SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
PRIIT PIKAMÄE
vom 9. September 2021(1)
Rechtssache C‑213/19
Europäische Kommission
gegen
Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland
„Vertragsverletzung – Art. 4 Abs. 3 EUV – Art. 310 Abs. 6 und Art. 325 AEUV – Betrugsbekämpfung – Erfordernis der Effektivität – Verpflichtung zur Bereitstellung der Eigenmittel für den Haushalt der Union – Finanzielle Haftung der Mitgliedstaaten – Zollunion – Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 – Zollkodex der Gemeinschaften – Verordnung (EU) Nr. 952/2013 – Zollkodex der Union – Zölle – Einfuhren von Textilien und Schuhen aus China – Ausgedehnter und systemischer Betrug – Organisierte Kriminalität – Missing Trader – Zollwert – Unterbewertung – Risikobasierte Zollkontrollen – Der Überlassung vorausgehende Kontrollen – Sicherheitsleistung – Fehlen von Kontrollen – Art. 16 und 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Eigenmittel der Europäischen Union – Beschlüsse 2007/436/EG und 2014/335/EU – Verordnungen (EG, Euratom) Nr. 1150/2000 und (EU, Euratom) Nr. 609/2014 – Feststellung einer Zollschuld – Verpflichtung zur Bereitstellung für die Europäische Union – Schätzung des Verlusts an traditionellen Eigenmitteln – Auf den berichtigten Durchschnittspreis und den akzeptablen Mindestpreis gestützte statistische Methodik – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Bemessungsgrundlage der Mehrwertsteuer – Mehrwertsteuereigenmittel“
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
1. In der vorliegenden Rechtssache hat die Europäische Kommission eine Vertragsverletzungsklage gemäß Art. 258 AEUV gegen das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland mit der Begründung erhoben, dieses habe in einem Zeitraum von November 2011 bis einschließlich 11. Oktober 2017 (im Folgenden: Zeitraum der Zuwiderhandlung) zum einen hinsichtlich bestimmter Einfuhren von Textilien und Schuhen aus China nicht die korrekten Zollbeträge in die Buchführung aufgenommen und nicht den korrekten Betrag an traditionellen Eigenmitteln und Mehrwertsteuereigenmitteln zur Verfügung gestellt und zum anderen nicht alle von der Kommission für die Bestimmung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln benötigten Informationen übermittelt(2).
2. Nach Ansicht der Kommission hat dieser Staat damit seine Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 3 EUV über den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, Art. 310 Abs. 6 und Art. 325 AEUV sowie einer Reihe von Bestimmungen des abgeleiteten Rechts betreffend das Zollrecht der Union, die traditionellen Eigenmittel und die Mehrwertsteuer verletzt.
3. Die vorliegende Rechtssache gibt dem Gerichtshof somit Gelegenheit, seine Rechtsprechung zur Reichweite der aus den vorgenannten Bestimmungen folgenden Verpflichtungen auf dem Gebiet der Betrugsbekämpfung und des Schutzes der finanziellen Interessen der Union in einem Kontext weiterzuentwickeln, in dem die Kommission vorbringt, der betreffende Mitgliedstaat habe den Zollwert der eingeführten Waren nicht korrekt bestimmt, da diese bei ihrer Einfuhr wegen des Fehlens wirksamer Kontrollmaßnahmen unterbewertet worden seien. Diese Rechtssache wirft grundlegende Fragen auf wie etwa die, wie die Kommission in einer Situation, in der sie sich wegen Fehlens einer korrekten Bestimmung des Warenwerts durch den betreffenden Mitgliedstaat auf eine statistische Methode, nämlich die berichtigten Durchschnittspreise der eingeführten Waren auf Unionsebene, stützt, den Betrag ihrer Forderung wegen der Eigenmittelverluste beziffern kann. Schließlich wird der Gerichtshof zu entscheiden haben, ob der Mitgliedstaat der Einfuhr der Waren die Verluste an Mehrwertsteuereigenmitteln im Rahmen eines Zollverfahrens schuldet, in dem die Zölle bei der Einfuhr entrichtet werden, die Mehrwertsteuer jedoch später im Bestimmungsmitgliedstaat zu entrichten ist.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Das Recht der traditionellen Eigenmittel
1. Die Beschlüsse betreffend das System der Eigenmittel
4. Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und b des ab 1. Januar 2014 geltenden Beschlusses 2014/335/EU, Euratom(3), dessen Wortlaut der Sache nach Art. 2 Abs. 1 des Beschlusses 2007/436/EG, Euratom des Rates vom 7. Juni 2007 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften(4) entspricht, stellen folgende Einnahmen in den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union einzusetzende Eigenmittel dar: „traditionelle Eigenmittel in Form von … Zöllen des Gemeinsamen Zolltarifs und anderen Zöllen auf den Warenverkehr mit Drittländern, die von den Organen der Union eingeführt worden sind oder noch eingeführt werden“, sowie „Einnahmen, die sich aus der Anwendung eines für alle Mitgliedstaaten einheitlichen Satzes auf die nach Unionsvorschriften bestimmten harmonisierten MwSt.‑Eigenmittelbemessungsgrundlagen ergeben“.
5. Gemäß Art. 8 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Beschlüsse werden die Zölle des Gemeinsamen Zolltarifs als Eigenmittel der Union von den Mitgliedstaaten nach ihren innerstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erhoben, die gegebenenfalls den Erfordernissen der Unionsvorschriften anzupassen sind. Gemäß Art. 8 Abs. 1 Unterabs. 3 des Beschlusses 2007/436 und Art. 8 Abs. 2 des Beschlusses 2014/335 stellen die Mitgliedstaaten die Mittel nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. a bis c dieser Beschlüsse der Kommission zur Verfügung.
2. Die Verordnungen betreffend die Modalitäten und das Verfahren der Zurverfügungstellung der Eigenmittel
6. An die Stelle der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1150/2000 des Rates vom 22. Mai 2000 zur Durchführung des Beschlusses 94/728(5), die auf den ersten Teil des Zeitraums der Zuwiderhandlung anwendbar ist, ist mit Wirkung vom 1. Januar 2014 die Verordnung (EU, Euratom) Nr. 609/2014 des Rates vom 26. Mai 2014 zur Festlegung der Methoden und Verfahren für die Bereitstellung der traditionellen, der MwSt.‑ und der BNE[(6)]-Eigenmittel sowie der Maßnahmen zur Bereitstellung der erforderlichen Kassenmittel(7) getreten. Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 609/2014, der der Sache nach Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1150/2000 entspricht, lautet:
„Für diese Verordnung gilt ein Anspruch der Union auf traditionelle Eigenmittel nach Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a des Beschlusses 2014/335 … als festgestellt, sobald die Bedingungen der Zollvorschriften für die buchmäßige Erfassung des Betrags der Abgabe und dessen Mitteilung an den Abgabenschuldner erfüllt sind.“
7. In Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 Unterabs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 609/2014, der der Sache nach Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 1150/2000 entspricht, heißt es:
„(1) Bei der Haushaltsverwaltung jedes Mitgliedstaats oder bei der von jedem Mitgliedstaat bestimmten Einrichtung wird über die Eigenmittel Buch geführt, und zwar aufgegliedert nach der Art der Mittel.
…
(3) Die nach Artikel 2 festgestellten Ansprüche werden vorbehaltlich des zweiten Unterabsatzes dieses Absatzes spätestens am ersten Arbeitstag nach dem Neunzehnten des zweiten Monats, der auf den Monat folgt, in dem der Anspruch festgestellt wurde, in die Buchführung [sogenannte A-Buchführung] aufgenommen.
Festgestellte Ansprüche, die in die Buchführung nach Unterabsatz 1 nicht aufgenommen wurden, weil sie noch nicht eingezogen wurden und keine Sicherheit geleistet worden ist, werden innerhalb der Frist nach Unterabsatz 1 in einer gesonderten Buchführung [sogenannte B-Buchführung] ausgewiesen. Die Mitgliedstaaten können auf die gleiche Weise vorgehen, wenn festgestellte Ansprüche, für die eine Sicherheit geleistet worden ist, angefochten werden und durch Regelung des betreffenden Streitfalls Veränderungen unterworfen sein können.
…“
8. Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 609/2014, der Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 1150/2000 entspricht, lautet:
„Jeder Mitgliedstaat schreibt die Eigenmittel nach Maßgabe des Artikels 10 dem Konto gut, das zu diesem Zweck für die Kommission bei der Haushaltsverwaltung des Mitgliedstaats oder bei der von ihm bestimmten Einrichtung eingerichtet wurde.“
9. Diese Bestimmung wurde mit Wirkung vom 1. Oktober 2016 durch die Verordnung (EU, Euratom) 2016/804 des Rates(8) wie folgt geändert:
„Jeder Mitgliedstaat schreibt die Eigenmittel nach dem Verfahren der Artikel 10, 10a und 10b dem Konto gut, das zu diesem Zweck auf den Namen der Kommission bei der Haushaltsverwaltung oder bei der nationalen Zentralbank des Mitgliedstaats eingerichtet wurde. Vorbehaltlich der Anrechnung von Negativzinsen gemäß Unterabsatz 3 darf dieses Konto nur auf Anweisung der Kommission belastet werden.“
10. Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 609/2014, der der Sache nach Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1150/2000 entspricht, lautet:
„Nach Abzug der Erhebungskosten gemäß Artikel 2 Absatz 3 und Artikel 10 Absatz 3 des Beschlusses 2014/335 … erfolgt die Gutschrift der traditionellen Eigenmittel nach Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a des genannten Beschlusses spätestens am ersten Arbeitstag nach dem Neunzehnten des zweiten Monats, der auf den Monat folgt, in dem der Anspruch nach Artikel 2 der vorliegenden Verordnung festgestellt wurde.
Bei den nach Artikel 6 Absatz 3 Unterabsatz 2 dieser Verordnung in einer gesonderten Buchführung ausgewiesenen Ansprüchen erfolgt die Gutschrift spätestens am ersten Arbeitstag nach dem Neunzehnten des zweiten Monats, der auf den Monat folgt, in dem die Ansprüche eingezogen wurden.“
11. In der ursprünglichen Fassung von Art. 12 Abs. 1 und 3 der Verordnung Nr. 609/2014, der der Sache nach Art. 11 Abs. 1 und 3 der Verordnung Nr. 1150/2000 entsprach, hieß es:
„(1) Bei verspäteter Gutschrift auf dem in Artikel 9 Absatz 1 genannten Konto hat der betreffende Mitgliedstaat Verzugszinsen zu entrichten.
…
(3) Für die nicht an der Wirtschafts- und Währungsunion teilnehmenden Mitgliedstaaten gilt der Satz, der am ersten Tag des Fälligkeitsmonats von den Zentralbanken bei ihren Kapitalrefinanzierungen angewandt wird, zuzüglich zwei Prozentpunkte, oder für Mitgliedstaaten, für die der Zentralbanksatz nicht vorliegt, der am ersten Tag des Fälligkeitsmonats auf dem Geldmarkt des jeweiligen Mitgliedstaats angewandte Satz, der dem vorgenannten Satz am ehesten entspricht, zuzüglich zwei Prozentpunkte.
Dieser Satz erhöht sich um weitere 0,25 Prozentpunkte für jeden Verzugsmonat. Der erhöhte Satz findet auf die gesamte Dauer des Verzugs Anwendung.“
12. Nach Inkrafttreten der Verordnung 2016/804 trat mit Wirkung vom 1. Oktober 2016 an die Stelle von Art. 12 Abs. 3 der Verordnung Nr. 609/2014 der folgende Art. 12 Abs. 5:
„Für die nicht an der Wirtschafts- und Währungsunion teilnehmenden Mitgliedstaaten entspricht der Zinssatz dem Satz, der am ersten Tag des Fälligkeitsmonats von den Zentralbanken bei ihren Hauptrefinanzierungsgeschäften angewandt wird, oder einem Zinssatz von 0 Prozent, je nachdem, welcher Satz höher ist, zuzüglich 2,5 Prozentpunkten. Für die Mitgliedstaaten, für die der Zentralbanksatz nicht vorliegt, entspricht der Zinssatz dem am ehesten entsprechenden Satz, der am ersten Tag des Fälligkeitsmonats auf dem Geldmarkt des jeweiligen Mitgliedstaats angewandt wird, oder ein Zinssatz von 0 Prozent, je nachdem, welcher Satz höher ist, zuzüglich 2,5 Prozentpunkten.
Dieser Satz erhöht sich um weitere 0,25 Prozentpunkte für jeden Verzugsmonat.
Die Gesamterhöhung gemäß den Unterabsätzen 1 und 2 darf 16 Prozentpunkte nicht übersteigen. Der erhöhte Satz findet auf die gesamte Dauer des Verzugs Anwendung.“
13. In Art. 13 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 609/2014, der der Sache nach Art. 17 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 entspricht, heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten haben alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit die Beträge, die den gemäß Artikel 2 festgestellten Ansprüchen entsprechen, der Kommission nach Maßgabe dieser Verordnung zur Verfügung gestellt werden.
(2) Die Mitgliedstaaten sind nicht verpflichtet, der Kommission die den gemäß Artikel 2 festgestellten Ansprüchen entsprechenden Beträge zur Verfügung zu stellen, wenn diese aus einem der folgenden Gründe uneinbringlich sind:
a) aus Gründen höherer Gewalt,
b) aus anderen, nicht von den Mitgliedstaaten zu vertretenden Gründen.
Beträge festgestellter Ansprüche werden durch eine Entscheidung der zuständigen Verwaltungsbehörde für uneinbringlich erklärt, nachdem diese sich von der Unmöglichkeit ihrer Einziehung überzeugt hat.
Als uneinbringlich gelten Beträge festgestellter Ansprüche spätestens nach Ablauf einer Frist von fünf Jahren, gerechnet ab dem Zeitpunkt ihrer Feststellung gemäß Artikel 2 oder, falls ein administratives oder gerichtliches Rechtsmittel eingelegt wurde, ab dem Zeitpunkt, an dem die endgültige Entscheidung über das Rechtsmittel ergangen ist bzw. mitgeteilt oder veröffentlicht wurde.
…“
3. Verordnung (EU, Euratom) Nr. 608/2014
14. Für die Zeit nach dem 1. Januar 2014 sieht Art. 2 („Kontrolle und Überwachung“) der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 608/2014 des Rates vom 26. Mai 2014 zur Festlegung von Durchführungsbestimmungen für das Eigenmittelsystem der Europäischen Union(9) vor:
„(1) Die Eigenmittel nach Artikel 2 Absatz 1 des Beschlusses 2014/335 … werden unbeschadet der Verordnung [Nr. 1553/89(10)] nach Maßgabe der vorliegenden Verordnung kontrolliert.
(2) Die Mitgliedstaaten treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Eigenmittel gemäß Artikel 2 Absatz 1 des Beschlusses 2014/335 … zur Verfügung gestellt werden.
(3) Betreffen Kontrolle und Überwachung die traditionellen Eigenmittel nach Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a des Beschlusses 2014/335 …, so gilt Folgendes:
a) Die Mitgliedstaaten führen in Bezug auf die Feststellung und Bereitstellung dieser Eigenmittel Prüfungen und Nachforschungen durch.
…
c) Die Mitgliedstaaten ziehen die Kommission auf deren Antrag zu den von ihnen durchgeführten Kontrollen hinzu. Wird die Kommission zu einer Kontrolle hinzugezogen, so hat sie – soweit es für die Anwendung dieser Verordnung erforderlich ist – Zugang zu den Unterlagen über die Feststellung und Bereitstellung der Eigenmittel und zu allen anderen sachdienlichen Schriftstücken, die mit diesen Unterlagen zusammenhängen.
d) Die Kommission kann selbst Kontrollen vor Ort vornehmen. Die von der Kommission mit diesen Kontrollen beauftragten Bediensteten haben den gleichen Zugang zu Unterlagen, wie er für die Kontrollen nach Buchstabe c vorgesehen ist. Die Mitgliedstaaten erleichtern diese Kontrollen.
…“
15. Art. 5 („Mitteilung von Betrugsfällen und Unregelmäßigkeiten, die Ansprüche auf traditionelle Eigenmittel betreffen“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 608/2014 sieht vor:
„Für die traditionellen Eigenmittel gemäß Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a des Beschlusses 2014/335 … übermitteln die Mitgliedstaaten der Kommission binnen zwei Monaten nach Ablauf eines jeden Vierteljahres eine Beschreibung der aufgedeckten Betrugsfälle und Unregelmäßigkeiten, die Ansprüche von über 10 000 [Euro] betreffen.
Die Mitgliedstaaten übermitteln innerhalb der in Unterabsatz 1 genannten Frist eine Übersicht über den Stand der Betrugsfälle und Unregelmäßigkeiten, die der Kommission bereits mitgeteilt wurden und für die zuvor noch kein Vermerk betreffend Einziehung, Annullierung oder Nichteinziehung existierte.“
4. Verordnung Nr. 1553/89
16. In Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1553/89 heißt es:
„Die Grundlage für die MwSt.‑Eigenmittel wird anhand der steuerbaren Umsätze im Sinne von Artikel 2 der [Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage, ABl. 1977, L 145, S. 1] festgelegt …“
17. Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung lautet:
„Unbeschadet der Artikel 5 und 6 wird die Grundlage der MwSt.‑Eigenmittel für ein bestimmtes Kalenderjahr berechnet, indem die gesamten von dem Mitgliedstaat in diesem Jahr getätigten MwSt.‑Nettoeinnahmen durch den Satz geteilt werden, zu dem die MwSt. in dem betreffenden Jahr erhoben wird.“
B. Zollrecht
1. Der Zollkodex der Gemeinschaften
18. Art. 13 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften(11) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 648/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005(12) geänderten Fassung (im Folgenden: Zollkodex der Gemeinschaften) bestimmte:
„(1) Die Zollbehörden können unter den im geltenden Recht festgelegten Voraussetzungen alle Kontrollen durchführen, die sie für erforderlich halten, um die ordnungsgemäße Anwendung der zollrechtlichen und sonstigen Vorschriften über den Eingang, den Ausgang, den Versand, die Beförderung und die besondere Verwendung von Waren, die zwischen dem Zollgebiet der Gemeinschaft und Drittländern befördert werden, sowie über das Vorhandensein von Waren ohne Gemeinschaftsstatus zu gewährleisten. Zollkontrollen können im Interesse der ordnungsgemäßen Anwendung des Gemeinschaftsrechts in einem Drittland durchgeführt werden, wenn das in einer internationalen Übereinkunft vorgesehen ist.
(2) Die Zollkontrollen außer Stichprobenkontrollen stützen sich auf eine Risikoanalyse unter Verwendung automatisierter Datenverarbeitungsmethoden, damit die Risiken erkannt und quantifiziert werden und damit die Maßnahmen ergriffen werden, die zur Bewertung der Risiken nach nationalen, gemeinschaftlichen und gegebenenfalls internationalen Kriterien erforderlich sind.
Nach dem Ausschussverfahren wird ein gemeinsamer Rahmen für das Risikomanagement geschaffen und werden gemeinsame Kriterien und prioritäre Kontrollbereiche festgelegt.
Die Mitgliedstaaten erstellen in Zusammenarbeit mit der Kommission ein elektronisches System für die Umsetzung des Risikomanagements.
(3) Führen andere Behörden als die Zollbehörden Kontrollen durch, so nehmen sie diese Kontrollen in enger Koordinierung mit den Zollbehörden – nach Möglichkeit zur gleichen Zeit und am gleichen Ort – vor.
…“
19. Titel II des Zollkodex der Gemeinschaften enthielt ein Kapitel 3 („Zollwert der Waren“), das aus den Art. 28 bis 36 bestand.
20. Art. 29 dieses Kodex sah vor:
„(1) Der Zollwert eingeführter Waren ist der Transaktionswert, das heißt der für die Waren bei einem Verkauf zur Ausfuhr in das Zollgebiet der Gemeinschaft tatsächlich gezahlte oder zu zahlende Preis, gegebenenfalls nach Berichtigung gemäß den Artikeln 32 und 33
…
(2) a) Bei der Feststellung, ob der Transaktionswert im Sinne des Absatzes 1 anerkannt werden kann, ist die Verbundenheit von Käufer und Verkäufer allein kein Grund, den Transaktionswert als unannehmbar anzusehen. Falls notwendig, sind die Begleitumstände des Kaufgeschäfts zu prüfen und ist der Transaktionswert anzuerkennen, wenn die Verbundenheit den Preis nicht beeinflusst hat. …
…
3. a) Der tatsächlich gezahlte oder zu zahlende Preis ist die vollständige Zahlung, die der Käufer an den Verkäufer oder zu dessen Gunsten für die eingeführten Waren entrichtet oder zu entrichten hat, und schließt alle Zahlungen ein, die als Bedingung für das Kaufgeschäft über die eingeführten Waren vom Käufer an den Verkäufer oder vom Käufer an einen Dritten zur Erfüllung einer Verpflichtung des Verkäufers tatsächlich entrichtet werden oder zu entrichten sind. …
…“
21. In Art. 30 dieses Kodex hieß es:
„(1) Kann der Zollwert nicht nach Artikel 29 ermittelt werden, so ist er in der Reihenfolge des Absatzes 2 Buchstaben a) bis d) zu ermitteln, und zwar nach dem jeweils ersten zutreffenden Buchstaben …
(2) Der nach diesem Artikel ermittelte Zollwert ist einer der folgenden Werte:
a) der Transaktionswert gleicher Waren, die zur Ausfuhr in die Gemeinschaft verkauft und zu demselben oder annähernd demselben Zeitpunkt wie die zu bewertenden Waren ausgeführt wurden;
b) der Transaktionswert gleichartiger Waren, die zur Ausfuhr in die Gemeinschaft verkauft und zu demselben oder annähernd zu demselben Zeitpunkt wie die zu bewertenden Waren ausgeführt wurden;
c) der Wert auf der Grundlage des Preises je Einheit, zu dem die eingeführten Waren oder eingeführte gleiche oder gleichartige Waren in der größten Menge insgesamt in der Gemeinschaft an Personen verkauft werden, die mit den Verkäufern nicht verbunden sind;
d) der errechnete Wert …
…“
22. Art. 31 des Zollkodex der Gemeinschaften sah vor:
„(1) Kann der Zollwert der eingeführten Waren nicht nach den Artikeln 29 und 30 ermittelt werden, so ist er auf der Grundlage von in der Gemeinschaft verfügbaren Daten durch zweckmäßige Methoden zu ermitteln, die übereinstimmen mit den Leitlinien und allgemeinen Regeln
– des Übereinkommens zur Durchführung des Artikels VII des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens von 1994,
– des Artikels VII des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens von 1994
sowie
– der Vorschriften dieses Kapitels.
(2) Der nach Absatz 1 ermittelte Zollwert darf nicht zur Grundlage haben:
a) den Verkaufspreis in der Gemeinschaft von Waren, die in der Gemeinschaft hergestellt worden sind;
b) ein Verfahren, nach dem jeweils der höhere von zwei Alternativwerten für die Zollbewertung heranzuziehen ist;
c) den Inlandsmarktpreis von Waren im Ausfuhrland;
d) andere Herstellungskosten als jene, die bei dem errechneten Wert für gleiche oder gleichartige Waren nach Artikel 30 Absatz 2 Buchstabe d) ermittelt worden sind;
e) Preise zur Ausfuhr in ein Land, das nicht zum Zollgebiet der Gemeinschaft gehört;
f) Mindestzollwerte;
g) willkürliche oder fiktive Werte.“
23. Art. 68 dieses Kodex lautete:
„Die Zollbehörden können zwecks Überprüfung der von ihnen angenommenen Anmeldungen
a) die Unterlagen prüfen; geprüft werden können die Anmeldung und die dieser beigefügten Unterlagen. Die Zollbehörden können vom Anmelder verlangen, dass er ihnen weitere Unterlagen zur Nachprüfung der Richtigkeit der Angaben in der Anmeldung vorlegt;
b) eine Zollbeschau vornehmen, gegebenenfalls mit Entnahme von Mustern oder Proben zum Zweck einer Analyse oder eingehenden Prüfung.“
24. Art. 71 dieses Kodex sah vor:
„(1) Die Ergebnisse der Überprüfung der Anmeldung werden der Anwendung der Vorschriften über das Zollverfahren, zu dem die Waren angemeldet worden sind, zugrunde gelegt.
(2) Findet keine Überprüfung der Anmeldung statt, so werden die darin enthaltenen Angaben für die Anwendung des Absatzes 1 zugrunde gelegt.“
25. In Art. 217 des Zollkodex der Gemeinschaften hieß es:
„(1) Jeder einer Zollschuld entsprechende Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbetrag – nachstehend „Abgabenbetrag“ genannt – muss unmittelbar bei Vorliegen der erforderlichen Angaben von den Zollbehörden berechnet und in die Bücher oder in sonstige stattdessen verwendete Unterlagen eingetragen werden (buchmäßige Erfassung).
…
(2) Die Einzelheiten der buchmäßigen Erfassung der Abgabenbeträge werden von den Mitgliedstaaten geregelt. Diese Einzelheiten können unterschiedlich sein, je nachdem, ob unter Berücksichtigung der Voraussetzungen, unter denen die Zollschuld entstanden ist, die Entrichtung dieser Beträge für die Zollbehörden gesichert ist oder nicht.“
26. Art. 218 Abs. 1 dieses Kodex lautete:
„Entsteht eine Zollschuld durch die Annahme der Zollanmeldung einer Ware zu einem anderen Zollverfahren als der vorübergehenden Verwendung unter teilweiser Befreiung von den Einfuhrabgaben oder durch andere Handlungen mit gleicher rechtlicher Wirkung wie diese Annahme, so erfolgt die buchmäßige Erfassung des dieser Zollschuld entsprechenden Betrags unmittelbar nach Berechnung dieses Betrages, spätestens jedoch am zweiten Tag nach dem Tag, an dem die Ware überlassen worden ist.“
27. Art. 220 Abs. 1 dieses Kodex sah vor:
„Ist der einer Zollschuld entsprechende Abgabenbetrag nicht nach den Artikeln 218 und 219 buchmäßig erfasst oder mit einem geringeren als dem gesetzlich geschuldeten Betrag buchmäßig erfasst worden, so hat die buchmäßige Erfassung des zu erhebenden Betrags oder des nachzuerhebenden Restbetrags innerhalb von zwei Tagen nach dem Tag zu erfolgen, an dem die Zollbehörden diesen Umstand feststellen und in der Lage sind, den gesetzlich geschuldeten Betrag zu berechnen sowie den Zollschuldner zu bestimmen (nachträgliche buchmäßige Erfassung). Diese Frist kann nach Artikel 219 verlängert werden.“
28. In Art. 221 dieses Kodex hieß es:
„(1) Der Abgabenbetrag ist dem Zollschuldner in geeigneter Form mitzuteilen, sobald der Betrag buchmäßig erfasst worden ist.
…
(3) Die Mitteilung an den Zollschuldner darf nach Ablauf einer Frist von drei Jahren nach dem Zeitpunkt des Entstehens der Zollschuld nicht mehr erfolgen. Diese Frist wird ab dem Zeitpunkt ausgesetzt, in dem ein Rechtsbehelf gemäß Artikel 243 eingelegt wird, und zwar für die Dauer des Rechtsbehelfs.
(4) Ist die Zollschuld aufgrund einer Handlung entstanden, die zu dem Zeitpunkt, als sie begangen wurde, strafbar war, so kann die Mitteilung unter den Voraussetzungen, die im geltenden Recht festgelegt sind, noch nach Ablauf der Dreijahresfrist nach Absatz 3 erfolgen.“
2. Der Zollkodex der Union
29. Art. 3 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union(13) (im Folgenden: Zollkodex der Union) sieht vor:
„Die Zollbehörden sind in erster Linie dafür zuständig, den internationalen Handel der Union zu überwachen und dadurch zu einem fairen und liberalisierten Handel, zur Umsetzung der externen Aspekte des Binnenmarkts, der gemeinsamen Handelspolitik und der anderen Politiken der Union in handelsrelevanten Bereichen sowie zur Sicherheit der Lieferkette insgesamt beizutragen. Die Zollbehörden treffen Maßnahmen, die insbesondere Folgendes zum Ziel haben:
a) den Schutz der finanziellen Interessen der Union und ihrer Mitgliedstaaten,
b) den Schutz der Union vor unlauterem und illegalem Handel bei gleichzeitiger Unterstützung der legalen Wirtschaftstätigkeit,
c) die Gewährleistung von Schutz und Sicherheit der Union und ihrer Bewohner sowie des Schutzes der Umwelt, gegebenenfalls in enger Zusammenarbeit mit anderen Behörden und
d) die Wahrung eines angemessenen Gleichgewichts zwischen Zollkontrollen und der Erleichterung des legalen Handels.“
30. Art. 46 („Risikomanagement und Zollkontrollen“) des Zollkodex der Union lautet:
„(1) Die Zollbehörden können alle Zollkontrollen durchführen, die ihres Erachtens erforderlich sind.
Zu diesen Zollkontrollen gehören insbesondere die Beschau der Waren, die Entnahme von Proben und Mustern, die Überprüfung der Richtigkeit und Vollständigkeit der in einer Anmeldung oder Mitteilung gemachten Angaben sowie des Vorhandenseins, der Echtheit, Richtigkeit und Gültigkeit von Unterlagen, die Prüfung der Buchführung der Wirtschaftsbeteiligten und der sonstigen Aufzeichnungen, die Kontrolle der Beförderungsmittel, des Gepäcks und der sonstigen Waren, die von oder an Personen mitgeführt werden, sowie die Durchführung von behördlichen Nachforschungen und dergleichen.
(2) Mit Ausnahme von Stichproben erfolgen Zollkontrollen in erster Linie auf der Grundlage einer Risikoanalyse mit Mitteln der elektronischen Datenverarbeitung mit dem Ziel, anhand von auf einzelstaatlicher Ebene, Unionsebene und – soweit verfügbar – internationaler Ebene entwickelten Kriterien Risiken zu ermitteln und abzuschätzen und die erforderlichen Abwehrmaßnahmen zu entwickeln.
(3) Zollkontrollen werden innerhalb eines gemeinsamen Rahmens für das Risikomanagement durchgeführt, der auf dem Austausch risikobezogener Informationen und der Ergebnisse von Risikoanalysen zwischen den Zollverwaltungen beruht und gemeinsame Risikokriterien und Standards, Kontrollmaßnahmen und vorrangige Kontrollbereiche festlegt.
Auf diesen Informationen und Kriterien beruhende Kontrollen erfolgen unbeschadet anderer Kontrollen, die gemäß Absatz 1 oder gemäß anderen geltenden Vorschriften durchgeführt werden.
(4) Die Zollbehörden wenden Risikomanagementverfahren an, um die Höhe des Risikos zu bestimmen, das mit den der zollamtlichen Kontrolle oder Überwachung unterliegenden Waren verbunden ist, und um zu entscheiden, ob die Waren besonderen Zollkontrollen unterzogen werden und wo diese gegebenenfalls durchgeführt werden.
Dazu gehören Tätigkeiten wie das Sammeln von Daten und Informationen, die Analyse und Bewertung von Risiken, das Vorschreiben und Umsetzen von Maßnahmen sowie die regelmäßige Überwachung und Überprüfung dieses Prozesses und seiner Ergebnisse auf der Grundlage internationaler, unionsinterner und einzelstaatlicher Quellen und Strategien.
(5) Die Zollbehörden tauschen risikobezogene Informationen und Ergebnisse von Risikoanalysen aus, wenn:
a) eine Zollbehörde die Risiken als beträchtlich einschätzt und eine Zollkontrolle für erforderlich erachtet und die Kontrolle ergeben hat, dass das Ereignis, das den Tatbestand eines Risikos schafft, eingetreten ist, oder
b) die Kontrolle zwar nicht ergeben hat, dass das Ereignis, das den Tatbestand eines Risikos schafft, eingetreten ist, die Zollbehörde jedoch der Auffassung ist, dass ein hohes Risiko an einem anderen Ort in der Union besteht.
(6) Bei der Festlegung von gemeinsamen Risikokriterien und Standards, der in Absatz 3 genannten Kontrollmaßnahmen und vorrangigen Kontrollbereiche ist alles Folgende zu berücksichtigen:
a) ein angemessenes Verhältnis zum Risiko,
b) die Dringlichkeit der erforderlichen Durchführung der Kontrollen,
c) die wahrscheinlichen Auswirkungen auf die Handelsströme, auf einzelne Mitgliedstaaten und auf die Kontrollressourcen.
(7) Die gemeinsamen Risikokriterien und Standards gemäß Absatz 3 umfassen alle folgenden Elemente:
a) eine Beschreibung der Risiken,
b) die Risikofaktoren oder ‑indikatoren, die bei der Auswahl von Waren oder Wirtschaftsbeteiligten für Zollkontrollen zu berücksichtigen sind,
c) die Art der von den Zollbehörden durchzuführenden Zollkontrollen,
d) die Dauer der Anwendung der unter Buchstabe c genannten Zollkontrollen.
(8) Unbeschadet der übrigen üblicherweise von den Zollbehörden durchgeführten Kontrollen umfassen die vorrangigen Kontrollbereiche bestimmte Zollverfahren, Arten von Waren, Verkehrswege, Beförderungsart oder Wirtschaftsbeteiligte, die in einem bestimmten Zeitraum einem höheren Maß der Risikoanalyse und Zollkontrollen unterworfen sind.“
31. Art. 53 („Währungsumrechnung“) Abs. 1 des Zollkodex der Union lautet:
„Die zuständigen Behörden veröffentlichen den Wechselkurs und/oder stellen ihn über das Internet zur Verfügung, der anwendbar ist, wenn eine Währungsumrechnung erforderlich ist,
a) weil die Faktoren, nach denen der Zollwert der Waren ermittelt wird, in einer anderen Währung als der des Mitgliedstaats ausgedrückt sind, in dem die Bewertung vorgenommen wird, oder
b) weil für die zolltarifliche Einreihung von Waren und die Festsetzung des Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbetrags, einschließlich der Schwellenwerte im Gemeinsamen Zolltarif, der Wert des Euro in nationalen Währungen benötigt wird.“
32. Die Art. 70 und 74 dieses Kodex enthalten Regeln betreffend den Zollwert der Waren, die der Sache nach denen in den Art. 29 bis 31 des Zollkodex der Gemeinschaften enthaltenen entsprechen.
33. Gemäß Art. 101 Abs. 1 des Zollkodex der Union wird der zu entrichtende Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbetrag von den Zollbehörden, die für den Ort zuständig sind, an dem die Zollschuld entstanden ist oder nach Artikel 87 als entstanden gilt, festgesetzt, sobald die erforderlichen Angaben vorliegen.
34. Art. 103 („Verjährung der Zollschuld“) Abs. 1 und 2 dieses Kodex lautet:
„(1) Eine Zollschuld darf dem Zollschuldner nach Ablauf einer Frist von drei Jahren nach dem Tag des Entstehens der Zollschuld nicht mehr mitgeteilt werden.
