Language of document : ECLI:EU:T:1999:238

URTEIL DES GERICHTS (Zweite Kammer)

29. September 1999 (1)

„Beamte — Waisengeld“

In der Rechtssache T-68/97

Martin Neumann

und

Irmgard Neumann-Schölles, Beamtin der Kommission der Europäischen Gemeinschaften,

wohnhaft in Karlsruhe (Deutschland), Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt Hans-Josef Rüber, Köln, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Ernest Arendt, 8-10, rue Mathias Hardt, Luxemburg,

Kläger,

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater Julian Currall und Christine Berardis-Kayser, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte, Beistand: Rechtsanwalt Bertrand Wägenbaur, Hamburg, Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,

Beklagte,

wegen Verurteilung der Kommission zur Zahlung von Waisengeld an Martin Neumann

erläßt

DAS GERICHT ERSTER INSTANZ

DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten A. Potocki sowie der Richter C. W. Bellamy und M. Vilaras,

Kanzler: A. Mair, Verwaltungsrat

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Februar 1999

folgendes

Urteil

Rechtlicher Rahmen

1.
    Nach Artikel 79 Absatz 1 des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften (Statut) hat die Witwe eines Beamten oder eines ehemaligen Beamten unter den in Anhang VIII Kapitel 4 vorgesehenen Bedingungen Anspruch auf ein Witwengeld in Höhe von 60 v. H. des nach dem Dienstalter bemessenen Ruhegehalts oder des Ruhegehalts wegen Dienstunfähigkeit, das ihr Ehegatte bezogen hat oder das ihm zugestanden hätte, wenn er ohne die Voraussetzung einer Mindestdienstzeit oder eines Mindestalters zum Zeitpunkt seines Todes hierauf Anspruch gehabt haben würde.

2.
    Gemäß Artikel 17 Absatz 1 des Anhangs VIII des Statuts erhält die Witwe eines Beamten, der sich bei seinem Tod in einer der dienstrechtlichen Stellungen nach Artikel 35 des Statuts befand, sofern die Ehe mindestens ein Jahr gedauert hat, vorbehaltlich des Artikels 1 Absatz 1 und des Artikels 22 des Anhangs VIII ein Witwengeld in Höhe von 60 v. H. des Ruhegehalts, das an den Beamten gezahlt worden wäre, wenn er — ohne Voraussetzung einer Mindestdienstzeit oder eines Mindestalters — im Zeitpunkt seines Todes hierauf Anspruch gehabt hätte.

3.
    In Artikel 80 Absatz 1 des Statuts heißt es: „Stirbt ein Beamter oder ein Ruhegehaltsberechtigter, ohne einen Ehegatten zu hinterlassen, der Anspruch auf Witwengeld hat, so erhalten seine im Sinne von Anhang VII Artikel 2 unterhaltsberechtigten Kinder ein Waisengeld nach Anhang VIII Artikel 21.“

4.
    Artikel 80 Absatz 2 des Statuts bestimmt: „Kinder, die die gleichen Bedingungen erfüllen, haben den gleichen Anspruch, wenn ein hinterbliebenenversorgungsberechtigter Ehegatte stirbt oder eine neue Ehe eingeht.“

5.
    Artikel 80 Absatz 3 des Statuts lautet: „Stirbt ein Beamter oder ein Empfänger eines Ruhegehalts oder eines Ruhegehalts wegen Dienstunfähigkeit, ohne daß die in Absatz 1 vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind, so haben dessen als unterhaltsberechtigt anerkannte Kinder im Sinne des Artikels 2 des Anhangs VII nach Maßgabe des Artikels 21 des Anhangs VIII Anspruch auf ein Waisengeld; das Waisengeld beläuft sich jedoch auf die Hälfte des sich nach dem letztgenannten Artikel ergebenden Betrags.“

6.
    Artikel 80 Absatz 4 des Statuts bestimmt: „Stirbt der Ehegatte eines Beamten oder ehemaligen Beamten, der ein Ruhegehalt nach der Dienstzeit oder wegen Dienstunfähigkeit bezieht, und war dieser Ehegatte weder Beamter noch Bediensteter auf Zeit, so erhalten die im Sinne von Artikel 2 des Anhangs VII unterhaltsberechtigten Kinder des überlebenden Ehegatten ein Waisengeld in Höhe des doppelten Betrags der Kinderzulage.“

7.
    Als unterhaltsberechtigtes Kind gilt nach Artikel 2 Absatz 2 Unterabsatz 1 des Anhangs VII des Statuts „das eheliche, das uneheliche oder das an Kindes Statt angenommene Kind des Beamten oder seines Ehegatten, wenn es von dem Beamten tatsächlich unterhalten wird“.

8.
    Nach Artikel 21 Absatz 1 Unterabsatz 1 des Anhangs VIII des Statuts beträgt das Waisengeld nach Artikel 80 Absätze 1, 2 und 3 des Statuts für das erste verwaiste Kind 8/10 des Witwengeldes, auf das die Witwe des Beamten oder ehemaligen Beamten, dem ein Ruhegehalt nach der Dienstzeit oder wegen Dienstunfähigkeit zustand, Anspruch gehabt hätte; hierbei bleiben die Kürzungen nach Artikel 25 des Anhangs VIII außer Betracht.

9.
    Nach Artikel 42 des Anhangs VIII des Statuts verlieren die Rechtsnachfolger eines verstorbenen Beamten oder ehemaligen Beamten, dem ein Ruhegehalt nach der Dienstzeit oder wegen Dienstunfähigkeit zustand, die die Festsetzung ihrer Versorgungsansprüche nicht innerhalb des auf den Tod des Beamten folgenden Jahres beantragen, ihre Ansprüche, es sei denn, daß sie den Antrag nachweislich infolge höherer Gewalt nicht fristgemäß stellen konnten.

