Language of document : ECLI:EU:T:2022:728

Rechtssache T101/18

(auszugsweise Veröffentlichung)

Republik Österreich

gegen

Europäische Kommission

 Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 30. November 2022

„Staatliche Beihilfen – Kernindustrie – Von Ungarn geplante Beihilfe für die Entwicklung zweier neuer Kernreaktoren am Standort Paks – Beschluss, mit dem die Beihilfe vorbehaltlich der Erfüllung bestimmter Verpflichtungen für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wird – Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV – Vereinbarkeit der Beihilfe mit nicht beihilferechtlichen Bestimmungen des Unionsrechts – Untrennbare Verbindung – Förderung der Kernenergie – Art. 192 Abs. 1 des Euratom-Vertrags – Grundsatz des Umweltschutzes, Verursacherprinzip, Vorsorgeprinzip, Grundsatz der Nachhaltigkeit – Bestimmung der betroffenen wirtschaftlichen Tätigkeit – Marktversagen – Verzerrung des Wettbewerbs – Verhältnismäßigkeit der Beihilfe – Erforderlichkeit staatlicher Maßnahmen – Ermittlung der Beihilfeelemente – Vergabeverfahren – Begründungspflicht“

1.      Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt – Ermessen – Wahrung der Kohärenz zwischen den Vorschriften über staatliche Beihilfen und anderen Vorschriften des Vertrags – Verpflichtung, die nur für untrennbar mit dem Zweck der Beihilfe verbundene Beihilfemodalitäten gilt – Beihilfe, die in der Überlassung zweier neuer Kernreaktoren zum Betrieb besteht – Vergabe des Auftrags für den Bau der Reaktoren, die keine mit dem Zweck der Beihilfe untrennbar verbundene Modalität darstellt

(Art. 107 Abs. 1 und Art. 108 AEUV; Richtlinie 2014/25 des Europäischen Parlaments und des Rates)

(vgl. Rn. 27-39)

2.      Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt – Ermessen – Wahrung der Kohärenz zwischen den Vorschriften über staatliche Beihilfen und anderen Vorschriften des Vertrags – Verpflichtung der Kommission, ihre Schlussfolgerungen zu anderen Bestimmungen des Vertrags in einem zuvor durchgeführten Vertragsverletzungsverfahren ohne neue Informationen erneut zu prüfen – Fehlen

(Art. 107 Abs. 1 und Art. 108 AEUV)

(vgl. Rn. 40-49)

3.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beurteilung nach Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV – Kriterien – Keine dem gemeinsamen Interesse zuwiderlaufenden Auswirkungen auf die Handelsbedingungen – Beurteilung – Abwägung der Vorteile der Beihilfemaßnahmen und ihrer negativen Auswirkungen auf den Binnenmarkt – Gerichtliche Nachprüfung – Grenzen – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Fehlen

(Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV)

(vgl. Rn. 55, 56, 98-102, 135-148, 150, 151, 153-155, 157-161, 167-175)

4.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beurteilung nach Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV – Kriterien – Verfolgung eines Ziels von öffentlichem Interesse – Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Beihilfe – Verpflichtung, die Beihilfemaßnahme einem Ausschreibungsverfahren zu unterziehen, um ihre Verhältnismäßigkeit zu gewährleisten – Fehlen

(Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV)

(vgl. Rn. 58-65)

5.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beurteilung nach Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV – Kriterien – Keine dem gemeinsamen Interesse zuwiderlaufenden Auswirkungen auf die Handelsbedingungen – Abwägung der Vorteile der Beihilfemaßnahmen und ihrer negativen Auswirkungen auf den Binnenmarkt – Bestandteile des Binnenmarkts

(Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV)

(vgl. Rn. 71-78, 131)

6.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beurteilung nach Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV – Maßnahmen, mit denen ein unter den Euratom-Vertrag fallendes Ziel verfolgt wird – Recht der Mitgliedstaaten, die Struktur ihrer Energieversorgung zu bestimmen – Entscheidung für die Kernenergie

(Art. 2 Buchst. c und Art. 192 EA; Art. 107 Abs. 3 Buchst. c und Art. 194 Abs. 2 AEUV)

(vgl. Rn. 82-86, 97)