(2) Ist die Zollschuld aufgrund einer zum Zeitpunkt ihrer Begehung strafbaren Handlung entstanden, so verlängert sich die Frist des Absatzes 1 von drei Jahren auf mindestens fünf und höchstens zehn Jahre gemäß dem einzelstaatlichen Recht.“
35. Art. 105 („Zeitpunkt der buchmäßigen Erfassung“) Abs. 3 des Zollkodex der Union sieht vor:
„Entsteht eine Zollschuld unter anderen als den in Absatz 1 genannten Umständen, so erfolgt die buchmäßige Erfassung des zu entrichtenden Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbetrags innerhalb von 14 Tagen nach dem Tag, an dem die Zollbehörden in der Lage sind, den betreffenden Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbetrag festzusetzen und eine Entscheidung zu erlassen.“
36. Art. 188 („Überprüfung der Zollanmeldung“) dieses Kodex lautet:
„Zur Überprüfung der Richtigkeit der Angaben in der angenommenen Zollanmeldung können die Zollbehörden
a) die Zollanmeldung und die Unterlagen prüfen,
b) vom Anmelder verlangen, dass er weitere Unterlagen beibringt,
c) eine Beschau der Waren vornehmen,
d) Muster und Proben zur Analyse oder eingehenden Prüfung entnehmen.“
37. Art. 191 („Überprüfungsergebnisse“) dieses Kodex sieht vor:
„(1) Die Ergebnisse der Überprüfung der Zollanmeldung werden für die Anwendung der Vorschriften über das Zollverfahren verwendet, in das die Waren übergeführt werden.
(2) Findet eine Überprüfung der Zollanmeldung nicht statt, so werden die Angaben in jener Anmeldung für die Anwendung des Absatzes 1 herangezogen.
(3) Die Ergebnisse der von den Zollbehörden vorgenommenen Überprüfungen haben überall im Zollgebiet der Union die gleiche Beweiskraft.“
3. Durchführungsverordnung Nr. 2454/93
38. Art. 181a der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92(14) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1335/2003 der Kommission vom 25. Juli 2003(15) geänderten Fassung (im Folgenden: Durchführungsverordnung Nr. 2454/93) lautet:
„(1) Die Zollbehörden müssen den Zollwert von eingeführten Waren nicht auf der Grundlage des Transaktionswertes ermitteln, wenn sie unter Einhaltung des in Absatz 2 genannten Verfahrens wegen begründeter Zweifel nicht überzeugt sind, dass der angemeldete Wert dem gezahlten oder zu zahlenden Preis gemäß Artikel 29 des Zollkodex entspricht.
(2) In den Fällen, in denen die Zollbehörden Zweifel im Sinne von Absatz 1 haben, können sie gemäß Artikel 178 Absatz 4 zusätzliche Auskünfte verlangen. Bestehen die Zweifel fort, sollen die Zollbehörden der betroffenen Person vor einer endgültigen Entscheidung auf Verlangen schriftlich die Gründe für ihre Zweifel mitteilen und ihr eine angemessene Antwortfrist gewähren. Die abschließende mit Gründen versehene Entscheidung ist der betroffenen Person schriftlich mitzuteilen.“
39. Art. 248 Abs. 1 der Durchführungsverordnung sieht vor:
„Die Überlassung führt zur buchmäßigen Erfassung der Abgaben, wie sie sich aus den Angaben in der Zollanmeldung ergeben. Hält es die Zollstelle für möglich, dass der aufgrund der Überprüfung festzusetzende Abgabenbetrag höher sein kann als der sich aus den Angaben in der Zollanmeldung ergebende, verlangt sie außerdem eine ausreichende Sicherheit, um die Differenz zwischen dem Betrag nach den Angaben in der Zollanmeldung und demjenigen abzudecken, dem die Waren letztlich unterliegen können. Der Anmelder hat jedoch die Möglichkeit, anstatt diese Sicherheit zu leisten, die unmittelbare buchmäßige Erfassung des Abgabenbetrags, dem die Waren letztlich unterliegen können, zu beantragen.“
4. Durchführungsverordnung 2015/2447
40. Art. 48 („Wechselkurs für Zollzwecke“) Abs. 1 der Durchführungsverordnung (EU) 2015/2447 der Kommission vom 24. November 2015 mit Einzelheiten zur Umsetzung von Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union(16) (im Folgenden: Durchführungsverordnung 2015/2447) lautet:
„Der Wert des Euro wird für die in Artikel 53 Absatz 1 Buchstabe b des Zollkodex genannten Zwecke einmal monatlich festgesetzt.
Der anzuwendende Wechselkurs ist der letzte Wechselkurs, den die Europäische Zentralbank vor dem vorletzten Tag des Monats festgesetzt hat und gilt während des gesamten folgenden Monats.
Liegt der zu Beginn des Monats anzuwendende Kurs jedoch um mehr als 5 % über oder unter dem am Tag vor dem 15. dieses Monats veröffentlichten Kurs, so ist der letztgenannte Kurs ab dem 15. bis zum Ende des betreffenden Monats anzuwenden.“
41. Art. 140 („Ablehnung angemeldeter Transaktionswerte“) der Durchführungsverordnung 2015/2447, mit dem Art. 70 Abs. 1 des Zollkodex der Union durchgeführt wird, lautet:
„(1) Haben die Zollbehörden begründete Zweifel daran, dass der angemeldete Transaktionswert dem gezahlten oder zu zahlenden Gesamtbetrag gemäß Artikel 70 Absatz 1 des Zollkodex entspricht, können sie vom Anmelder zusätzliche Auskünfte verlangen.
(2) Werden ihre Zweifel nicht ausgeräumt, können die Zollbehörden entscheiden, dass der Zollwert der Waren nicht gemäß Artikel 70 Absatz 1 des Zollkodex ermittelt werden kann.“
42. Art. 144 („Schlussmethode“) der Durchführungsverordnung 2015/2447, mit dem Art. 74 Abs. 3 des Zollkodex der Union durchgeführt wird, lautet:
„(1) Zur Ermittlung des Zollwerts gemäß Artikel 74 Absatz 3 des Zollkodex ist eine angemessene Flexibilität bei der Anwendung des Artikels 70 und des Artikels 74 Absatz 2 des Zollkodex geboten. Der so ermittelte Zollwert soll möglichst auf schon früher ermittelten Zollwerten beruhen.
(2) Kann kein Zollwert nach Absatz 1 ermittelt werden, sind andere geeignete Methoden heranzuziehen. In diesem Fall dürfen die Zollwerte nicht zur Grundlage haben:
a) den Verkaufspreis in der Union von Waren, die in der Union hergestellt worden sind;
b) ein Verfahren, nach dem jeweils der höhere von zwei Alternativwerten für die Zollbewertung heranzuziehen ist;
c) den Inlandsmarktpreis von Waren im Ausfuhrland;
d) andere Herstellungskosten als jene, die als errechnete Werte für gleiche oder ähnliche Waren gemäß Artikel 74 Absatz 2 Buchstabe d des Zollkodex ermittelt wurden;
e) Preise zur Ausfuhr in ein Drittland;
f) Mindestzollwerte;
g) willkürliche oder fiktive Werte.“
43. Art. 244 („Sicherheitsleitung“) der Durchführungsverordnung 2015/2447, mit dem Art. 191 des Zollkodex der Union durchgeführt wird, lautet:
„Sind die Zollbehörden der Auffassung, dass aufgrund einer Überprüfung der Zollanmeldung höhere Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben oder andere Abgaben zu entrichten sein könnten als aufgrund der Angaben in der Zollanmeldung, so kann die Überlassung der Waren von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden, die die Differenz zwischen dem aufgrund der Angaben in der Zollanmeldung ermittelten Betrag und dem Betrag abdeckt, der letztlich zu entrichten sein könnte.
Der Antragsteller kann jedoch, anstatt diese Sicherheit zu leisten, die unverzügliche Mitteilung der Zollschuld, die durch die Waren letztlich entstehen kann, verlangen.“
C. Mehrwertsteuerrecht
44. In Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem(17) in der durch die Richtlinie 2009/69/EG des Rates vom 25. Juni 2009(18) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/112) heißt es:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
…
b) der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt
i) durch einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, oder durch eine nichtsteuerpflichtige juristische Person, wenn der Verkäufer ein Steuerpflichtiger ist, der als solcher handelt, …;
…
d) die Einfuhr von Gegenständen.“
45. Nach Art. 73 dieser Richtlinie „umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll“.
46. Art. 83 dieser Richtlinie lautet:
„Beim innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen setzt sich die Steuerbemessungsgrundlage aus denselben Elementen zusammen wie denen, die zur Bestimmung der Steuerbemessungsgrundlage für die Lieferung derselben Gegenstände innerhalb des Gebiets des Mitgliedstaats gemäß Kapitel 2 dienen. Bei Umsätzen, die dem innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen im Sinne der Artikel 21 und 22 gleichgestellt sind, ist die Steuerbemessungsgrundlage der Einkaufspreis der Gegenstände oder gleichartiger Gegenstände oder mangels eines Einkaufspreises der Selbstkostenpreis, und zwar jeweils zu den Preisen, die zum Zeitpunkt der Bewirkung dieser Umsätze festgestellt werden.“
47. Art. 85 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„Bei der Einfuhr von Gegenständen ist die Steuerbemessungsgrundlage der Betrag, der durch die geltenden Gemeinschaftsvorschriften als Zollwert bestimmt ist.“
48. Art. 86 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„In die Steuerbemessungsgrundlage sind – soweit nicht bereits darin enthalten – folgende Elemente einzubeziehen:
a) die außerhalb des Einfuhrmitgliedstaats geschuldeten Steuern, Zölle, Abschöpfungen und sonstigen Abgaben, sowie diejenigen, die aufgrund der Einfuhr geschuldet werden, mit Ausnahme der zu erhebenden Mehrwertsteuer;
b) die Nebenkosten – wie Provisions‑, Verpackungs‑, Beförderungs- und Versicherungskosten –, die bis zum ersten Bestimmungsort der Gegenstände im Gebiet des Einfuhrmitgliedstaats entstehen sowie diejenigen, die sich aus der Beförderung nach einem anderen Bestimmungsort in der Gemeinschaft ergeben, der zum Zeitpunkt, zu dem der Steuertatbestand eintritt, bekannt ist.“
49. Art. 87 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„In die Steuerbemessungsgrundlage sind folgende Elemente nicht einzubeziehen:
a) Preisnachlässe durch Skonto für Vorauszahlungen;
b) Rabatte und Rückvergütungen auf den Preis, die dem Erwerber eingeräumt werden und die er zu dem Zeitpunkt erhält, zu dem die Einfuhr erfolgt.“
50. In Art. 138 dieser Richtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten befreien die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder für ihre Rechnung nach Orten außerhalb ihres jeweiligen Gebiets, aber innerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden von der Steuer, wenn diese Lieferung an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person bewirkt wird, der/die als solche/r in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände handelt.
(2) Außer den in Absatz 1 genannten Lieferungen befreien die Mitgliedstaaten auch folgende Umsätze von der Steuer:
…
c) die Lieferungen von Gegenständen in Form der Verbringung in einen anderen Mitgliedstaat, die gemäß Absatz 1 und den Buchstaben a und b des vorliegenden Absatzes von der Mehrwertsteuer befreit wäre, wenn sie an einen anderen Steuerpflichtigen bewirkt würde.“
51. Art. 143 dieser Richtlinie sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:
…
d) die Einfuhr von Gegenständen, die von einem Drittgebiet oder einem Drittland aus in einen anderen Mitgliedstaat als den Mitgliedstaat der Beendigung der Versendung oder Beförderung versandt oder befördert werden, sofern die Lieferung dieser Gegenstände durch den gemäß Artikel 201 als Steuerschuldner bestimmten oder anerkannten Importeur bewirkt wird und gemäß Artikel 138 befreit ist;
…
(2) Die Steuerbefreiung gemäß Absatz 1 Buchstabe d ist in den Fällen, in denen auf die Einfuhr von Gegenständen eine Lieferung von Gegenständen folgt, die gemäß Artikel 138 Absatz 1 und Absatz 2 Buchstabe c von der Steuer befreit ist, nur anzuwenden, wenn der Importeur zum Zeitpunkt der Einfuhr den zuständigen Behörden des Einfuhrmitgliedstaats mindestens die folgenden Angaben hat zukommen lassen:
a) seine im Einfuhrmitgliedstaat erteilte MwSt.‑Identifikationsnummer oder die im Einfuhrmitgliedstaat erteilte MwSt.‑Identifikationsnummer seines Steuervertreters, der die Steuer schuldet;
b) die in einem anderen Mitgliedstaat erteilte MwSt.‑Identifikationsnummer des Erwerbers, an den die Gegenstände gemäß Artikel 138 Absatz 1 geliefert werden, oder seine eigene MwSt.‑Identifikationsnummer, die in dem Mitgliedstaat erteilt wurde, in dem die Versendung oder Beförderung der Gegenstände endet, wenn die Gegenstände gemäß Artikel 138 Absatz 2 Buchstabe c verbracht werden;
c) den Nachweis, aus dem hervorgeht, dass die eingeführten Gegenstände dazu bestimmt sind, aus dem Einfuhrmitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat befördert oder versandt zu werden.
Allerdings können die Mitgliedstaaten festlegen, dass der Nachweis nach Buchstabe c den zuständigen Behörden lediglich auf Ersuchen vorzulegen ist.“
III. Sachverhalt und Vorverfahren
A. Sachverhalt
52. Mit Wirkung vom 1. Januar 2005 hob die Europäische Union alle Einfuhrkontingente für Textil- und Bekleidungserzeugnissen mit Ursprung in Mitgliedsländern der Welthandelsorganisation, einschließlich China, auf.
53. Am 20. April 2007 richtete das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) die Mitteilung über gegenseitige Amtshilfe 2007/015 an die Mitgliedstaaten, um sie über die Gefahr der Unterbewertung von aus China eingeführten Textilien und Schuhen zu informieren.
54. Mit dieser Mitteilung forderte das OLAF alle Mitgliedstaaten auf, zum einen die Einfuhren von Textilien und Schuhen u. a. aus China zu untersuchen, um gegebenenfalls Anhaltspunkte für unterbewertete Einfuhren festzustellen, und zum anderen bei der Zollabfertigung dieser Einfuhren geeignete Kontrollen durchzuführen.
55. Um den Mitgliedstaaten zu helfen, unterbewertete Sendungen von Textilien und Schuhen zu ermitteln, entwickelte das OLAF in Zusammenarbeit mit der Gemeinsamen Forschungsstelle der Kommission (im Folgenden: JRC) ein Instrument zur Risikobewertung auf der Grundlage von Daten aus der gesamten Union (im Folgenden: OLAF‑Methodik). Diese Methode besteht zunächst darin, den berichtigten Durchschnittspreis für jedes aus China eingeführte und unter die Kapitel 61 bis 64 der Kombinierten Nomenklatur des Zolltarifs fallenden Textil- und Schuherzeugnis(19) zu berechnen. Die berichtigten Durchschnittspreise werden auf der Grundlage der monatlichen Einfuhrpreise der betreffenden Erzeugnisse aus China für einen Zeitraum von 48 Monaten berechnet, die aus der statistischen Datenbank Comext, einer von Eurostat geführten Referenzdatenbank für den internationalen Handel, stammen. Diese Preise drücken einen Wert pro Kilogramm für jeden der 495 achtstelligen Produktcodes der Kombinierten Nomenklatur (im Folgenden: KN-Codes) unter Angabe des Ursprungslandes und des Bestimmungslandes in der Union aus. Sodann wird ein Mittel für die gesamte Union (die berichtigten Durchschnittspreise für die Union-28) auf der Grundlage des arithmetischen Mittels (nichtgewichtetes Mittel) der berichtigten Durchschnittspreise der 28 Mitgliedstaaten berechnet(20). Für die Berechnung dieser Mittel werden die Extremwerte, d. h. die ungewöhnlich hohen oder niedrigen Werte, ausgeschlossen, weshalb von „berichtigtem“ Durchschnittspreis gesprochen wird. Schließlich wird ein 50 % des berichtigten Durchschnittspreises entsprechender Wert errechnet, der den „akzeptablen Mindestpreis“, ebenfalls als Preis pro Kilogramm ausgedrückt, darstellt, der als Schwelle verwendet wird, anhand deren die Zollbehörden der Mitgliedstaaten besonders niedrige bei der Einfuhr angemeldete Werte und daher hoch risikobehaftete Einfuhren ermitteln können.
56. Die vom OLAF am 23. Januar 2009 versandte Mitteilung über gegenseitige Amtshilfe AM/2009/001 bezog sich auf die Aktion „Argus“, eine sechsmonatige Aktion, in deren Rahmen das OLAF den Verkehr von Textilien und Schuhen aus verschiedenen, hauptsächlich asiatischen, Drittstaaten überwachte und den Mitgliedstaaten jeden Monat eine Liste der Einfuhren des Vormonats übermittelte, die als mit einem Zollwertrisiko behaftet ausgemacht worden waren. Mit dieser Mitteilung ersuchte das OLAF die Mitgliedstaaten, ihm binnen vier Monaten die Einrichtung von Risikofiltern mitzuteilen, die hoch risikobehafteten Sendungen zu ermitteln und auf der Grundlage seiner Mitteilungen Überprüfungen nach Zollabfertigung vorzunehmen.
57. 2011 wurden während der vorrangigen Kontrollmaßnahme „Discount“ (im Folgenden: PCA Discount), die von der Generaldirektion Steuern und Zollunion der Kommission koordiniert wurde und an der alle Mitgliedstaaten, darunter das Vereinigte Königreich, beteiligt waren, die akzeptablen Mindestpreise angewandt, um die Einfuhren von Textilien und Schuhen aus China zu ermitteln und zu überwachen, deren Zollwert so niedrig war, dass sie Verdacht erweckten.
58. 2014 koordinierte das OLAF die gemeinsame Zollaktion „Snake“, deren operationelle Phase zwischen dem 17. Februar und dem 17. März 2014 lag und an der alle Mitgliedstaaten sowie die chinesischen Zollbehörden beteiligt waren. Mit der Einbeziehung Letzterer sollte die Abgabe von Ausfuhranmeldungen erreicht werden, anhand deren der bei der Einfuhr in die Union angemeldete Wert der betreffenden Erzeugnisse überprüft werden konnte. Im Abschlussbericht der Aktion Snake wurden die Mitgliedstaaten ersucht, weiter die auf die akzeptablen Mindestpreise, wie sie im Zuge dieser Aktion angewandt worden waren, gestützten Risikoprofile zu verwenden.
59. Nach Kontrollen im Rahmen dieser Aktion auf der Grundlage der genannten Risikoprofile stellten die Behörden des Vereinigten Königreichs für 24 Wirtschaftsbeteiligte zusätzliche Zölle für deren Einfuhren während eines Dreijahreszeitraums zwischen November 2011 und November 2014 fest.
60. Während des im Vereinigten Königreich vom 27. bis 31. Oktober 2014 durchgeführten Inspektionsbesuchs 14-11-1 prüfte die Kommission Risikoinformationsformulare, Meldungen über gegenseitige Amtshilfe und 24 zufällig ausgewählte Einfuhrumsätze, von denen 23 in die B-Buchführung aufgenommen wurden.
61. Zwischen November 2014 und Februar 2015 richteten die Behörden des Vereinigten Königreichs an die betreffenden Wirtschaftsbeteiligten 24 nachträgliche Einziehungsanordnungen, sogenannte Zahlungsaufforderungen C18 (im Folgenden: Zahlungsaufforderungen C18 Snake), die später aufgehoben wurden.
62. Am 16. Januar 2015 leitete das OLAF eine Untersuchung ein, die bestimmte Mitgliedstaaten, darunter das Vereinigte Königreich, betraf und einen 2013 beginnenden Zeitraum erfasste.
63. Zwischen 2013 und 2016 führten Her Majesty’s Revenue and Customs (Steuer- und Zollverwaltung des Vereinigten Königreichs, im Folgenden: HMRC) und die Grenzpolizei des Vereinigten Königreichs die Aktion „Badminton“ durch. Diese Aktion, die sich vor allem gegen Mehrwertsteuerbetrug richtete, war der Rahmen für eine erste strafrechtliche Ermittlung gegen vier große Wirtschaftsbeteiligte, die die betreffenden Erzeugnisse mit Ursprung in China nach dem „Zollverfahren 42“ einführen, in dem die Zölle bei der Einfuhr entrichtet werden, die Mehrwertsteuer jedoch später im Bestimmungsmitgliedstaat zu zahlen ist (im Folgenden: Zollverfahren 42)(21).
64. Zwischen Februar 2015 und Juli 2016 nahm das Vereinigte Königreich an zehn vom OLAF veranstalteten Treffen teil, die der Unterbewertung von Textilien und Schuhen aus China galten.
65. Am 19. und 20. Februar 2015 hielt das OLAF ein erstes Treffen mit HMRC ab, um die Folgen der Aktion Snake und die Verwendung der berichtigten Durchschnittspreise als Indikatoren für das Risiko einer Zollunterbewertung zu erörtern. Bei diesem Treffen wies das OLAF darauf hin, dass das Volumen der möglicherweise unterbewerteten Einfuhren nicht zurückgegangen sei und dass aus den Statistiken hervorgehe, dass das Vereinigte Königreich aufgrund der von anderen Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen mehr betrügerischen Verkehr anziehe. HMRC führte aus, sie beabsichtige, Anordnungen zur Einziehung der Mehrwertsteuer und der hinterzogenen Zölle an die Unternehmen zu richten, die bei der Aktion Snake und aufgrund ihrer eigenen Untersuchung ermittelt worden seien, und zwar in Höhe von insgesamt mehr als 800 Millionen Pfund Sterling (GBP).
66. Das Vereinigte Königreich bekräftigte seine Absicht, diese Einziehungen vorzunehmen, bei dem Ad-hoc-Treffen vom 25. und 26. Februar 2015 zum „Betrug durch Unterbewertung“, das vom OLAF veranstaltet wurde und an der die Behörden der Mitgliedstaaten teilnahmen. Bei diesem Treffen sprach das OLAF die „nachdrückliche Empfehlung“ an die Mitgliedstaaten aus, die geeigneten Risikofilter zu verwenden, um möglicherweise unterbewertete Sendungen zu ermitteln, für die als verdächtig ermittelten Sendungen Sicherheiten zu verlangen und Untersuchungen zur Feststellung des Zollwerts durchzuführen. Das OLAF beschrieb auch die Verluste an traditionellen Eigenmitteln auf Unionsebene, die aufgrund unterbewerteter Einfuhren, insbesondere solcher in das Vereinigte Königreich, eintreten könnten(22).
67. Am 16. Juni 2015 versandte das OLAF die Mitteilung über gegenseitige Amtshilfe 2015/013, mit der es die Mitgliedstaaten ersuchte, alle nötigen Vorkehrungen zu treffen, um die Interessen der Union angesichts des Risikos unterbewerteter Einfuhren von Textilien und Schuhen aus China zu schützen.
68. Im Mai 2015 leitete das Vereinigte Königreich die Aktion „Breach“ ein, um den Betrug durch Unterbewertung zu bekämpfen. Eines der Ziele dieser Aktion war dem Vereinigten Königreich zufolge, nach der Aufhebung der 24 Zahlungsaufforderungen C18 Snake den Zollwert der im Zuge der Aktion Snake ermittelten unterbewerteten Waren zu bestimmen und die hinterzogenen Beträge an traditionellen Eigenmitteln einzufordern. Diese Aktion umfasse insbesondere Vorabkontrollen und nachträgliche Besuche im Zusammenhang mit verdächtigen Sendungen, die Prüfung von Unterlagen, Buchprüfungen und Inspektionen, die Überprüfung des kommerziellen Charakters der betreffenden Verkäufe und die Prüfung der Verbindungen zwischen Einführer, Spediteuren und anderen Unternehmen sowie Aktionen zur Sensibilisierung der Einführer für die Ermittlung betrügerischer Aktivitäten. Zudem seien etwa dreißig Vorabinspektionen durchgeführt und Proben entnommen worden. Es seien mehrere Zahlungsaufforderungen C18 ergangen. Bei dem Treffen trug das Vereinigte Königreich vor, dass die im Rahmen dieser Aktion getroffenen Maßnahmen noch immer im Gang seien.
69. Am 28. Juli 2015 hielt das OLAF ein zweites bilaterales Treffen mit HMRC ab. Letztere gab an, sie verfolge das Verfahren zur Einziehung von über 800 Millionen GBP weiter, gegebenenfalls vor den Gerichten, und habe eine fachübergreifende Task Force im Rahmen der Aktion Breach gebildet, deren Aufgabe die Prüfung der Situation der in den betrügerischen Verkehr verwickelten Einführer sei. Die Verwendung von auf Durchschnittspreisen beruhenden Risikoindikatoren sei jedoch kontraproduktiv und stehe außer Verhältnis zur Menge der Einfuhren in das Vereinigte Königreich.
70. Am 3. Februar 2016 hielt das OLAF ein drittes Treffen mit HMRC ab, in der diese erklärte, das Vereinigte Königreich habe die 16 im Rahmen der Aktion Snake betroffenen Unternehmen geprüft. Das OLAF empfahl erneut, dass HMRC die auf dem akzeptablen Mindestpreis beruhenden Risikoindikatoren auf Unionsebene heranziehen solle. Es hob den hohen Prozentsatz von für das Vereinigte Königreich bestimmten Einfuhren hervor, die als unterbewertet und als Ursache für erhebliche Zollverluste angesehen würden.
71. Am 22 und 23. März 2016 hielt das OLAF ein viertes Treffen mit HMRC ab. Es bekräftigte, dass es sinnvoll sei, als vorbeugende Maßnahme vor der Einfuhr die Risikoindikatoren auf Unionsebene anzuwenden, und schlug praktische Mittel für ihre schrittweise Einführung durch die Behörden des Vereinigten Königreichs vor. Das OLAF schilderte erneut den damaligen Sachstand und zeigte damit auf, dass die Verluste an traditionellen Eigenmitteln im Vereinigten Königreich zunähmen, vor allem wegen missbräuchlicher Inanspruchnahme des Zollverfahrens 42.
72. Im Juli 2016 legte das OLAF bei einem bilateralen Treffen einen Bericht vor, dem zufolge die Verluste an traditionellen Eigenmitteln im Vereinigten Königreich stiegen.
73. Bei einem multilateralen Treffen am 18. und 19. September 2016 legten die französischen Behörden die Ergebnisse der Aktion „Octopus“ vor, die von ihnen unter Beteiligung von zehn Mitgliedstaaten (darunter das Vereinigte Königreich) und mit Unterstützung des OLAF durchgeführt worden war. Dem Abschlussbericht über diese Aktion zufolge standen kriminelle Netzwerke hinter den Betrügereien durch Unterbewertung. Der in den Einfuhrzollanmeldungen genannte Empfänger sei fast immer ein Missing Trader oder ein Phönix-Unternehmen. Zudem seien für die große Mehrheit der beförderten Waren, die in Frankreich anhand zuvor festgelegter Kriterien kontrolliert worden seien, zu niedrige Werte angegeben worden, die im Vereinigten Königreich im Rahmen des Zollverfahrens 42 betrügerisch angemeldet worden seien.
74. Im Oktober 2016 führten die Behörden des Vereinigten Königreichs die experimentelle Aktion „Samurai“ durch, die auf die Einfuhren zweier Wirtschaftsbeteiligte gerichtet war, die ihre Tätigkeiten sofort nach der Beanstandung ihrer Zollanmeldungen durch HMRC einstellten.
75. Am 1. März 2017 schloss das OLAF seine Untersuchung der Unterbewertung der Einfuhren in das Vereinigte Königreich ab und legte seinen Bericht vor (im Folgenden: OLAF‑Bericht), nach dem Einführer in das Vereinigte Königreich hohe Zollbeträge hinterzogen hätten, indem sie bei der Einfuhr falsche Rechnungen, fiktive Rechnungen und unrichtige Zollwertanmeldungen vorgelegt hätten. Das Ausmaß des über das Vereinigte Königreich laufenden Mechanismus des Betrugs durch Unterbewertung sei zwischen 2013 und 2016 stark gestiegen. Dieser Zeitraum falle mit der Einführung von Risikoprofilen durch andere Mitgliedstaaten zusammen, denen das auf den berichtigten Durchschnittspreisen beruhende Instrument zur Risikobewertung zugrunde liege, wie es das OLAF empfohlen habe.
76. Diesem Bericht zufolge sind während dieses Zeitraums die durch das Vereinigte Königreich durchgeführten betrügerischen Einfuhren wegen der unzureichenden Kontrollen signifikant angestiegen. 2016 seien mehr als 50 % der aus China eingeführten Textilerzeugnisse und Schuhe unter den akzeptablen Mindestpreisen angemeldet worden, während etwa 80 % der Gesamtverluste an traditionellen Eigenmitteln auf die Unterbewertung von in das Vereinigte Königreich eingeführten Textilien und Schuhen entfallen seien.
77. Im OLAF‑Bericht heißt es weiter, dass in der gesamten Union operierende kriminelle Gruppen hinter diesem Betrug stünden. Die meisten Einfuhren in das Vereinigte Königreich beträfen Lieferungen, die für den Schwarzmarkt für Textilien und Schuhe in anderen Mitgliedstaaten bestimmt seien. In der Mehrzahl seien sie unter missbräuchlicher Inanspruchnahme des Zollverfahrens 42 erfolgt(23). Somit sei auch in erheblichem Umfang die in den Mitgliedstaaten der endgültigen Bestimmung der Waren, namentlich Deutschland, Spanien, Frankreich und Italien, geschuldete Mehrwertsteuer entzogen worden. Das Vereinigte Königreich habe entgegen der Empfehlung des OLAF nicht die auf die akzeptablen Mindestpreise gestützten Risikoprofile angewandt und habe, abgesehen von einem Monat anlässlich der Aktion Snake, nicht die geeigneten Zollkontrollen bei der Einfuhr durchgeführt(24).
78. Folglich habe das Vereinigte Königreich, so der Bericht, unterbewertete Textilerzeugnisse und Schuhe aus China ohne Zollkontrollen zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr zugelassen, so dass ein erheblicher Teil der Zölle nicht vereinnahmt und dem Haushalt der Union zur Verfügung gestellt worden sei. In dem Bericht berechnete das OLAF die daraus folgenden Verluste an traditionellen Eigenmitteln für den Zeitraum zwischen 2013 und 2016(25). Im Einzelnen wurden für den KN-Code jedes der betreffenden Erzeugnisse die Menge (in kg) der unterbewerteten Waren (als solche galten Waren, die mit einem unter dem betreffenden akzeptablen Mindestpreis liegenden Wert angemeldet worden waren) und die Differenz zwischen dem angemeldeten Wert und dem betreffenden berichtigten Durchschnittspreis (berichtigter Durchschnittspreis für die Union-28) des in Rede stehende Erzeugnisses bestimmt, und sodann wurde auf diese Differenz der geltende Zollsatz angewandt. Das OLAF empfahl HMRC in diesem Zusammenhang, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um diesen Betrag einzuziehen und Risikoindikatoren anzuwenden.
79. Zwischen November 2016 und Oktober 2018 führten von der Kommission beauftragte Bedienstete gemäß den Bestimmungen der Verordnung Nr. 608/2014 über Kontrolle und Überwachung der traditionellen Eigenmittel fünf Inspektionen durch, die u. a. die Unterbewertung betrafen.
80. Bei dem Inspektionsbesuch 16-11-1, der zwischen dem 14. und 18. November 2016 stattfand, stellte die Kommission fest, dass die Zollbeträge, die in der B-Buchführung annulliert worden waren, den geschuldeten zusätzlichen Beträgen entsprachen, die ursprünglich mit dem Erlass der später zurückgezogenen 24 Zahlungsaufforderungen C18 Snake betreffend die im Rahmen der Aktion Snake festgestellten unterbewerteten Einfuhren beansprucht worden waren, und forderte die Behörden des Vereinigten Königreichs auf, den Zollwert sämtlicher betreffenden Einfuhrzollanmeldungen zu bestimmen, die auf diese Werte geschuldeten zusätzlichen Zölle neu zu berechnen, die entsprechenden Zollschulden in die B-Buchführung aufzunehmen und die betreffenden Beträge unverzüglich zu erheben.
81. Sie fragte diese Behörden zudem, ob sie die vom OLAF entwickelte Methode der berichtigten Durchschnittspreise zur Feststellung unterbewerteter Einfuhren anwendeten, ob sie physische Kontrollen bei der Zollabwicklung durchführten und ob sie systematisch die Leistung einer Sicherheit zur Deckung möglicher Zollschulden gemäß Art. 248 Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 2454/93 verlangten.
82. Während des Inspektionsbesuchs 17-11-1 vom 8. bis 12. Mai 2017 wählte die Kommission zwölf im ersten Quartal 2017 vorgelegte Einfuhrzollanmeldungen, in denen besonders niedrige Werte angegeben waren, für eine Nachprüfung an Ort und Stelle aus. Die Prüfung bestätigte, dass die zwölf von diesen Anmeldungen erfassten Sendungen ohne Kontrolle und ohne Leistung einer Sicherheit zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr in der Union überlassen worden waren. Die Behörden des Vereinigten Königreichs bestätigten, dass sie die vom OLAF nach der Aktion Snake im Jahr 2014 und erneut im Inspektionsbericht 16-11-1 verlangten Maßnahmen nicht eingeführt hatten. Sie erläuterten dazu, dass dies vor allem auf die Ansicht ihrer Rechtsberater zurückgehe, dass keine akzeptable Bewertungsmethode zur Verfügung stehe. Die betreffenden Einfuhren würden jedoch von der im Rahmen der Aktion Breach eingesetzten Task-Force geprüft.
83. Während des Inspektionsbesuchs 17-11-2 vom 13. bis 17. November 2017 prüften die Bediensteten der Kommission auf der Grundlage einer der 24 Zahlungsaufforderungen C18 Snake, die nach dieser Aktion ergangen waren und auf einen Gesamtbetrag von 62 003 024,23 GBP lauteten, fünf Einfuhrzollanmeldungen mit besonders niedrigen Werten von Einführern, die bereits im Rahmen der Aktion Snake als mögliche Betrüger ermittelt worden waren. Es erwies sich jedoch als unmöglich, die den einzelnen Einfuhrzollanmeldungen entsprechenden Zollschulden festzustellen, was nach Ansicht von HMRC die Annullierung dieser Schulden rechtfertigte.
84. Bei diesem Inspektionsbesuch teilten die Behörden des Vereinigten Königreichs den Bediensteten der Kommission mit, dass HMRC am 12. Oktober 2017 die Aktion „Swift Arrow“ eingeleitet habe. Den im Rahmen dieser Aktion verwendeten Risikoprofilen lägen nicht die vom OLAF festgesetzten Schwellen, sondern nationale, von HMRC allein auf der Grundlage der Einfuhren in das Vereinigte Königreich festgelegte Schwellen oder Risikoprofile zugrunde. Diese Profile würden jedoch nur auf bestimmte Wirtschaftsbeteiligte angewandt, die zuvor als im betrügerischen Handel tätig ermittelt worden seien. Die anhand dieser Risikoprofile entdeckten Container würden von den Behörden des Vereinigten Königreichs bei der Zollabwicklung physisch überprüft. Wenn diese den angemeldeten Wert nicht als nachgewiesen erachteten, verlangten sie die Stellung einer Sicherheit vor der Überlassung der Waren.
85. Im Lauf des Inspektionsbesuchs 18-11-1 vom 16. bis 20. April 2018 untersuchten die Bediensteten der Kommission 25 Einfuhrzollanmeldungen für den Zeitraum zwischen dem 12. Oktober 2017, dem Beginn der Aktion „Swift Arrow“, und dem 31. Dezember 2017. Es wurde festgestellt, dass nur sieben der 25 Dokumente, in denen ein extrem niedriger Wert angegeben war, mittels des von HMRC entwickelten Risikoprofils ermittelt und die 18 übrigen Container ohne Beanstandung des Zollwerts zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr überlassen worden waren. Die Behörden des Vereinigten Königreichs gaben an, seit Beginn der Aktion Swift Arrow sei das Risikoprofil so angepasst worden, dass es mehr Wirtschaftsbeteiligte, KN-Codes und Eingangsorte erfasse, so dass, hätten die betreffenden Einfuhren im April 2018 stattgefunden, anhand dieses Profils elf zusätzliche Dokumente entdeckt worden wären.