Sachverhalt

10.
    Der am 26. August 1970 geborene Kläger zu 1) Martin Neumann ist der Sohn von Günther Neumann und der Klägerin zu 2) Irmgard Neumann. Die Klägerin zu 2) ist Beamtin der Kommission.

11.
    Die Ehegatten Neumann wurden 1976 geschieden.

12.
    Die Klägerin zu 2) heiratete am 7. Juni 1991 Willi Schölles, einen Beamten der Kommission, mit dem sie seit 1982 zusammengelebt hatte. Herr Schölles hatte drei Kinder aus einer vorhergehenden Ehe.

13.
    Herr Schölles verstarb am 25. April 1992.

14.
    Die Klägerin zu 2) beantragte bei der Kommission mit Schreiben vom 11. Juni 1992 Hinterbliebenenversorgung.

15.
    Die Kommission lehnte es mit Schreiben vom 17. August 1992 ab, der Klägerin zu 2) Hinterbliebenenversorgung zu gewähren, da ihre Ehe mit Herrn Schölles zum Zeitpunkt von dessen Tod nicht, wie Artikel 17 Absatz 1 des Anhangs VIII des Statuts dies voraussetze, mindestens ein Jahr gedauert habe.

16.
    Mit Schreiben vom 4. Mai 1995 ersuchte die Klägerin zu 2) die Kommission, die Angelegenheit erneut zu prüfen.

17.
    Mit Schreiben vom 22. Juni 1995 teilte die Kommission der Klägerin zu 2) mit, daß sie die Angelegenheit erneut geprüft habe. Sie hielt an ihrer Weigerung, der Klägerin zu 2) gemäß Artikel 17 Absatz 1 des Anhangs VIII des Statuts Hinterbliebenenversorgung zu gewähren, fest und fügte hinzu: „Dagegen hat Ihr Sohn Martin, der von dem Beamten vor dessen Tod unterhalten wurde, nach hiesiger Auffassung gemäß Artikel 80 Anspruch auf Waisengeld in Höhe des doppelten Betrages der Kinderzulage. In der Anlage sind die für die Gewährung des Waisengeldes auszufüllenden Dokumente beigefügt.“

18.
    Mit Schreiben vom 30. Juni 1995 übersandte die Klägerin zu 2) der Kommission eine Erklärung über die persönliche Situation ihres Sohnes, die dieser entsprechend dem Schreiben vom 22. Juni 1995 ausgefüllt hatte.

19.
    Mit einem an die Klägerin zu 2) gerichteten Schreiben vom 10. August 1995 lehnte die Kommission die Gewährung von Waisengeld für deren Sohn mit der Begründung ab, nach Artikel 42 des Anhangs VIII des Statuts verlören die Rechtsnachfolger eines verstorbenen Beamten, die die Festsetzung ihrer Versorgungsansprüche nicht innerhalb des auf den Tod des Beamten folgenden Jahres beantragten, ihre Ansprüche.

20.
    Am 11. September 1995 legte die Klägerin zu 2) gegen diese Entscheidung Beschwerde mit der Begründung ein, sie habe am 11. Juni 1992 „Hinterbliebenenversorgung“ beantragt; dieser Begriff umfasse Waisenrenten.

21.
    Die Kommission gab dieser Beschwerde mit Bescheid vom 13. November 1995 statt und teilte der Klägerin zu 2) mit, daß eine neue Entscheidung über das Waisengeld erlassen werde.

22.
    Mit Schreiben vom 20. März 1996 an die Klägerin zu 2) lehnte die Kommission die Gewährung von Waisengeld für deren Sohn mit der Begründung ab, dieser sei vor dem Tod von Herrn Schölles nicht von letzterem unterhalten worden. Die Last des Unterhalts für das Kind werde im Prinzip von den leiblichen Eltern getragen, und Günther Neumann sei nicht von seiner Unterhaltspflicht befreit worden.

23.
    Am 17. Juni 1996 legte die Klägerin zu 2) Beschwerde gegen diesen zweiten ablehnenden Bescheid ein und führte aus, ihr Sohn habe Anspruch auf Waisengeld gemäß Artikel 80 Absatz 1 des Statuts, da es nach Artikel 2 Absatz 2 des Anhangs VII des Statuts nur darauf ankomme, ob das Kind von dem Beamten tatsächlich unterhalten worden sei. Herr Schölles habe in erheblichem Umfang Unterhaltsleistungen für den Kläger zu 1) erbracht, da Günther Neumann nicht in der Lage gewesen sei, seiner Unterhaltspflicht nachzukommen. Eine Erklärung von Günther Neumann betreffend seine finanzielle Situation war der Beschwerde beigefügt.

24.
    Günther Neumann verstarb am 5. August 1996.

25.
    Die Kommission wies die Beschwerde vom 17. Juni 1996 mit Entscheidung vom 29. November 1996, mitgeteilt am 17. Dezember 1996, u. a. mit der Begründung zurück, der Kläger zu 1) sei nicht Waise im Sinne des Artikels 21 Absatz 1 des Anhangs VIII des Statuts.

Verfahren und Anträge der Parteien

26.
    Die Kläger haben mit Klageschrift, die am 13. März 1997 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben.

27.
    Die Kläger beantragen,

—    die Kommission zu verurteilen, an den Kläger zu 1) ein Waisengeld gemäß Artikel 80 des Statuts zu zahlen;

—    der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

28.
    Die Kommission beantragt,

—    die Klage als unzulässig, hilfsweise als unbegründet abzuweisen;

—    über die Kosten nach Rechtslage zu befinden.