7.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beihilfen zur Rettung eines in Schwierigkeiten befindlichen Unternehmens – Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten – Unternehmen in Schwierigkeiten – Begriff

(Mitteilung 2014/C 249/01 der Kommission, Rn. 20 Buchst. a und Rn. 21)

(vgl. Rn. 111-122)

8.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beurteilung nach Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV – Kriterien – Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Beihilfe – Prüfung durch die Kommission – Verpflichtung zur Bezifferung des Subventionsäquivalents der Beihilfemaßnahme – Fehlen

(Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV)

(vgl. Rn. 184)


Zusammenfassung

Bau neuer Kernreaktoren: Das Gericht hat die Klage Österreichs gegen die von der Kommission genehmigte ungarische Investitionsbeihilfe abgewiesen

Mit Beschluss vom 6. März 2017(1) (im Folgenden: angefochtener Beschluss) genehmigte die Europäische Kommission die von Ungarn angemeldete Investitionsbeihilfe zugunsten des staatlichen Unternehmens MVM Paks II Nuclear Power Plant Development Private Company Limited by Shares (im Folgenden: Gesellschaft Paks II) für den Betrieb zweier in Bau befindlicher Kernreaktoren auf dem Gelände des Kernkraftwerks Paks, die schrittweise die vier bereits in Betrieb stehenden Kernreaktoren ersetzen sollen.

Diese Investitionsbeihilfe (im Folgenden: fragliche Beihilfe), die im Wesentlichen darin besteht, der Gesellschaft Paks II neue Kernreaktoren zum Betrieb zu überlassen, wird zu einem großen Teil durch ein Darlehen in Form einer revolvierenden Kreditfazilität von 10 Mrd. Euro finanziert, die Ungarn von der Russischen Föderation im Rahmen eines zwischenstaatlichen Abkommens über die Zusammenarbeit bei der friedlichen Nutzung von Kernenergie gewährt wurde. Gemäß diesem Abkommen wurde der Auftrag für den Bau der neuen Reaktoren direkt an die Nizhny Novgorod Engineering Company Atomenergoproekt (im Folgenden: JSC NIAEP) vergeben.

Im angefochtenen Beschluss erklärte die Kommission die fragliche Beihilfe gemäß Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV unter Bedingungen für mit dem Binnenmarkt vereinbar. Nach dieser Bestimmung können Beihilfen zur Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete, soweit sie die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft, als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden.

Die Republik Österreich erhob Klage auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses.

Würdigung durch das Gericht

Als Erstes hat das Gericht den Klagegrund zurückgewiesen, wonach der angefochtene Beschluss rechtswidrig sei, weil die Kommission die fragliche Beihilfe für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt habe, obwohl die Direktvergabe des Auftrags für den Bau der neuen Kernreaktoren an die Gesellschaft JSC NIAEP einen Verstoß gegen die Unionsvorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge darstelle.

Hierzu machte die Republik Österreich insbesondere geltend, dass die Vergabe des Auftrags für den Bau der neuen Reaktoren eine mit der fraglichen Beihilfe untrennbar verbundene Modalität sei, weshalb die Kommission verpflichtet sei, die fragliche Beihilfe auch im Hinblick auf die Unionsvorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge zu prüfen. Außerdem ergebe sich aus dem Urteil Österreich/Kommission(2), dass die Kommission die fragliche Beihilfe unabhängig davon im Hinblick auf die Unionsvorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge hätte prüfen müssen, ob die Vergabe des Bauauftrags eine untrennbare Modalität dieser Beihilfe darstelle.

Das Gericht hat zunächst das auf das Urteil Österreich/Kommission gestützte Vorbringen der Republik Österreich zurückgewiesen. Obwohl sich aus diesem Urteil ergibt, dass die durch die Beihilfe geförderte wirtschaftliche Tätigkeit mit dem Unionsrecht vereinbar sein muss, hat die Republik Österreich im vorliegenden Fall nicht geltend gemacht, dass die geförderte wirtschaftliche Tätigkeit, nämlich die Erzeugung von Kernenergie, gegen Unionsrecht verstoße. Außerdem geht aus diesem Urteil nicht hervor, dass der Gerichtshof – unter Aufgabe seiner Rechtsprechung, nach der zwischen solchen Modalitäten, die eine untrennbare Verbindung mit dem Zweck der Beihilfe aufweisen, und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist, unterschieden werden muss – beabsichtigt hätte, den Umfang der Kontrolle zu erweitern, die der Kommission im Rahmen eines Verfahrens zur Prüfung der Vereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe mit dem Binnenmarkt obliegt.