86. Zudem hätten mehrere der ausgewählten Wirtschaftsbeteiligte ihre Einfuhren nach ihrer Einbeziehung in die Risikoprofile unterbrochen, und sie seien vor der Überlassung kontrolliert und aufgefordert worden, vor der Überlassung der Waren Sicherheiten zu leisten.
87. Die Behörden des Vereinigten Königreichs weigerten sich jedoch, die Einzelheiten der Methode offenzulegen, die HMRC zur Berechnung der im Rahmen der Aktion Swift Arrow verlangten Sicherheiten und zur Erstellung der nachträglichen Einziehungsanordnungen, d. h. der Zahlungsaufforderungen C18 Snake, verwendet hat.
88. Im Mai 2018 erließ das Vereinigte Königreich im Rahmen der Aktion Breach Zahlungsaufforderungen C18 (im Folgenden: Zahlungsaufforderungen C18 Breach) über einen Gesamtbetrag von 25 Millionen GBP für einen bis 2015 zurückreichenden Zeitraum.
89. Während des Inspektionsbesuchs 18-11-2 vom 8. bis 12. Oktober 2018 blieben die Behörden des Vereinigten Königreichs bei dieser Weigerung. Dagegen bestätigten sie, dass sie im April 2018 zusätzliche Zölle in Höhe von insgesamt 19 434 197,73 GBP für sieben Wirtschaftsbeteiligte festgesetzt hätten, von denen einige bereits während der Aktion Snake untersucht worden seien.
B. Vorverfahren
90. Mit Schreiben vom 24. März 2017 und vom 28. Juli 2017 fragte die Kommission beim Vereinigten Königreich an, welche Maßnahmen es im Anschluss an den OLAF‑Bericht ergriffen habe. Sie habe vom Vereinigten Königreich keine zusätzlichen konkreten Informationen erhalten, und nichts deute darauf hin, dass dieser Staat die geeigneten Maßnahmen ergriffen habe, um dem in diesem Bericht festgestellten Betrug durch Unterbewertung vorzubeugen. Sollte sie keine anderslautenden Informationen erhalten, sehe sie sich gezwungen, das Vereinigte Königreich zu ersuchen, einen Betrag an traditionellen Eigenmitteln bereitzustellen, der den vom OLAF bestimmten Verlusten (abzüglich der Einziehungskosten) entspreche.
91. In einem der drei Schreiben vom 28. Juli 2017 fragte sie zudem an, welche Maßnahmen die Behörden des Vereinigten Königreichs auf den Inspektionsbericht 16-11-1 hin ergriffen hätten, und wiederholte ihre Bitte, ihr die rechtliche Beurteilung, die zur Aufhebung der 24 Zahlungsaufforderungen C18 Snake geführt habe, und das Verzeichnis der jeden einzelnen dieser 24 Vorgänge betreffenden Dokumente, einschließlich der Berechnungen zur Feststellung der Zollschulden, zu übermitteln.
92. Mit Schreiben vom 8. August 2017 und vom 12. Oktober 2017 beantwortete das Vereinigte Königreich diese Anfragen. Zunächst wies es zum OLAF‑Bericht darauf hin, dass Maßnahmen zur Bekämpfung des Problems der Unterbewertung, wie die Einleitung der Aktion Breach, ergriffen worden seien. Das Unionsrecht schreibe im Übrigen kein bestimmtes Kontrollmodell vor, so dass es Sache jedes Mitgliedstaats sei, darüber zu entscheiden, wie das Recht am besten anzuwenden sei. Zudem seien der Überlassung vorausgehende Kontrollmaßnahmen, einschließlich der Leistung von Sicherheiten, nicht von Natur aus wirksamer als nachträgliche Maßnahmen, wie sie das Vereinigte Königreich entwickelt habe. Die OLAF‑Methodik sei, da auf die Anwendung von auf Unionsebene festgestellten Daten gestützt, weder zuverlässig noch für das Vereinigte Königreich geeignet. Gegen dieses Modell bestünden Bedenken, weshalb das Vereinigte Königreich seinen eigenen Ansatz entwickelt habe, der frei von den Mängeln der OLAF‑Methodik sei. Sodann führte das Vereinigte Königreich zu den Maßnahmen im Anschluss an den Inspektionsbericht 16-11-1 aus, dass die 24 Zahlungsaufforderungen C18 Snake aufgehoben und die entsprechenden Beträge aus der B-Buchführung herausgenommen worden seien, weil es nicht möglich gewesen sei, den tatsächlichen Wert der eingeführten Waren nachzuweisen, dass aber eine Expertengruppe diesem Problem im Rahmen der Aktion Breach abhelfen werde. Schließlich könne der Bitte um Überlassung der rechtlichen Beurteilung von HMRC, die zur Aufhebung der Zahlungsaufforderungen C18 Snake geführt habe, nicht nachgekommen werden, weil dem Gründe der Vertraulichkeit und des Schutzes des Berufsgeheimnisses im Verhältnis zwischen Anwalt und Mandant entgegenstünden.
93. Am 9. März 2018 richtete die Kommission ein Mahnschreiben an das Vereinigte Königreich.
94. Das Vereinigte Königreich antwortete am 22. Juni 2018 auf dieses Schreiben. In einer Anlage zu dem Antwortschreiben ersuchte es um Überlassung einer vollständigen Fassung des OLAF‑Berichts, da ihm nur eine unvollständige Fassung zur Verfügung stehe, und um Beantwortung detaillierter Fragen zur Methode der Berechnung der geforderten Beträge an traditionellen Eigenmitteln durch die Kommission.
95. Am 24. September 2018 richtete die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme an das Vereinigte Königreich, in der sie u. a. die von diesem in der Anlage zu seinem Schreiben vom 22. Juni 2018 gestellten Fragen beantwortete, und setzte für die Antwort auf diese Stellungnahme eine Frist von zwei Monaten.
96. Da die Kommission innerhalb dieser Frist keine Antwort des Vereinigten Königreichs auf die mit Gründen versehene Stellungnahme erhalten hatte, beschloss sie am 19. Dezember 2018, beim Gerichtshof die vorliegende Vertragsverletzungsklage zu erheben, nachdem sie das Vereinigte Königreich am 18. Dezember 2018 davon unterrichtet hatte, dass sie diesen Beschluss am folgenden Tag fassen werde.
97. Am 9. Januar 2019 fand ein technisches Treffen zwischen den Behörden des Vereinigten Königreichs und der Kommission statt, bei dem eine Beratungsgesellschaft ihre Schlussfolgerungen vorlegte, die in einem vom Vereinigten Königreich in Auftrag gegebenen Bericht enthalten waren.
98. Am 11. Februar 2019 übermittelte das Vereinigte Königreich der Kommission seine Antwort auf die mit Gründen versehene Stellungnahme, die aus einem Anschreiben und einer Anlage mit einem Bericht einer Beratungsgesellschaft bestand.
IV. Das Verfahren vor dem Gerichtshof
99. Am 7. März 2019 hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben, da sie die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme enthaltenen Rügen durch das Vorbringen des Vereinigten Königreichs nicht für widerlegt erachtete.
100. Das Königreich Belgien, die Republik Estland, die Hellenische Republik, die Republik Lettland, die Portugiesische Republik und die Slowakische Republik haben Streithilfeschriftsätze zur Unterstützung des Vereinigten Königreichs in der vorliegenden Rechtssache eingereicht.
101. Mit Schriftsatz vom 6. Juni 2020 hat das Vereinigte Königreich die Durchführung einer Beweisaufnahme oder den Erlass prozessleitender Maßnahmen beantragt, mit denen der Kommission die Beantwortung einer Reihe von Fragen aufgegeben werden sollte, von denen einige bereits in den Auskunftsersuchen enthalten waren, die das Vereinigte Königreich am 22. Juni 2018 und 22. März 2019 an die Kommission gerichtet hatte. Mit Schriftsatz vom 11. April 2019 hat das Vereinigte Königreich beantragt, der Kommission aufzugeben, die in dem Auskunftsersuchen vom 22. März 2019 gestellten Fragen zu beantworten (im Folgenden: überarbeitetes Auskunftsersuchen)(26).
102. Mit Schreiben vom 14. Oktober 2020 hat der Gerichtshof an die Kommission und an das Vereinigte Königreich Fragen zur schriftlichen Beantwortung gerichtet. Mit Schriftsätzen vom 16. November 2020 haben diese Parteien hierauf geantwortet.
103. In der Sitzung vom 8. Dezember 2020 haben das Vereinigte Königreich, unterstützt von den Streithelfern Republik Estland, Republik Lettland und Portugiesische Republik, und die Kommission mündliche Erklärungen abgegeben. Diese Parteien sind gebeten worden, ihre mündlichen Ausführungen auf den Inhalt der in der vorstehenden Nummer dieser Schlussanträge erwähnten Antworten zu konzentrieren.
V. Anträge der Parteien
104. In der Klageschrift beantragt die Kommission, festzustellen, dass
– das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland dadurch, dass es nicht die korrekten Zollbeträge in die Buchführung aufgenommen hat und nicht den korrekten Betrag an traditionellen Eigenmitteln und Mehrwertsteuereigenmitteln hinsichtlich bestimmter Einfuhren von Textilien und Schuhen aus China bereitgestellt hat, gegen seine Verpflichtungen aus den Art. 2 und 8 des Beschlusses 2014/335, den Art. 2 und 8 des Beschlusses 2007/436, den Art. 2, 6, 9, 10, 12 und 13 der Verordnung Nr. 609/2014, den Art. 2, 6, 9, 10, 11 und 17 der Verordnung Nr. 1150/2000, Art. 2 der Verordnung Nr. 1553/89, Art. 105 Abs. 3 der Verordnung Nr. 952/2013 und Art. 220 Abs. 1 des Zollkodex der Gemeinschaften verstoßen hat;
– als Folge des Verstoßes gegen seine Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 325 und Art. 310 Abs. 6 AEUV, den Art. 3 und 46 des Zollkodex der Union, Art. 13 des Zollkodex der Gemeinschaften, Art. 248 Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 2454/93, Art. 244 der Durchführungsverordnung 2015/2447 sowie Art. 2 Abs. 1 Buchst. b und d, Art. 83, Art. 85 bis 87 und Art. 143 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 der Richtlinie 2006/112,
– [die entsprechenden Verluste bei den traditionellen Eigenmitteln, die dem Unionshaushalt zur Verfügung zu stellen sind, belaufen sich (nach Abzug der Erhebungskosten) auf:
– 496 025 324,30 Euro im Jahr 2017 (bis einschließlich 11. Oktober 2017);
– 646 809 443,80 Euro im Jahr 2016;
– 535 290 329,16 Euro im Jahr 2015;
– 480 098 912,45 Euro im Jahr 2014;
– 325 230 822,55 Euro im Jahr 2013;
– 173 404 943,81 Euro im Jahr 2012;
– 22 777 312,79 Euro im Jahr 2011.](27)
– das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland dadurch, dass es die von den Kommissionsdienststellen benötigten, für die Bestimmung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln erforderlichen vollständigen Informationen nicht übermittelt hat und nicht, wie verlangt, den Inhalt der rechtlichen Beurteilung der Rechtsabteilung von HMRC oder die Begründung der Entscheidung, die zur Annullierung der festgestellten Zollschulden geführt hat, vorgelegt hat, gegen seine Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 3 EUV sowie aus Art. 2 Abs. 2 und Abs. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 608/2014 verstoßen hat;
– dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland die Kosten aufzuerlegen.
105. Das Vereinigte Königreich beantragt,
– die Klage in vollem Umfang oder teilweise für unzulässig zu erklären
– hilfsweise, festzustellen, dass
– das Vereinigte Königreich seine Verpflichtung zur Betrugsbekämpfung nicht verletzt hat, sei es hinsichtlich der traditionellen Eigenmittel oder der loyalen Zusammenarbeit;
– die vom Vereinigten Königreich getroffenen Maßnahmen keine Folgen für den Haushalt der Union gehabt haben, so dass es zu keinerlei Schadensersatzleistung an die Union verpflichtet ist,
– weiter hilfsweise, für den Fall, dass der Gerichtshof feststellt, dass ein konkreter Rechtsverstoß einen Verlust für die Union verursacht hat, dem Vereinigten Königreich zu gestatten, die aus der Feststellung der Haftung folgenden zusätzlichen traditionellen Eigenmittel selbst zu veranschlagen und zu erklären, und den Betrag der Eigenmittelverluste nicht selbst zu bestimmen,
– höchst hilfsweise, für den Fall, dass der Gerichtshof selbst über den Antrag betreffend die Verluste an traditionellen Eigenmitteln entscheiden sollte, deren Veranschlagung durch das Vereinigte Königreich zu prüfen,
– höchst hilfsweise, für den Fall, dass der Gerichtshof die methodischen Entscheidungen des Vereinigten Königreichs nicht billigen sollte, „festzustellen, dass die Kommission bei ihrer Veranschlagung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln dem Beweismaßstab genügen muss, der für Schadensersatzklagen gegen einen Mitgliedstaat gilt, was sie nicht getan hat“,
– die Beanstandung im Zusammenhang mit den Mehrwertsteuereigenmitteln wegen fehlender Rechtsgrundlage und Bezifferung zurückzuweisen und
– der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
106. Alle dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetretenen Mitgliedstaaten beantragen der Sache nach Klageabweisung. Die Slowakische Republik und die Portugiesische Republik beantragen darüber hinaus, der Kommission sämtliche Kosten aufzuerlegen.
VI. Zur Klage
107. Vor der Prüfung der von der Kommission angeführten Klagegründe sind die vom Vereinigten Königreich in der Klagebeantwortung erhobenen Einreden der Unzulässigkeit zu untersuchen (Abschnitt A). In materiell-rechtlicher Hinsichtlich wird die Klage auf vier Klagegründe gestützt. Als Erstes macht die Kommission geltend, das Vereinigte Königreich habe im Zeitraum der Zuwiderhandlung keine Maßnahmen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union getroffen; dieses Unterlassen verstoße sowohl gegen die allgemeinen Verpflichtungen zum Schutz der finanziellen Interessen und zur Betrugsbekämpfung als auch die Verpflichtung der Zollbehörden, die finanziellen Interessen der Union zu schützen, Kontrollen auf der Grundlage einer Risikoanalyse durchzuführen und die Stellung von Sicherheiten zu verlangen (Abschnitt B). Als Zweites trägt die Kommission vor, das Vereinigte Königreich habe gegen die Bestimmungen der Regelung über die Eigenmittel verstoßen, da die Zölle auf die eingeführten Waren nicht korrekt berechnet worden seien und die diesen Zöllen entsprechenden Eigenmittelbeträge weder festgestellt noch dem Unionshaushalt zum vorgeschriebenen Zeitpunkt zur Verfügung gestellt worden seien (Abschnitt C). Als Drittes ist der Vorwurf einer Verletzung der Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV (Abschnitt D) zu prüfen. Als Viertes macht die Kommission der Sache nach geltend, das Vereinigte Königreich habe, weil es den Zollwert der unterbewerteten Waren bei der Einfuhr wegen des Fehlens wirksamer Kontrollmaßnahmen nicht korrekt bestimmt habe, gegen die Rechtsvorschriften im Bereich der Mehrwertsteuer verstoßen und dem Unionshaushalt nicht die gesamten Mehrwertsteuereigenmittel zur Verfügung gestellt (Abschnitt E).
A. Zur Zulässigkeit
108. In der Klagebeantwortung erhebt das Vereinigte Königreich fünf Unzulässigkeitseinreden: Erstens seien im Rahmen des Vorverfahrens und des Verfahrens vor dem Gerichtshof die Verteidigungsrechte verletzt worden, zweitens seien der Ablauf des Vorverfahrens und die Klageschrift bezüglich der Berücksichtigung der Mehrwertsteuer gemäß dem Zollverfahren 42(28) nicht ordnungsgemäß, drittens seien die Grundsätze des Vertrauensschutzes, der Rechtssicherheit, des Estoppel und der loyalen Zusammenarbeit verletzt, viertens könne die Bereitstellung der Beträge nicht nach Art. 258 AEUV angeordnet werden, und fünftens sei die Klage hinsichtlich des Zeitraums vom 1. Mai 2015 bis 11. Oktober 2017 verfrüht.
109. Die fünfte Unzulässigkeitseinrede hängt inhaltlich mit der Prüfung des materiell-rechtlichen Vorbringens zum zweiten Klagegrund zusammen, mit dem beanstandet wird, dass der den Zöllen entsprechende Eigenmittelbetrag nicht festgestellt und dem Unionshaushalt nicht fristgerecht zur Verfügung gestellt worden sei. Das Vorbringen des Vereinigten Königreichs im Rahmen dieser Unzulässigkeitseinrede, die Klage sei hinsichtlich des Zeitraums vom 1. Mai 2015 bis 11. Oktober 2017 verfrüht, zielt in Wirklichkeit darauf ab, den im Rahmen des zweiten Klagegrundes gerügten Rechtsverstoß und die Höhe der Verluste an traditionellen Eigenmitteln, deren Feststellung die Kommission begehrt, in Abrede zu stellen. Deshalb schlage ich vor, die fünfte Unzulässigkeitseinrede im Rahmen der Prüfung der Begründetheit dieses Klagegrundes zu untersuchen.
110. Somit sind vorab die vier Unzulässigkeitseinreden zu prüfen, um festzustellen, ob die vorliegende Vertragsverletzungsklage der Kommission zulässig ist.
1. Zur Einrede der Unzulässigkeit wegen Verletzung der Verteidigungsrechte des Vereinigten Königreichs im Vorverfahren und im Verfahren vor dem Gerichtshof
111. Das Vereinigte Königreich hält die vorliegende Klage für unzulässig, weil weder im Vorverfahren noch im Verfahren vor dem Gerichtshof seine Verteidigungsrechte gewahrt worden seien.
112. Einleitend ist zum einen darauf hinzuweisen, dass das Vorverfahren nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs dem betroffenen Mitgliedstaat die Möglichkeit geben soll, seinen unionsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen wie auch seine Verteidigungsmittel gegenüber den Rügen der Kommission sachdienlich geltend zu machen(29). Der ordnungsgemäße Ablauf dieses Verfahrens ist nicht nur eine vom AEU-Vertrag vorgeschriebene wesentliche Garantie für den Schutz der Rechte des betroffenen Mitgliedstaats, sondern auch dafür, dass ein etwaiges streitiges Verfahren einen eindeutig festgelegten Streitgegenstand hat(30).
113. Der Gerichtshof hat zudem entschieden, dass zwar die mit Gründen versehene Stellungnahme eine zusammenhängende und detaillierte Darlegung der Gründe enthalten muss, aus denen die Kommission zu der Überzeugung gelangt ist, dass der Mitgliedstaat gegen eine seiner Verpflichtungen aus dem Vertrag verstoßen hat, dass jedoch an die Genauigkeit des Mahnschreibens, das zwangsläufig nur in einer ersten knappen Zusammenfassung der Vorwürfe bestehen kann, keine ebenso strengen Anforderungen gestellt werden können. Nichts hindert daher die Kommission daran, in der mit Gründen versehenen Stellungnahme die Vorwürfe näher darzulegen, die sie bereits im Mahnschreiben in allgemeiner Form erhoben hat(31).
114. Zum anderen muss nach ständiger Rechtsprechung eine nach Art. 258 AEUV erhobene Klage eine zusammenhängende und genaue Darstellung der Rügen enthalten, damit der Mitgliedstaat und der Gerichtshof die Tragweite des gerügten Verstoßes gegen das Unionsrecht richtig erfassen können, was notwendig ist, damit der betreffende Staat sich sachgerecht verteidigen und der Gerichtshof überprüfen kann, ob die behauptete Vertragsverletzung vorliegt(32). Insbesondere muss die Klage der Kommission eine zusammenhängende und detaillierte Darlegung der Gründe enthalten, aus denen diese zu der Überzeugung gelangt ist, dass der betreffende Mitgliedstaat gegen eine der ihm nach den Verträgen obliegenden Verpflichtungen verstoßen hat(33).
115. Im Licht dieser Rechtsprechung ist zu prüfen, ob die Kommission die Wahrung der Verteidigungsrechte des Vereinigten Königreichs im Vorverfahren und im vorliegenden Verfahren sichergestellt hat.
116. Als Erstes macht das Vereinigte Königreich geltend, seine Verteidigungsrechte seien verletzt, weil die Kommission weder seinem ersten Auskunftsersuchen(34) noch dem überarbeiteten Auskunftsersuchen nachgekommen sei, die Informationen betroffen hätten, die notwendig seien, damit das Vereinigte Königreich den Betrag der von der Kommission in der Klageschrift geforderten traditionellen Eigenmittel bestimmen könne.
117. In der Gegenerwiderung macht das Vereinigte Königreich geltend, die von der Kommission mit der Erwiderung vorgelegten detaillierten Informationen erlaubten ihm immer noch keine Bestimmung dieses Betrags. Es bestünden weiter erhebliche Ungewissheiten, insbesondere hinsichtlich der von der Kommission zur Berichtigung der Daten verwendeten Methode oder der Frage, ob die nicht aggregierten Daten, über die das Vereinigte Königreich verfüge, den täglichen aggregierten Daten entsprächen, die die Kommission für ihre Berechnung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln herangezogen habe, d. h. die Surveillance-2-Daten.
118. Das Vereinigte Königreich sieht seine Verteidigungsrechte und den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit dadurch verletzt, dass die Kommission ihm verspätet, nämlich im Stadium der Erwiderung, einen Teil der angeforderten Informationen übermittelt habe. Zu beanstanden sei auch die Weigerung der Kommission, ihm Informationen über die von den anderen Mitgliedstaaten getroffenen Maßnahmen zur Bekämpfung des in Rede stehenden Betrugs durch Unterbewertung zu liefern. Es habe diese Informationen benötigt, um den Behauptungen der Kommission entgegenzutreten, in anderen Mitgliedstaaten seien geeignete Maßnahmen ergriffen worden, die zu Ergebnissen im Kampf gegen die unterbewerteten Einfuhren geführt hätten. Diese Informationen seien auch relevant für die Frage, ob die vom Vereinigten Königreich getroffenen Maßnahmen in dessen Beurteilungsspielraum fielen und einen angemessenen Ansatz zur Bekämpfung dieses Betrugs darstellten, und für sein Vorbringen zur Frage der Ursächlichkeit des beanstandeten Vorgehens der Behörden des Vereinigten Königreichs für die nicht erfolgte buchmäßige Erfassung der traditionellen Eigenmittel.
119. Als Zweites wirft das Vereinigte Königreich der Kommission vor, seinen Zugriff auf alle für ihr Verteidigungsvorbringen nötigen Daten beeinträchtigt zu haben, weil sie ihm nicht die geforderten Informationen zu ihren Berechnungen der traditionellen Eigenmittel für den Zeitraum von 2011 bis 2014 geliefert habe.
120. Meines Erachtens ist dieses Vorbringen zurückzuweisen.
121. Zur Einrede der Unzulässigkeit wegen Nichtbeantwortung des Auskunftsersuchens in der Anlage zur Antwort vom 22. Juni 2018 auf das Mahnschreiben ist festzustellen, dass die Kommission dieses Ersuchen in der mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 23. September 2018(35) ausdrücklich beantwortet hat.
122. Das Vereinigte Königreich hatte der Kommission in seiner Antwort auf das Mahnschreiben vorgeworfen, dass Anhang 2 des OLAF‑Berichts vom 1. März 2017 nicht vollständig sei und dass mehrere Seiten fehlten. In der mit Gründen versehenen Stellungnahme erläuterte die Kommission, dass dieser Anhang durch Anhang 7 des OLAF‑Berichts vom 1. März 2017 ersetzt worden sei, der sämtliche Informationen zu der vom OLAF verwendeten Methodik enthalte. Zudem hätten Anhang 2 die Dokumente zugrunde gelegen, die dem Vereinigten Königreich bei dem Treffen zwischen dem OLAF und ihm am 28. Juli 2015 ausgehändigt worden seien. Somit hat die Kommission die OLAF‑Methodik in der mit Gründen versehenen Stellungnahme in Form zweier Dokumente dargelegt, die dem OLAF‑Bericht als Anhang 7(36) und im Übrigen auch der beim Gerichtshof eingereichten Klageschrift beigefügt waren.
123. Folglich enthält die mit Gründen versehene Stellungnahme vollständige Erläuterungen zu dieser Ersetzung, die meines Erachtens das Verständnis der Vorwürfe, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gegen das Vereinigte Königreich erhoben worden waren, nicht behindern konnten. Daher ist das Vereinigte Königreich in der Ausübung seiner Verteidigungsrechte nicht beeinträchtigt worden.
124. Des Weiteren macht das Vereinigte Königreich geltend, seine Verteidigungsrechte seien dadurch verletzt worden, dass die Kommission sein überarbeitetes Auskunftsersuchen nicht beantwortet habe, das ihr am 7. März 2019, nach Einreichung der Klageschrift in der vorliegenden Rechtssache, übersandt worden sei. Dieses Vorbringen besteht der Sache nach aus vier Rügen.
a) Zur Übermittlung der Daten betreffend die Berechnung des berichtigten Durchschnittspreises, des akzeptablen Mindestpreises und der geschätzten Eigenmittelverluste
125. Mit der ersten Rüge wirft das Vereinigte Königreich der Kommission vor, sie habe ihm weder die Daten geliefert, die für die Berechnung des berichtigten Durchschnittspreises, des akzeptablen Mindestpreises und der geschätzten Eigenmittelverluste verwendet worden seien, noch habe sie ihm ermöglicht, zu verstehen, wie sie diese Daten verwendet habe.
126. Hierzu ist festzustellen, dass die Kommission in der Erwiderung eine Antwort auf die in dem überarbeiteten Auskunftsersuchen gestellten Fragen zur Berechnung des berichtigten Durchschnittspreises, der akzeptablen Mindestpreise und der geschätzten Verluste an traditionellen Eigenmitteln gibt. Sie erläutert dort u. a., dass das Vereinigte Königreich stets vollen Zugang zu den verwendeten Daten, insbesondere zum „Download 53“, gehabt habe, um den berichtigten Durchschnittspreis für die Union‑28 und die Schätzungen der Verluste an traditionellen Eigenmitteln mittels der Website Theseus des JRC(37) zu berechnen, zu der es seit 2010 vollen Zugang habe, da es auf deren Grundlage Simulationen durchgeführt habe(38). Im Einzelnen enthielten die Berichte in Anhang 7 des OLAF‑Berichts(39) Folgendes: erstens die Erläuterung der Methodik der Berechnung des berichtigten Durchschnittspreises und des akzeptablen Mindestpreises und namentlich der „Bereinigung“ der Daten sowie der Schätzung der Verluste (d. h. der Differenz zwischen dem angemeldeten Preis und dem berichtigten Durchschnittspreis), zweitens die Liste der für jede Erzeugniskategorie verwendeten berichtigten Durchschnittspreise, drittens eine Übersicht darüber, wie auf den berichtigten Durchschnittspreis für die Union-28 auf der Website Theseus zugegriffen werden konnte, und viertens die Gründe für die Entscheidung, den akzeptablen Mindestpreis auf 50 % des berichtigten Durchschnittspreises festzusetzen. Anhang 7 des OLAF‑Berichts war zudem der Anlage 35 zur Klageschrift beigefügt(40), und die Kommission hat darauf in der mit Gründen versehenen Stellungnahme Bezug genommen. Folglich waren dem Vereinigten Königreich diese Daten und diese Dokumente bekannt und versetzten es in die Lage, gegebenenfalls die von der Kommission durchgeführten Berechnungen nachzuvollziehen. Zudem hat das Vereinigte Königreich bezüglich der Menge der Waren im Hinblick auf die Schätzung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln um Überlassung einer Kopie der gesamten Datenbank Surveillance 2 gebeten, um diese Verluste selbst zu berechnen. Wie die Kommission erläutert hat, handelt es sich um eine von ihr erstellte Datenbank, in der die Daten zusammengestellt sind, die u. a. die von den Mitgliedstaaten selbst gemeldete Menge betreffen. In der Erwiderung hat die Kommission ausgeführt, diesen Daten lägen ausschließlich die Daten zugrunde, die das Vereinigte Königreich den Dienststellen der Kommission übermittelt habe, und sie seien in dieser Datenbank lediglich gespeichert(41).
127. In der Gegenerwiderung räumt das Vereinigte Königreich ein, dass mit den von der Kommission in der Erwiderung vorgelegten Informationen die beiden Auskunftsersuchen erledigt seien. Es rügt jedoch deren späte Übermittlung. Hierzu ist unter Berücksichtigung der Ausführungen in der vorstehenden Nummer festzustellen, dass dem Vereinigten Königreich mitgeteilt worden ist (und somit bekannt war), wie die Kommission den berichtigten Durchschnittspreis und den akzeptablen Mindestpreis berechnet und wie sie die Verluste an traditionellen Eigenmitteln geschätzt hatte, wie sich aus den Erläuterungen im Anhang 7 des OLAF‑Berichts ergibt. Daher sind die mit der Erwiderung gegebenen Informationen nicht als neue Informationen anzusehen.
128. Da folglich die von der Kommission verwendeten Daten dem Vereinigten Königreich zugängliche Dokumente waren und diese vor und während des vorliegenden Verfahrens erläutert hat, wie dieser Mitgliedstaat auf diese Daten zugreifen und die von ihr vorgenommenen Berechnungen nachvollziehen konnte, ist festzustellen, dass dem Vereinigten Königreich alle Informationen, die es in seinem überarbeiteten Auskunftsersuchen zu den berichtigten Durchschnittspreisen für die Union-28, den akzeptablen Mindestpreisen und den Eigenmittelverlusten angefordert hat, bereits zugänglich waren.
b) Zu den Informationen betreffend die Berechnungen für die Jahre 2011 bis 2014 auf der Grundlage der Zahlungsaufforderungen C18 Snake
129. Mit dieser zweiten Rüge wirft das Vereinigte Königreich in der Klagebeantwortung der Kommission vor, dass ihm nicht alle für seine Verteidigung nötigen Daten zugänglich gewesen seien, da Zollanmeldungen nur vier Jahre lang aufbewahrt würden und die für die Zeit vor 2014 somit vernichtet gewesen seien. Zudem habe das Vereinigte Königreich mit seinem überarbeiteten Auskunftsersuchen um Informationen zu den von der Kommission für die Jahre 2011 bis 2014 angestellten Berechnungen gebeten.
130. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das Vereinigte Königreich in einer Anlage zur Gegenerwiderung(42) dem Gerichtshof eine Aufstellung der von ihm erlassenen 23 Zahlungsaufforderungen C18 Snake, Kopien dieser Zahlungsaufforderungen und die von ihm verwendeten Tabellenkalkulationsprogramme vorgelegt hat. Daher greift die Unzulässigkeitseinrede betreffend die Informationen zu den Berechnungen für die Jahre 2011 bis 2014 auf der Grundlage der Zahlungsaufforderungen C18 Snake nicht durch. Soweit das Vereinigte Königreich die Richtigkeit der von der Kommission auf der Grundlage dieser Zahlungsaufforderungen angestellten Berechnungen bestreitet, versucht es zudem in Wirklichkeit, die Beurteilung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln für diesen Zeitraum durch die Kommission in Frage zu stellen. Dieses Vorbringen wird jedoch im Rahmen des zweiten Klagegrundes betreffend den Verstoß gegen die Bestimmungen über die traditionellen Eigenmittel und deren Schätzung zu prüfen sein.
c) Zur Kenntnis der Praxis der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Verwendung der OLAF‑Methodik
131. Mittels dieser dritten Rüge möchte das Vereinigte Königreich Kenntnis erlangen von der Praxis der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Verwendung der OLAF‑Methodik als Instrument der Risikoanalyse im Hinblick darauf, ob vor der Zollabwicklung Kontrollen durchzuführen sind (oder nicht).
132. Hierzu ist festzustellen, dass eine vergleichende Analyse des Vorgehens der anderen Mitgliedstaaten für das Vereinigte Königreich zwar von Interesse sein kann, um darzutun, dass es die angemessenen Entscheidungen getroffen hat, dass sich eine Analyse der Praxis der anderen Mitgliedstaaten jedoch weder auf die Ausübung der Verteidigungsrechte durch das Vereinigte Königreich noch auf den Ausgang des vorliegenden Vertragsverletzungsverfahrens auswirken kann. Nach ständiger Rechtsprechung kann nämlich ein Mitgliedstaat die Nichterfüllung seiner Verpflichtungen nicht damit rechtfertigen, dass andere Mitgliedstaaten ihre Verpflichtungen ebenfalls nicht erfüllt hätten oder erfüllten(43). Die Zulässigkeit der vorliegenden Klage gegen das Vereinigte Königreich wäre auch dann nicht fraglich, wenn die Praxis der anderen Mitgliedstaaten betreffend die Verwendung der OLAF‑Methodik als Instrument der Risikoanalyse im Hinblick darauf, ob vor der Zollabwicklung Kontrollen durchzuführen sind (oder nicht), anders sein sollte.
d) Zur Forderung von Beweisen hinsichtlich der Art der unterbewerteten Waren und ihres Bestimmungsmitgliedstaats
133. Mit dieser vierten Rüge verlangt das Vereinigte Königreich Beweise hinsichtlich der Art der unterbewerteten Waren und ihres Bestimmungsmitgliedstaats.
134. Mit dieser Rüge scheint das Vereinigte Königreich in Wirklichkeit die Begründetheit des zweiten und des dritten Klagegrundes in Frage zu stellen, die die Schätzung der Eigenmittel bzw. den Verstoß gegen die Bestimmungen über die Mehrwertsteuereigenmittel betreffen. Tatsächlich wird mit dieser Rüge nämlich die Beurteilung der Kommission hinsichtlich der Art der für diese Schätzungen berücksichtigten Waren und ihrer eventuellen Bestimmung in Frage gestellt. Zudem ist meines Erachtens dem Vorbringen der Kommission beizupflichten, die zur Zurückweisung der Rüge fehlender Daten über Art und Menge der für das vorliegende Verfahren berücksichtigten Waren geltend macht, das Vereinigte Königreich selbst habe die Daten in die Datenbank Surveillance 2 eingestellt, auf die sich Kommission in der mit Gründen versehenen Stellungnahme und in der Klageschrift gestützt habe(44). Daher kann keine Verletzung der Verteidigungsrechte wegen fehlender Informationen über die Art der Waren und ihren Bestimmungsmitgliedstaat festgestellt werden.
135. Demgemäß ist die erste Unzulässigkeitseinrede, mit der das Vereinigte Königreich eine Verletzung seiner Verteidigungsrechte im Vorverfahren und im Verfahren vor dem Gerichtshof geltend macht, zurückzuweisen.
2. Zu der Einrede der Unzulässigkeit, mit der geltend gemacht wird, der Ablauf des Vorverfahrens und die Klageschrift seien bezüglich der Berücksichtigung der Mehrwertsteuer gemäß dem Zollverfahren 42 nicht ordnungsgemäß
136. Das Vereinigte Königreich macht geltend, die Kommission habe es dadurch, dass sie ihm im Vorverfahren und sodann in der Klageschrift keine detaillierten Informationen zur tatsächlichen Grundlage der behaupteten Rechtsverstöße, insbesondere im Zusammenhang mit dem Zollverfahren 42, übermittelt habe, nicht in die Lage versetzt, diese Rügen zu erfassen und es damit daran gehindert, entweder seinen Verpflichtungen nachzukommen oder seine Verteidigung vorzubereiten. Es habe keine Information zum Betrag der Verluste an Mehrwertsteuereigenmitteln, zur Identität der betroffenen Wirtschaftsbeteiligten und der Bestimmungsmitgliedstaaten sowie zu den Maßnahmen erhalten, die Letztere zur Einziehung der von diesen Wirtschaftsbeteiligten geschuldeten Mehrwertsteuer getroffen hätten. Folglich sei die darauf gerichtete Forderung unzulässig.