29.
    In ihrer Gegenerwiderung beantragt die Kommission,

—    der Klägerin zu 2) die der Kommission verursachten Kosten aufzuerlegen und im übrigen nach Rechtslage zu entscheiden.

30.
    Auf Bericht des Berichterstatters hat das Gericht (Zweite Kammer) beschlossen, das mündliche Verfahren ohne vorherige Beweisaufnahme zu eröffnen. Die mündliche Verhandlung hat am 24. Februar 1999 stattgefunden.

Zulässigkeit

    Vorbringen der Parteien

31.
    Die Kommission macht geltend, daß die Klage unzulässig sei.

32.
    Erstens hätten weder die Klägerin zu 2) noch der Kläger zu 1) in dem Jahr nach dem Tod von Herrn Schölles gemäß Artikel 42 des Anhangs VIII des Statuts einen Antrag auf Waisengeld gemäß Artikel 90 Absatz 1 des Statuts gestellt (vgl. Urteil des Gerichts vom 1. Dezember 1994 in der Rechtssache T-79/92, Ditterich/Kommission, Slg. ÖD 1994, II-907, Randnr. 44, und Beschluß des Gerichts vom 15. Februar 1995 in der Rechtssache T-112/94, Moat/Kommission, Slg. ÖD 1995, II-135, Randnr. 20).

33.
    Ein gemäß Artikel 90 Absatz 1 des Statuts gestellter Antrag müsse den Empfänger nämlich in die Lage versetzen, den Inhalt des Ersuchens zu erkennen (Urteil des Gerichts vom 3. April 1990 in der Rechtssache T-135/89, Pfloeschner/Kommission, Slg. 1990, II-153, Randnr. 17). Das Schreiben vom 11. Juni 1992 enthalte jedoch weder den Begriff „Waisengeld“ noch sei es vom Kläger zu 1) unterschrieben worden. Die Kommission habe dieses Schreiben nur als Antrag der Klägerin zu 2) auf Witwengeld verstehen können.

34.
    Im übrigen zeige das Schreiben der Kommission vom 17. August 1992, das nicht auf die Frage des Anspruchs auf Waisengeld eingehe, daß die Kommission das Schreiben vom 11. Juni 1992 nicht als Antrag auf Gewährung von Waisengeld an den Kläger zu 1) verstanden habe. Aus dem Schreiben der Klägerin zu 2) vom 4. Mai 1995 gehe hervor, daß auch diese es nicht in diesem Sinne verstanden habe. In diesem Schreiben, in dem sich die Klägerin erstmals seit ihrem Schreiben vom 11. Juni 1992 wieder an die Kommission gewandt habe, sei von „Waisengeld“ nicht die Rede.

35.
    Die Klägerin zu 2) habe in ihrem Schreiben vom 11. Juni 1992 nicht als Vertreterin des Klägers zu 1) gehandelt, dessen Name im übrigen nicht erwähnt worden sei. Jedenfalls sei die gegenteilige Behauptung der Kläger unerheblich, da die Klägerin zu 2) dieses angebliche Vertretungsverhältnis gegenüber der Kommission weder in ihrem Schreiben vom 11. Juni 1992 noch in sonstiger Weise offengelegt habe. Im

übrigen habe auch kein Anlaß für eine Vertretung bestanden, da der Kläger zu 1) längst volljährig gewesen sei.

36.
    Der Einwand, der Kläger zu 1) persönlich habe keinen Antrag nach Artikel 42 des Anhangs VIII des Statuts stellen dürfen, weil er aufgrund des Testaments des Herrn Schölles nicht dessen „Rechtsnachfolger“ sei, sei zurückzuweisen. Denn das Statut sei als autonomer Rechtstext in seinem eigenen Zusammenhang und gemäß seinen eigenen Zielen auszulegen (Urteil des Gerichts vom 6. April 1990 in der Rechtssache T-43/89, Gill/Kommission, Slg. 1990, II-173, Randnr. 20). Rechtsnachfolger im Sinne des Artikels 42 des Anhangs VIII des Statuts seien all jene Personen, die von einem Beamten kraft des Statuts Rechte für sich in Anspruch nehmen könnten, hier also die beiden Kläger.

37.
    Zweitens wäre, auch wenn man unterstellen wollte, daß die Klägerin zu 2) mit dem Schreiben vom 11. Juni 1992 einen Antrag auf Gewährung von Waisengeld an den Kläger zu 1) gestellt habe, dieser Antrag entweder durch das Schreiben vom 17. August 1992 oder implizit, d. h. nach Ablauf der in Artikel 90 Absatz 1 des Statuts vorgesehenen Frist von vier Monaten abgelehnt worden. Gegen diese Entscheidung sei innerhalb der in Artikel 90 Absatz 2 des Statuts vorgesehenen Frist von drei Monaten keine Beschwerde eingelegt worden.

38.
    Weder der in dem Schreiben der Klägerin zu 2) vom 30. Juni 1995 gestellte Antrag auf Waisengeld noch die diesen Antrag zurückweisende Entscheidung vom 10. August 1995 bewirke die Neueröffnung der Fristen (Urteile des Gerichts vom 7. Februar 1991 in der Rechtssache T-58/89, Williams/Rechnungshof, Slg. 1991, II-77, Randnr. 39, vom 25. September 1991 in der Rechtssache T-54/90, Lacroix/Kommission, Slg. 1991, II-749, Randnr. 24, und vom 10. April 1992 in der Rechtssache T-15/91, Bollendorf/Parlament, Slg. 1992, II-1679, Randnr. 22).