Würde man im Rahmen eines Verfahrens zur Prüfung der Vereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe mit dem Binnenmarkt eine Verpflichtung der Kommission anerkennen, endgültig einen Verstoß gegen andere Bestimmungen des Unionsrechts als die über staatliche Beihilfen zu bejahen oder zu verneinen, so verstieße dies darüber hinaus zum einen gegen die Verfahrensvorschriften und ‑garantien, die für die speziell zur Kontrolle der Anwendung dieser Vorschriften vorgesehenen Verfahren gelten, und zum anderen gegen den Grundsatz der Autonomie der Verwaltungsverfahren und Rechtsbehelfe.

Vor diesem Hintergrund hat das Gericht sodann festgestellt, dass die Entscheidung über die Vergabe des Auftrags für den Bau der beiden neuen Reaktoren, die der fraglichen Beihilfemaßnahme vorgelagert war, keine mit dem Zweck der Beihilfe untrennbar verbundene Modalität darstellt. Die Durchführung eines Vergabeverfahrens und die eventuelle Beauftragung eines anderen Unternehmens mit dem Bau der Reaktoren würden weder am Zweck der Beihilfe, nämlich der unentgeltlichen Überlassung von zwei neuen Reaktoren zum Betrieb, noch am Empfänger der Beihilfe, nämlich der Gesellschaft Paks II, etwas ändern. Zudem hätte ein – von der Republik Österreich nicht dargelegter – Einfluss eines öffentlichen Vergabeverfahrens auf die Höhe der Beihilfe für sich genommen nichts an dem Vorteil geändert, den die Beihilfe für den Begünstigten darstellte, nämlich die Überlassung von zwei neuen Reaktoren zum Betrieb.

Schließlich hat das Gericht festgestellt, dass die Kommission – entgegen dem Vorbringen der Republik Österreich – im angefochtenen Beschluss zu Recht auf ihre im Rahmen eines zuvor durchgeführten Vertragsverletzungsverfahrens vorgenommene Beurteilung verwiesen hat, wonach die Direktvergabe des Auftrags für den Bau der beiden neuen Reaktoren an die Gesellschaft JSC NIAEP nicht gegen die unionsrechtlichen Vergabevorschriften verstoße. Der Grundsatz der Rechtssicherheit verbietet es nämlich, dass die Kommission die Vergabe des Bauauftrags im Rahmen des Beihilfeverfahrens erneut prüft, obwohl sie im Vergleich zu dem Zeitpunkt, zu dem sie die Einstellung des Vertragsverletzungsverfahrens beschlossen hat, über keine neuen Informationen verfügt.

Als Zweites hat das Gericht die Klagegründe zurückgewiesen, wonach unverhältnismäßige Wettbewerbsverzerrungen und Ungleichbehandlungen vorlägen, die zu einer Verdrängung von Erzeugern erneuerbarer Energie vom liberalisierten Elektrizitätsbinnenmarkt führten. Insoweit hat es darauf hingewiesen, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, die Zusammensetzung ihres Energiemixes zu bestimmen, und dass die Kommission nicht verlangen kann, dass die staatlichen Mittel für alternative Energiequellen verwendet werden.

Als Drittes hat das Gericht nach Zurückweisung des Klagegrundes betreffend eine Verstärkung oder Schaffung einer marktbeherrschenden Stellung auch den Klagegrund zurückgewiesen, mit dem ein Liquiditätsrisiko für den ungarischen Stromgroßhandelsmarkt geltend gemacht wird.


1      Beschluss (EU) 2017/2112 der Kommission vom 6. März 2017 über die von Ungarn geplante Maßnahme/Beihilferegelung/Staatliche Beihilfe SA.38454 – 2015/C (ex 2015/N) für den Bau von zwei Kernreaktoren im Atomkraftwerk Paks II (ABl. 2017, L 317, S. 45).


2      Urteil vom 22. September 2020, Österreich/Kommission (C‑594/18 P, EU:C:2020:742).