137. Zunächst weise ich jedoch darauf hin, dass diese Unzulässigkeitseinrede die Frage betrifft, ob die von der Kommission für ihre Forderung angeführten Tatsachen und Beweise in sich geschlossen und ausreichend sind. Meines Erachtens sind diese Tatsachen und Beweise eher im Rahmen der Begründetheit der Vertragsverletzung als in dem der Ordnungsmäßigkeit des Vorverfahrens und der darauf folgenden Klage zu prüfen(45). Sonach ist das Vorbringen, die von der Kommission übermittelten Informationen seien unzureichend gewesen, meiner Ansicht nach im Rahmen der Analyse der von der Kommission vorgelegten Beweise durch den Gerichtshof zu prüfen.
138. Sodann geht, auch wenn der Gerichtshof dieses Vorbringen als Unzulässigkeitseinrede einstufen sollte, aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten hervor, dass die im Vorverfahren übermittelten und in die Klageschrift aufgenommenen Tatsachen und Beweise ausreichten, um das Vereinigte Königreich in die Lage zu versetzen, sich zu verteidigen. Wie sich nämlich aus dem OLAF‑Bericht, auf den sich die Kommission gestützt hat, ergibt, war die endgültige Bestimmung der meisten unterbewerteten Einfuhren, da für sie das Zollverfahren 42 galt und ihre Bestimmung festgelegt werden konnte, nicht das Vereinigte Königreich, sondern andere Mitgliedstaaten, woraus sich erhebliche Mehrwertsteuerverluste in den Mitgliedstaaten der Bestimmung der Güter ergaben(46). Das OLAF hat zudem darauf hingewiesen, dass im Rahmen des in Rede stehenden Betrugsschemas ein großer Teil der Güter in den Schwarzmarkt umgeleitet worden sei, so dass überhaupt keine Mehrwertsteuer entrichtet worden sei. Diese Angaben sind später in der mit Gründen versehenen Stellungnahme wiedergegeben und in die Klageschrift aufgenommen worden. Ich teile daher die von der Kommission in der Erwiderung vertretene Ansicht, dass die im Vorverfahren übermittelten und in der Klageschrift näher ausgeführten Tatsachen und Beweise das Vereinigte Königreich nicht daran gehindert haben, sich gegenüber den Vorwürfen hinsichtlich dieser Verluste zu verteidigen.
139. Folglich schlage ich vor, die zweite Unzulässigkeitseinrede des Vereinigten Königreichs zurückzuweisen.
3. Zur Einrede der Unzulässigkeit wegen Verletzung der Grundsätze des Vertrauensschutzes, der Rechtssicherheit, des Estoppel und der loyalen Zusammenarbeit durch die Kommission
140. Das Vereinigte Königreich ist der Ansicht, die vorliegende Klage sei abzuweisen, soweit sie den Zeitraum bis Ende Februar 2015 erfasse, weil sie die Grundsätze des Vertrauensschutzes, der Rechtssicherheit, des Estoppel und der loyalen Zusammenarbeit verletze. Zahlreiche Erklärungen des OLAF in den Jahren 2014 und 2015 und in dessen Bericht vom März 2017 hätten bei ihm ein berechtigtes Vertrauen entstehen lassen(47). Aus dem OLAF‑Bericht ergebe sich u. a., dass das OLAF zu keiner Zeit vor dem Ende der operationellen Phase der Aktion Snake im März 2014(48) festgestellt habe, dass das Vereinigte Königreich seine unionsrechtlichen Verpflichtungen verletzt habe. Im Einzelnen verweist das Vereinigte Königreich auf drei angeblich von der Kommission und vom OLAF während des Zeitraums der Zuwiderhandlung gegeben klare Zusicherungen, aus denen sich ergebe, dass diese zum einen der Ansicht gewesen seien, dass das Vereinigte Königreich seine Verpflichtungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union und zur Betrugsbekämpfung nicht verletze, und zum anderen, dass gegen diesen Mitgliedstaat kein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten sei. Daher könne nicht zugelassen werden, dass die Kommission von ihrer auf diese drei Zusicherungen gestützten Position abrücke.
141. Zunächst ergebe sich aus einem von den Vertretern des Vereinigten Königreichs erstellten Protokoll eines Treffens mit dem OLAF vom 13. Juni 2014, dass dieses „zufrieden mit den vom Vereinigten Königreich gemachten Fortschritten und den bereits zu diesem Zeitpunkt getroffenen und den noch ins Auge gefassten Maßnahmen“ gewesen sei. Dies sei eine eindeutige Zusicherung, dass das OLAF nicht der Ansicht gewesen sei, dass das Vereinigte Königreich seine Verpflichtungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union und zur Betrugsbekämpfung verletze(49).
142. Sodann stelle eine im Oktober 2014 abgegebene zweite Erklärung eines Bediensteten der Kommission, mit der das Vereinigte Königreich darüber informiert worden sei, dass seine Beteiligung an der PCA Discount „zufriedenstellend“ sei und dass die für die Durchführung dieser Aktion nötigen Schritte „rechtzeitig und wirksam unternommen“ worden seien, eine klare und eindeutige Zusicherung dar, dass das Vereinigte Königreich seine unionsrechtlichen Verpflichtungen hinsichtlich der Teilnahme an dieser Aktion nicht verletzt habe(50). Zum Gegenargument der Kommission, diese Zusicherung habe sich nur auf einen einzigen Fall aus der PCA Discount bezogen, macht das Vereinigte Königreich geltend, die Kommission könne diese Zusicherung nicht mit der Begründung in Frage stellen, dass nach ihrer jetzigen Auffassung die Kontrolle eines einzigen Falles nicht genüge, um diese Zusicherung zu stützen, und so von ihrer ursprünglichen Entscheidung abrücken, ihrer dem Vereinigten Königreich gegebenen Zusicherung einen einzigen Fall zugrunde zu legen.
143. Schließlich bezieht sich das Vereinigte Königreich auf das erste bilaterale Treffen des OLAF mit HMRC am 19. und 20. Februar 2015, bei dem ein Beamter des OLAF dem von den britischen Beamten erstellten Protokoll zufolge erklärt habe, „bis jetzt“ habe dieser Mitgliedstaat „getan, was zu tun war“. Nach Ansicht des Vereinigten Königreichs betraf diese letzte Zusicherung alle bis dahin von ihm ergriffenen Maßnahmen und nicht nur die Frage des Erlasses der Zahlungsaufforderungen C18 Snake.
144. Das jetzige Abrücken der Kommission von diesen drei Zusicherungen laufe nicht nur dem Grundsatz des Vertrauensschutzes, sondern auch dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwider, der von den Mitgliedstaaten geltend gemacht werden könne(51), sowie dem Grundsatz venire contra factum proprium nemini licet und dem in Art. 4 Abs. 3 EUV aufgestellten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit(52). Die zollrechtlichen Bestimmungen erlaubten nämlich eine gewisse Flexibilität hinsichtlich der Maßnahmen zur Bekämpfung eines Betrugs wie des hier in Rede stehenden und verlangten nicht ausdrücklich ein Kontrollsystem, das auf Risikofiltern und Vorabkontrollen beruhe, so dass die Kommission und das OLAF dem Vereinigten Königreich hätten zusichern können, dass sein System der Zollkontrolle bis Februar 2015 dem Unionsrecht entsprochen habe.
145. Zur Prüfung des Vorbringens des Vereinigten Königreichs ist vorab darauf hinzuweisen, dass sich jeder, bei dem ein Unionsorgan durch klare Zusicherungen begründete Erwartungen geweckt hat, auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen kann(53). Dieses Recht ist zwar ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der dem Einzelnen Rechte verleiht(54), doch hat der Gerichtshof seine Anwendung auf die Beziehungen zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten erstreckt(55).
146. Das Recht zur Berufung auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes setzt jedoch voraus, dass die zuständigen Unionsbehörden dem Betroffenen klare, unbedingte und übereinstimmende, aus befugten und zuverlässigen Quellen stammende Zusicherungen erteilt haben. Auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes kann sich nämlich jeder berufen, bei dem ein Unionsorgan durch klare Zusicherungen begründete Erwartungen geweckt hat(56), zumal im Rahmen der Prüfung einer von einem Mitgliedstaat erhobenen Unzulässigkeitseinrede wegen Verletzung des Vertrauensschutzes dieser – gemäß dem Grundsatz reus in exceptione fit actor – den Beweis für eine solche Verletzung erbringen muss(57).
147. Im vorliegenden Fall ergibt sich meines Erachtens aus den Akten, dass das Vereinigte Königreich von der Kommission oder vom OLAF keine Zusicherungen erhalten hat, die ein berechtigtes Vertrauen bei ihm begründen konnten.
148. Was im Einzelnen die drei vom Vereinigten Königreich angeführten Aussagen angeht, stellt meiner Ansicht nach keine von ihnen eine klare und unbedingte Erklärung dar, dass die Handlungen und Unterlassungen des Vereinigten Königreichs dem Unionsrecht entsprochen hätten und dieser Staat nicht gegen das Unionsrecht verstoßen hätte. Zum einen ist nämlich die vermeintliche Erklärung des Bediensteten des OLAF bei einem Treffen am 13. Juni 2014(58) zu allgemein, um ein berechtigtes Vertrauen zu begründen, dass keine Vertragsverletzung vorliegt. Zudem ist diese Erklärung in ihrem Kontext zu verstehen, aus dem hervorgeht, dass sie im Rahmen eines Treffens zwischen dem OLAF und dem Vereinigten Königreich zur Aktion Snake und insbesondere einer Diskussion über den eventuellen Erlass der Zahlungsaufforderungen C18 Snake durch diesen Staat abgegeben worden ist. Es steht jedoch fest, dass das Vereinigte Königreich diese Zahlungsaufforderungen nach dem Treffen zurückgezogen hat, so dass diese Erklärung, mit der der von diesem Staat gemachte Fortschritt zur Kenntnis genommen wurde, ihren Wert größtenteils verlor. Gleiches gilt für die Ausführungen des OLAF bei dem Treffen vom 19. und 20. Februar 2015, die auf der Prämisse beruhten, dass das Vereinigte Königreich diese Zahlungsaufforderungen erlassen hatte(59). Zum anderen ist zu der im Oktober 2014 abgegebenen Erklärung, wonach das OLAF die Ansicht vertreten habe, dass die Beteiligung des Vereinigten Königreichs an der PCA Discount zufriedenstellend sei und dass die für die Durchführung dieser Aktion nötigen Schritte „rechtzeitig und wirksam unternommen“ worden seien(60), festzustellen, dass sie keine Beurteilung der Einhaltung des Unionsrechts durch diesen Staat auf dem Gebiet des Schutzes der finanziellen Interessen der Union darstellt, da sie nur einen einzigen Fall aus der PCA Discount betraf und nicht notwendig den Inhalt des gesamten Schriftwechsels und aller Treffen aus dieser Zeit wiedergibt.
149. Folglich können die drei Erklärungen oder Aussagen, auf die sich das Vereinigte Königreich stützt, nicht als „klare, unbedingte und übereinstimmende“ Zusicherungen eingestuft werden, zumal sie in einem Kontext abgegeben worden sind, der durch einen intensiven und anhaltenden Dialog über einen relativ langen Zeitraum hinweg zwischen den Dienststellen des OLAF und der Kommission auf der einen Seite und des Vereinigten Königreichs auf der anderen gekennzeichnet ist. Somit sind sie, wie die Kommission geltend macht, im Rahmen der Aktion des OLAF(61) erfolgt, mit der die Mitgliedstaaten davon überzeugt werden sollten, Zollkontrollmaßnahmen zu ergreifen, die der Zollabwicklung vorausgehen und auf eine Risikoanalyse wie etwa den auf den akzeptablen Mindestpreisen beruhenden Schwellenwert gestützt sind. Aus diesem Kontext ergibt sich klar, dass weder das OLAF noch die Kommission derartige Zusicherungen gegeben haben.
150. Jedenfalls können derartige Erklärungen oder Aussagen kein Hindernis für die objektive Feststellung der Nichteinhaltung der die Mitgliedstaaten treffenden Verpflichtungen im Verfahren nach Art. 258 AEUV sein. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs beruht dieses Verfahren auf der objektiven Feststellung eines Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht, und ein Mitgliedstaat kann sich nicht auf die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der loyalen Zusammenarbeit berufen, um eine solche objektive Feststellung zu verhindern, denn die Zulassung dieser Rechtfertigung widerspräche dem Zweck dieses Verfahrens(62). Was die Äußerungen der Dienststellen der Kommission und ihre möglichen Auswirkungen auf die dem Vereinigten Königreich vorgeworfene Vertragsverletzung angeht, so ist die Kommission nach ständiger Rechtsprechung nicht berechtigt, Garantien hinsichtlich der Vereinbarkeit eines bestimmten Verhaltens mit dem Unionsrecht zu geben, und hat keinesfalls die Befugnis, gegen das Unionsrecht verstoßende Verhaltensweisen zu genehmigen(63). Folglich können die Mitgliedstaaten meines Erachtens in einem System, in dem sie für die sachgerechte Durchführung des Zollrechts der Union in ihrem nationalen Hoheitsgebiet verantwortlich sind, nicht die Haftung für einen etwa von ihnen begangenen Verstoß gegen das Unionsrecht mit dem Vorbringen zurückweisen, dass die Kommission ihnen diesen zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht vorgeworfen habe.
151. Schließlich genügt die Feststellung, dass dem Vorbringen zur Rechtssicherheit, zum Grundsatz des Estoppel und zum Fehlen loyaler Zusammenarbeit zwischen der Kommission und dem Vereinigten Königreich ein eigenständiger Gehalt fehlt, wie sich aus dessen Klagebeantwortung ergibt. In seinem Schriftsatz legt das Vereinigte Königreich nämlich nicht dar, aus welchen Gründen diese Grundsätze verletzt sein sollen(64), so dass dieses Vorbringen von den vorstehend geprüften Argumenten, mit denen eine Verletzung des Vertrauensschutzes geltend gemacht wird, abhängt und mit derselben Begründung wie im Rahmen dieser Prüfung zurückzuweisen ist.
152. Daher ist diese Unzulässigkeitseinrede meines Erachtens zurückzuweisen.
4. Zur Einrede der Unzulässigkeit, mit der geltend gemacht wird, die Bereitstellung der Beträge könne nicht nach Art. 258 AEUV angeordnet werden
153. Das Vereinigte Königreich hält die Klage für unzulässig, soweit sie im Wesentlichen auf seine Verurteilung gerichtet sei, bestimmte, außerordentlich hohe Beträge an den Unionshaushalt abzuführen.
154. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs(65) macht das Vereinigte Königreich die Unzulässigkeit des Teils der Klageanträge geltend, der darauf gerichtet sei, dem Unionshaushalt einen bestimmten Betrag an traditionellen Eigenmitteln von etwa 2,7 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen, da der Gerichtshof im Rahmen einer Klage wegen Vertragsverletzung nach Art. 258 AEUV einem Mitgliedstaat nicht aufgeben könne, dem Unionshaushalt bestimmte Eigenmittelbeträge gutzuschreiben, die wegen der diesem Mitgliedstaat vorgeworfenen Vertragsverletzung nicht entrichtet worden sein sollen. Deshalb sei der dritte Absatz des ersten Klageantrags aus der Klageschrift, wie er in deren Rn. 370 formuliert sei, unzulässig, zumal der Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen dieser Klage nur feststellen könne, dass ein Mitgliedstaat seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verletzt habe, nicht aber den Erlass bestimmter Maßnahmen durch diesen Mitgliedstaat anordnen könne.
155. Das Vereinigte Königreich weist auch das Vorbringen der Kommission zurück, sie habe ihre Klageanträge in der vorliegenden Rechtssache sorgfältig „strukturiert“, um den in den beiden vorgenannten Rechtssachen Kommission/Deutschland begangenen Fehler zu vermeiden. Dies sei ein Kunstgriff, um die Unzuständigkeit des Gerichtshofs zu umgehen, da die Kommission mittels einer anderen Formulierung dasselbe Ergebnis erreichen wolle wie in diesen beiden Rechtssachen.
156. Zudem nehme das Vorgehen der Kommission dem Vereinigten Königreich die ihm durch Art. 260 AEUV eröffnete Möglichkeit, einer gemäß Art. 258 AEUV festgestellten Vertragsverletzung abzuhelfen, und beachte somit nicht die jeweiligen Zuständigkeiten der Kommission, des Gerichtshofs und der Mitgliedstaaten nach den Unionsverträgen.
157. Die vorliegende Rechtssache unterscheide sich von der, in der das Urteil vom 15. November 2005, Kommission/Dänemark,(66) ergangen sei. Der Gerichtshof habe dort zwar einer Klage auf Feststellung stattgegeben, dass der betreffende Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtung verstoßen hatte, der Union Eigenmittel in einer bestimmten Höhe zur Verfügung zu stellen, doch sei, wie sich aus Rn. 56 dieses Urteils ergebe, in jener Rechtssache weder das Bestehen einer Zollschuld noch der Betrag der Eigenmittelverluste streitig gewesen.
158. Dieses Vorbringen greift meines Erachtens nicht durch. Wie sich aus dem dritten Absatz des ersten Klageantrags ergibt, dass die Kommission in der Klageschrift mit der Aufzählung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln für den Zeitraum von 2011 bis 2017 das Ausmaß der Vertragsverletzung unter Bezifferung der Verluste darstellen wollte. Auch wenn dieser dritte Absatz den vom Vereinigten Königreich beanstandeten Ausdruck „die … Verluste bei den traditionellen Eigenmitteln, die dem Unionshaushalt zur Verfügung zu stellen sind“(67) enthält, ist dieser Satzteil meines Erachtens nicht als Antrag zu verstehen, diesem Staat aufzugeben, die in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden Beträge abzuführen, sondern er soll die Vertragsverletzung quantitativ beschreiben und somit dartun, welche konkreten Beträge das Vereinigte Königreich dem Unionshaushalt nicht zur Verfügung gestellt hat.
159. Zu dem Vorbringen, das auf die beiden mit den Urteilen Kommission/Deutschland entschiedenen Rechtssachen gestützt ist(68), genügt meines Erachtens die Feststellung, dass die in diesen Rechtssachen gestellten und vom Gerichtshof in seinen Urteilen beanstandeten Anträge anders formuliert waren als die Anträge in der vorliegenden Rechtssache. In den genannten Rechtssachen hatte die Kommission nämlich beantragt, dem beklagten Mitgliedstaat aufzugeben, die Beträge abzuführen, wenn ein Verstoß dieses Mitgliedstaats gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht festgestellt würde(69). In diesen beiden Urteilen hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die Kommission nicht die Erklärung beantragte, dass der beklagte Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen verstoßen hatte, sondern die an diesen gerichtete Anordnung, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen(70). Daraus ergibt sich meines Erachtens, dass die Zuständigkeit des Gerichtshofs im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV auf die Feststellung der einem Mitgliedstaat vorgeworfenen Vertragsverletzung beschränkt ist, ohne dass er dem beklagten Mitgliedstaat aufgeben kann, Schritte zur Beseitigung dieser Vertragsverletzung zu unternehmen. Dieser Schluss folgt im Übrigen aus der Wendung, dass die „Feststellung einer solchen Vertragsverletzung … den Mitgliedstaat [verpflichtet]…, die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofes ergeben“(71), wie es nunmehr Art. 260 AEUV vorsieht. Das Verfahren vor dem Gerichtshof ist somit ein Vertragsverletzungsverfahren und kein Anordnungsverfahren.
160. Da das Verfahren nach Art. 258 AEUV auf der objektiven Feststellung beruht, dass ein Mitgliedstaat seinen unionsrechtlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen ist, sind die gemäß dieser Bestimmung erlassenen Urteile des Gerichtshofs ihrem Wesen nach feststellender Natur(72), so dass der Gerichtshof auf Vertragsverletzungsklagen nach Art. 258 AEUV, die Beträge an traditionellen Eigenmitteln betreffen, feststellen kann, dass ein Mitgliedstaat diese Beträge dem Unionshaushalt nicht zur Verfügung gestellt hat(73). Dieser Schluss ergibt sich entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs auch aus dem Urteil Kommission/Dänemark(74), in dem der Gerichtshof eine Klage auf Feststellung für zulässig erklärt hat, dass die dänischen Behörden dadurch gegen ihre Verpflichtungen verstoßen haben, dass sie der Kommission eine bestimmten Eigenmittelbetrag und die entsprechenden Verzugszinsen nicht zur Verfügung gestellt haben. In einem kürzlich ergangenen Urteil(75) hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Italienische Republik „dadurch gegen ihre [unionsrechtlichen] Verpflichtungen verstoßen [hat], dass sie sich geweigert hat, die … traditionellen Eigenmittel in Höhe von 2 120 309,50 Euro bereitzustellen“. Folglich kann der Gerichtshof meines Erachtens einen in der Klageschrift der Kommission enthaltenen Antrag für zulässig erklären, in dem ein bestimmter Betrag an Eigenmittelverlusten aufgeführt ist, den sie für geschuldet erachtet.
161. Diese Schlussfolgerung wird nicht durch das Vorbringen des Vereinigten Königreichs in Frage gestellt, dass es für das Verständnis der vorstehend angeführten Rechtsprechung darauf ankomme, ob der von der Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV betroffene Mitgliedstaat das Ausmaß der Verluste an traditionellen Eigenmitteln im Zusammenhang mit der Vertragsverletzung bestreite oder nicht. Ich halte ein solches Bestreiten wegen der Natur des Vertragsverletzungsverfahren selbst für unerheblich, in dem dieser Mitgliedstaat das Recht hat, vor dem Gerichtshof sowohl die von der Kommission zur Stützung der Klage vorgetragenen Tatsachen zu bestreiten als auch deren rechtliche Grundlage in Frage zu stellen, was logischerweise das Ausmaß der Verluste an traditionellen Eigenmitteln einschließt. Dies ergibt sich daraus, dass die Befugnis der Kommission, dem Gerichtshof im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage einen Streit zwischen ihr und einem Mitgliedstaat über dessen Verpflichtung, ihr einen bestimmten Betrag an Eigenmitteln der Union zur Verfügung zu stellen, zur Beurteilung vorzulegen, dem Eigenmittelsystem, wie es gegenwärtig im Unionsrecht ausgestaltet ist, immanent ist(76). In seinem zeitlich letzten Urteil zu diesem Bereich hat der Gerichtshof einem Antrag der Kommission auf Feststellung einer Verletzung des Unionsrechts mit der Begründung stattgegeben, dass ein bestimmter Eigenmittelbetrag nicht bereitgestellt worden war, obwohl der beklagte Mitgliedstaat einen unionsrechtlichen Anspruch auf diesen Betrag bestritten hatte(77).
162. Ferner ist der Einwand des Vereinigten Königreichs zu verwerfen, die vorliegende Klage sei unzulässig, weil sie eine „versteckte“ Form der Schadensersatzklage darstelle und in Wirklichkeit auf die Verurteilung des Mitgliedstaats mit der Begründung gerichtet sei, dass dieser dem Unionshaushalt bestimmte Beträge nicht zur Verfügung gestellt habe. Im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage betreffend Eigenmittel geht es offenkundig um finanzielle Verpflichtungen, und der Kommission ist es nach dem Unionsrecht nicht verwehrt, diese Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem gerügten Rechtsverstoß anzuführen. In diesem besonderen Bereich wird der Gerichtshof gerade deshalb mit Vertragsverletzungsklagen befasst, weil die Mitgliedstaaten ihre Verpflichtung bestreiten, die von der Kommission geforderten Beträge dem Unionshaushalt zur Verfügung zu stellen.
163. Schließlich ist auf das Vorbringen der Kommission in der Erwiderung hinzuweisen, dass der dritte Absatz des ersten Klageantrags als eine Forderung zu verstehen sei, die sich auf bestimmte Beträge beziehe, die das Vereinigte Königreich dem Unionshaushalt nicht zur Verfügung gestellt habe. Es ist festzustellen, dass die Kommission selbst vorträgt, dass „die vorliegende Klage keine Schadensersatzklage ist“, sondern auf die Feststellung gerichtet sei, dass das Vereinigte Königreich insbesondere dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrechts verstoßen habe, dass es dem Unionshaushalt bestimmte Beträge nicht zur Verfügung gestellt habe, eine Formulierung, die, wie vorstehend dargelegt, im Einklang mit der Rechtsprechung zur Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV steht.
164. Angesichts der vorgenannten Rechtsprechung und der von der Kommission gegebenen Erläuterungen bin ich der Auffassung, dass der dritte Absatz des ersten Klageantrags als auf die Feststellung gerichtet zu verstehen ist, dass das Vereinigte Königreich bestimmte Beträge unter Verletzung des Unionsrechts nicht dem Unionshaushalt zur Verfügung gestellt hat, und dass ein solcher Antrag zulässig ist.
165. Hilfsweise macht das Vereinigte Königreich geltend, der Gerichtshof müsse, wenn er einen der Union zur Verfügung zu stellenden Betrag festsetze, der Schätzung des Vereinigten Königreichs Vorrang einräumen, da es Sache des Mitgliedstaats sei, den geschuldeten Betrag zu bemessen. Nach Ansicht des Vereinigten Königreichs besteht das korrekte Vorgehen zur Bestimmung des Betrags der Eigenmittelverluste aus drei Schritten, die in der Klageschrift der Kommission miteinander vermischt würden (nämlich Pflichtverletzung durch diesen Mitgliedstaat, Kausalzusammenhang und Nachweis des sich daraus ergebenden Betrags).
166. Insoweit beruht das Vorbringen des Vereinigten Königreichs auf der Prämisse, dass die Kommission dartun müsse, dass von dem Mitgliedstaat gegebenenfalls getroffene Maßnahmen offensichtlich ungeeignet waren. Die Prüfung dieses Vorbringens gehört jedoch zur Begründetheit des ersten und des zweiten Klagegrundes.
167. Aufgrund der vorstehenden Ausführungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die vier vom Vereinigten Königreich erhobenen Unzulässigkeitseinreden zurückzuweisen.
B. Zur Verletzung der Verpflichtungen im Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Union und der Betrugsbekämpfung sowie der sich aus dem Zollrecht der Union ergebenden Verpflichtungen
168. Mit ihrem ersten Klagegrund macht die Kommission der Sache nach geltend, das Vereinigte Königreich habe während des Zeitraums der Zuwiderhandlung trotz der wiederholten Warnungen und Aufforderungen durch sie und das OLAF bezüglich des Betrugsrisikos keine Maßnahmen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union ergriffen. Dieses Unterlassen stelle zum einen eine Verletzung sowohl der allgemeinen Verpflichtungen im Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Union als auch derjenigen zur Betrugsbekämpfung nach Art. 310 Abs. 6 AEUV und Art. 325 AEUV dar. Zum anderen liege darin eine Verletzung der Verpflichtung der Zollbehörden, Maßnahmen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union gemäß Art. 3 des Zollkodex der Union in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV zu ergreifen, Kontrollen auf der Grundlage einer Risikoanalyse gemäß Art. 13 des Zollkodex der Gemeinschaften und Art. 46 des Zollkodex der Union durchzuführen sowie die Leistung von Sicherheiten gemäß Art. 248 Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 2454/93 und Art. 244 der Durchführungsverordnung 2015/2447 zu verlangen.
169. Vor der Prüfung der einzelnen Rügen der Kommission werde ich mich zunächst mit den Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nach Art. 310 Abs. 6 AEUV und Art. 325 AEUV befassen, auf die die Kommission ihre Klage stützt, und insbesondere ihren Zielen und der Rechtsprechung in diesem Bereich. Sodann wird die Begründetheit des Vorbringens zu prüfen sein, dass auf diese Bestimmungen und auf die in der vorstehenden Nummer angeführten Bestimmungen des abgeleiteten Rechts gestützt wird.
1. Zu den Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zur Bekämpfung rechtswidriger Handlungen, die die finanziellen Interessen der Union beinträchtigen
170. Da Art. 310 Abs. 6 AEUV, wonach die „Union und die Mitgliedstaaten … nach Artikel 325 Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen [bekämpfen]“, lediglich auf Art. 325 AEUV verweist, ist der von der Kommission angeführte Klagegrund, soweit mit ihm eine Verletzung des Primärrechts geltend gemacht wird, in Wirklichkeit als der an das Vereinigte Königreich gerichtete Vorwurf anzusehen, gegen seine Verpflichtungen aus Art. 325 AEUV verstoßen zu haben. Dieser Artikel ist eine zentrale Bestimmung im Bereich der Betrugsbekämpfung auf der Ebene des Primärrechts(78), da er die Verpflichtungen der Union und der Mitgliedstaaten und ihre Tragweite in diesem Bereich festlegt, die ihrerseits auf der Ebene des abgeleiteten Rechts durch den Zollkodex der Union, den Zollkodex der Gemeinschaften sowie die Durchführungsverordnungen Nr. 2454/93 und 2015/2447 konkretisiert werden.
171. Der Schutz der finanziellen Interessen ist eine Priorität, der seit vielen Jahren die Aufmerksamkeit der Mitgliedstaaten und der Union gilt(79), da die traditionellen Eigenmittel (die aus den Zöllen und den „Zucker“-Abgaben bestehen) von den Mitgliedstaaten im Namen der Union eingezogen werden(80). 2017 behielten die Mitgliedstaaten 20 % der traditionellen Eigenmittel als Erhebungskosten ein(81). Zollbetrug ist ein wachsendes Phänomen, das diese Einziehung und somit die finanziellen Interessen der Union beeinträchtigt. Die damit verbundenen Verluste wurden 2013 auf 185 Millionen Euro jährlich geschätzt(82). Die schädlichen Folgen des Zollbetrugs gehen über den Bereich der finanziellen Interessen betreffend den Unionshaushalt hinaus und erstrecken sich auf die Bereiche Politik, Wirtschaft und Finanzen und wirken sich unmittelbar auf das Funktionieren des Binnenmarkts aus(83).
172. In diesem Zusammenhang begründet Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV für die Mitgliedstaaten nicht nur eine abstrakte Verpflichtung zur Bekämpfung von Betrügereien und sonstiger gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteter rechtswidriger Handlungen(84), sondern stellt Mindestanforderungen an die Maßnahmen auf, die diese zum Kampf gegen Betrügereien und solche Handlungen ergreifen müssen. Insbesondere verlangt diese Bestimmung, dass die Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten zur Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten rechtswidrigen Handlungen erlassen, abschreckend und wirksam sind (Abs. 1 dieses Artikels) und sich nicht von den Maßnahmen unterscheiden, die die Mitgliedstaaten auch zur Bekämpfung von Betrügereien ergreifen, die sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richten (Abs. 2 dieses Artikels).
173. Diese Anforderungen werden auch von der Rechtsprechung betont, nach der Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV den Mitgliedstaaten eine konkrete Ergebnispflicht auferlegt, die an keine weitere Bedingung geknüpft ist(85). Da es zur Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten rechtswidrigen Handlungen durch abschreckende und wirksame Maßnahmen gehört, dass die Zölle erhoben und die entsprechenden Beträge dem Unionshaushalt als traditionelle Eigenmittel der Union zur Verfügung gestellt werden, führt jedes Versäumnis bei der Erhebung der Zölle potenziell zu einer Verringerung dieser Mittel. Daher sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die tatsächliche und vollständige Erhebung der Zölle sicherzustellen, was eine ordnungsgemäße Zollkontrolle voraussetzt(86). Zudem haben die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen zu ergreifen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben(87). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Bereich des Agrarrechts ist die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, alle nötigen Maßnahmen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union zu ergreifen, der konkrete Ausdruck der allgemeinen Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit, die sich für die Mitgliedstaaten nunmehr aus Art. 4 Abs. 3 EUV ergibt(88). Entsprechend ist im Bereich der Bekämpfung von Zollbetrug Art. 325 AEUV meines Erachtens die konkrete Ausprägung des in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit(89), wobei Art. 325 AEUV selbst wiederum im Zollrecht der Union durch die Bestimmungen des Zollkodex konkretisiert wird. Folglich ist im Bereich der Bekämpfung von Zollbetrug eine selbständige Berufung auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV nicht möglich(90).
174. Der vorgenannten Rechtsprechung lässt sich zweierlei entnehmen. Zum einen gelten neben der Verpflichtung der Mitgliedstaaten, gemäß Art. 325 Abs. 1 AEUV zur Bekämpfung von Betrügereien und sonstiger gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteter rechtswidriger Handlungen angemessene Sanktionen vorzusehen, die sich aus der Rechtsprechung ergebenden Anforderungen auch für die Verwaltungstätigkeit der Mitgliedstaaten, da diese durch die von ihnen kraft der Verträge eingegangenen Verpflichtungen umfassend gebunden sind(91).
175. Zum anderen geht aus dieser Rechtsprechung hervor, dass Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV den Mitgliedstaaten zwingende Ergebnispflichten auferlegt u. a. hinsichtlich der in dieser Bestimmung vorgesehenen Ziele und insbesondere ihrer Verpflichtung zur Bekämpfung von Betrügereien und sonstiger gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteter rechtswidriger Handlungen, um eventuelle Verluste für die öffentlichen Finanzen der Union insgesamt zu minimieren. Da nach dieser Bestimmung dieser Kampf mit effizienten Maßnahmen geführt werden soll, kann die Wirksamkeit einer konkreten Maßnahme oder eines Maßnahmenbündels nur im Kontext einer ganz bestimmten Situation und nicht abstrakt beurteilt werden. Die Kriminalität, einschließlich ihrer besonders gefährlichen Komponente der organisierten Kriminalität im Bereich des Betrugs und sonstiger gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteter rechtswidriger Handlungen, ist definitionsgemäß ein evolutives Phänomen, das sich dem sie umgebenden Kontext stets neu anpasst. Deshalb müssen die von den Mitgliedstaaten zur Bekämpfung dieses Phänomens erlassenen Maßnahmen auf Dauer hierzu geeignet sein. Wenn von den Mitgliedstaaten noch vor Kurzem ergriffene Maßnahmen zur Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten Aktivitäten als wirksam angesehen werden konnten, so sind sie es möglicherweise im gegenwärtigen Kontext nicht mehr. Folglich schreibt Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV als auf ein Ergebnis gerichtete Bestimmung den Mitgliedstaaten nicht nur den einmaligen Erlass von Maßnahmen zur Verhütung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten rechtswidrigen Handlungen vor, sondern auch deren Bewertung und Anpassung im Lauf der Zeit, um ihre Wirksamkeit sicherzustellen.
176. Aus diesen Gründen kann das Verteidigungsvorbringen des Vereinigten Königreichs nicht durchgreifen, die Mitgliedstaaten verfügten über einen weiten Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Mittel zur Verhütung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten rechtswidrigen Handlungen im Bereich der Zölle und der Eigenmittel. Tatsächlich scheint das Vereinigte Königreich nahezulegen, dass die Mitgliedstaaten, weil sie durch ihre nationalen Behörden die Zollverfahren durchzuführen und die Zölle zu vereinnahmen hätten, auch bei der Durchführung der vorbeugenden Maßnahmen im Rahmen der Bekämpfung von Zollbetrug über einen weiten Spielraum verfügten.