39.
    Drittens sei der Klageantrag, der darauf gerichtet sei, die Kommission zu verurteilen, an den Kläger zu 1) Waisengeld zu zahlen, unzulässig, denn das Gemeinschaftsgericht dürfe einem Gemeinschaftsorgan keine Anweisungen erteilen, da es sonst in dessen Zuständigkeitsbereich eingreifen würde (siehe zuletzt Urteil des Gerichts vom 16. April 1997 in der Rechtssache T-66/95, Kuchlenz-Winter/Kommission, Slg. 1997, II-637, Randnr. 26).

40.
    Viertens habe die Klägerin zu 2) kein Rechtsschutzinteresse, da die Klage ausschließlich auf Zahlung von Waisengeld an ihren Sohn Martin Neumann gerichtet sei; daran ändere auch der Umstand nichts, daß die Kommission die vorprozessuale Korrespondenz an die Klägerin zu 2) gerichtet habe.

41.
    Die Kläger machen zunächst geltend, das Schreiben der Klägerin zu 2) vom 11. Juni 1992 stelle einen Antrag auf Gewährung von Waisengeld an den Kläger zu 1) dar, der von der Klägerin zu 2) in ihrer Eigenschaft als dessen Vertreterin innerhalb der in Artikel 42 des Anhangs VIII des Statuts genannten Frist gestellt

worden sei. Ferner sei nicht zutreffend, daß die Klage unzulässig sei, weil die Entscheidung vom 17. August 1992 bestandskräftig geworden sei, denn die Kommission habe die Angelegenheit mehrfach erneut geprüft und neue Entscheidungen getroffen. Schließlich sei der Antrag auf Verurteilung der Kommission zur Zahlung von Waisengeld an den Kläger zu 1) zulässig, und die Klägerin zu 2) habe ein Rechtsschutzinteresse.

Würdigung durch das Gericht

— Zum Streitgegenstand

42.
    Der Antrag der Kläger auf Gewährung von Waisengeld ist dahin auszulegen, daß er auf die Aufhebung der Entscheidung vom 29. November 1996 über die Zurückweisung der Beschwerde der Klägerin zu 2) vom 17. Juni 1996 gegen die Entscheidung vom 20. März 1996 gerichtet ist, mit der die Gewährung von Waisengeld an den Kläger zu 1) abgelehnt worden war, nicht aber auf Verpflichtung der Kommission zu einem Tun.

43.
    Da die Verwaltungsbeschwerde und ihre Zurückweisung durch die Anstellungsbehörde nach ständiger Rechtsprechung Bestandteile eines komplexen Verfahrens sind, in dessen Rahmen eine Klage gegen die Zurückweisung der Beschwerde bewirkt, daß das Gericht mit der beschwerenden Handlungen befaßt wird, gegen die die Beschwerde eingelegt worden war (Urteile des Gerichts vom 16. November 1996 in der Rechtssache T-36/94, Capitanio/Kommission, Slg. ÖD 1996, II-1279, Randnr. 33, und vom 9. Juli 1997 in der Rechtssache T-156/95, Echauz Brigaldi u. a./Kommission, Slg. ÖD 1997, II-509, Randnr. 23), ist der Antrag auch auf Aufhebung der Entscheidung der Kommission vom 20. März 1996 gerichtet.

44.
    Folglich ist Klagegegenstand die Aufhebung der Entscheidungen vom 20. März 1996 und 29. November 1996. In diesem Sinne ausgelegt, sind die Anträge der Kläger zulässig.

— Zur Einhaltung des Artikels 42 des Anhangs VIII des Statuts

45.
    Nach Artikel 42 des Anhangs VIII des Statuts verlieren die Rechtsnachfolger eines verstorbenen Beamten, die die Festsetzung ihrer Versorgungsansprüche nicht innerhalb des auf den Tod des Beamten folgenden Jahres beantragen, ihre Ansprüche, es sei denn, daß sie den Antrag nachweislich infolge höherer Gewalt nicht fristgemäß stellen konnten.

46.
    Die Kommission hat sich in ihren Entscheidungen vom 20. März 1996 und vom 29. November 1996 nicht darauf berufen, daß diese Vorschrift nicht eingehalten worden sei.

47.
    Die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Klage sind jedoch nach ständiger Rechtsprechung zwingenden Rechts (vgl. z. B. Urteil des Gerichtshofes vom 16. Dezember 1960 in der Rechtssache 6/60, Humblet/Etat belge, Slg. 1960, 1165, 1188, und Urteil des Gerichts vom 19. Mai 1994 in der Rechtssache T-465/93, Murgia Messapica/Kommission, Slg. 1994, II-361, Randnr. 24).

48.
    Auch Artikel 42 des Anhangs VII des Statuts ist zwingendes Recht; er steht nicht zur Disposition der Parteien oder der Gerichts, da er die Klarheit und Sicherheit von Rechtsstellungen gewährleisten soll.

49.
    Somit ist das Vorbringen zu prüfen, daß Artikel 42 des Anhangs VIII des Statuts nicht eingehalten worden sei.

50.
    In ihrem Schreiben vom 11. Juni 1992 beantragte die Klägerin zu 2) Hinterbliebenenversorgung.

51.
    Die Kommission hat die Behauptung der Kläger nicht bestritten, daß der deutsche Begriff „Hinterbliebenenversorgung“ sowohl Witwen- als auch Waisenrenten umfasse.

