltenden angeglichen worden (vgl. Art. 27 Abs. 1, 2 und 3 dieser Verordnung). Außerdem hat der Gerichtshof festgestellt, dass sich, nachdem der Vordruck E 112 gemäß Art. 22 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1408/71 für den Erhalt von Sachleistungen im Ausland einmal ausgestellt wurde – wie dies bei Herrn I der Fall ist –, diese Leistungen „auf alle Maßnahmen erstrecken, die eine wirksame Behandlung der Krankheit oder des Leidens des Betroffenen sicherstellen können“ (Urteil vom 16. März 1978, Pierik, 117/77, Slg. 1978, 825, Rn. 15; Hervorhebung nur hier).


40 – Oben in Nr. 31 angeführt.


41 – Vgl. Urteil vom 20. Juni 1991, Newton (C‑356/89, Slg. 1991, I‑3017, Rn. 21). Vgl. auch Urteil Stewart (Rn. 62), wo der Gerichtshof nicht zwischen der Entstehung und der Aufrechterhaltung des Anspruchs auf eine solche Leistung unterschieden hat. Diese Rechtsprechung betrifft Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71 und nicht deren Art. 10a (nunmehr Art. 70 Abs. 4 der Verordnung Nr. 883/2004) über besondere beitragsunabhängige Geldleistungen, deren Exportierbarkeit unstreitig beschränkt ist.


42 – Hinzuzufügen wäre noch, dass Herr I eine nichtexportierbare Geldleistung von Irland (Invaliditätsbeihilfe) erhält, die einem ähnlichen Zweck dient.