177. Diese Ansicht begegnet meines Erachtens aus zwei Gründen Bedenken. Erstens besteht im Unionsrecht zwischen der Erhebung der der Zölle direkt durch die Mitgliedstaaten auf der einen und den Eigenmitteln der Union auf der anderen Seite ein unmittelbarer Zusammenhang, den das Vereinigte Königreich zu leugnen scheint(92). Zweitens verfügen die Mitgliedstaaten zwar über einen gewissen Spielraum bei der Wahl der Maßnahmen zur Verhütung von Betrügereien und gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteter rechtswidriger Handlungen, doch ist dieser Spielraum nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs(93) nicht unbegrenzt und unterliegt dem Effektivitätsgrundsatz, wonach die ergriffenen Maßnahmen wirksam und abschreckend sein und eine wirksame Erhebung der Unionsmittel, die u. a. aus den Zöllen des Gemeinsamen Zolltarifs bestehen, garantieren müssen, wobei allerdings die von der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) garantierten Grundrechte und die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts zu beachten sind(94). So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass ein Mitgliedstaat, der Maßnahmen erlässt, mit denen allgemein und undifferenziert auf die Erhebung der Mehrwertsteuer verzichtet wird, obwohl er verpflichtet ist, die Erhebung der gesamten in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Steuer und die wirksame Erhebung der Eigenmittel der Union sicherzustellen, seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verletzt(95).
178. Das Vereinigte Königreich macht auch geltend, die Durchführung des Unionsrechts durch einen Mitgliedstaat verletze nur dann den Effektivitätsgrundsatz, wenn eine „offensichtliche und erhebliche Gefahr der Straffreiheit“ bestehe oder wenn sie auf das Ausbleiben einer Sanktion hinauslaufe(96). Meines Erachtens steht einer solchen Auslegung jedoch die Rechtsprechung entgegen, wonach die Wirksamkeit des Schutzes der finanziellen Interessen der Union Vorrang gegenüber dem Entscheidungsspielraum der Mitgliedstaaten zukommt(97).
179. Zurückzuweisen ist auch das Vorbringen des Vereinigten Königreichs, dass die Verpflichtung zur Gewährleistung einer wirksamen Erhebung der Eigenmittel nur angemessene Bemühungen zur Kontrolle und zur Einziehung der zum Eigenmittelaufkommen beitragenden Zölle verlange und dass die Mitgliedstaaten bei der Erhebung der Eigenmittel mit „Sorgfalt“ vorgehen müssten(98). Wie sich nämlich aus den vorliegenden Schlussanträgen(99) ergibt, kann die Wirksamkeit einer zum Schutz der finanziellen Interessen der Union ergriffenen Maßnahme nur im Kontext konkreter Umstände beurteilt werden, anhand deren zu bestimmen ist, ob die Bemühungen zur Erreichung dieses Ziels angemessen und sorgfältig waren. Es liegt auf der Hand, dass der Mitgliedstaat bei einem weitreichenden und organisierten Zollbetrug mehr Ressourcen einsetzen muss als unter gewöhnlichen Umständen, um seinen Verpflichtungen aus den Gründungsverträgen zu genügen(100).
180. Ebenso ist das Vorbringen des Vereinigten Königreichs zurückzuweisen, die Kommission müsse neben der Unwirksamkeit der zur Betrugsbekämpfung bestimmten nationalen Maßnahmen beweisen, dass den Mitgliedstaat der Vorwurf fahrlässigen oder willkürlichen Verhaltens treffe. Insoweit geht das Vereinigte Königreich von einem unrichtigen Verständnis der von ihm angeführten Rechtsprechung(101) aus, der sich keineswegs entnehmen lässt, dass die Kommission für das Vorliegen einer Vertragsverletzung Fahrlässigkeit oder willkürliches Verhalten eines Mitgliedstaats nachweisen muss. Meines Erachtens ist diese Rechtsprechung vielmehr so zu verstehen, dass ein Mitgliedstaat nicht willkürlich davon absehen darf, eine Zollschuld festzustellen und sie dem Konto der Kommission als Eigenmittel gutzuschreiben(102).
181. Dem Vereinigten Königreich ist zwar darin zu folgen, dass die genannten Vertragsbestimmungen weder ausdrücklich eine absolute Erfolgspflicht vorsehen noch verlangen, dass die Maßnahmen zur Zollkontrolle jeden möglichen Betrug zulasten der Eigenmittel der Union ausschließen. Indes geht aus Art. 325 AEUV wie aus der vorstehend angeführten Rechtsprechung hervor, dass die aufgrund der Bestimmungen des Zollkodex der Gemeinschaften oder des Zollkodex der Union erlassenen Maßnahmen wirksam sein müssen. Der primärrechtliche Effektivitätsgrundsatz kann im Kontext des Zollkodex nicht dahin ausgelegt werden, dass er die völlige Unterbindung von Zollbetrug verlangt, da dies nicht realistisch ist, weil Fehlverhalten, auch im Bereich des Zolls, stets Teil des gesellschaftlichen Lebens sein wird. Gleichwohl wird mit diesem Grundsatz die Verpflichtung aufgestellt, Beeinträchtigungen der finanziellen Interessen der Union zu kontrollieren und zweifelfrei vorhersehbaren und gegenwärtigen Betrugsgefahren angemessen zu begegnen.
182. Wie bereits dargelegt, folgt aus den Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten mit den Gründungsverträgen eingegangen sind, dass die von ihnen erlassenen Maßnahmen wirksam im Hinblick auf die damit verfolgten Ziele sein müssen und dass der Beurteilungsspielraum, über den sie hinsichtlich dieser Maßnahmen verfügen, durch den Effektivitätsgrundsatz begrenzt wird, was bedeutet, dass deren Wirksamkeit nicht abstrakt, sondern im Kontext einer konkreten Situation zu beurteilen ist. Im Folgenden ist die Begründetheit der dem Vereinigten Königreich für den Zeitraum der Zuwiderhandlung entgegengehaltenen Rügen zu prüfen.
2. Zu den Maßnahmen, die nach dem Zollrecht zum Schutz der finanziellen Interessen der Union gegen den in Rede stehenden Betrug zu ergreifen sind
183. Mit ihrer Klage wirft die Kommission dem Vereinigten Königreich der Sache nach vor, die Risiken von Zollbetrug nicht beseitigt und keine wirksamen Maßnahmen zu deren Bekämpfung erlassen zu haben. Zur Entscheidung über die Begründetheit der vorliegenden Klage ist einleitend darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs Sache der Kommission ist, das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung nachzuweisen und dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte zu liefern, die es diesem ermöglichen, das Vorliegen der Vertragsverletzung zu prüfen, ohne dass sich die Kommission hierfür auf irgendeine Vermutung stützen kann(103). Im vorliegenden Fall stellt sich Frage, ob die Kommission hinreichend dargetan hat, dass es den Maßnahmen, die das Vereinigte Königreich zur Bekämpfung von Betrug durch Unterbewertung während des Zeitraums der Zuwiderhandlung erlassen hat, im Hinblick auf die vollständige Erhebung der Eigenmittel der Union in Form von Zöllen an Wirksamkeit fehlte, obwohl den Behörden des Vereinigten Königreichs die Merkmale und das Ausmaß der an seinen Grenzen begangenen Betrügereien bekannt waren(104).
a) Zu den Merkmalen der von den betreffenden Einführern begangenen Betrügereien und der Kenntnis der Behörden des Vereinigten Königreichs davon
184. Die Kommission und das Vereinigte Königreich scheinen darin übereinzustimmen, dass es in Bezug auf diesen Staat vor dem Zeitraum der Zuwiderhandlung und während dieses Zeitraums zu einem weitreichenden und organisierten Betrug gekommen ist. Unstreitig ist auch, dass der fragliche Betrug darin bestand, dass die Einfuhren mit extrem niedrigen Werten von den Einführern angemeldet wurden, bei denen es sich um kriminelle chinesische Banden handelte, die in einem Netzwerk unter Verwendung sogenannter „Phönix“-Unternehmen arbeiteten, d. h. Unternehmen, die nur zu dem Zweck gegründet wurden, den Betrug zu begehen, und die mit äußerst geringen Mitteln ausgestattet waren und abgewickelt wurden oder verschwanden, sobald die Richtigkeit der angemeldeten Werte von den Zollbehörden in Zweifel gezogen wurden, womit jede nachträgliche Einziehung der Zölle unwahrscheinlich oder sogar praktisch unmöglich gemacht wurde(105). Es handelte sich um einen sowohl mobilen als auch sehr reaktiven Betrug in dem Sinne, dass die betrügerischen Einfuhren bei der geringsten Ankündigung einer Kontrolle durch die nationalen Behörden rasch von einem Mitgliedstaat zu einem anderen und innerhalb eines Mitgliedstaats von einem Hafen zu einem anderen verlagert wurden. Auf diese Weise betrafen die betrügerischen Aktivitäten sehr große Produktmengen, die in Mitgliedstaaten mit relativ schwachem Kontrollsystem verlagert werden konnten.
185. Insoweit ist bezeichnend, dass das Vereinigte Königreich in dem seiner Antwort vom 11. Februar 2019 auf die mit Gründen versehene Stellungnahme beigefügten Bericht zwar einen Verstoß gegen seine unionsrechtlichen Verpflichtungen bestreitet, wohl aber einräumt, dass es im Vereinigten Königreich „zweifellos einen Betrug [gab], der auf der Unterbewertung von Textilien und Schuhen aus China während des von der Klage der Kommission erfassten Zeitraums beruhte“(106). In diesem Bericht heißt es auch, dass der „Betrug … nicht zweifelhaft [war] und … Gegenmaßnahmen ergriffen werden [mussten], um ihn abzustellen und den lauteren Handel zugunsten rechtstreuer Wirtschaftsbeteiligter zu fördern“(107). In der Klagebeantwortung trägt das Vereinigte Königreich vor, es sei selbst Opfer des Betrugs und habe keinerlei Interesse daran, dass sich diese Aktivität fortsetze oder ausweite.
186. Somit ergibt sich aus den Akten, dass das Vereinigte Königreich im Vorverfahren und im Verfahren vor dem Gerichtshof das Vorliegen des Betrugs durchaus eingeräumt hat, indem es in der Klagebeantwortung vielfach geltend gemacht hat, es habe erst schrittweise Kenntnis davon erlangt(108). So sollen dem Vereinigten Königreich zufolge die Kommission und die Mitgliedstaaten bei der PCA Discount im November und Dezember 2011 offensichtlich keine klare Vorstellung vom Ausmaß des Betrugs durch Unterbewertung der Einfuhren gehabt haben, da Ziel dieser Aktion gewesen sei, „das Risiko einer Unterbewertung der Einfuhren [der betreffenden Erzeugnisse] zu prüfen“. Erst frühestens Ende 2014 und während der Aktion Snake hätten das OLAF und einige betroffene Mitgliedstaaten zu verstehen begonnen, mit welchen betrügerischen Machenschaften sie es zu tun gehabt hätten. Im OLAF‑Bericht werde nur erwähnt, dass dem Vereinigten Königreich der Betrug seit 2014 hinreichend bekannt gewesen sei. Nach dieser Aktion habe sich die Kenntnis der Mitgliedstaaten von diesem Betrug, insbesondere seines wirklichen Ausmaßes und seiner europäischen Dimension weiter vertieft, insbesondere Anfang 2015(109) und im Verlauf des Jahres 2017(110).
187. Die Portugiesische Republik unterstützt dieses Verteidigungsvorbringen des Vereinigten Königreichs und macht der Sache nach geltend, dessen Behörden seien sich bei Erhalt der Mitteilung über gegenseitige Amtshilfe des OLAF im Jahr 2015 nicht bewusst gewesen, dass es sich um eine allgemeine Praxis falscher Zollanmeldungen gehandelt habe(111). Im Übrigen liege in dem Umstand, dass einem Mitgliedstaat seit März 2012 das Vorliegen von Missing-Trader-Betrug bekannt gewesen sei, für ihn kein konkreter Hinweis auf das Vorliegen unrichtiger Zollanmeldungen, das eine systematische Überprüfung seinerseits erfordere.
188. Im vorliegenden Fall geht indes aus den Akten hervor, dass das Vereinigte Königreich vollständig über den Betrug durch Unterbewertung und dessen vorgenannten Merkmale sowie über die Notwendigkeit informiert war, wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung dieses Betrugs während des Zeitraums der Zuwiderhandlung zu erlassen. Bereits im April 2007 hatte nämlich das OLAF in einer Mitteilung über gegenseitige Amtshilfe auf das Risiko hingewiesen, dass die Einfuhren von Textilien und Schuhen aus China darstellten, und dieses im Einzelnen beschrieben(112). Mit dieser Mitteilung forderte das OLAF alle Mitgliedstaaten auf, zum einen die Einfuhren von Textilien und Schuhen u. a. aus China auf mögliche Hinweise auf Unterbewertungen zu untersuchen und zum anderen geeignete Kontrollen bei der Zollabwicklung solcher Einfuhren durchzuführen(113). Wegen der vorgenannten Merkmale des Betrugs bei der Einfuhr wies das OLAF bereits darauf hin, dass alle Mitgliedstaaten betroffen sein könnten, und hob hervor, dass die Gefahr einer Verlagerung des Betrugs hin zu anderen Häfen der Union bestehe(114). Folglich hatte das OLAF bereits 2007 die wesentlichen Merkmale festgestellt und die Mitgliedstaaten unverzüglich auf sie aufmerksam gemacht.
189. In der Klagebeantwortung macht das Vereinigte Königreich weiter geltend, 2009 habe die Kommission in Belgien und in den Niederlanden, nicht aber im Vereinigten Königreich festgestellte Unregelmäßigkeiten angesprochen. Hierzu ist festzustellen, dass es in dieser Mitteilung über gegenseitige Amtshilfe der Kommission an die Mitgliedstaaten ausdrücklich hieß, dass „[a]lle Mitgliedstaaten … betroffen“ und diese aufgerufen seien, „die geeigneten Maßnahmen zur Bekämpfung des endemischen Phänomens der Unterbewertung zu ergreifen“(115). Solche Mitteilungen über gegenseitige Amtshilfe dienten zwar der Übermittlung von Informationen(116) und konnten nicht die Verpflichtung zur Durchführung von Zollkontrollen vorsehen, da diese den nationalen Behörden obliegen(117). Sie stellen jedoch Vorgänge dar, die geeignet waren, das Vereinigte Königreich dazu anzuhalten, konkrete Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung und zum Schutz der finanziellen Interessen der Union zu ergreifen(118).
190. Folglich geht entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs aus den Akten nicht hervor, dass das OLAF und die Mitgliedstaaten erst bei Abschluss der Aktion Snake wirklich begonnen hätten, den fraglichen Betrugsmechanismus zu verstehen. Zum einen ist nämlich eine gemeinsame Zollaktion wie die Aktion Snake eine Antwort auf ein Problem, das zuvor klar auf Unionsebene erkannt worden ist(119). Dem Abschlussbericht dieser Aktion zufolge lag deren Vorbereitung eine zuvor vom OLAF vorgenommene „eingehende Bewertung der von Zollbetrug durch Unterbewertung ausgehenden Bedrohungen für die Union [zugrunde], die bestätigt hat, dass der Textilsektor erheblich von … der Unterbewertung betroffen ist [und dass] die Kapitel 61 bis 64 der Kombinierten Nomenklatur am stärksten betroffen sind“. Zum anderen hat einem Bericht des Rechnungshofs zufolge die Kommission „den Mitgliedstaaten im Rahmen der Umsetzung [der PCA Discount] in Bezug auf Unterbewertung von Textilien und Schuhe aus asiatischen Ländern [französische Fassung des Berichts: aus China] klare Leitlinien zur Bekämpfung der Unterbewertung an die Hand gegeben“(120). Folglich waren sich die Mitgliedstaaten bei der Durchführung der PCA Discount im Jahr 2011 des Betrugs und der Mittel zu seiner Bekämpfung völlig bewusst(121).
191. Die Portugiesische Republik verweist schließlich auf den Sonderbericht des Rechnungshofs von 2015(122), um darzutun, dass der Betrug erstmals bei der gemeinsamen Zollaktion aufgedeckt worden sei. Hierzu genügt jedoch die Feststellung, dass diesem Bericht zufolge bei einer gemeinsamen Zollaktion des OLAF festgestellt werden konnte, dass „40 % der im Rahmen des Zollverfahrens 42 in den zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr übergeführten [Textilien und Schuhe aus China] unterbewertet waren“, und diese Zollaktion das bestehende Problem und die zu erlassenden Maßnahmen darlegen sollte. Eine solche Aussage ist keine Feststellung, dass die Bekämpfung des Zollbetrugs durch Unterbewertung ein neues Problem war, sondern eine Bestätigung, dass es sich um eine bedeutende Ursache von Unterbewertung handelte.
192. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass das Vereinigte Königreich während des gesamten Zeitraums der Zuwiderhandlung und insbesondere seit dessen Beginn umfassende Kenntnis der wesentlichen Merkmale sowohl des Betrugs als auch der zu seiner Bekämpfung zu ergreifenden Maßnahmen hatte. Diese Kenntnis konnte Zweifel bei den nationalen Zollbehörden wecken. Angesichts dessen stellt sich die Frage, welche Gegenmaßnahmen diese Behörden gemäß dem Unionsrecht zu ergreifen hatten.
b) Zur Verpflichtung zur Einführung einer Risikoanalyse und zur Durchführung von Kontrollen vor Überlassung der Waren und zur der Notwendigkeit der Leistung von Sicherheiten
193. Die Kommission wirft dem Vereinigten Königreich vor, eine Reihe von Maßnahmen nicht früh genug ergriffen zu haben, obwohl die Betrugsgefahr und die weite Verbreitung des Betrugs festgestanden hätten. Sie habe die Mitgliedstaaten wiederholt aufgefordert, Schwellenwerte als Indikatoren für die Gefahr der Unterbewertung anzuwenden, die mit Werten unterhalb des akzeptablen Mindestpreises angemeldeten Sendungen physisch zu kontrollieren, den angemeldeten Wert gegebenenfalls zu beanstanden und die Leistung von Sicherheiten zu verlangen, um etwa geschuldete zusätzliche Zölle vor der Überlassung zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr abzudecken. Insbesondere seien unter Umständen wie den im vorliegenden Fall gegebenen der Überlassung vorausgehende Kontrollen unerlässlich gewesen, da die in den Betrug verwickelten Unternehmen Gesellschaften gewesen seien, die sofort nach Beanstandung der Anmeldungen verschwunden seien, was die Einziehung der Zölle nach der Überlassung der eingeführten Waren zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr unmöglich mache. Zudem hätte es die physische Kontrolle der noch unter Zollüberwachung stehenden Waren erlaubt, deren Qualität zur Bestimmung ihres Zollwerts zu beurteilen. Abgesehen von der Aktion Snake habe das Vereinigte Königreich aber keine solchen Maßnahmen getroffen.
194. Bei der Aufforderung an die Mitgliedstaaten, vorbeugende Instrumente zur Ermittlung möglicher betrügerischer Einfuhren einzusetzen, habe die Kommission ihnen die OLAF‑Methodik vorgeschlagen, die im Wesentlichen darin besteht, Schwellen für das Unterbewertungsrisiko, nämlich den akzeptablen Mindestpreis, für jeden betroffenen (achtstelligen) Produktcode der Kombinierten Nomenklatur ausgehend vom berichtigten Durchschnittspreis, d. h. einem arithmetischen (nicht gewichteten) Mittel der bei der Einfuhr in die 28 Mitgliedstaaten für jeden dieser Codes über einen Zeitraum von vier Jahren, zu berechnen(123). Der Preis wird in der Weise berichtigt, dass unrichtig erscheinende, extrem niedrige oder hohe Werte ausgeschlossen werden. Der akzeptable Mindestpreis wird sodann auf 50 % des berichtigten Durchschnittspreises für die einzelnen Produktcodes festgesetzt. Die Kommission stützt diese Methodik auf das Urteil EURO 2004. Hungary(124), aus dem hervorgehe, dass, wenn „der angemeldete Preis … um mehr als 50 % unter dem statistischen Durchschnittspreis“ und somit unter dem akzeptablen Mindestpreis liege, ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit der Anmeldung erlaubt seien, so dass diese Waren nicht ohne vorherige Kontrolle zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr überlassen werden könnten. Die Kommission verweist auch auf das Urteil Kommission/Portugal(125), in dem der Gerichtshof erklärt habe, dass eine Zollanmeldung u. a. dann zu überprüfen sei, wenn die Zollbehörden konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit dieser Anmeldung hätten.
195. Die Kommission wirft dem Vereinigten Königreich auch vor, keine Sicherheiten für alle Anmeldungen verlangt zu haben, deren Wert als ungewöhnlich niedrig angesehen werden könne und die deshalb überprüft werden müssten. Nach Art. 244 der Durchführungsverordnung 2015/2447 und Art. 248 der Durchführungsverordnung Nr. 2454/93 seien bei Abgabe einer Zollanmeldung die geltenden Zölle vor der Überlassung entweder zu entrichten oder durch eine Sicherheit abzudecken. Das Vereinigte Königreich habe es unter Verstoß gegen diese Bestimmungen unterlassen, die Leistung von Sicherheiten auf der Grundlage des Gesamtbetrags der möglicherweise zu erhebenden Einfuhrabgaben zu verlangen.
196. Das Vereinigte Königreich entgegnet der Sache nach, es obliege der Kommission, darzutun, dass seine Entscheidungen hinsichtlich der Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung offenkundig ungeeignet oder völlig unangemessen gewesen seien. Es sei nicht verpflichtet gewesen, für alle Anmeldungen, die unter 50 % des vom OLAF festgelegten Durchschnittspreises gelegen hätten, Kontrollen durchzuführen oder Sicherheiten zu fordern(126). Im Urteil EURO 2004. Hungary(127) habe der Gerichtshof erläutert, dass die nationalen Zollbehörden sich zur Zurückweisung des angemeldeten Wertes auf den Preisunterschied stützen könnten, aber nicht müssten. Was das Urteil Kommission/Portugal(128) angehe, verwische die Kommission die Unterscheidung zwischen den Gründen, aus denen eine Kontrolle nach den Durchführungsverordnungen 2015/2447 und Nr. 2454/93 gerechtfertigt sein könne, und dem Zeitpunkt, zu dem eine Kontrolle im Sinne dieses Urteils erforderlich werde.
197. Das Vereinigte Königreich sei selbst Opfer des Betrugs gewesen, so dass es keinerlei Interesse an einer Fortsetzung dieser Straftaten habe. Da dieser Betrug sehr schwer zu kontrollieren sei, habe es Zeit gebraucht, um sein ganzes Ausmaß zu erkennen und die besten Mittel zu seiner Bekämpfung zu entwickeln. Es habe seine Verpflichtung zur Bekämpfung des in Rede stehenden Betrugs durch aktive Mitwirkung an den vom OLAF organisierten Betrugsbekämpfungsaktionen, d. h. der PCA Discount im Jahr 2011 und der Aktion Snake im Jahr 2014, erfüllt. Zudem bekämpfe das Vereinigte Königreich seit 2015 den Betrug durch Unterbewertung mit der Aktion Breach, in deren Rahmen seine Behörden zahlreiche Zahlungsaufforderungen C18 über insgesamt fast 35 Millionen GBP an Zöllen erlassen hätten. Außerdem sei 2016 die Aktion Samurai angelaufen, womit vor allem Vorabkontrollen und Schulungen zum Zollverfahren 42 einhergingen. Gestützt auf die Erfahrungen aus den letztgenannten Aktionen habe das Vereinigte Königreich im Oktober 2017 die Aktion Swift Arrow eingeleitet.
198. Zur Leistung von Sicherheiten führt das Vereinigte Königreich aus, zum einen würden durch ein so allgemeines Verständnis der Verpflichtung zur Forderung von Sicherheiten, wie es die Kommission vertrete, die Vermögensrechte der Einführer aus den Art. 16 und 17 der Charta wie aus Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, unterzeichnet in Paris am 20. März 1952 (im Folgenden: 1. Zusatzprotokoll) in nicht hinnehmbarer Weise beeinträchtigt. Zum anderen sei die Forderung einer Sicherheit nur rechtmäßig, wenn sie auf einer geeigneten Grundlage zur Bestimmung des tatsächlichen Wertes beruhe. Die Heranziehung des Durchschnittspreises je Produktcode im Rahmen der OLAF‑Methodik setze die Mitgliedstaaten in hohem Maße Einsprüchen der Wirtschaftsbeteiligten aus.
1) Einleitende Bemerkungen
199. Wie sich aus den Schriftsätzen der Parteien ergibt, stellt die Kommission nicht in Abrede, dass das Vereinigte Königreich im Zeitraum der Zuwiderhandlung bestimmte Maßnahmen zur Bekämpfung betrügerischer Unterbewertung durchgeführt hat, sie macht jedoch geltend, manche Maßnahmen seien zum Schutz der finanziellen Interessen der Union unwirksam gewesen, während andere überhaupt nicht angewandt worden seien. Daher sind zur Prüfung des Vorbringens im Rahmen des ersten Klagegrundes die Ziele und die Tragweite der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nach dem Zollrecht der Union zu bestimmen, um sodann die Frage zu beantworten, ob die vom Vereinigten Königreich durchgeführten Maßnahmen wirksam waren(129).
200. Da, wie dargelegt, für einen wirksamen Schutz der finanziellen Interessen der Union sehr unterschiedliche Maßnahmen in Betracht kommen, kann sich ein Vergleich zwischen ihnen im Hinblick auf ihre Wirksamkeit in einem Fall wie dem vorliegenden als schwierig erweisen, räumt das Unionsrecht doch den Mitgliedstaaten einen gewissen Spielraum bei der Wahl der Maßnahmen ein(130). Als unwirksam sind allerdings meines Erachtens solche Maßnahmen anzusehen, die es angesichts der Besonderheiten einer gegebenen Situation offenkundig nicht erlauben, die vom Primärrecht und vom abgeleiteten Recht der Union verfolgten Ziele zu erreichen. Insoweit ist einem der vom Vereinigten Königreich im vorliegenden Verfahren zu seiner Verteidigung vorgebrachten Argumente zu folgen, wonach die Kommission u. a. darzutun habe, dass die Maßnahmen, die dieser Mitgliedstaat während des Zeitraums der Zuwiderhandlung zur Bekämpfung des in Rede stehenden Betrugs durchgeführt habe, offenkundig ineffektiv im Hinblick auf die wirksame Erhebung der gesamten Eigenmittel der Union in Form von Zöllen gewesen seien(131). Angesichts der Dauer der dem Vereinigten Königreich vorgeworfenen Zuwiderhandlung ist meines Erachtens zu berücksichtigen, dass sich der Wirksamkeitsgrad einer Maßnahme eines Mitgliedstaats nur im Rahmen ihrer detaillierten Analyse zeigen kann. Um einen Mitgliedstaat nicht rückwirkend im Licht später erlangter Kenntnisse zu benachteiligen, kann ihm die Unwirksamkeit der angewandten Maßnahmen nur aus der Sicht ex ante vorgeworfen werden, d. h. im Licht der Kenntnisse, über die die nationalen Behörden zum Zeitpunkt ihrer Anwendung verfügten. Anders verhält es sich jedoch, wenn das Unionsrecht den Mitgliedstaaten die zwingende Verpflichtung zum Erlass bestimmter Maßnahmen auferlegt. In einem solchen Fall wäre die Wirksamkeit der betreffenden Maßnahme bereits vom Unionsgesetzgeber selbst abzuwägen, so dass allein die Nichtanwendung einen Verstoß gegen das Unionsrecht darstellt.
2) Zur Verpflichtung, eine Risikoanalyse heranzuziehen
201. Nach Art. 13 Abs. 2 des Zollkodex der Gemeinschaften und Art. 46 Abs. 2 und 4 des Zollkodex der Union, anwendbar vor bzw. ab dem 1. Juni 2016, müssen die nationalen Behörden Zollkontrollen auf der Grundlage einer „Risikoanalyse“ durchführen und ein „Risikomanagementverfahren“ anwenden. Mit der Verordnung (EG) Nr. 648/2005(132) und den Bestimmungen zu ihrer Durchführung(133) wurde in der Union ein gemeinsames Risikomanagementsystem eingeführt, nach dem die Zollkontrollen u. a. auf einer Risikoanalyse unter Verwendung automatisierter Datenverarbeitungsmethoden beruhen(134). Gegenwärtig sind die Regeln für das Risikomanagement in Art. 46 des Zollkodex der Union vorgesehen, dessen Abs. 2 der Sache nach Art. 13 Abs. 2 des Zollkodex der Gemeinschaften entspricht. Letzterer, der im ersten Teil des Zeitraums der Zuwiderhandlung (d. h. von November 2011 bis Juni 2016) anwendbar war, sah vor, dass sich die Zollkontrollen außer Stichprobenkontrollen „auf eine Risikoanalyse unter Verwendung automatisierter Datenverarbeitungsmethoden [stützen], damit die Risiken erkannt und quantifiziert werden und damit die Maßnahmen ergriffen werden, die zur Bewertung der Risiken … erforderlich sind“(135). Somit schreiben diese Bestimmungen den Mitgliedstaaten der Sache nach vor, ein Risikomanagementsystem zur Durchführung gewöhnlicher Zollkontrollen einzuführen(136).
202. Risikomanagement ist weltweit zu einem wichtigen Instrument der Zollkontrolle geworden(137) und war Gegenstand mehrerer Untersuchungen(138). In Ermangelung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen in diesem Bereich fügte die Kommission in ihren Vorschlag für die Verordnung (EG) Nr. 648/2005(139) eine Definition des Begriffs „Risikomanagement“ ein als „die systematische Festlegung und Anwendung aller zur Begrenzung des Risikos erforderlichen Maßnahmen. Dazu gehören Tätigkeiten wie das Sammeln von Daten und Informationen, die Analyse und Bewertung von Risiken, das Vorschreiben und Umsetzen von Maßnahmen sowie die regelmäßige Überwachung und Überarbeitung dieser Tätigkeiten und ihrer Ergebnisse nach internationalen, gemeinschaftlichen und einzelstaatlichen Quellen und Strategien.“(140). Der Begriff „Risikoanalyse“ wurde mit der Verordnung Nr. 648/2005 in den Zollkodex der Gemeinschaften durch Änderung seines Art. 13 eingefügt. Die Kommission begründete dies mit der Notwendigkeit „die Mitgliedstaaten zur Verwendung von Risikoanalysetechniken [zu verpflichten]“, und führte aus, dass, „[s]olange hierfür keine gemeinschaftlichen oder internationalen Kriterien bestehen, … nationale Kriterien zugrunde gelegt [werden] (wie es bisher der Fall ist)“(141). Mit dieser neuen Bestimmung zielte die Kommission u. a. auf die Erarbeitung eines „gemeinsamen Rahmen[s] für das Risikomanagement“ ab, wobei es als möglich angesehen wurde, die einzelstaatlichen Risikoanalysesysteme weiter bestehen zu lassen und nach nationalen Kriterien zu betreiben(142).
203. Somit bestätigt die Kontextanalyse des Zollrechts der Union die Schlussfolgerung aus der grammatischen Auslegung von Art. 13 Abs. 2 des Zollkodex der Gemeinschaften und Art. 46 Abs. 2 und 4 des Zollkodex der Union, dass es den Mitgliedstaaten nicht freisteht, sondern dass sie verpflichtet sind, gemäß dem Zollrecht der Gemeinschaft und der Union eine Analyse und Bewertung der Risiken auf der Grundlage einer systematischen Analyse der Daten der Mitgliedstaaten durchzuführen. Die durchgeführten Zollkontrollmaßnahmen müssen ihrerseits auf einer Risikoanalyse beruhen, was bedeutet, dass sie nach Maßgabe der bei der Risikobewertung ermittelten Risiken ausgewählt werden und geeignet sein müssen, diese zu neutralisieren. Sonach sind, wie bereits dargelegt(143), Art. 13 Abs. 2 des Zollkodex der Gemeinschaften und Art. 46 Abs. 2 des Zollkodex der Union in ihrer Auslegung im Licht von Art. 325 AEUV dahin zu verstehen, dass sie die Mitgliedstaaten u. a. verpflichten, die Instrumente der Risikoanalyse ständig anzupassen, damit sie jederzeit die bei den Zollkontrollen ermittelten Risiken abdecken und stets deren Entwicklung Rechnung tragen. Das bedeutet, dass anhand der von den Mitgliedstaaten vorgenommenen Risikoanalyse u. a. bestimmt werden müsste, welche Waren und mit welchen Mitteln kontrolliert werden sollten.
204. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass im Kontext der vorliegenden Rechtssache ab dem Zeitpunkt, da ein bedeutendes Risiko von Zollbetrug im gesamten Zollgebiet der Union im Zusammenhang mit aus China eingeführten Erzeugnissen auf Unionsebene bekannt war, die Mitgliedstaaten u. a. nach Art. 13 Abs. 2 des Zollkodex der Gemeinschaften (und später nach Art. 46 Abs. 2 des Zollkodex der Union) gehalten waren, ihre eigenen nationalen Methoden des Risikomanagements im Zollwesen anzupassen. Wie bereits dargelegt(144), hatten nämlich die Behörden des Vereinigten Königreichs volle Kenntnis von diesem Risiko, was bedeutet, dass auch sie innerhalb angemessener Frist ihre Methoden der Risikoanalyse unter Berücksichtigung der verfügbaren Informationen und durch Vornahme der erforderlichen Zollkontrollen hätten anpassen müssen(145). Da sich aus den Akten ergibt, dass das Vereinigte Königreich 2007 Kenntnis von den Tatsachen betreffend das Zollbetrugsschema hatte und in der Folge vor allem von der Kommission regelmäßig über dessen Entwicklung auf dem Laufenden gehalten wurde, lässt sich meines Erachtens das Vorbringen des Beklagten kaum halten, es stehe mit Art. 13 Abs. 2 des Zollkodex der Gemeinschaften im Einklang, dass zu Beginn des Zeitraums der Zuwiderhandlung im November 2011, also vier Jahre nach Erhalt der relevanten Informationen durch die britischen Behörden, kein Instrument der Risikoanalyse erlassen und angewandt worden sei.
205. Wie aus seinen Schriftsätzen hervorgeht, bestreitet das Vereinigte Königreich der Sache nach nicht, sich im Zeitraum der Zuwiderhandlung keiner Methode der Risikoanalyse zur Ermittlung von Zollbetrug durch Unterbewertung bedient zu haben. Auf das Vorbringen der Kommission entgegnet es jedoch, die Ausarbeitung einer geeigneten Analysemethode habe u. a. wegen der Komplexität des in Rede stehenden Betrugs eine gewisse Zeit in Anspruch genommen(146), während die OLAF‑Methodik in Anbetracht der besonderen Situation des Vereinigten Königreichs ungeeignet gewesen sei. Es trifft zwar zu, dass, wie der beklagte Staat geltend macht, die Art. 3 und 46 des Zollkodex der Union (Letzterer entspricht Art. 13 des Zollkodex der Gemeinschaften) den Mitgliedstaaten nicht vorschreiben, eine bestimmte Art von Methoden der Risikobewertung einzuführen, und es daher einem Mitgliedstaat keineswegs verwehren, sich zur Ermittlung von Zollbetrug durch Unterbewertung nicht auf die statistischen Durchschnittspreis zu stützen, sondern eine Methode anzuwenden, die gezielt und speziell auf die auf diese Art von Betrug spezialisierten Wirtschaftsbeteiligten fokussiert ist, wie es die Zollbehörden des Vereinigten Königreichs letztlich im Rahmen der Aktion Swift Arrow getan haben. In Wirklichkeit räumt das Vereinigte Königreich damit implizit ein, dass es während des Zeitraums der Zuwiderhandlung nicht über eine geeignete Methode der Risikoanalyse verfügte. Eine solche Rechtfertigung greift jedoch meines Erachtens in Anbetracht der Verpflichtung aus Art. 13 Abs. 2 des Zollkodex der Gemeinschaften und Art. 46 Abs. 2 des Zollkodex der Union nicht.