52.
    Im übrigen ist Kapitel 4 des Anhangs VIII des Statuts, der sowohl die Gewährung von Witwengeld (Artikel 17 bis 20) als auch die von Waisengeld (Artikel 21) regelt, im deutschen Text mit „Hinterbliebenenversorgung“ überschrieben. Des weiteren bezieht sich Artikel 40 des Anhangs VIII, der die Feststellung der Ansprüche der Beamten regelt, allgemein auf die Feststellung der Ansprüche auf Hinterbliebenenversorgung, ohne zwischen Witwengeld und Waisengeld zu unterscheiden.

53.
    Daher ist das Schreiben der Klägerin zu 2) vom 11. Juni 1992 so zu verstehen, daß es die Gewährung sämtlicher unter den Begriff „Hinterbliebenenversorgung“ fallender Rentenansprüche betrifft, also nicht nur das Witwengeld, sondern auch das Waisengeld.

54.
    Aus den Akten geht ferner hervor, daß die Klägerin zu 2) ihre Korrespondenz mit der Kommission nicht nur im eigenen Namen, sondern auch im Namen ihres Sohnes, des Klägers zu 1), führte.

55.
    Folglich ist das Schreiben der Klägerin zu 2) vom 11. Juni 1992 als Antrag anzusehen, der nicht nur auf Gewährung von Witwengeld, sondern auch auf Gewährung von Waisengeld an den Kläger zu 1) gerichtet ist und den die Klägerin zu 2) als Vertreterin des letzteren innerhalb der Jahresfrist des Artikels 42 des Anhangs VIII des Statuts gestellt hat.

56.
    Dem entspricht es, daß die Kommission in ihrem Schreiben vom 13. November 1995 diese Auslegung des Schreibens vom 11. Juni 1992 ausdrücklich akzeptiert und

ihre Meinung insoweit weder in ihrer Entscheidung vom 20. März 1996 noch in der streitigen Entscheidung vom 29. September 1996 geändert hat.

57.
    Demnach ist das Vorbringen, Artikel 42 des Anhangs VIII des Statuts sei nicht eingehalten worden, zurückzuweisen.

— Zur Klagefrist

58.
    Die Kommission bringt vor, daß die Klage unzulässig sei, da gegen die 1992 erfolgte implizite Zurückweisung des Antrags auf Gewährung von Waisengeld im Schreiben vom 11. Juni 1992 keine Beschwerde gemäß Artikel 90 Absatz 2 des Statuts eingelegt worden sei. Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Anfechtungsklage gegen eine wiederholende Verfügung unzulässig, wenn die frühere Entscheidung nicht fristgerecht angefochten wurde. Eine wiederholende Verfügung liegt vor, wenn eine Maßnahme gegenüber der früheren Entscheidung nichts Neues enthält und ihr keine erneute Prüfung der Situation des Adressaten vorausgegangen ist (Urteil des Gerichts vom 21. Oktober 1998 in der Rechtssache T-100/96, Vicente-Nuñez/Kommission, Slg. ÖD 1998, II-1779, Randnr. 37, vgl. auch Urteile des Gerichts vom 3. März 1994 in der Rechtssache T-82/92, Cortez-Jiminez/Kommission, Slg. ÖD 1994, II-237, Randnr. 14, und vom 8. Juli 1998 in der Rechtssache T-130/96, Aquilino/Rat, Slg. ÖD 1998, II-1017, Randnr. 34).

59.
    Im vorliegenden Fall hat die Kommission die Angelegenheit fünfmal erneut geprüft; zum erstenmal auf den Antrag der Klägerin zu 2) vom 4. Mai 1995, was sie dazu veranlaßte, in ihrem Schreiben vom 22. Juni 1995 von einem Anspruch des Klägers zu 1) auf Waisengeld auszugehen, zum zweitenmal im Rahmen ihres Schreibens vom 10. August 1995, in dem sie die Gewährung von Waisengeld mit der Begründung ablehnte, Artikel 42 des Anhangs VIII des Statuts sei nicht eingehalten worden, zum drittenmal auf die Beschwerde der Klägerin zu 2) vom 11. September 1995, was sie dazu veranlaßte, in ihrer Entscheidung vom 13. November 1995 ihr Schreiben vom 10. August 1995 zurückzunehmen und der Klägerin zu 2) den Erlaß einer neuen Entscheidung anzukündigen, zum viertenmal im Rahmen ihrer Entscheidung vom 20. März 1996, mit dem sie die Gewährung von Waisengeld mit der Begründung ablehnte, daß der Kläger zu 1) von Herrn Schölles nicht unterhalten worden sei, und schließlich, als sie auf die Beschwerde der Klägerin zu 2) vom 17. Juni 1996 die Entscheidung vom 29. November 1996 erließ, mit der sie die Beschwerde u. a. mit der Begründung zurückwies, der Kläger zu 1) sei nicht Waise im Sinne des Artikels 80 Absatz 1 des Statuts.

60.
    Folglich sind die Entscheidungen vom 20. März 1996 und vom 29. November 1996, die beide nach wiederholter Neuprüfung erlassen wurden und neue Gesichtspunkte enthielten, keine wiederholenden Verfügungen, sondern eigenständige Entscheidungen, die die vorangegangenen Entscheidungen ersetzen. Die Kläger haben daher zu Recht Beschwerde gegen die Entscheidung vom 20. März 1996 eingelegt und anschließend innerhalb der Dreimonatsfrist nach Artikel 91 Absatz 3 des Statuts die Entscheidung vom 29. November 1996 angefochten.

61.
    Die Klage, die am 13. März 1997 beim Gericht eingegangen ist, wurde innerhalb von drei Monaten nach der am 17. Dezember 1996 erfolgten Mitteilung der Entscheidung vom 29. November 1996 erhoben.

62.
    Das Vorbringen, die Klagefrist sei nicht eingehalten worden, ist daher zurückzuweisen.

— Zum Rechtsschutzinteresse der Klägerin zu 2)

63.
    Zum einen ist die Entscheidung vom 29. November 1996 an die Klägerin zu 2) gerichtet und stellt eine ausdrückliche Zurückweisung ihrer Beschwerde vom 17. Juni 1996 gegen die Entscheidung vom 20. März 1996 dar, die ebenfalls an sie gerichtet gewesen war und mit der ihr Antrag auf Gewährung von Waisengeld an ihren Sohn Martin Neumann abgelehnt worden war. Zum anderen geht aus den Akten hervor, daß sich die Kommission während des gesamten Verwaltungsverfahrens an die Klägerin zu 2) als Vertreterin ihres Sohnes Martin gewandt hat. Zum dritten könnte die Gewährung von Waisengeld an den Kläger zu 1) auch finanzielle Auswirkungen auf die Klägerin zu 2) haben, da sie im maßgeblichen Zeitraum ihren Sohn unterhielt.

64.
    Daher hat die Klägerin zu 2) ein Rechtsschutzinteresse bezüglich der Aufhebung der Entscheidungen vom 20. März 1996 und 29. November 1996.

65.
    Nach alledem ist die Klage insgesamt zulässig.

Begründetheit

Vorbringen der Parteien

66.
    Die Kläger machen geltend, die Voraussetzungen für die Gewährung des Waisengeldes nach Artikel 80 Absatz 1 des Statuts seien erfüllt.

67.
    Die Kommission führt aus, der Kläger zu 1) habe keinen Anspruch auf Waisengeld gemäß Artikel 80 Absätze 1 und 3 des Statuts.

68.
    Zum einen ergebe sich aus dem Wortlaut des Artikels 80 Absatz 1 des Statuts und insbesondere aus seinem Verweis auf die im Sinne von Anhang VII Artikel 2 unterhaltsberechtigten Kinder des verstorbenen Beamten, daß diese Bestimmung nur die eigenen Kinder des Beamten, d. h. seine leiblichen oder adoptierten Kinder betreffe. Der Kläger zu 1) sei im Verhältnis zu Herrn Schölles weder das eine noch das andere.

69.
    In der mündlichen Verhandlung hat sich die Kommission u. a. auf den deutschen Text des Artikels 80 Absatz 1 des Statuts bezogen, in dem es „seine ... unterhaltsberechtigten Kinder“ heiße.

70.
    Zum zweiten sei der Kläger zu 1) nicht Waise, da seine beiden leiblichen Eltern zum Zeitpunkt des Todes von Herrn Schölles am Leben gewesen seien und dieser ihn nicht adoptiert habe.

71.
    Zum dritten lägen die tatsächlichen Voraussetzungen für das Vorbringen, es reiche aus, daß der Kläger zu 1) tatsächlich von Herrn Schölles unterhalten worden sei, nicht vor. Nach den eigenen Worten der Klägers stehe fest, daß dieser von der Klägerin zu 2) und Herrn Schölles gemeinsam unterhalten worden sei. Im übrigen sei bei der Frage des Umfangs des von Herrn Schölles gewährten tatsächlichen Unterhalts zu berücksichtigen, daß Herr Schölles drei unterhaltsberechtigte Kinder aus erster Ehe gehabt habe. Der Kläger zu 1) sei ein unterhaltsberechtigtes Kind im Sinne des Artikels 2 des Anhangs VII des Statuts gewesen, weil die Klägerin zu 2) seine leibliche Mutter sei, nicht dagegen, weil ihn Herr Schölles tatsächlich unterhalten habe.

72.
    Zum vierten würde, selbst wenn Herr Neumann finanziell nicht in der Lage gewesen sei, seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht gegenüber seinem Sohn nach dem Tod von Herrn Schölles zu genügen, die Zahlung eines Waisengeldes darauf hinauslaufen, daß die Gemeinschaft diese Verpflichtung de facto übernehme, obwohl Herr Neumann weder europäischer Beamter gewesen noch mit einer europäischen Beamtin verheiratet gewesen sei und zwischen der Gemeinschaft und Herrn Neumann keinerlei dienstrechtliche Beziehungen bestünden. Die Bejahung eines Anspruchs auf Waisengeld, sobald ein Kind tatsächlich von einem verstorbenen Beamten unterhalten worden sei, würde dazu führen, daß das Kind die jeweiligen Unterhaltszahlungen seiner unterhaltspflichtigen leiblichen Eltern mit einer Waisenrente der Gemeinschaften kumulieren würde.

73.
    Zum fünften stehe fest, daß die Klägerin zu 2) als Beamtin der Kommission über ein eigenes Einkommen verfüge, Haushaltszulage erhalten habe und bis 1996 Kinder- und Schulzulage bezogen habe. Sie sei daher nach dem Ableben von Herrn Schölles in der Lage gewesen, finanziell für den Unterhalt ihres Sohnes aufzukommen. Die Umstände des vorliegenden Falles seien somit nicht diejenigen, die der Gemeinschaftsgesetzgeber im Auge gehabt habe, der von der im Zeitpunkt der Schaffung des Artikels 2 Absatz 2 des Anhangs VII des Statuts sehr verbreiteten Konstellation ausgegangen sei, daß der Ehegatte des Gemeinschaftsbeamten nicht berufstätig sei und mithin nicht über entsprechende eigene Einkünfte verfüge.