206. Diese Schlussfolgerung wird bestätigt durch die in den Akten enthaltenen Beweise betreffend die im Vereinigten Königreich im Zeitraum der Zuwiderhandlung durchgeführten Zollkontrollaktionen, aus denen sich u. a. ergibt, dass die britischen Behörden sich der Instrumente zur Risikoanalyse nur im Rahmen der Aktion Snake bedienten, deren operationelle Phase zwischen dem 17. Februar und dem 17. März 2014 lag, in deren Rahmen die Kommission den Mitgliedstaaten empfahl, neben anderen Maßnahmen Schwellenwerte als Risikoindikatoren anzuwenden(147). Es steht fest, dass das Vereinigte Königreich an dieser Aktion teilgenommen hat und dass dabei die vom OLAF empfohlenen Risikoprofile, d. h. die OLAF‑Methodik als Risikoschwelle, verwendet und im Rahmen dieser Aktion geeignete Kontrollen durchgeführt hat. Wie jedoch die Kommission, insoweit vom Vereinigten Königreich unwidersprochen, geltend gemacht hat, dauerten diese Maßnahmen nur einen Monat, nämlich für die Zeit der operationellen Phase dieses Verfahrens. Anders gesagt führten die Behörden des Vereinigten Königreichs, von dieser operationellen Phase abgesehen, keine Kontrolle auf der Grundlage einer Risikoanalyse durch und kontrollierten die Einführer seinerzeit nach der Zollabwicklung, um gegebenenfalls später Forderungen an sie zu richten(148).
207. Im Rahmen seiner Verteidigung gegenüber dem Vorbringen der Kommission, es sei keine Risikoanalyse durchgeführt worden, macht das Vereinigte Königreich ferner geltend, der Grund dafür sei u. a. gewesen, dass die OLAF‑Methodik nicht den Besonderheiten des britischen Marktes Rechnung trage und zur Einstufung einer großen Zahl rechtmäßiger Einfuhren als unterbewertet führe(149). Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass diese Beanstandung auf der unrichtigen Prämisse beruht, der Verstoß gegen das Unionsrecht gehe darauf zurück, dass das Vereinigte Königreich keine bestimmte von der Kommission oder vom OLAF empfohlene Form der Zollkontrolle übernommen habe(150). Aus der Beschreibung des Rechtsverstoßes, der Gegenstand des ersten Klagegrundes ist, und aus anderen Schriftsätzen der Kommission ergibt sich jedoch, dass die Kommission dem Vereinigten Königreich vorwirft, überhaupt keine Methode der Risikoanalyse angewandt zu haben. Wie nämlich die vorstehende Analyse gezeigt hat, verpflichten Art. 3 und Art. 46 Abs. 2 des Zollkodex der Union und Art. 13 Abs. 2 des Zollkodex der Gemeinschaften die Mitgliedstaaten, im Rahmen der Zollkontrollen eine Risikoanalyse vorzunehmen, so dass das Vereinigte Königreich, auch wenn es aus nur ihm bekannten Gründen die Methode der Kommission für ungeeignet hielt, dennoch nicht daran gehindert war, selbst Zollkontrollen auszuarbeiten und durchzuführen(151). Folglich greifen meines Erachtens die Beanstandungen der OLAF‑Methodik als Instrument der Risikoanalyse durch das Vereinigte Königreich nicht durch.
208. Der Vollständigkeit halber sei noch darauf hingewiesen, dass die Union nach Art. 28 Abs. 1 AEUV „eine Zollunion [umfasst], die sich auf den gesamten Warenaustausch erstreckt [und] das Verbot [umfasst], zwischen den Mitgliedstaaten Ein- und Ausfuhrzölle und Abgaben gleicher Wirkung zu erheben, sowie die Einführung eines Gemeinsamen Zolltarifs gegenüber dritten Ländern“, und dass Art. 3 Abs. 1 Buchst. a AEUV der Union eine ausschließliche Zuständigkeit für die Zollunion zuweist(152). Mit seiner in Ausübung dieser Zuständigkeit nach Art. 2 Abs. 1 AEUV erfolgten Kodifizierung im Zollkodex der Union (sowie in den Durchführungsverordnungen Nr. 2454/93 und 2015/2447) gilt das Zollrecht der Union unmittelbar in den Mitgliedstaaten(153). Letztere sind gemäß Art. 291 AEUV zuständig für die Durchführung dieser Rechtsvorschriften(154). Die Erhebung der Zölle bleibt zwar weiterhin Aufgabe der Mitgliedstaaten(155), doch erfordert die Erfüllung dieser Aufgabe eine enge Zusammenarbeit zwischen ihnen und den Unionsorganen(156). Zum einen sind der Kommission und insbesondere dem OLAF auf der Grundlage von Art. 325 AEUV(157) demgemäß bestimmte Kontroll- und Ermittlungsbefugnisse übertragen worden(158). Zum anderen hat die Union im Bereich des Risikomanagements eine Strategie entwickelt, um für Mindeststandards beim Zollrisikomanagement und bei der Zollkontrolle zu sorgen(159), indem die nationalen Zollverwaltungen damit betraut werden, Maßnahmen zur Überprüfung der Warenkontrollverfahren, ‑techniken und ‑ressourcen zu treffen(160). In Anbetracht der vorgenannten Bestimmungen und im Licht der der Kommission mit Art. 17 Abs. 1 EUV übertragenen Aufgabe der Förderung der allgemeinen Interessen der Union(161) war die Kommission meines Erachtens befugt, nicht zwingende Kriterien wie die OLAF Methodik auszuarbeiten, um den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, eine Risikoanalyse im Rahmen ihrer Zollkontrollen vorzunehmen, zumal im vorliegenden Fall die in Rede stehenden Betrügereien die gesamte Union betrafen und der Katalog der Instrumente der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission nicht begrenzt ist(162). Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission in ihren Mitteilungen zwar die Ziele des Risikomanagements dargelegt hat(163), dass es den Mitgliedstaaten aber in Ermangelung harmonisierter Regeln betreffend die Methoden der Risikoanalyse(164) freistand und steht, die konkreten Instrumente des Risikomanagements während des Zeitraums der Zuwiderhandlung zu wählen(165), wie die Kommission im Übrigen in ihren Schriftsätzen und in der Sitzung eingeräumt hat.
209. Zu den sachlichen Kriterien der OLAF‑Methodik als Instrument der Risikoanalyse ist im vorliegenden Fall darauf hinzuweisen, dass diese, wie sich aus den Antworten der Kommission auf die schriftlichen Fragen des Gerichtshofs ergibt, als Instrument der Ermittlung von Zollbetrug Gegenstand eingehender Erörterung zwischen den Mitgliedstaaten war. Daher soll ihre Einführung als Instrument der Risikoanalyse auf der Grundlage einer einvernehmlichen Entscheidung der Mitgliedstaaten erfolgt sein(166). Die Erläuterungen der Kommission, wonach die Schwellen für das Risiko einer Unterbewertung (akzeptabler Mindestpreis) für jeden betroffenen (achtstelligen) Produktcode der Kombinierten Nomenklatur anhand des berichtigten Durchschnittspreises, d. h. des arithmetischen (nicht gewichteten) Mittels der bei der Einfuhr angemeldeten Durchschnittswerte in den 28 Mitgliedstaaten für jeden dieser Codes über einen Zeitraum von vier Jahren berechnet worden seien, zeigen, dass diese Methodik nicht willkürlich gewählt wurde. Dies gilt umso mehr, als nach der Rechtsprechung die Verwendung statistischer Daten zur Beanstandung der Richtigkeit des angemeldeten Zollwerts, d. h. die Anwendung eines Zollwerts von weniger als 50 % des berichtigten Durchschnittspreises, Zweifel hervorrufen und das Vorliegen von Betrug durch Unterbewertung belegen kann(167). Meines Erachtens beruht somit die OLAF‑Methodik als Instrument der Risikoanalyse auf objektiven und neutralen Kriterien.
210. Meiner Ansicht nach ist schließlich das Vorbringen des Vereinigten Königreichs zurückzuweisen, die OLAF‑Methodik führe zur Einstufung einer großen Zahl rechtmäßiger Einfuhren als unterbewertet, was für die betroffenen Einführer eine Verletzung der Art. 16 und 17 der Charta, also der unternehmerischen Freiheit bzw. des Eigentumsrechts, darstellen könne. Da die in Art. 13 Abs. 2 des Zollkodex der Gemeinschaften und Art. 46 Abs. 2 des Zollkodex der Union vorgesehene Risikoanalyse ein abstraktes Risikomanagement durch Prüfung der Zollrisiken und Planung der nötigen Gegenmaßnahmen, d. h. Aufstellung eines Aktionsplans zur Durchführung der Zollkontrollmaßnahmen, darstellt, kann ich nicht erkennen, wie ein solches Management die in diesen Bestimmungen der Charta genannten Grundrechte beeinträchtigen könnte.
3) Zur Verpflichtung zur Durchführung von Kontrollen vor der Überlassung
211. Der zu Beginn des Zeitraums der Zuwiderhandlung geltende Art. 13 Abs. 1 des Zollkodex der Gemeinschaften sah vor, dass die „Zollbehörden … unter den im geltenden Recht festgelegten Voraussetzungen alle Kontrollen durchführen [können], die sie für erforderlich halten“(168). Die Nachfolgebestimmung, Art. 46 Abs. 1 des Zollkodex der Union, enthält in Unterabs. 1 eine ähnliche Bestimmung und darüber hinaus in Unterabs. 2 eine nicht abschließende Aufzählung verschiedener Zollkontrollen, die die Mitgliedstaaten vornehmen können. Meines Erachtens ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmungen, und zwar aus dem Gebrauch des Verbs „können“, dass mit ihnen keine Rangordnung zwischen unterschiedlichen Arten von Zollkontrolle aufgestellt werden soll(169). Folglich räumen diese Bestimmungen meines Erachtens den nationalen Zollbehörden bei der Durchführung von Zollkontrollen einen gewissen Beurteilungsspielraum für die Wahl und die Anwendung der Kontrollmodalitäten ein(170). Dieses Verständnis wird im Übrigen durch die Bestimmungen über die Überlassung der Waren bestätigt(171).
212. Wie jedoch bereits zur Auslegung der Reichweite der Verpflichtungen aus Art. 325 AEUV dargelegt(172), wird der Beurteilungsspielraum der Zollbehörden der Mitgliedstaaten bei der Wahl der Zollkontrollmaßnahmen durch das Erfordernis begrenzt, einen wirksamen Schutz der finanziellen Interessen der Union sicherzustellen. Zudem obliegt es, wie bereits ausgeführt, den nationalen Zollbehörden gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex der Union, Maßnahmen zu treffen, die „den Schutz der finanziellen Interessen der Union und ihrer Mitgliedstaaten“ zum Ziel haben. Die Bedeutung dieses Ziels im Rahmen des Zollkodex der Union wird durch die Stellung dieser Bestimmung ganz an dessen Anfang unterstrichen, und die Erfüllung dieser Aufgabe obliegt den Mitgliedstaaten(173). Zusammenfassend ist festzustellen, dass Art. 13 Abs. 1 und 2 des Zollkodex der Gemeinschaften und Art. 46 Abs. 1 und 2 des Zollkodex der Union die Durchführung und die Wahl der Methoden der Zollkontrolle zwar den Behörden der Mitgliedstaaten übertragen, die dafür über einen gewissen Spielraum verfügen, dass die gewählten Maßnahmen aber nicht ineffizient sein dürfen.
213. Daher gehe ich davon aus, dass dem Ziel, die finanziellen Interessen der Union zu schützen, die Methoden der Zollkontrolle wie die hier in Rede stehenden entsprechen, die zum Schutz der finanziellen Interessen der Union ein wirksames Management der schwerwiegenden Risiken, die zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einem bestimmten Gebiet festgestellt werden, auf der Grundlage der in den vorstehenden Nummern dieser Schlussanträge beschriebenen Risikoanalyse erlauben. Wie während des Zeitraums der Zuwiderhandlung mehrfach dargelegt worden ist, ging nämlich das festgestellte Hauptrisiko für die finanziellen Interessen der Union in diesem Zeitraum von den massiven Einfuhren von Textilien und Schuhen aus China aus, die unterbewertet waren und zum einen durch systematische und bewusste Anmeldung der Waren unter ihrem wirklichen Wert und zum anderen durch das Fehlen von Vertrauenswürdigkeit der beteiligten Gesellschaften gekennzeichnet waren, die in der Regel allein zu dem Zweck gegründet worden waren, diesen Betrug weiter zu begehen, und abgewickelt wurden, sobald die von ihnen vorgelegte Zollanmeldung von den nationalen Zollbehörden beanstandet wurde. Somit schlägt sich dieses Zollbetrugsschema in einer signifikanten Verringerung der Zölle nieder, die auf die zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr überlassenen Waren erhoben werden können. Vor dem Hintergrund dieser Tatsachenlage ist die Wirksamkeit der vom Vereinigten Königreich während des Zeitraums der Zuwiderhandlung getroffenen Maßnahmen der Zollkontrolle anhand eines Vergleichs mit den Maßnahmen zu beurteilen, deren Nichtdurchführung die Kommission diesem Mitgliedstaat vorwirft.
214. In dieser Hinsicht scheint festzustehen, dass das Vereinigte Königreich bis zum Beginn der Aktion Swift Arrow im Oktober 2017 mit Ausnahme der Maßnahmen im Rahmen der Aktionen Snake Anfang 2014 und Samurai im September 2016 durchgeführten im Allgemeinen keine Maßnahmen der Zollkontrolle vor der Überlassung, wie etwa Nachprüfungen vor der Zollabwicklung oder Probenahmen, erlassen hat. Ohne dies zu bestreiten, trägt das Vereinigte Königreich vor, die vom OLAF vorgeschlagene Methode der Risikobewertung sei für das Aufspüren von betrügerisch unterbewerteten Einfuhren ungeeignet gewesen, so dass es sich für eine Strategie nachträglicher Zollkontrollen entschieden habe, für die die Aktion Breach, die 2015 begonnen habe, das Hauptbeispiel sei(174). Zu diesen nachträglichen Zollkontrollen hätten Besuche im Zusammenhang mit verdächtigen Sendungen, die Prüfung von Unterlagen, Buchprüfungen und Inspektionen, die Überprüfung des kommerziellen Charakters der betreffenden Verkäufe und die Prüfung der Verbindungen zwischen Einführer, Spediteuren und anderen Unternehmen sowie Aktionen zur Sensibilisierung der Einführer für die Ermittlung betrügerischer Aktivitäten gehört.
215. Zum Verteidigungsvorbringen des Vereinigten Königreichs, wegen der Ungeeignetheit der OLAF‑Methodik sei es unmöglich gewesen, Kontrollen vor der Überlassung durchzuführen, ist darauf hinzuweisen, dass, wie in den vorliegenden Schlussanträgen bereits dargelegt(175), die Mitgliedstaaten zwar nicht gehalten sind, der von der Kommission vorgeschlagenen Analysemethode zu folgen, dass für sie aber gleichwohl die Verpflichtung nach Art. 13 Abs. 2 des Zollkodex der Gemeinschaften und Art. 46 Abs. 2 des Zollkodex der Union zur Einführung von Kontrollen auf der Grundlage einer Risikoanalyse gilt. Daher räumt das Vereinigte Königreich mit der Rechtfertigung der Nichtvornahme von Kontrollen vor der Überlassung der Waren mit dem Fehlen einer geeigneten Methode der Risikoanalyse der Sache nach den Verstoß gegen seine Verpflichtung zur Vornahme dieser Kontrollen ein. Zudem ist meines Erachtens dem Vorbringen der Kommission zu folgen, die vom Vereinigten Königreich aufgeführten nachträglichen Maßnahmen könnten ohnehin nicht als wirksam angesehen werden. Ich kann nicht erkennen, wie die von diesem Staat gewählte Strategie nachträglichen Handelns in Anbetracht des Ziels des Schutzes der finanziellen Interessen der Union als wirksam angesehen werden könnte in einer Situation, in der der Zollbetrug in der Unterbewertung eingeführter Textilien und Schuhe bestand, also von Waren, die bewusst unter ihrem tatsächlichen Wert angemeldet wurden. Es erscheint undenkbar, dass sich mit den vom Vereinigten Königreich beschriebenen Maßnahmen die Einziehung der tatsächlich geschuldeten Zölle sicherstellen lässt, wenn es das Vereinigte Königreich zuvor unterlassen hat, die eingeführten Waren eindeutig zu bestimmen, was physische Kontrollen vor der Zollabwicklung und Probenahmen vor der Überlassung der betreffenden Waren zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr notwendig voraussetzt(176). Die Vornahme von Zollkontrollen vor der Überlassung erscheint unerlässlich, wenn die Zollbehörden Zweifel an der Richtigkeit der Zollanmeldungen haben, und ist umso notwendiger, wenn alleiniges Ziel der Wirtschaftsbeteiligten Betrug ist. Wie bereits dargelegt, hatten die Behörden des Vereinigten Königreichs umfassende Kenntnis von der Unterbewertung und haben mit ihrer Beteiligung an der Aktion Snake empirisch die Notwendigkeit bestätigt, wirksame Maßnahmen zu deren Bekämpfung (darunter vorherige Maßnahmen) zu erlassen. Daraus ergibt sich, dass die Behörden des Vereinigten Königreichs seit Beginn des Zeitraums der Zuwiderhandlung Kenntnis von der Art des in Rede stehenden Zollbetrugs hatten, angesichts deren sie ernsthafte Zweifel an der Wirksamkeit der vorgenannten nachträglichen Maßnahmen hätten haben müssen.
216. Das Vereinigte Königreich macht weiter geltend, nach dem Urteil Kommission/Portugal(177) müssten die Zollbehörden zusätzliche Kontrollen nur durchführen, wenn sie „konkrete Anhaltspunkte“ für die Unrichtigkeit einer Zollanmeldung hätten. Dieses Verteidigungsvorbringen beruht meines Erachtens auf einem unrichtigen Verständnis dieses Urteils. Mit der Feststellung, dass „zum Schutz der ordnungsgemäßen Anwendung des Zollrechts die Überprüfung einer Zollanmeldung über die [betreffende] Schwelle hinaus vorzunehmen ist, insbesondere wenn diese Zollanmeldung die Zollbehörden konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit haben“, hat der Gerichtshof meines Erachtens keine Beschränkung hinsichtlich der Informationsquelle aufgestellt, aus der sich die Unrichtigkeit einer Zollanmeldung ergibt. In Anbetracht ihrer Aufgaben nach Art. 3 Abs. 1 des Zollkodex der Union sind die nationalen Zollbehörden verpflichtet, auf Zollbetrug zu reagieren, auch wenn sie die Information hinsichtlich der Unrichtigkeit der Zollanmeldungen von der Kommission oder von anderen Mitgliedstaaten erhalten. Diese Auslegung wird durch das System des Informationsaustauschs zwischen dem Mitgliedstaaten bestätigt, das in Art. 46 Abs. 3 des Zollkodex der Union als Ausdruck der Zollunion vorgesehen ist(178). Angesichts der in den vorliegenden Schlussanträgen dargelegten Kenntnis der Behörden des Vereinigten Königreichs von einem hohen Zollbetrugsrisiko pflichte ich der Kommission darin bei, dass das Vereinigte Königreich sich nicht darauf berufen kann, dass seine Zollbehörden hinsichtlich der im vorliegenden Fall angemeldeten Zollwerte keine konkreten Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit einer Anmeldung gehabt hätten, wie sie in der mit dem Urteil Kommission/Portugal(179) entschiedenen Rechtssache in Rede stand.
4) Zur Verpflichtung, Sicherheiten zu leisten
217. Nach Art. 248 Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 2454/93 und Art. 244 Abs. 1 der Durchführungsverordnung 2015/2447(180) sind bei Vorlage einer Zollanmeldung entweder die geltenden Abgaben vor der Überlassung der Waren zu entrichten oder es ist eine Sicherheit zu ihrer Abdeckung zu leisten. Sind die Zollbehörden der Auffassung, dass aufgrund einer Überprüfung der Zollanmeldung höhere Einfuhrabgaben (oder andere Abgaben) zu entrichten sein könnten als aufgrund der Angaben in der Zollanmeldung, so werden die Waren nach Leistung einer Sicherheit überlassen, die die Differenz zwischen diesen Beträgen abdeckt.
218. In der Frage, ob Art. 248 Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 2454/93(181) eine Sicherheitsleistung vorschreibt, deuten die von mir geprüften Sprachfassungen darauf hin, dass die Überlassung die Leistung einer Sicherheit zwingend voraussetzt(182). Allerdings unterscheiden sich die verschiedenen Sprachfassungen von Art. 244 Abs. 1 der Durchführungsverordnung 2015/2447, der im Wesentlichen Art. 248 Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 2454/93 entspricht, voneinander. Nach der deutschen und der estnischen Fassung ist die Sicherheitsleistung freigestellt, während es sich nach den anderen vorgenannten Sprachfassungen um eine Verpflichtung zu handeln scheint(183). Angesichts dieser Unterschiede in den Sprachfassungen von Art. 244 Abs. 1 der Durchführungsverordnung 2015/2447 erlaubt dessen Wortlaut keine eindeutige Antwort auf die Frage, ob diese Bestimmung die Überlassung der Waren von der Leistung einer Sicherheit abhängig macht oder ob die Zollbehörden der Mitgliedstaaten über einen Beurteilungsspielraum je nach den Umständen des Einzelfalls verfügen(184). Weichen die verschiedenen Sprachfassungen einer Unionsbestimmung voneinander ab, so muss diese nach dem Zusammenhang und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört. Was den Kontext der vorgenannten Bestimmungen angeht, ist meines Erachtens bei der Auslegung von Art. 248 Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 2454/93 und Art. 74 Abs. 1 des Zollkodex der Gemeinschaften zu beachten, dass „Waren [die Gegenstand einer Zollanmeldung sind] nur überlassen werden können, wenn der Betrag der Zollschuld entrichtet oder für ihn Sicherheit geleistet worden ist“(185). Was Art. 244 der Durchführungsverordnung 2015/2447 betrifft, sind in Art. 89 und den folgenden Bestimmungen dieses Kodex die verschiedenen Fälle aufgeführt, in denen Sicherheiten zu leisten bzw. nicht zu leisten sind(186). Für den vorliegenden Klagegrund folgt daraus, dass die Mitgliedstaaten zwar bei der Entscheidung, ob sie die Leistung einer Sicherheit verlangen, über einen gewissen Beurteilungsspielraum verfügen, dass dieser aber meines Erachtens durch das in den vorliegenden Schlussanträgen(187) bereits dargelegte Erfordernis eines wirksamen Schutzes der finanziellen Interessen der Union im Sinne von Art. 325 AEUV begrenzt ist. Die Notwendigkeit, die finanziellen Interessen der Union zu schützen, ergibt sich zudem aus dem 27. Erwägungsgrund der Durchführungsverordnung 2015/2447, wonach, „[u]m in geeigneter Form den Schutz der finanziellen Interessen der Union und der Mitgliedstaaten sowie faire Wettbewerbsbedingungen für die Wirtschaftsbeteiligten zu gewährleisten, … Verfahrensregeln für die Leistung einer Sicherheit … vorgesehen werden [müssen]“, sowie aus den Erwägungsgründen 36 und 37 des Zollkodex der Union(188). Daher ist meines Erachtens der Ansicht der Kommission zu folgen, dass die Anwendung der Zollkontrollmaßnahmen und das Erfordernis einer Sicherheitsleistung unterschiedlich zu behandeln sind je nachdem, ob es sich um anerkannte Unternehmen handelt, die über Vermögen verfügen(189), oder ob man es wie hier mit „Phönix“-Gesellschaften zu tun hat, deren einziges Ziel die Begehung von Betrügereien ist und die sofort nach der Überlassung der von ihnen angemeldeten Waren zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr abgewickelt werden.
219. Die Beweise dafür, dass das Vereinigte Königreich im Zeitraum der Zuwiderhandlung keine Sicherheitsleistung verlangt hat, sind in den vorliegenden Schlussanträgen bereits geprüft worden, und zwar in den Ausführungen zu der Verpflichtung, eine Risikoanalyse und vorherige Kontrollen durchzuführen(190), so dass dies im vorliegenden Teil nicht wiederholt zu werden braucht.
220. Das Vereinigte Königreich macht des Weiteren geltend, zum einen beeinträchtige eine so allgemeine Konzeption, wie sie die Kommission befürworte, die Vermögensrechte der Einführer aus Art. 17 der Charta und Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls in nicht hinnehmbarer Weise, und zum anderen hätten die Behörden des Vereinigten Königreichs nicht über verlässliche Anhaltspunkte für die Bestimmung eines Ersatzwerts verfügt, so dass sie nicht in der Lage gewesen seien, die Leistung von Sicherheiten auf der Grundlage dieses Ersatzwerts zu verlangen.
221. Dieses Vorbringen ist meines Erachtens zurückzuweisen.
222. Zum Vorbringen des Vereinigten Königreichs, das in Art. 17 der Charta verankerte Eigentumsrecht lasse es sich nicht zu, dass die Zollbehörden allgemein die Leistung von Garantien von den Einführern verlangten, weise ich darauf hin, dass dieser Staat nicht darlegt, aus welchen Gründen die Forderung einer Sicherheitsleistung dieses Recht verletzen soll. Nach dem Grundsatz actor incumbit probatio, reus in excipiendo fit actor obliegt dem Vereinigten Königreich der Beweis für sein Vorbringen, mit dem es die von der Kommission angeführte Verpflichtung zur Leistung von Sicherheiten in Frage stelle(191).
223. Jedenfalls macht das Vereinigte Königreich anscheinend nicht geltend, dass Art. 248 der Durchführungsverordnung Nr. 2454/93 oder Art. 244 der Durchführungsverordnung 2015/2447 selbst im Widerspruch zu den Grundrechten aus Art. 17 der Charta stünden. Zudem ist kurz auf die Kriterien von Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls einzugehen, wie sie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) in seiner Rechtsprechung herausgearbeitet hat, die gemäß der Homogenitätsklausel des Art. 52 Abs. 3 der Charta für die Auslegung dieses Art. 17 heranzuziehen ist(192). Nach dieser Rechtsprechung stellt die Besteuerung grundsätzlich einen Eingriff in das Eigentumsrecht dar(193), der jedoch nach Art. 1 Abs. 2 des 1. Zusatzprotokolls gerechtfertigt ist, wonach insoweit eine ausdrückliche Ausnahme für die Zahlung von Steuern oder sonstigen Abgaben gilt(194). Bei der Erarbeitung und Durchführung einer Steuerpolitik verfügen die Staaten über einen weiten Beurteilungsspielraum(195). Wie zudem die Kommission geltend macht, wird eine Zollgarantie nur vorübergehend geleistet und sie wird freigegeben, sobald die zutreffenden Zölle entrichtet worden sind oder der Einführer dargetan hat, dass keine Unterbewertung vorliegt. Nach meinem Eindruck stellt das Vereinigte Königreich mit dem Vorbringen, die Zollbehörden könnten sich keine so allgemeine Konzeption der Forderung von Sicherheiten zu Eigen machen, wie sie die Kommission vertrete, die Vereinbarkeit der von dieser befürworteten Verwaltungspraxis mit dem Grundrecht auf Eigentum gemäß Art. 17 der Charta in Frage. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs finden zwar die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung, doch kann die Durchführung des Unionsrechts auch Verwaltungspraktiken einschließen(196), wie sie im vorliegenden Fall in Rede stehen(197). Der erwähnte Einwand des Vereinigten Königreichs könnte jedoch unter den Umständen des vorliegenden Falles hypothetisch sein, da die Vereinbarkeit der Entscheidungen und des Vorgehens der nationalen Behörden mit der Charta nicht abstrakt, sondern nur im Zusammenhang mit einem konkreten Verwaltungshandeln zu beurteilen ist. Da das Vereinigte Königreich keinen konkreten Fall vorgetragen hat, in dem die Leistung einer Sicherheit gemäß den Bestimmungen des Unionsrechts zu einer Verletzung eines in der Charta verankerten Grundrechts eines Wirtschaftsbeteiligten geführt hätte, hat der Gerichtshof meines Erachtens keinen Anlass zur Prüfung dieses Verteidigungsvorbringens.
224. Mit dem Vorbringen, seine Behörden seien nicht in der Lage gewesen, Sicherheiten zu verlangen, weil sie keine Anhaltspunkte für die Bestimmung eines Ersatzwerts der eingeführten Waren gehabt hätten, scheint mir das Vereinigte Königreich das Fehlen einer Zollmaßnahme mit dem Nichterlass einer anderen Maßnahme, nämlich damit zu rechtfertigen, dass keine Kontrollen vor der Überlassung durchgeführt und keine Proben genommen wurden. Diese Unterlassung hatte zur Folge, dass dieser Staat nicht in der Lage war, gemäß den Art. 70 und 74 des Zollkodex der Union den Wert der betreffenden Erzeugnisse zu bestimmen, was aber für die Leistung von Sicherheiten notwendig ist. Schließlich ist auf eine Unstimmigkeit im Verteidigungsvorbringen des Vereinigten Königreichs hinzuweisen, das der Sache nach geltend macht, in einer Situation, in der seine Zollbehörden die Bestimmungen des Zollkodex der Union über die Bestimmung des Zollwerts der betreffenden Waren nicht korrekt angewandt haben, sei es gleichwohl möglich, wie das Vereinigte Königreich mit der Aktion Breach gezeigt habe(198), die Differenz zwischen dem Warenwert, der der Abgabenerhebung zugrunde liege, und dem wirklichen Wert zu bestimmen.
3. Zusammenfassung der zulasten des Vereinigten Königreichs festgestellten Umstände
225. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die vom Vereinigten Königreich ergriffenen Maßnahmen nicht als wirksam im Sinne von Art. 325 AEUV und der Bestimmungen des abgeleiteten Zollrechts angesehen werden können. Meines Erachtens hat es dieser Staat während des Zeitraums der Zuwiderhandlung unterlassen, Zollkontrollen auf der Grundlage einer Risikoanalyse und der Überlassung der Waren vorausgehende Kontrollen durchzuführen und Sicherheiten vor der Überlassung zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr zu verlangen. Die nach der Zollabwicklung durchgeführten Kontrollen waren im Hinblick auf diese Bestimmungen weder hinreichend noch effektiv. Somit waren die vom Vereinigten Königreich erlassenen Maßnahmen in Anbetracht der Merkmale des in Rede stehenden Betrugs und der Kenntnis, die die Behörden des Vereinigten Königreichs davon während des Zeitraums der Zuwiderhandlung haben konnten, unwirksam.
226. Diese Schlussfolgerung ergibt sich auch aus den von der Kommission vorgelegten statistischen Daten, nach denen auf der Grundlage der OLAF‑Methodik der Prozentsatz der mit einem Wert unterhalb des akzeptablen Mindestpreises angemeldeten Einfuhren von 32,44 % im Jahr 2013 auf 50,50 % im Jahr 2016 stieg(199). Das Vereinigte Königreich räumt ein, dass nach dem Ansatz von HMRC 35,2 % aller unter die Kapitel 61 bis 64 fallenden Einfuhren aus China im Zeitraum der Zuwiderhandlung unterbewertet waren, während dieser Prozentsatz nach der OLAF‑Methodik 44,8 % betragen hätte(200). Es ist jedoch festzustellen, dass beide Parteien darin übereinstimmen, dass die Aktion Swift Arrow eine Verringerung der Menge an unterbewerteten Erzeugnissen bewirkt hat, da die Zahlen für das jeweils erste Quartal der Jahre 2017 und 2018 sehr geringe Einfuhrmengen unterhalb des akzeptablen Mindestpreises zeigen(201). Beide Parteien sind sich auch darüber einig, dass die Zollkontrollen im Rahmen dieser Aktion in Kontrollen vor der Überlassung der Waren auf der Grundlage einer Risikoanalyse bestanden und mit Probenahmen einhergingen. Diese Daten erlauben meines Erachtens den Schluss auf einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Vorliegen von Betrug durch Unterbewertung und den vom Mitgliedstaat angewandten Methoden der Zollkontrolle, was bedeutet, dass der im Zeitraum der Zuwiderhandlung begangene massive Betrug durch Unterbewertung nicht unvermeidlich war. Das Verteidigungsvorbringen des Vereinigten Königreichs, aus dem Erfolg der Aktion Swift Arrow könne nicht abgeleitet werden, dass die zuvor ergriffenen Maßnahmen offenkundig ungeeignet gewesen seien, ist daher meines Erachtens zurückzuweisen, da die vorstehend geprüften empirischen Daten gerade das Gegenteil bestätigen.
227. Die vorstehende Schlussfolgerung, dass die im Zeitraum der Zuwiderhandlung vom Vereinigten Königreich ergriffenen Maßnahmen zur Bekämpfung des Betrugs durch Unterbewertung unzureichend waren, wird nicht durch dessen Vorbringen in Frage gestellt, es habe sich an allen von der Kommission durchgeführten Aktionen beteiligt und selbst Maßnahmen initiiert und diese habe im Übrigen bestätigt, dass es alle insoweit erforderlichen Schritte unternommen habe(202). In der Tat haben, wie das Vereinigte Königreich selbst ausführt, die Mitgliedstaaten für die Anwendung des Zollrechts der Union zu sorgen, was bedeutet, dass es ihnen obliegt, die geeigneten Zollkontrollen durchzuführen und die finanziellen Interessen der Union wirksam zu schützen. Die Erfüllung dieser Aufgabe erfordert von den Zollbehörden eine anhaltende, kohärente und systematische Arbeit zum Schutz der Zollgrenzen der Union, die sich nicht auf die punktuelle Beteiligung an Zollaktionen beschränken kann, die nur von zeitlich begrenzter Wirkung sein können.
4. Zur Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Zölle zu bestimmen und die entsprechenden Beträge buchmäßig zu erfassen
228. Die Kommission macht geltend, während des Zeitraums der Zuwiderhandlung habe das Vereinigte Königreich anhaltend dadurch gegen Art. 105 Abs. 3 des Zollkodex der Union und den diesem entsprechenden Art. 220 Abs. 1 des Zollkodex der Gemeinschaften verstoßen, dass es die noch einzuziehenden Zollschulden für die betrügerisch unterbewerteten Einfuhren nicht erfasst habe, sobald die Zollbehörden die Situation, die zur Feststellung dieser Schulden geführt habe, erkannt hätten.
229. Das Vereinigte Königreich macht demgegenüber der Sache nach geltend, da es weder zur Überprüfung der betreffenden Zollanmeldungen noch zur Berechnung der zusätzlichen Zölle verpflichtet sei, müsse es auch die in Rede stehenden Zollschulden nicht in die Buchführung aufnehmen.
230. Gemäß Art. 104 Abs. 1 des Zollkodex der Union und dem diesem entsprechenden Art. 218 Abs. 1 des Zollkodex der Gemeinschaften erfassen die Zollbehörden in ihren Büchern in Übereinstimmung mit den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften den zu entrichtenden Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbetrag. Zum einen folgt die in diesen Bestimmungen vorgesehene buchmäßige Erfassung zwar aus den Verpflichtungen zur Feststellung und Bereitstellung der traditionellen Eigenmittel, die sich u. a. aus den in den vorliegenden Schlussanträgen im Rahmen des zweiten Klagegrundes geprüften Bestimmungen der Verordnungen Nrn. 1150/2000 und 609/2014 ergeben(203), sie ist jedoch unabhängig von diesen Verpflichtungen(204) und von ihnen zu unterscheiden(205). Zum anderen ist die Verpflichtung zur buchmäßigen Erfassung der Abgabenbeträge nach den vorgenannten Bestimmungen im Rahmen der vorliegenden Rechtssache eine unmittelbare und unvermeidliche Folge des Erlasses von Zollmaßnahmen wie Risikoanalyse und Zollkontrollen vor der Überlassung, die bereits geprüft worden sind, so dass deren Nichterlass zwangsläufig dazu führt, dass diese Beträge nicht buchmäßig erfasst werden. Daher ist meines Erachtens die Rüge der Verletzung der Verpflichtung zur buchmäßigen Erfassung der betreffenden Beträge zusammen mit den im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes bereits erörterten Rügen bezüglich der Verpflichtung zum Erlass der erforderlichen Zollmaßnahmen zu prüfen.