Würdigung durch das Gericht

74.
    Artikel 80 Absatz 1 des Statuts lautet:

„Stirbt ein Beamter oder ein Ruhegehaltsberechtigter, ohne einen Ehegatten zu hinterlassen, der Anspruch auf Witwengeld hat, so erhalten seine im Sinne von Anhang VII Artikel 2 unterhaltsberechtigten Kinder ein Waisengeld nach Anhang VIII Artikel 21.“

75.
    Im vorliegenden Fall steht fest, daß Herr Schölles, ein Beamter der Kommission, innerhalb eines Jahres nach seiner Heirat mit der Klägerin zu 2) starb, die daher gemäß Artikel 17 Absatz 1 des Anhangs VIII des Statuts keinen Anspruch auf Witwengeld hatte. Unter diesen Umständen erhalten nach Artikel 80 Absatz 1 des Statuts „seine im Sinne von Anhang VII Artikel 2 unterhaltsberechtigten Kinder“ ein Waisengeld.

76.
    Als unterhaltsberechtigtes Kind gilt nach Artikel 2 Absatz 2 Unterabsatz 1 des Anhangs VII des Statuts „das eheliche, das uneheliche oder das an Kindes Statt angenommene Kind des Beamten oder seines Ehegatten, wenn es von dem Beamten tatsächlich unterhalten wird“.

77.
    Entgegen dem Vorbringen der Kommission kann Artikel 80 Absatz 1 des Statuts in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 2 Unterabsatz 1 des Anhangs VII nicht dahin ausgelegt werden, daß er sich nur auf die leiblichen oder adoptierten Kinder des betreffenden Beamten bezieht und die Kinder von dessen Ehegatten ausschließt, da Artikel 2 Absatz 2 Unterabsatz 1 des Anhangs VII ausdrücklich auf das „eheliche, das uneheliche oder das an Kindes Statt angenommene Kind ... seines Ehegatten“ verweist.

78.
    Im übrigen steht die Auffassung der Kommission, daß aufgrund des Adjektivs „seine“ in der deutschen Fassung des Artikels 80 Absatz 1 des Statuts lediglich die leiblichen oder adoptierten Kinder des Beamten in den Genuß des Waisengelds kommen, im Widerspruch zum Wortlaut des Artikels 2 Absatz 2 Unterabsatz 1 des Anhangs VII des Statuts, der ausdrücklich die leiblichen oder an Kindes Statt angenommenen Kinder des Ehegatten des Beamten nennt.

79.
    Zudem ist das Gemeinschaftsrecht einheitlich auszulegen; das verbietet es, im Zweifelsfall eine Sprachfassung einer Bestimmung für sich allein zu betrachten, zwingt vielmehr dazu, diese unter Berücksichtigung der Fassungen in den anderen Amtssprachen auszulegen und anzuwenden (Urteile des Gerichtshofes vom 12. Juli 1979 in der Rechtssache 9/79, Koschniske, Slg. 1979, 2717, Randnr. 6, und vom 2. April 1998 in der Rechtssache C-296/95, EMU Tabac u. a., Slg. 1998, I-1605, Randnr. 36). In den übrigen Sprachfassungen des Artikels 80 Absatz 1 des Statuts heißt es im Französischen „les enfants reconnus a sa charge“, im Englischen „the dependent children“, im Dänischen „de børn, han har forsørgerpligt over for“, im Spanischen „los hijos a su cargo“, im Griechischen „ôá ... óõíôçñïýìåíá ôÝêíá“, im Niederländischen „de kinderen ... te zijnen laste zijn“, im Italienischen „i figli riconsciuti a suo carico“, im Portugiesischen „os filhos que sejam considerados como estando a seu cargo“ und im Schwedischen „de underhållsberättigade barnen“. Die finnische Fassung enthält den bestimmten Artikel nicht.

80.
    Alle übrigen Sprachfassungen mit Ausnahme der finnischen, die neutral ist, stehen also mit der Auslegung im Einklang, daß die betreffenden Vorschriften „die“ unterhaltsberechtigten Kinder des betreffenden Beamten meinen. Unter diesen

Umständen kann die deutsche Fassung jedenfalls nicht allein gegenüber allen anderen Sprachfassungen den Ausschlag geben (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 17. Juli 1997 in der Rechtssache C-219/95 P, Ferriere Nord/Kommission, Slg. 1997, I-4411, Randnrn. 12 und 15).

81.
    Was die Frage betrifft, ob der Kläger zu 1) von Herrn Schölles vor dessen Tod „tatsächlich unterhalten“ wurde, hat die Kommission ihren in der Entscheidung vom 20. März 1999 eingenommenen Standpunkt, daß dies nicht der Fall sei, in der Entscheidung vom 29. November 1996 nicht aufrechterhalten. In der Entscheidung vom 29. November 1996 hat die Kommission nämlich eingeräumt, daß der Kläger zu 1) seit 1982 tatsächlich von seiner Mutter und von Herrn Schölles unterhalten worden sei und daß Günter Neumann zu keinem Zeitpunkt Unterhaltsleistungen an seinen Sohn erbracht habe.

82.
    Nach der Rechtsprechung der Gerichtshofes ist ein Kind, das tatsächlich gemeinsam von einem Beamten und einer anderen Person (im vorliegenden Fall dem Ehegatten des Beamten) unterhalten wird, als unterhaltsberechtigtes Kind des betreffenden Beamten im Sinne von Artikel 2 Absatz 2 des Anhangs VII des Statuts anzusehen (Urteil des Gerichtshofes vom 28. November 1991 in der Rechtssache C-132/90 P, Schwedler/Parlament, Slg. 1991, I-5745, Randnrn. 16 und 17). Im übrigen braucht nicht festgestellt zu werden, ob das Kind von einer der betreffenden Personen „überwiegend unterhalten“ wird (Urteil des Gerichts vom 3. März 1993 in der Rechtssache T-69/91, Peroulakis/Kommission, Slg. 1993, II-185, Randnr. 36).

83.
    Das erstmals vor dem Gericht vorgebrachte Argument, Herr Schölles hätte nicht zum tatsächlichen Unterhalt des Klägers zu 1) beitragen können, da er drei unterhaltsberechtigte Kinder aus erster Ehe gehabt habe, ist zurückzuweisen, da die Kommission die Behauptung der Kläger nicht bestritten hat, daß die drei Kinder von Herrn Schölles seit vielen Jahren, das jüngste seit 1985, volljährig seien.

84.
    Folglich war der Kläger zu 1) nach dem Tod von Herrn Schölles als unterhaltsberechtigtes Kind des verstorbenen Beamten im Sinne von Artikel 2 des Anhangs VII des Statuts anzusehen.

85.
    Was das Argument der Kommission betrifft, daß der Kläger zu 1) keinen Anspruch auf Waisengeld habe, weil er nicht „Waise“ sei, solange seine beiden leiblichen Eltern noch lebten, so ergibt sich aus dem Wortlaut des Artikels 80 Absatz 1 des Statuts, daß ein Kind „Waisen“geld erhält, wenn feststeht, daß es zum Zeitpunkt des Todes des verstorbenen Beamten diesem gegenüber unterhaltsberechtigt war. Diese Vorschrift betrifft nämlich nicht die Gewährung einer Rente an eine „Waise“, sondern an ein „unterhaltsberechtigtes Kind“.

86.
    Insbesondere aus Artikel 80 Absätze 1, 3 und 4 des Statuts geht hervor, daß der Anspruch auf „Waisen“geld mit dem Ableben eines der betreffenden Ehegatten entsteht, ohne daß das Kind beide Eltern verloren haben müßte. Im übrigen folgt

aus diesen Vorschriften, die alle auf Artikel 2 des Anhangs VIII des Statuts verweisen, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber den Tod eines Beamten, der tatsächlich das eheliche, nichteheliche oder an Kindes Statt angenommene Kind seines Ehegatten unterhalten hat, bezüglich der Gewährung von Waisengeld dem Tod eines „Elternteils“ gleichstellen wollte. Daß zum Zeitpunkt des Todes von Herrn Schölles der leibliche Vater des Klägers zu 1), Günter Neumann, noch am Leben war, aber nicht zum Unterhalt seines Sohnes beitrug, nimmt dem letzteren nicht den Anspruch auf das Waisengeld nach Artikel 80 Absatz 1 des Statuts.

87.
    Das Argument der Kommission, dieses Ergebnis laufe darauf hinaus, daß die Gemeinschaft die gesetzliche Unterhaltspflicht von Günter Neumann gegenüber seinem Sohn übernehme, liegt daher neben der Sache, da in allen Absätzen des Artikels 80 des Statuts gerade der Wille des Gemeinschaftsgesetzgebers zum Ausdruck kommt, dem Kind des Ehegatten eines verstorbenen Beamten einen Anspruch auf Waisengeld zu verleihen, sofern das Kind tatsächlich von dem betreffenden Beamten unterhalten wurde.

88.
    Was schließlich den Umstand betrifft, daß die Klägerin zu 2) als Beamtin der Kommission selbst Familienzulagen erhalten hat und über ein eigenes Einkommen verfügt, so hängt nach Artikel 80 des Statuts die Gewährung der dort genannten Waisenrenten nicht von der finanziellen Lage des Ehegatten im konkreten Fall ab. Soweit die Kommission der Auffassung ist, daß die betreffenden Vorschriften den gegenwärtigen sozialen Erfordernissen nicht mehr angemessen sind, ist es ihre Sache, dem Rat geeignete Änderungen des Statuts vorzuschlagen.

89.
    Nach alledem sind die Entscheidungen vom 20. März 1996 und 29. November 1996, mit denen die Gewährung von Waisengeld an den Kläger zu 1) abgelehnt wird, aufzuheben.

Kosten

90.
    Nach Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Nach Artikel 87 § 3 der Verfahrensordnung kann das Gericht auch der obsiegenden Partei die Kosten auferlegen, die sie der Gegenpartei ohne angemessenen Grund oder böswillig verursacht hat.

91.
    In ihrer Gegenerwiderung macht die Kommission geltend, daß ihr die Klägerin zu 2), indem sie eine Klage erhoben habe und an ihr festhalte, unnötige Kosten verursacht habe, die ihr nach Artikel 87 § 3 der Verfahrensordnung aufzuerlegen seien.

92.
    Die Klägerin zu 2) hat in ihrer Klageschrift darauf hingewiesen, daß sie als Klägerin auftrete, weil die streitige Entscheidung an sie gerichtet sei, daß sie aber bereit sei, aus dem Verfahren auszuscheiden, sofern die Kommission einräume, daß sie sie als

Vertreterin ihres Sohnes angesehen habe. Dies hat die Kommission jedoch nicht getan.

93.
    Das Gericht hat bereits festgestellt, daß die Klägerin zu 2) ein eigenes Rechtsschutzinteresse hatte.

94.
    Daher ist Artikel 87 § 3 der Verfahrensordnung nicht anzuwenden.

95.
    Da die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr somit sämtliche Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen

hat

DAS GERICHT (Zweite Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.    Die Entscheidungen vom 20. März 1996 und vom 29. November 1996, mit denen die Kommission die Gewährung von Waisengeld an den Kläger zu 1) abgelehnt hat, werden aufgehoben.

2.    Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.

Potocki            Bellamy

Vilaras

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 29. September 1999.

Der Kanzler

Der Präsident

H. Jung

A. Potocki


1: Verfahrenssprache: Deutsch.