231. In der Sache besteht die buchmäßige Erfassung der Abgabenbeträge nach der Rechtsprechung u. a. in der Eintragung des zu erhebenden Betrags in die Bücher oder in sonstige stattdessen verwendete Unterlagen durch die Zollbehörden, wenn diese in der Lage sind, den gesetzlich geschuldeten Betrag zu berechnen und den Zollschuldner zu bestimmen(206). Somit muss eine Zollbehörde, wenn sie feststellt, dass Zollschulden ganz oder teilweise nicht bezahlt worden sind, und in der Lage ist, den sich daraus ergebenden Betrag zu berechnen und dessen Schuldner zu bestimmen, diesen Betrag gemäß den vorgenannten Bestimmungen buchmäßig erfassen. Wie bereits dargelegt, hatte das Vereinigte Königreich im vorliegenden Fall Kenntnis von dem Betrug durch Unterbewertung, so dass dessen Behörden verpflichtet waren, nicht nur die korrekten Zollwerte zu bestimmen und die Zollanmeldungen zu kontrollieren, sondern auch gemäß Art. 105 Abs. 3 des Zollkodex der Union und dem diesem entsprechenden Art. 220 Abs. 1 des Zollkodex der Gemeinschaften die Beträge für die in Rede stehenden Einfuhren zu berechnen und buchmäßig zu erfassen(207). Da das Vereinigte Königreich diese Berechnungen, Bestimmungen und buchmäßigen Erfassungen nicht vorgenommen hat, ist die diese Vorschriften betreffende Rüge, die in Wirklichkeit keinen selbständigen Gehalt hat, ebenfalls als unmittelbare Folge der in der vorstehenden Nummer dieser Schlussanträge geprüften Rechtsverstöße für begründet zu erachten. Da das Vereinigte Königreich nämlich die vorgenannten Maßnahmen, die nach den einschlägigen Bestimmungen des Zollkodex der Gemeinschaften und des Zollkodex der Union, verstanden im Licht des in Art. 325 AEUV verankerten Effektivitätsgrundsatzes, geboten sind, nicht erlassen hat, hat es zwangsläufig unterlassen, gemäß Art. 105 Abs. 3 des Zollkodex der Union und dem diesem entsprechenden Art. 220 Abs. 1 des Zollkodex der Gemeinschaften die Beträge für die in Rede stehenden Einfuhren zu berechnen und buchmäßig zu erfassen.
232. Unter diesen Umständen ist der erste Klagegrund für begründet zu erachten, soweit er die Verpflichtungen nach Art. 325 AEUV, Art. 13 und Art. 220 Abs. 1 des Zollkodex der Gemeinschaften, den Art. 3 und 46 sowie Art. 105 Abs. 3 des Zollkodex der Union, Art. 248 Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 2454/93 und Art. 244 der Durchführungsverordnung 2015/2447 betrifft.
C. Zur Verletzung der Rechtsvorschriften der Union über die Eigenmittel und die Schätzung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln, die die Zölle darstellen
233. Nach Ansicht der Kommission hat das Vereinigte Königreich gegen die Rechtsvorschriften über die traditionellen Eigenmittel und insbesondere gegen die Art. 2 und 8 der Beschlüsse 2007/436 und 2014/335 sowie die Art. 2, 6, 9, 10, 11 und 17 der Verordnung Nr. 1150/2000, denen die Art. 2, 6, 9, 10, 12 bzw. 13 der Verordnung Nr. 609/2014 entsprechen, verstoßen. Dieser Staat habe während des Zeitraums der Zuwiderhandlung nicht die geeigneten Zollkontrollen durchgeführt, so dass die betrügerisch unterbewerteten Waren nicht korrekt angemeldet worden seien. Aufgrund dieser unrichtigen Bewertung seien die für diese Waren geschuldeten Zölle nicht korrekt berechnet worden, und die diesen Zöllen entsprechenden Eigenmittelbeträge seien pflichtwidrig nicht festgestellt und dem Unionshaushalt nicht zum vorgeschriebenen Zeitpunkt zur Verfügung gestellt worden. Zudem hätten die Behörden des Vereinigten Königreichs Zollschulden für bestimmte unterbewertete Einfuhren zunächst festgestellt und sodann annulliert und damit einen Verwaltungsfehler begangen. Im Ergebnis hafte das Vereinigte Königreich für die daraus folgenden Verluste an traditionellen Eigenmitteln.
234. Vor der Prüfung der Begründetheit des vorliegenden Klagegrundes bedarf es einiger Erläuterungen zum System der Bereitstellung der traditionellen Eigenmittel, um die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten in diesem Bereich zu bestimmen (Abschnitt 1). Was die Begründetheit dieses Klagegrundes angeht, ist zunächst das Vorbringen der Kommission zu prüfen, die Behörden des Vereinigten Königreichs hätten dadurch, dass sie nach der Feststellung einer zusätzlichen Zollschuld für bestimmte unterbewertete Waren für einen Zeitraum von November 2011 bis November 2014 nicht die geeigneten Maßnahmen ergriffen und diese festgestellten zusätzlichen Zollschulden annulliert hätten, einen Verwaltungsfehler begangen, für den das Vereinigte Königreich finanziell hafte (Abschnitt 2). Sodann ist das schwierige Problem der Bestimmung der aus dem gerügten Rechtsverstoß folgenden Verluste an traditionellen Eigenmitteln (Abschnitt 3) und schließlich das Verteidigungsvorbringen des Vereinigten Königreichs zu den Verzugszinsen (Abschnitt 4) zu untersuchen.
1. Zur rechtlichen Regelung der buchmäßigen Erfassung der geschuldeten Beträge und der Bereitstellung der traditionellen Eigenmittel
235. Die Einnahmen aus den Zöllen des Gemeinsamen Zolltarifs stellen gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und b des Beschlusses 2007/436 und Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Beschlusses 2014/335 traditionelle Eigenmittel der Union dar(208). Letztere sind „als … Steuereinnahmen zu sehen, die zur Finanzierung des Gesamthaushaltsplans bestimmt sind und der Gemeinschaft von Rechts wegen zustehen, ohne dass weitere Beschlüsse auf nationaler Ebene erforderlich wären“(209). Die Mitgliedstaat sind zwar gemäß Art. 8 Abs. 1 dieser Beschlüsse mit der Erhebung der Eigenmittel der Union betraut, müssen diese jedoch der Union zur Verfügung stellen, ohne dem widersprechen zu können(210).
236. Die Verpflichtung, der Union die traditionellen Eigenmittel zur Verfügung zu stellen, ergibt sich aus den Bestimmungen der Verordnung Nr. 609/2014(211) zur Festlegung der Methoden und Verfahren für die Bereitstellung u. a. der traditionellen Eigenmittel(212). Gemäß Art. 2 Abs. 1 dieser Verordnung(213) gilt ein Anspruch der Union auf traditionelle Eigenmittel als festgestellt, sobald die Bedingungen der Zollvorschriften für die buchmäßige Erfassung des Betrags der Abgabe und dessen Mitteilung an den Abgabenschuldner erfüllt sind(214); nach Art. 13 Abs. 1 dieser Verordnung(215) haben die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit die Beträge, die den festgestellten Ansprüchen entsprechen, der Kommission zur Verfügung gestellt werden. Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, stellt diese Bestimmung eine spezifische Ausprägung der aus Art. 4 Abs. 3 EUV resultierenden Erfordernisse der loyalen Zusammenarbeit dar, wonach die Mitgliedstaaten u. a. die Probleme, auf die sie bei der Anwendung des Unionsrechts gestoßen sind, der Kommission vorlegen müssen(216).
237. Da ein Einnahmendefizit bei bestimmten Eigenmitteln entweder durch andere Eigenmittel ausgeglichen werden oder zu einer Anpassung der Ausgaben führen muss, sind die Mitgliedstaaten zur Feststellung der Ansprüche der Union auf die traditionellen Eigenmittel verpflichtet, damit nicht das finanzielle Gleichgewicht der Union durch das Verhalten eines Mitgliedstaats gestört wird(217). Zur Bereitstellung der Eigenmittel sieht Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 609/2014 vor, dass jeder Mitgliedstaat die Eigenmittel nach Maßgabe von Art. 10 dieser Verordnung dem Konto gutschreibt, das zu diesem Zweck für die Kommission eingerichtet wurde(218). Nach Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 609/2014 müssen die Mitgliedstaaten bei ihrer Haushaltsverwaltung oder bei der von ihnen bestimmten Einrichtung über die Eigenmittel Buch führen. Liegen die Voraussetzungen für die Feststellung der Zollschuld vor, müssen die Mitgliedstaaten diese in die Buchführung nach Art. 6 Abs. 3 Unterabs. 1 dieser Verordnung (A-Buchführung) aufnehmen; liegen die Ad-hoc-Voraussetzungen vor, müssen sie die Zollschuld in der Buchführung nach Art. 6 Abs. 3 Unterabs. 2 dieser Verordnung (B-Buchführung) ausweisen(219).
238. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der allgemeine Schutz der finanziellen Interessen der Union ein eigenständiges, im Sechsten Teil Titel II (Finanzvorschriften) des AEU-Vertrags genanntes Ziel ist, das sich von der Zollunion unterscheidet, die in dem die Politiken der Union betreffenden Dritten Teil Titel II Kapitel 1 des AEU-Vertrags vorgesehen ist(220). Wie Generalanwältin Trstenjak dargelegt hat(221), besteht jedoch zwischen den Zollvorschriften und den Vorschriften über die Eigenmittel der Gemeinschaft ein Zusammenhang in dem Sinne, dass als Eigenmittel festgestellte Zölle von den zuständigen nationalen Zollbehörden nach den anwendbaren Zollvorschriften festgesetzt, auferlegt und erhoben werden müssen(222). In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass ein unlösbarer Zusammenhang zwischen der Verpflichtung zur Feststellung der Eigenmittel der Gemeinschaften, der Verpflichtung zu deren Gutschrift auf dem Konto der Kommission innerhalb der gesetzten Frist und schließlich der Verpflichtung zur Zahlung von Verzugszinsen besteht(223). Letztere können zudem unabhängig davon verlangt werden, aus welchem Grund die Gutschrift auf dem Konto der Kommission verspätet erfolgt ist(224).
239. Der Gerichtshof betont bei der Auslegung der vorgenannten Bestimmungen besonders, dass die Finanzvorschriften des Unionsrechts zu den grundlegenden Normen der Gemeinschaftsverfassung zu zählen sind, deren unbedingte Einhaltung erforderlich ist, um das tatsächliche Funktionieren der Union zu gewährleisten(225). Da die Union über die Eigenmittel „unter den bestmöglichen Bedingungen“ verfügen muss(226), hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass verschiedene Bestimmungen über die Erhebung der Zollschulden gewährleisten sollen, dass die Zollbestimmungen im Interesse einer schnellen und wirkungsvollen Bereitstellung der Eigenmittel der Gemeinschaften einheitlich und sorgfältig angewandt werden(227). Daher kann nach ständiger Rechtsprechung, wenn ein von den Zollbehörden eines Mitgliedstaats begangener Fehler dazu führt, dass der Abgabenpflichtige den Betrag der betreffenden Abgaben nicht entrichten muss, dies nicht die Verpflichtung des Mitgliedstaats in Frage stellen, die festgestellten Abgaben und Verzugszinsen abzuführen(228). Beispielsweise hat der Gerichtshof nicht als Rechtfertigung gelten lassen, dass die nationalen Behörden einen Buchungsfehler begangen hätten(229), dass zwischen einem Schreib- und einem Rechtsfehler zu unterscheiden sei oder dass die Verspätung bei der Gutschrift der Beträge auf dem Konto der Kommission unbeabsichtigt gewesen sei(230). Folglich verstößt ein Mitgliedstaat, der den Anspruch der Union auf die Eigenmittel nicht feststellt und den entsprechenden Betrag nicht der Kommission zur Verfügung stellt, ohne dass eine der Voraussetzungen nach Art. 13 Abs. 2 der Verordnung Nr. 609/2014 vorliegt, gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht(231).
240. Nach diesen Ausführungen kann ich mich nur der Ansicht der Kommission anschließen, dass die in den vorliegenden Schlussanträgen festgestellte Verletzung der dem Mitgliedstaat obliegenden Verpflichtung, die finanziellen Interessen der Union zu schützen und Betrügereien zu bekämpfen sowie Zollkontrollen auf der Grundlage einer Risikoanalyse durchzuführen und die Leistung von Sicherheiten zu verlangen, zwangsläufig damit einhergeht, dass die Beträge an traditionellen Eigenmitteln, die dem Unionshaushalt zur Verfügung zu stellen sind, falsch berechnet und diese Mittel nicht festgestellt und nicht zum vorgeschriebenen Zeitpunkt bereitgestellt worden sind.
2. Zum Verstoß gegen die Verpflichtung des Vereinigten Königreichs, der Kommission die den im Rahmen der Aktion Snake festgestellten Zöllen entsprechenden Beträge zur Verfügung zu stellen
241. Wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, war das Vereinigte Königreich nach Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1150/2000, dem Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 609/2014 entspricht, verpflichtet, das Bestehen von Eigenmitteln der Union festzustellen und ihr diese nach den Art. 6, 9 und 10 dieser beiden Verordnungen zur Verfügung zu stellen. In der Klageschrift beanstandet die Kommission mit ihrer ersten Rüge der Sache nach, dass die Behörden des Vereinigten Königreichs in der B-Buchführung erhebliche Beträge an Zollschulden annulliert hätten. Diese Beträge entsprächen den zusätzlichen Zollschulden, die im Anschluss an die Aktion Snake 2014 festgestellt und von den Behörden des Vereinigten Königreichs mittels der Zahlungsaufforderungen C18 Snake mitgeteilt, von den Behörden aber zwischen Juni und November 2015 annulliert worden seien(232). Dadurch, dass sie nach der Feststellung dieser zusätzlichen Zollschulden die geeigneten Maßnahmen nicht getroffen und die Schulden annulliert hätten, hätten diese Behörden einen Verwaltungsfehler begangen, für den das Vereinigte Königreich finanziell hafte.
242. Das Vereinigte Königreich tritt dieser Rüge im Wesentlichen mit einer zweifachen Begründung entgegen. Zum einen habe es zum Zeitpunkt des Erlasses der Zahlungsaufforderungen C18 Snake keine Methodik zur nachträglichen Bestimmung des Zollwerts nach der Überlassung der unterbewerteten Waren gegeben. Zum anderen hätten sich die in Rede stehenden Beträge aus von den Behörden des Vereinigten Königreichs nicht zu vertretenden Gründen als „uneinbringlich“ im Sinne dieser Bestimmungen erwiesen, da es sich bei den Einführern, an die die 23 Zahlungsaufforderungen C18 Snake gerichtet gewesen seien, um „Phönix“-Gesellschaften gehandelt habe, d. h. Gesellschaften, die nach der Überlassung der Waren zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr verschwunden seien. Deshalb sei eine Einziehung dieser Beträge endgültig unmöglich gewesen aus Gründen, die es gemäß Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 und Art. 13 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 609/2014 nicht zu vertreten habe. Folglich sei das Vereinigte Königreich nicht verpflichtet, dem Unionshaushalt die den festgestellten Abgaben entsprechenden Beträge zur Verfügung zu stellen.
243. Damit stellt sich im Rahmen der vorliegenden Rüge die Frage, ob das Vereinigte Königreich mit der Unterlassung der Einziehung der mit den Zahlungsaufforderungen C18 Snake festgestellten Zölle den vorgenannten Bestimmungen der Verordnungen Nrn. 1150/2000 und 609/2014 zuwidergehandelt hat.
244. Nach Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 609/2014 und dem diesem entsprechenden Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1150/2000 haben die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit die Beträge, die den festgestellten Ansprüchen entsprechen, dem Unionshaushalt nach Maßgabe dieser Verordnung zur Verfügung gestellt werden. Im vorliegenden Fall haben die Vereinigte Königreich bestimmte im Rahmen der Aktion Snake kontrollierte Einfuhren für unterbewertet erachtet, die fraglichen Beträge buchmäßig erfasst, den Wirtschaftsbeteiligten die 23 Zahlungsaufforderungen C18 Snake zugestellt und die diesen entsprechenden Zollschulden festgestellt. Die diesen Zollschulden entsprechenden Beträge wurden zunächst gemäß Art. 6 Abs. 3 der Verordnungen Nrn. 1150/2000 und 609/2014 als festgestellte Ansprüche, die noch nicht eingezogen wurden und für die keine Sicherheit geleistet worden ist, in die B-Buchführung aufgenommen. Später wurden die Beträge vom Vereinigten Königreich annulliert.
245. Nach Art. 13 Abs. 2 der Verordnung Nr. 609/2014 und Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 sind die Mitgliedstaaten nur dann nicht verpflichtet, der Kommission die den festgestellten Ansprüchen entsprechenden Beträge zur Verfügung zu stellen, wenn diese aus Gründen höherer Gewalt nicht eingezogen werden konnten oder wenn sie aus anderen, nicht von den Mitgliedstaaten zu vertretenden Gründen uneinbringlich sind. Der Gerichtshof hat die Wendungen „aus Gründen höherer Gewalt“ und „aus anderen, nicht von den Mitgliedstaaten zu vertretenden Gründen“ strikt ausgelegt. So hat er einen Streik nicht als Rechtfertigung für eine verspätete Gutschrift der Mittel gelten lassen(233) und einem Mitgliedstaat die Befugnis abgesprochen, zu beurteilen, ob es angebracht ist, einem Ersuchen um vorgezogene Gutschrift nachzukommen(234). Auch das auf betrügerisches Verhalten von Zollbeamten gestützte Rechtfertigungsvorbringen eines Mitgliedstaats hat der Gerichtshof zurückgewiesen(235).
246. Angesichts dieser Rechtsprechung kann das Verteidigungsvorbringen des Vereinigten Königreich im vorliegenden Fall meines Erachtens keinen Erfolg haben. Es steht fest, dass der beklagte Staat sich zur Rechtfertigung der Aufhebung der Zahlungsaufforderungen C18 Snake nicht auf höhere Gewalt beruft, sondern geltend macht, er könne nicht für den Verlust der mit diesen Zahlungsaufforderungen beanspruchten zusätzlichen Zölle haftbar gemacht werden. Obwohl die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners dieser Zollschuld prima facie ein vom Willen eines Mitgliedstaats unabhängiger Umstand ist, ist doch zu beachten, dass die Kommission im vorliegenden Fall dem Vereinigten Königreich vorwirft, nicht alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen zu haben, damit dem Unionshaushalt die den Ansprüchen der Union auf die traditionellen Eigenmittel entsprechenden Beträge zur Verfügung gestellt werden. Wie aus den Schriftsätzen der Parteien hervorgeht, bestreiten diese nicht, dass die zusätzlichen Zölle festgestellt worden sind, da die britischen Behörden die Waren ermittelt hatten, deren Überlassung bereits gestattet worden war, und dass zur vollständigen Einziehung der geforderten Beträge keine Sicherheiten von den betreffenden Einführern verlangt worden sind(236). Zu betonen ist, dass die Behörden während dieser Zeit umfassende Kenntnis von dem fraglichen Betrugsschema hatten, das u. a. darin bestand, dass die in Rede stehenden Gesellschaften bei der ersten Beanstandung einer Zollanmeldung für die Wareneinfuhr jede Geschäftstätigkeit einstellten. Das Vorbringen des Vereinigten Königreichs, die von den Zahlungsaufforderungen C18 Snake erfassten zusätzlichen Zollschulden seien uneinbringlich gewesen, weil diese Forderungen nicht hätten vollstreckt werden können, ist daher meines Erachtens unbegründet. Nach der Feststellung dieser zusätzlichen Zölle hätte dieser Mitgliedstaat nämlich gemäß den geltenden Bestimmungen des Zollkodex der Gemeinschaften und des Zollkodex der Union, ausgelegt im Licht des in Art. 325 AEUV verankerten Grundsatzes des wirksamen Schutzes der finanziellen Interessen der Union, die Leistung von ausreichenden Sicherheiten zur Deckung der fälligen Beträge verlangen müssen(237). Daher stellt die vom Vereinigten Königreich zu seiner Rechtfertigung angeführte Zahlungsunfähigkeit der Schuldner dieser Zollschulden als solche keinen Grund dar, der den Mitgliedstaat von seiner Verpflichtung befreien kann, diese Zollschuld gemäß den in Rede stehenden Bestimmungen einzuziehen.
247. Ebenfalls zurückzuweisen ist das Vorbringen des Vereinigten Königreichs, die Annullierung der Zahlungsaufforderungen C18 Snake sei unvermeidbar gewesen, da es keine Methodik zur korrekten Bestimmung des Zollwerts der Waren gegeben habe. Dieser Staat macht geltend, seine Behörden hätten die Zahlungsaufforderungen C18 Snake nach ihrer Anfechtung durch einige Einführer zurückgezogen, weil die OLAF‑Methodik, die sie zur Bestimmung des korrekten Zollwerts der unterbewerteten und im Zuge der Aktion Snake beanstandeten Einfuhren verwendet hätten, für eine „Neubewertung“ dieser Einfuhren ungeeignet gewesen sei. Die Behörden des Vereinigten Königreichs hätten die Zahlungsaufforderungen C18 Snake zurückziehen müssen, weil diesen ausschließlich die OLAF‑Methodik zugrunde gelegen habe.
248. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs mit der Zollwertregelung der Union ein gerechtes, einheitliches und neutrales System errichtet werden soll, das die Anwendung von willkürlichen oder fiktiven Zollwerten ausschließt(238). Wie der Gerichtshof ausgeführt hat, ergibt sich aus dem Wortlaut der Art. 29 bis 31 des Zollkodex der Gemeinschaften (jetzt Art. 70 bis 74 des Zollkodex der Union), dass die dort vorgesehenen Methoden zur Bestimmung des Zollwerts in einer Rangfolge und in einem Verhältnis der Subsidiarität zueinander stehen, so dass erst dann, wenn der Zollwert nicht durch Anwendung einer bestimmten Vorschrift ermittelt werden kann, die in der festgelegten Reihenfolge unmittelbar nach ihr kommende Vorschrift heranzuziehen ist(239). Im vorliegenden Fall geht, wie die Prüfung des ersten Klagegrundes ergeben hat(240), aus den Akten hervor, dass die OLAF‑Methodik ursprünglich nur als Instrument der Risikoanalyse bei der gewöhnlichen Tätigkeit der Zollbehörden eingesetzt werden sollte. Zudem wies das OLAF, entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs, nicht erstmals bei dem Treffen vom 20. Februar 2015 darauf hin, dass der berichtigte Durchschnittspreis nicht für eine „Neubewertung“ verwendet werden solle, sondern die Mitgliedstaaten waren seit dem Beginn der PCA Discount darüber informiert, dass die OLAF‑Methodik dem Ziel der Ermittlung von Betrügereien diente. Als die britischen Behörden die auf der OLAF‑Methodik beruhenden berichtigten Durchschnittspreise für die Berechnung der mit den Zahlungsaufforderungen C18 Snake beanspruchten zusätzlichen Zölle heranzogen(241), nutzten sie diese Methodik nicht gemäß den Zielen, für die sie entwickelt worden war. Ich teile daher die Auffassung der Kommission(242), dass die britischen Behörden nach der Ermittlung der betrügerisch unterbewerteten Waren deren korrekten Zollwert nach den im Zollkodex der Gemeinschaften und im Zollkodex der Union vorgesehenen sequenziellen Methoden auf der Grundlage der vorgenannten Bestimmungsmethoden und unter Berücksichtigung des Umstands, dass es sich um eingeführte, der Zollkontrolle unterliegende Waren handelte, hätten bestimmen müssen(243). Folglich hat das Vereinigte Königreich dadurch, dass es die Etappen der Zollwertbestimmung gemäß den anwendbaren, in der vorstehenden Nummer angeführten Zollbestimmungen für die im Rahmen der Aktion Snake als unterbewertet ermittelten Waren nicht eingehalten und anstelle dieser Bestimmungen die OLAF‑Methodik angewandt hat, meines Erachtens das Zollrecht der Union nicht beachtet, so dass die in den Zahlungsaufforderungen C18 Snake festgesetzten Beträge nicht die von den Wirtschaftsbeteiligten tatsächlich geschuldeten Beträge widerspiegeln.
249. Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich nämlich, dass die britischen Behörden selbst die von ihnen bei der Bestimmung der zusätzlichen Beträge begangenen Fehler erkannt hatten(244), dass sie sich aber, statt diese Fehler zu korrigieren und neue Zahlungsanordnungen zu erlassen, dafür entschieden haben, die Zahlungsaufforderungen C18 Snake endgültig zu annullieren. Das Vereinigte Königreich trägt vor, in Ermangelung einer akzeptablen Methodik sei es vorzuziehen gewesen, die Zollschulden zu annullieren(245). Wie die Kommission geltend macht, konnte das Vereinigte Königreich erneut Zahlungsaufforderungen erlassen, hat sich jedoch dagegen entschieden.
250. In Anbetracht des Vorstehenden bin ich der Ansicht, dass das Vereinigte Königreich, nachdem es die mit den 23 Zahlungsaufforderungen C18 Snake beanspruchten Zölle festgestellt, buchmäßig erfasst und den Schuldnern mitgeteilt hatte, gegen seine Verpflichtungen nach Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 609/2014 und dem diesem entsprechenden Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1150/2000 verstoßen hat, wonach die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen haben, damit die Beträge, die den festgestellten Ansprüchen entsprechen, dem Unionshaushalt zur Verfügung gestellt werden. Die Aufhebung dieser Zahlungsaufforderungen und die vorher dazu ergangenen Entscheidungen sind als Verwaltungsfehler der britischen Behörden anzusehen, die die Nichteinziehung von traditionellen Eigenmitteln der Union zur Folge hatten. Ich teile auch die Auffassung der Kommission, dass das Vereinigte Königreich es vorgezogen habe, die mit den Zahlungsaufforderungen C18 Snake beanspruchten und in die B-Buchführung aufgenommenen Beträge zu annullieren, statt das Verfahren nach Art. 13 der Verordnung Nr. 609/2014 und dem diesem entsprechenden Art. 17 der Verordnung Nr. 1150/2000 zu befolgen, wonach die Mitgliedstaaten von der Verpflichtung, dem Unionshaushalt die den festgestellten Ansprüchen entsprechenden Beträge zur Verfügung zu stellen, befreit sind, wenn diese uneinbringlich sind. Folglich konnte sich das Vereinigte Königreich unter diesen Umständen nicht auf die Befreiung nach Art. 13 Abs. 2 der Verordnung Nr. 609/2014 und dem diesem entsprechenden Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 berufen, da dieser Staat die beschriebenen Verwaltungsfehler zu vertreten hat. Nach gefestigter Rechtsprechung(246) verstößt ein Mitgliedstaat, der es nach Feststellung eines Anspruchs der Union auf Eigenmittel unterlässt, der Kommission den entsprechenden Betrag zur Verfügung zu stellen, ohne dass eine der Voraussetzungen nach den vorgenannten Bestimmungen erfüllt ist, gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht. Demzufolge ist festzustellen, dass aufgrund der Aufhebung der 23 Zahlungsaufforderungen C18 Snake und der Nichtbereitstellung der entsprechenden Beträge dem Unionshaushalt traditionelle Eigenmittel für den Zeitraum von November 2011 bis November 2014 geschuldet sind.
3. Zur Veranschlagung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln
251. Zur Beurteilung der Höhe der Verluste an traditionellen Eigenmitteln für den Unionshaushalt aufgrund der dem Vereinigten Königreich mit der vorliegenden Klage vorgeworfenen Verletzung des Unionsrechts hat sich die Kommission auf die OLAF‑Methodik und die ihr zur Verfügung stehenden Daten gestützt. Auf dieser Grundlage ist sie der Ansicht, dass ihr für den Zeitraum zwischen November 2011 und dem 11. Oktober 2017 ein Betrag von 2 679 637 088,86 Euro (Bruttobetrag abzüglich der Einziehungskosten) als traditionelle Eigenmittel hätte zur Verfügung gestellt werden müssen.
252. Das Vereinigte Königreich wendet sich zu seiner Verteidigung sowohl gegen die von der Kommission verwendete Methodik als auch gegen den von dieser berechneten Betrag. Auf der Grundlage seiner eigenen Schätzung gelangt es zu einem Betrag an zusätzlichen Eigenmitteln im Zusammenhang mit den unterbewerteten Einfuhren aus China im Zeitraum der Zuwiderhandlung in Höhe von 217 646 623 GBP(247), den es in der Gegenerwiderung auf 123 819 268 GBP gesenkt hat. Obwohl das Vereinigte Königreich weiter die ihm vorgeworfene Vertragsverletzung bestreitet, räumt es damit meines Erachtens bis zu einem gewissen Grad tatsächlich implizit ein, dass es dadurch, dass es keine wirksamen Maßnahmen zur Bekämpfung des Zollbetrugs ergriffen hat, zu einem Verlust traditioneller Eigenmittel für den Unionshaushalt gekommen ist(248). Die zentrale Frage des vorliegenden Klagegrundes ist demnach, wie die Höhe dieses Verlusts zu bestimmen ist.
253. Vor der Sachprüfung dieser Frage halte ich es für angebracht, auf die verfahrensrechtlichen Einwände einzugehen, mit denen das Vereinigte Königreich geltend macht, zum einen fehlten der Kommission und dem Gerichtshof die Zuständigkeit für die Veranschlagung und die Feststellung der traditionellen Eigenmittel, für die die Mitgliedstaaten zuständig seien (Abschnitt 1), und zum anderen sei die vorliegende Klage in Wirklichkeit eine Schadensersatzklage, so dass die Kommission den direkten Kausalzusammenhang zwischen der konkreten Vertragsverletzung des Mitgliedstaats und dem dadurch verursachten Schaden nachweisen müsse (Abschnitt 2).
a) Einleitende Bemerkungen
1) Zur Zuständigkeit der Kommission für die Veranschlagung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln und der des Gerichtshofs für die Entscheidung über diese Frage
254. Das Vereinigte Königreich macht geltend, wenn die anderen Methoden, die in einem früheren Stadium der Abfolge der Verfahren nach den Art. 70 bis 74 des Zollkodex der Union(249) zur Bestimmung des Zollwerts vorgesehen seien, nicht angewandt werden könnten(250), sei allein der Mitgliedstaat dafür zuständig, anstelle der gewöhnlichen, auf dem Transaktionswert einer Ware beruhenden Methode eine subsidiäre Methode(251) anzuwenden, die in Art. 74 Abs. 3 des Zollkodex der Union und Art. 31 des Zollkodex der Gemeinschaften vorgesehen sei, und so den Zollwert der betreffenden Waren auf der Grundlage der verfügbaren Daten und unter Einsatz „sinnvoller Hilfsmittel“ zu bestimmen(252). Dafür bedürfe es einer Reihe komplexer Entscheidungen und schwieriger methodischer Festlegungen seitens der nationalen Behörden, die insoweit über einen weiten Beurteilungsspielraum verfügten.
255. Ich vermag diesem auf die Anwendung der Zollbestimmungen gestützten Verteidigungsvorbringen nicht zu folgen, da ich mit der Kommission der Ansicht bin, dass die Verwendung der OLAF‑Methodik als Instrument zur Schätzung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln nicht auf die Bestimmung des Zollwerts der eingeführten Waren im Sinne dieser Bestimmungen zielt, für die allein die Mitgliedstaaten zuständig sind(253). Nach den Art. 69 bis 74 des Zollkodex der Union muss nämlich der Mitgliedstaat den Zollwert der Waren bestimmen und dafür erforderlichenfalls auf die nachrangigen Methoden zurückgreifen(254). Im vorliegenden Fall musste das Vereinigte Königreich den Zollwert der Textilien und Schuhe aus China unter Berücksichtigung der konkreten Anhaltspunkte für deren Unterbewertung bestimmen. Eine solche Zollwertbestimmung ist jedoch, wie sich aus der Prüfung des ersten Klagegrundes ergibt, nicht erfolgt. Folglich kann die Kommission diese Bewertung nicht anstelle der Mitgliedstaaten vornehmen, wenn der betreffende Mitgliedstaat es unterlassen hat, dies gemäß den vorgenannten Methoden zu tun. Ohnehin ist eine solche Zollwertbestimmung nicht mehr möglich. Dies hängt untrennbar mit der statistischen Natur der OLAF‑Methodik als Instrument zur Berechnung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln zusammen, das dazu dient, auf der Grundlage statistischer Daten die Höhe der Verluste zu bestimmen, zu denen es wegen des Verstoßes des Vereinigten Königreichs gegen die Rechtsvorschriften der Union im Bereich der traditionellen Eigenmittel gekommen ist, weil dessen Behörden nicht die geeigneten Zollkontrollen der betreffenden Waren durchgeführt haben(255), so dass die für diese geschuldeten Zölle nicht korrekt berechnet wurden.
256. Nach der vorstehend angeführten ständigen Rechtsprechung(256) besteht in der Regel ein direkter Zusammenhang zwischen der dem Mitgliedstaat vorgeworfenen Verletzung des Zollrechts der Union und dem sich daraus ergebenden Verlust an traditionellen Eigenmitteln für den Unionshaushalt. Wie der Gerichtshof insoweit bereits im Urteil vom 9. Juli 2020, Tschechische Republik/Kommission(257), entschieden hat, ist die Befugnis der Kommission, dem Gerichtshof im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage einen Streit zwischen ihr und einem Mitgliedstaat über dessen Verpflichtung, ihr einen bestimmten Betrag an Eigenmitteln der Union zur Verfügung zu stellen, zur Beurteilung vorzulegen, dem Eigenmittelsystem, wie es gegenwärtig im Unionsrecht ausgestaltet ist, immanent(258).
257. Da das Vereinigte Königreich sich im vorliegenden Fall dafür entschieden hat, der Kommission den betreffenden Betrag an traditionellen Eigenmitteln nicht innerhalb der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist zur Verfügung zu stellen, sondern sich darauf beschränkt hat, der Auffassung der Kommission zu seiner Verpflichtung hinsichtlich dieses Betrags entgegenzutreten, hat die Kommission meines Erachtens zu Recht die Ansicht vertreten, dass dieser Staat gegen seine Verpflichtungen aus der Regelung über die traditionellen Eigenmittel verstoßen habe, und eine dahin gehende Vertragsverletzungsklage erhoben. Es ist Sache der Kommission, das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung nachzuweisen und dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte zu liefern, die es diesem ermöglichen, das Vorliegen der Vertragsverletzung zu prüfen, ohne dass sich die Kommission hierfür auf irgendeine Vermutung stützen kann(259). Der Gerichtshof hat somit zu prüfen, ob die Kommission die Höhe der Eigenmittelverluste, die sie für den Zeitraum der Zuwiderhandlung geltend macht, rechtlich hinreichend dargetan hat. Folglich ist das Vorbringen des Vereinigten Königreichs zur Reihenfolge der Prüfung der Methoden, wonach der Gerichtshof zunächst die von diesem Staat vorgeschlagene Veranschlagung prüfen müsse, zurückzuweisen.
258. Das Vereinigte Königreich macht ferner geltend, wenn der Gerichtshof in einem ersten Schritt entscheiden sollte, dass die Kommission einen Verstoß gegen seine Verpflichtung zur Betrugsbekämpfung rechtlich hinreichend nachgewiesen habe(260), müsse die Kommission in einem zweiten Schritt beweisen, dass die vom Vereinigten Königreich vorgeschlagene Methodik zur Bestimmung der geschuldeten zusätzlichen Eigenmittel auf Entscheidungen und einer Beweiswürdigung beruhe, die offenkundig nicht angemessen seien. Aus dem Verhältnis zwischen den Art. 258 und 260 AEUV ergebe sich, dass die Kommission mit der Einbeziehung der Frage der Schätzung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln in den Gegenstand ihrer Klage den Rahmen einer Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV überschritten habe, die auf die Frage beschränkt sei, ob der Mitgliedstaat seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verletzt habe. In diesem Fall müsse die Kommission den Beweis für einen Rechtsverstoß anderer Art erbringen, d. h. dafür, dass die vom Vereinigten Königreich vorgenommene Veranschlagung der nicht entrichteten Abgaben offenkundig nicht angemessen sei.
259. Dieses Vorbringen lässt meiner Ansicht nach außer Betracht, dass die vorliegende Klage auf die Feststellung gerichtet ist, dass das Vereinigte Königreich gegen seine unionsrechtlichen Verpflichtungen im Bereich der Eigenmittel verstoßen hat, was notwendig bedeutet, dass die Kommission die Höhe der Verluste an diesen Mitteln und den Rechtsverstoß dartun muss. Mit einer solchen Schätzung wird nicht der eventuelle Rückgriff auf das Verfahren nach Art. 260 AEUV beeinträchtigt, falls der Mitgliedstaat nach einer Verurteilung wegen Verletzung seiner Verpflichtungen aus der Eigenmittelregelung nicht den Hauptbetrag oder die Zinsen entrichtet haben sollte. Jedenfalls stellt sich die Frage, ob der Mitgliedstaat mit der „Neubewertung“ der unterbewerteten Einfuhren angemessen gehandelt hat, im vorliegenden Fall nicht. Die vom Vereinigten Königreich für seine These betreffend die „Neubewertung“ der Waren angeführte Rechtsprechung bezieht sich auf die Verpflichtungen des Mitgliedstaats, wenn dieser bei anlässlich von Zollkontrollen aufgetretenen Zweifeln eine Bestimmung des Zollwerts der eingeführten Waren vornimmt(261). Wie bereits dargelegt, zielt die Kommission im Rahmen dieses zweiten Klagegrundes nicht darauf ab, den Zollwert der konkreten Waren zu bestimmen, sondern will auf der Grundlage statistischer Daten die Verluste an traditionellen Eigenmitteln schätzen.
260. Ferner hat das Vereinigte Königreich in seinen Auskunftsersuchen vom 22. Juni 2018 und vom 22. März 2019 die Kommission u. a. um Informationen über die Berechnung der geltend gemachten Eigenmittelverluste in Höhe von 2 679 637 088,86 Euro gebeten, um diesen Betrag neu berechnen zu können. Hierzu stelle ich fest, dass die Kommission in der Erwiderung erläutert hat, dass die angewandte Methodik und die herangezogenen Daten dem Vereinigten Königreich stets bekannt gewesen seien, u. a. weil es sich um Informationen gehandelt habe, die über die Datenbank Surveillance 2 von diesem Staat selbst gestammt hätten.
2) Zu der geltend gemachten Verpflichtung, den Schaden und den Kausalzusammenhang darzutun, und zum kontrafaktischen Szenario
261. Nach Ansicht des Vereinigten Königreichs muss die Kommission mit ihrer Klage den Anforderungen für eine Haftungsklage genügen, da sie seine Verurteilung zur Zahlung von Schadensersatz beantrage. Im vorliegenden Fall könne die Kommission aber zum einen keinen konkreten und bezifferbaren Schaden und zum anderen keinen direkten Kausalzusammenhang zwischen dem vom Vereinigten Königreich begangenen Rechtsverstoß und diesem Schaden nachweisen.
262. Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das Verfahren vor dem Gerichtshof gemäß Art. 258 AEUV ein Vertragsverletzungsverfahren und kein Haftungs- oder Schadensersatzverfahren ist. Daher muss die Kommission im Rahmen der Vertragsverletzungsklage dartun, dass das Vereinigte Königreich seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verletzt hat(262). Da die vorliegende Klage nicht auf eine Verurteilung des beklagten Staates zur Zahlung von Schadensersatz gerichtet ist, hat der Gerichtshof die vom Vereinigten Königreich vorgetragenen Gesichtspunkte zum Vorliegen des Schadens und zum Bestehen des Kausalzusammenhangs zwischen dem Verstoß gegen das Zollrecht und dem vermeintlichen Schaden nicht zu prüfen. Jedenfalls ist dieses Vorbringen des Vereinigten Königreichs in Anbetracht der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zurückzuweisen, wonach die auf Feststellung einer Vertragsverletzung gerichtete Klage objektiven Charakter hat(263). Der Verstoß gegen eine Verpflichtung aus einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts stellt nämlich schon als solcher eine Vertragsverletzung dar, so dass die Erwägung, dass dieser Verstoß keine nachteiligen Auswirkungen gehabt habe, unerheblich ist(264). Daher bin ich der Ansicht, dass die vorliegende Klage wegen der Merkmale des Vertragsverletzungsverfahrens nicht auf eine Verurteilung des beklagten Mitgliedstaats zur Zahlung von Schadensersatz gerichtet ist.
263. Die Kommission hat jedoch in der Klageschrift jedenfalls nicht den Ersatz eines Schadens beantragt. Die Auffassung des Vereinigten Königreichs, die Kommission müsse das Bestehen eines „Schadens“ dartun, dessen Bezifferung erst nach dem Nachweis eines Kausalzusammenhangs mit dem Fehlverhalten des Mitgliedstaats möglich sei, beruht nämlich meines Erachtens auf einem unrichtigen Verständnis der Klageschrift und anderer Schriftsätze des vorliegenden Verfahrens. Aus dem dritten Absatz des ersten Klageantrags geht hervor, dass die Kommission dem Vereinigten Königreich vorwirft, dem Unionshaushalt nicht die korrekten Beträge an traditionellen Eigenmitteln zur Verfügung gestellt zu haben, was zu einem Verstoß gegen die Eigenmittelbestimmungen geführt habe. Wie bereits dargelegt, müssen die Mitgliedstaaten nach den Art. 9 und 10 der Verordnung Nr. 1150/2000, denen die Art. 9 und 10 der Verordnung Nr. 609/2014 entsprechen, in Verbindung mit den Art. 2 und 8 der Beschlüsse 2007/436 und 2014/335 die Ansprüche der Union auf die traditionellen Eigenmittel feststellen, sobald die im Zollrecht vorgesehenen Voraussetzungen hinsichtlich der buchmäßigen Erfassung des Betrags und seiner Mitteilung an den Schuldner erfüllt sind.
264. Folglich geht aus der Klageschrift und zumal aus den dort angeführten unionsrechtlichen Bestimmungen eindeutig hervor, dass die Kommission dem Vereinigten Königreich vorwirft, der Union nicht die korrekt berechneten Beträge an traditionellen Eigenmitteln zur Verfügung gestellt, nicht aber, ihr einen Schaden zugefügt zu haben. Das den gerügten Rechtsverstoß (insbesondere mit der Wendung „dadurch, dass es nicht die korrekten Zollbeträge in die Buchführung aufgenommen hat und nicht den korrekten Betrag an traditionellen Eigenmitteln … bereitgestellt hat“) beschreibende Petitum der Klageschrift stellt somit seiner Natur nach einen Antrag auf Feststellung eines Verstoßes des Staates gegen seine Handlungspflicht, d. h. der Nichterfüllung seiner unionsrechtlichen Verpflichtungen und nicht eines von diesem Staat verursachten Schadens dar.
265. Was sodann das Vorbringen des Vereinigten Königreichs angeht, es müsse ein Kausalzusammenhang zwischen dem konkreten Rechtsverstoß des Mitgliedstaats und den Eigenmittelverlusten dargetan werden, hat der Gerichtshof bereits ausgeführt, dass ein „unmittelbarer Zusammenhang“ zwischen der Erhebung der aus den Zöllen fließenden Eigenmittel und der Bereitstellung dieser Mittel für den Haushalt der Union besteht(265). Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich meines Erachtens, dass die auf einen Fehler der Zollbehörden eines Mitgliedstaats zurückzuführende Nichterhebung der Zölle nicht dessen Verpflichtung in Frage stellt, die Beträge, die hätten festgestellt werden müssen, bereitzustellen und Verzugszinsen zu zahlen. Auch wenn eine unauflösbare Wechselbeziehung zwischen dem Rechtsverstoß eines Mitgliedstaats im Bereich des Zollrechts auf der einen Seite und dem Eigenmittelbetrag, der dem Unionshaushalt nicht zur Verfügung gestellt worden sein soll, auf der anderen besteht, da sich Ersterer unvermeidlich auf Letzteren auswirkt, bedeutet das nicht, das diese beiden Faktoren unter dem Gesichtspunkt eines durch das Fehlverhalten des Mitgliedstaats verursachten Schadens zu untersuchen wären. Ein Mitgliedstaat, der es unterlässt, den Anspruch der Union auf Eigenmittel festzustellen und den entsprechenden Betrag der Kommission zur Verfügung zu stellen, ohne dass eine der Voraussetzungen nach Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 oder Art. 13 Abs. 2 der Verordnung Nr. 609/2014 erfüllt ist, verstößt gegen seine unionsrechtlichen Verpflichtungen, insbesondere die aus den Art. 2 bis 8 der Beschlüsse 2000/597 und 2007/436(266). Dies wird durch die vom Vereinigten Königreich in der Klagebeantwortung angeführte Rechtsprechung bestätigt, nach der ein Fehlverhalten der Zollbehörden bei der Berechnung der geschuldeten Zölle unweigerlich Verluste an traditionellen Eigenmitteln nach sich zieht, für die die Mitgliedstaaten haften(267). In diesem Zusammenhang sind Art. 340 AEUV und die vom Vereinigten Königreich angeführte Rechtsprechung zu dieser Bestimmung nicht von Belang.
266. Etwas anderes ergibt sich meines Erachtens auch nicht aus dem vom Vereinigten Königreich und von den Streithelfern angeführten Urteil Kommission/Vereinigtes Königreich(268), denn diese Rechtssache betraf eine andere Situation, als sie dem vorliegenden Verfahren zugrunde liegt. Dort ging es um die Frage der Haftung des Vereinigten Königreichs wegen der Ausstellung von Ausfuhrbescheinigungen durch die Behörden von Anguilla, das zu den überseeischen Ländern und Hoheitsgebieten (ÜLG) gehört, unter Verstoß gegen den ÜLG-Beschluss. Die Kommission machte geltend, das Vereinigte Königreich hafte wegen der besonderen Beziehungen, die es zu seinem ÜLG unterhalte, das kein unabhängiger Staat sei, als Mitgliedstaat für die Handlungen und Sorgfaltspflichtverletzungen, die die Behörden Anguillas unter Verstoß gegen den ÜLG-Beschluss begangen hätten. Nach Ansicht des Vereinigten Königreichs gab es keine unionsrechtliche Grundlage für eine Haftung von Anguilla gegenüber der Union für die von dessen Behörden begangenen Fehler bei der Anwendung des ÜLB-Beschlusses und für den sich daraus ergebenden Verlust von Eigenmitteln, so dass auch das Vereinigte Königreich nicht allein deshalb für solche Fehler haftbar gemacht werden könne, weil es der Mitgliedstaat sei, zu dem Anguilla gehöre(269). Demnach war das zentrale Problem in jener Rechtssache die Haftung eines Mitgliedstaats der Union für das Verhalten der Behörden eines ÜLG, zu dem es besondere Beziehungen unterhält, ein Verhalten, das gegen Unionsrecht verstieß, was zum Verlust von Eigenmitteln führte. Da es in der vorliegenden Rechtssache um die eigene Haftung des Vereinigten Königreichs und nicht die einer anderen Entität geht, lassen sich folglich die Schlussfolgerungen dieses Urteils entgegen dem Vorbringen dieses Staates nicht auf die vorliegende Rechtssache übertragen.
267. Schließlich macht das Vereinigte Königreich mit einer Einrede der Unzulässigkeit geltend, die Kommission habe nicht dargetan, dass die von ihm gewählten Maßnahmen zur Bekämpfung des Betrugs durch Unterbewertung für den Unionshaushalt tatsächlich Verluste an traditionellen Eigenmitteln nach sich gezogen hätten.(270). Die These der Kommission, dass sich der Betrug durch Unterbewertung wegen des Fehlens von Risikoanalysen und wirksamer Kontrollen fortgesetzt habe, bedeute zwangsläufig, dass es bei Geltung solcher Maßnahmen keinen Handel gegeben hätte und dass die damit verbundenen Verluste an traditionellen Eigenmitteln nicht entstanden wären. Mit anderen Worten hätte es, wenn das Vereinigte Königreich die von der Kommission für geeignet gehaltenen Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung eingesetzt hätte, keine Einfuhr unterbewerteter Waren mehr gegeben, so dass dem Unionshaushalt keine nennenswerten zusätzlichen Zölle geschuldet gewesen wären. Das Vereinigte Königreich hafte nur für die Verluste für den Unionshaushalt, die der Differenz zwischen den traditionellen Eigenmitteln, die in seinem kontrafaktischen Szenario fällig gewesen wären, und denjenigen, die es tatsächlich zur Verfügung gestellt habe, entsprächen.
268. Nach ständiger Rechtsprechung ist es unerheblich, ob es in dem Fall, dass ein Verlust an traditionellen Eigenmitteln aufgrund früherer Ereignisse eingetreten ist, die auf einen Verwaltungsfehler der Behörden des Mitgliedstaats zurückzuführen sind, zu diesen Ereignissen ohne diesen Fehler und somit ohne Eigenmittelverluste hätte kommen können(271). Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass das Vereinigte Königreich über punktuelle Kontrollen(272) hinaus im Zeitraum der Zuwiderhandlung praktisch keine Kontrollen durchgeführt hat. Damit hat es eine unumkehrbare Situation geschaffen, die einen erheblichen Verlust an traditionellen Eigenmitteln zur Folge gehabt hat, der meines Erachtens festgestellt werden muss. Meiner Ansicht nach ist es nicht Sache des Gerichtshofs, darüber zu spekulieren, was geschehen wäre, wenn das Vereinigte Königreich seine unionsrechtlichen Verpflichtungen eingehalten hätte. Eine kontrafaktische Analyse, wie sie das Vereinigte Königreich vorschlägt, ändert nämlich nichts daran, dass dieser Verlust tatsächlich eingetreten ist und dass er hätte vermieden werden können, wenn die britischen Behörden vor der Überlassung zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr angemessene Kontrollen durchgeführt hätten. Dieses Vorbringen ist unbegründet, da die tatsächliche Situation, wie sie sich aufgrund der Verstöße gegen das Unionsrecht darstellte, zu berücksichtigen ist, nicht aber die Menge unterbewerteter Waren, die hätten eingeführt werden können, falls der Mitgliedstaat seine unionsrechtlichen Verpflichtungen erfüllt hätte. Folglich kann das auf ein solches kontrafaktisches Szenario gestützte Vorbringen auf dem Gebiet der Eigenmittel keinen Erfolg haben.
b) Zur Begründetheit
1) Zur Übersicht über die OLAF‑Methodik und zu ihrer Anwendung als Instrument zur Berechnung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln
269. Nach Ansicht der Kommission bedarf es einer Bewertung auf der Grundlage sämtlicher verfügbaren Informationen, um die Verluste an traditionellen Eigenmitteln festzustellen, da sich der korrekte Wert der unterbewerteten Waren nicht mehr anhand einer der im Zollkodex der Gemeinschaften und im Zollkodex der Union vorgesehenen Methoden bestimmen lasse. Wegen der fehlenden Kooperation des Vereinigten Königreichs gebe es keinen direkten Beweis für den Zollwert der betreffenden Waren. Die Kommission habe daher auf der Grundlage der OLAF‑Methodik eine Schätzung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln vorgenommen, die auf statistische Daten und auf das berichtigte Mittel der Preise der in die Union eingeführten Waren gestützt sei.
270. Bei der Anwendung der OLAF‑Methodik zur Bestimmung der Höhe der Verluste an traditionellen Eigenmitteln wird wie folgt vorgegangen. In einem ersten Schritt werden die Einfuhren als unterbewertet angesehen, die unter einem akzeptablen Mindestpreis (lowest acceptable price) liegen, der auf 50 % des berichtigten Durchschnittspreises auf Unionsebene (cleaned average price) festgesetzt ist. Als unterbewertete Einfuhren gelten auch die Einfuhren einer Kategorie von unter die Kapitel 61 bis 64 der Kombinierten Nomenklatur fallenden Erzeugnissen (für jeden achtstelligen Produktcode der Kombinierten Nomenklatur)(273), deren täglicher aggregierter Gesamtwert (gewichteter Tagesdurchschnitt) unter Zugrundelegung der aus der Datenbank Surveillance 2 stammenden und in der Datenbank Comex verwendeten Daten unter dem akzeptablen Mindestpreis des betreffenden Produktcodes liege(274). In einem zweiten Schritt wird die Höhe der Eigenmittelverluste für die als unterbewertet geltenden Mengen auf der Grundlage der Differenz zwischen dem angemeldeten Wert und dem berichtigten Durchschnittspreis als geschuldete zusätzliche Zölle berechnet.
271. In Ermangelung direkter Informationen über Menge und Art der unterbewerteten Einfuhren in das Vereinigte Königreich während des maßgeblichen Zeitraums beruht die Schätzung der Menge der unterbewerteten Waren, die der Klage zugrunde liegt, grundsätzlich auf dem akzeptablen Mindestpreis für die verschiedenen Produktcodes (50 % des berichtigten Durchschnittspreises)(275), während die Schätzung des Wertes der unterbewerteten Mengen anhand des berichtigten Durchschnittspreises erfolgt. Diese Methodik stützt sich zwar auf die der Kommission von den Mitgliedstaaten mittels der vorgenannten Datenbanken zur Verfügung gestellten einschlägigen Daten, so dass die in dieser Weise auf der Grundlage der OLAF‑Methodik berechneten Verluste eine rückblickende budgetäre Schätzung der Verluste für die Union darstellen, nicht aber den unmittelbaren Beweis für die den festgestellten Ansprüchen entsprechenden Beträge, die dieser Staat dem Unionshaushalt während des Zeitraums der Zuwiderhandlung hätte zur Verfügung stellen müssen(276), wenn bei der Zollabwicklung die geeigneten Kontrollen ordnungsgemäß durchgeführt worden wären.
272. Das Vereinigte Königreich macht, insoweit unterstützt von den Streithelfern, geltend, die Kommission könne zur Berechnung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln nicht die OLAF‑Methodik verwenden, da diese nur ein Instrument der Risikoanalyse sei. In diesem Rahmen tragen das Vereinigte Königreich und die Streithelfer vor, in der Klageschrift habe die Kommission die OLAF‑Methodik verwendet, um den korrekten Zollwert der unterbewerteten Waren zu bestimmen.
273. Diesem Vorbringen ist meines Erachtens nicht zu folgen.
274. Zunächst steht zum einen aufgrund der Natur der Einfuhren und des Unterlassens der britischen Zollbehörden, die fraglichen Zollkontrollen durchzuführen, außer Zweifel, dass es nach der von den nationalen Zollbehörden genehmigten Überlassung zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr im Zollgebiet der Union objektiv nicht mehr möglich ist, diese Waren zu Zollkontrollzwecken wieder zurückzuholen, selbst wenn sich nachträglich herausstellt, die Zollkontrollen nicht durchgeführt wurden oder dass sie fehlerhaft waren. Das scheint auch das Vereinigte Königreich nicht zu bestreiten(277). Folglich kann ich mich nur der Auffassung der Kommission anschließen, dass sich weder die Menge noch der Zollwert der betreffenden Waren unmittelbar beweisen lassen. Zum anderen war die OLAF‑Methodik zwar ursprünglich als ein Instrument der Risikoanalyse konzipiert und von den Mitgliedstaaten einvernehmlich gebilligt worden, um den nationalen Zollbehörden bei der Ermittlung möglicherweise unterbewerteter Waren zu helfen, doch erlaubt sie es auch, zum einen auf der Grundlage der statistischen Daten, die die Mitgliedstaaten der Kommission übermittelt haben, die Menge der mit einem Wert unterhalb der Risikoschwelle angemeldeten Waren zu bestimmen und zum anderen anhand des Kriteriums des berichtigten Durchschnittspreises den Eigenmittelbetrag zu schätzen, den der Mitgliedstaat eingezogen und dem Unionshaushalt zur Verfügung gestellt hätte, wenn er seinen Verpflichtungen aus der Regelung über die traditionellen Eigenmittel nachgekommen wäre. Daher sehe ich keinen Widerspruch darin, die OLAF‑Methodik, auch wenn sie ursprünglich als Instrument der Risikoanalyse konzipiert war, ebenfalls als Grundlage für eine Schätzung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln heranzuziehen, wenn die Einfuhren zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr im Zollgebiet der Union überlassen wurden, ohne dass bei der Überlassung geeignete Kontrollen erfolgt sind, was einen Verlust für den Unionshaushalt bedeutet.
2) Zur Heranziehung des Urteils Kommission/Portugal
275. Nach Ansicht der Kommission wird ein Vorgehen, das auf statistische Daten gegründet ist und im Rahmen der Methode zur Berechnung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln entwickelt worden ist, durch das Urteil Kommission/Portugal(278) gestützt.
276. Ich teile die Auffassung der Kommission, dass die Schätzung der Eigenmittelverluste anhand der statistischen Daten für den Gerichtshof grundsätzlich nichts Neues ist. Das von der Kommission angeführte Urteil Kommission/Portugal(279) betraf die Behandlung von über bestimmte portugiesische Zollstellen in den zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr überführten Bananen. Mit ihrer Klage hatte die Kommission die Feststellung beantragt, dass die Portugiesische Republik gegen ihre unionsrechtlichen Verpflichtungen verstoßen hatte, weil ihre Zollbehörden in den Jahren 1998 bis 2002 systematisch Anmeldungen von frischen Bananen zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr annahmen, obwohl sie wussten oder vernünftigerweise hätten wissen müssen, dass das angegebene Gewicht der Bananen nicht ihrem tatsächlichen Gewicht entsprach, und weil die portugiesischen Behörden sich weigerten, Eigenmittel in Höhe der entgangenen Einnahmen und der geschuldeten Verzugszinsen zur Verfügung zu stellen. Der Gerichtshof entschied, dass die Portugiesische Republik, da die tatsächlich als Eigenmittel der Gemeinschaften geschuldeten Beträge bereits bei der Durchführung der Einfuhrvorgänge und der darauffolgenden Zollabfertigung richtig hätten festgestellt werden können, wenn die nationalen Behörden die nötigen Kontrollen vorgenommen hätten, für den streitigen Zeitraum so zu stellen war, als hätte sie die Abgaben korrekt festgestellt und in ihren Büchern ausgewiesen(280).
277. Es ist hervorzuheben, dass der Gerichtshof das Verteidigungsvorbringen der Portugiesischen Republik, es sei ausgeschlossen, den Betrag der in den fraglichen Jahren nicht ordnungsgemäß festgestellten Eigenmittel zu beziffern, unter Hinweis darauf eindeutig verworfen hat, dass die Unmöglichkeit von Kontrollen der nicht mehr vorhandenen Waren die unvermeidliche Folge der Unterlassung der portugiesischen Behörden war. Der Gerichtshof entschied, dass es wegen dieser Unmöglichkeit in dieser Rechtssache nicht unangemessen war, den Betrag der in den fraglichen Jahren, d. h. 1998 bis 2002, auf der Grundlage der Ergebnisse der später, nämlich vom 1. August bis 31. Oktober 2003, durchgeführten Kontrollen zu beziffern(281). Allerdings hat der Gerichtshof den Antrag der Kommission auf Bestimmung des Eigenmittelbetrags, der sich aus der rechtswidrigen Zollkontrollpraxis ergab, zurückgewiesen, weil die vorgeschlagene statistische Methode einen unrichtigen Bezugsrahmen für diese Bestimmung enthielt(282).
278. Demnach bestätigt die vom Gerichtshof im Urteil Kommission/Portugal(283) getroffene Entscheidung zum einen, dass es der Kommission nicht verwehrt ist, den Vorwurf von Verstößen des Mitgliedstaats, in dem eingeführte Waren bereits zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr im Zollgebiet der Union zugelassen wurden, gegen das Zollrecht der Union auf bestimmte diese Verstöße kennzeichnende Daten stützen kann, um im Nachhinein das Ausmaß der daraus folgenden Eigenmittelverluste für den Unionshaushalt zu bestimmen. Zum anderen ist festzustellen, dass die mit diesem Urteil entschiedene Rechtssache einen ganz bestimmten zollrechtlichen Verstoß – die Hinnahme des Unterschieds zwischen dem angemeldeten Gewicht der Bananen und dem tatsächlich Gewicht einer Kiste – betraf, für den sich auf der Grundlage der genauen Daten aus den späteren Kontrollen bezüglich dieses Verstoßes relativ leicht statistische Schlüsse zum Unterschied zwischen angemeldetem und tatsächlichem Gewicht der im Zeitraum der Zuwiderhandlung eingeführten Waren ziehen ließen. Demgegenüber ist die im vorliegenden Fall gewählte Methodik zur Berechnung der entgangenen Eigenmittel durch eine Vielzahl relevanter Indikatoren gekennzeichnet, wie etwa die Menge der betrügerisch unterbewerteten Einfuhren im Verhältnis zu den gesamten Einfuhren im Zeitraum der Zuwiderhandlung und den diesen Einfuhren zuzuweisenden „angemessenen Zollwert“. Diese Indikatoren kennzeichnen somit die Auswirkung des Betrugs durch Unterbewertung der Waren auf den Unionshaushalt und allgemeiner das Ausmaß des dem Vereinigten Königreich vorgeworfenen Rechtsverstoßes und liefern weniger unmittelbare Anhaltspunkte für die Verluste an traditionellen Eigenmitteln als die statistischen Daten in der mit dem Urteil Kommission/Portugal(284) entschiedenen Rechtssache.
3) Zur grundsätzlichen Zulässigkeit des von der Kommission vorgeschlagenen Ansatzes für die Veranschlagung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln
279. Die von der Kommission vorgeschlagene OLAF‑Methodik zur Bestimmung des Ausmaßes der Verluste an traditionellen Eigenmitteln für den Unionshaushalt wirft, wie aus der vorstehenden Untersuchung hervorgeht, rechtliche Fragen der Quantifizierung der Eigenmittel auf, über die der Gerichtshof bisher noch nicht entschieden hat. Daher sind für die Feststellung, ob und inwieweit der von der Kommission vorgeschlagene methodische Ansatz den Vorgaben für eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV entspricht, meines Erachtens zum einen die von der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Beweislastkriterien und zum anderen die wesentlichen Merkmale dieses methodischen Ansatzes zu berücksichtigen.
280. Das Ziel der Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV ist nach hergebrachter Rechtsprechung, Verstöße der Mitgliedstaaten und deren Folgen tatsächlich zu beseitigen(285). Wie in diesen Schlussanträgen bereits ausgeführt(286), beruht das in dieser Bestimmung geregelte Verfahren nach ständiger Rechtsprechung auf der objektiven Feststellung des Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen seine Verpflichtungen aus dem AEU-Vertrag oder einem sekundären Rechtsakt(287). Auch das Unterlassen von Maßnahmen im Bereich der Eigenmittel stellt einen Verstoß im Sinne dieser Bestimmung dar(288). Zudem obliegt es, wie bereits dargelegt, der Kommission, die die Beweislast für das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung trägt, im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV, dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte zu liefern, die es diesem ermöglichen, das Vorliegen der Vertragsverletzung zu prüfen, ohne dass sich die Kommission hierfür auf irgendeine Vermutung stützen kann(289). Erst wenn die Kommission „genügend Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts“ in Bezug auf die Vertragsverletzung des beklagten Mitgliedstaats beigebracht hat, „obliegt [es diesem], diese Angaben und deren Folgen substanziiert zu bestreiten“(290).
281. Aus dem Vorstehenden ergibt sich meines Erachtens, dass die Kommission im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens, in dem sie einem Mitgliedstaat u. a. einen Verstoß gegen die unionsrechtlichen Bestimmungen über die Einziehung der traditionellen Eigenmittel und gegen seine Verpflichtung vorwirft, dem Unionshaushalt bestimmte Beträge zur Verfügung zu stellen, dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte zu liefern hat, die es diesem ermöglichen, das Vorliegen des dem Mitgliedstaat vorgeworfenen Verstoßes gegen seine Verpflichtung, der Union einen bestimmten Eigenmittelbetrag zur Verfügung zu stellen, zu prüfen, ohne dass sich die Kommission hierfür auf spekulative Hypothesen stützen kann. Das bedeutet auch, dass der Gerichtshof zur Bestimmung des Ausmaßes der Mittelverluste nicht, wie das Vereinigte Königreich in der Klagebeantwortung nahezulegen scheint, gehalten ist, zwischen den verschiedenen von den Parteien vorgeschlagenen Methoden zu wählen, sondern dass er nur die von der Kommission ihrer Klage zugrunde gelegte OLAF‑Methodik beurteilen muss.
282. In Anbetracht der Natur des dem Vereinigten Königreich vorgeworfenen Verstoßes gegen das Zollrecht der Union, der Gegenstand des ersten Klagegrundes des vorliegenden Vertragsverletzungsverfahrens ist, kann der Gerichtshof allerdings nicht außer Betracht lassen, dass sich aus der Darstellung des Sachverhalts dieser Rechtssache im Rahmen der Prüfung dieses Klagegrundes(291) ergibt, dass das Vereinigte Königreich, obwohl es sich des Bestehens und des Ausmaßes des Betrugs durch massive Unterbewertung von Textilien und Schuhen aus China an den Zollgrenzen der Union voll bewusst war, im Zeitraum der Zuwiderhandlung keine wirksamen Maßnahmen zur Bekämpfung dieses Zollbetrugs ergriffen, also u. a. keine Risikoanalysen durchgeführt, keine physischen Zollkontrollen vorgenommen und keine Sicherheiten von den Einführern verlangt hat. Damit hat das Vereinigte Königreich auch keine Proben zur Bestimmung des korrekten Zollwerts der im Verdacht der Unterbewertung stehenden Einfuhren entnommen, wie es der Zollkodex der Gemeinschaften und der Zollkodex der Union vorsehen. Daher sind die Bestimmung des Anteils der im Zeitraum der Zuwiderhandlung von der Unterbewertung betroffenen Waren und die Bestimmung ihres „korrekten“ Zollwerts in ihrem Kern durch den vorstehend beschriebenen Verstoß gefährdet.
283. Somit hat die Kommission in ihren Schriftsätzen zu Recht hervorgehoben, dass die Nichteinhaltung der im Zollkodex der Gemeinschaften und im Zollkodex der Union vorgesehenen Reihenfolge der Zollverfahren der entscheidende Faktor ist, der das Ausmaß der Verluste an traditionellen Eigenmitteln für den Unionshaushalt unter Zugrundelegung einer es indirekt kennzeichnenden nachträglichen statistischen Analyse bestimmt. Daher ist es nicht möglich, eine Situation wiederherzustellen, die hinsichtlich der konkreten betrügerischen Einfuhren mit dem Zollrecht der Union im Einklang steht, so dass weder die zuständigen Behörden des Vereinigten Königreichs noch die der Kommission in der Lage sind, den korrekten Zollwert gemäß den unionsrechtlichen Regeln über die Zollwertbestimmung festzustellen. Da diese Situation eine objektive Folge des Verstoßes des Mitgliedstaats selbst gegen die Zollbestimmungen ist, muss er im Fall des Bestreitens dieses Verstoßes die Verluste für den Unionshaushalt, wie sie allein auf der Grundlage einer „indirekten“ Analyse der Daten bestimmt werden, zu seinen Lasten gelten lassen, wobei für diese Bestimmung notwendig die größte Wahrscheinlichkeit spricht. Folglich ist es meines Erachtens nicht ausgeschlossen, dass die Kommission im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV das Ausmaß eines Verstoßes gegen das Recht der Eigenmittel der Union anhand einer auf statistische Daten gestützten Methodik dartut, wenn die Unmöglichkeit von Nachprüfungen die unvermeidliche Folge des Unterlassens der Zollbehörden des Mitgliedstaats ist. Diese Auslegung wird auch durch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Schutz der finanziellen Interessen der Union gestützt, die sich u. a. aus Art. 325 AEUV ergibt.
284. Allerdings sind wegen der Natur der auf statistischen Daten beruhenden OLAF‑Methodik die damit verbundenen Beweiswertprobleme nicht zu unterschätzen(292). Es darf nämlich nicht außer Acht gelassen werden, dass zur Bemessung des Ausmaßes eventueller Haushaltsverluste unterschiedliche methodische Lösungen verwendet werden und im Ergebnis zu unterschiedlichen Beträgen führen können. Die vorliegende Rechtssache veranschaulicht dieses Problem besonders gut, da Klägerin und Beklagter zur Bezifferung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln jeweils einen grundlegend anderen Ansatz als die Gegenpartei vorgelegt haben. Die Kommission selbst stellt nicht in Abrede, dass es mehrere Methoden zur Veranschlagung dieser Verluste gibt, und führt in ihren Antworten auf die schriftlichen Fragen des Gerichtshofs aus, dass die finanziellen Folgen des fraglichen Verstoßes grundsätzlich auch mit anderen Methoden der Veranschlagung dieser Verluste berechnet werden könnten. Auch wenn ich ernsthafte Zweifel an den vermeintlichen Vorteilen der OLAF‑Methodik, nämlich deren von der Kommission in ihren Schriftsätzen mehrfach herausgestellter „Robustheit“(293), habe, ist sie doch das relevante Kriterium für die Beurteilung des Beweiswerts der statistischen Methoden, und es ist festzustellen, dass das so veranschlagte Ausmaß des Verlusts für den Haushalt weitgehend von der Wahl der konkreten Methode abhängt.
285. Zudem ist zu beachten, dass die Schätzung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln auf Informationen aus den Datenbanken Surveillance 2 (Daten über die Einfuhren von Erzeugnissen der Kapitel 61 bis 64 der Kombinierten Nomenklatur aus China) und Comext (Berechnung der berichtigten Durchschnittspreise) beruht, bei denen es sich ihrer Natur um Tatsachen handelt, und dass deshalb der Endbetrag ebenfalls von methodologischen Entscheidungen abhängt, wie den Kriterien für die Bestimmung der Menge der unterbewerteten Waren und der Definition des Referenzwerts für die „Neubewertung“ dieser Waren. Diese methodologischen Entscheidungen sind ihrer Natur nach eher normative Kriterien, da sie von Entscheidungen abhängen, die das Organ getroffen hat, das die fragliche Methode entwickelt hat. Daher kann ich mich nur dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs anschließen, dass der technische Bericht, auf den sich die OLAF‑Methodik stützt, nur im Kontext eines zuvor auf der Ebene der Union-28 bestimmten „angemessenen Preises“ (fair price) gerechtfertigt ist(294). Das Problem der unterschiedlichen Bewertungskriterien und ihrer Auswirkung auf die Höhe der Verluste wird namentlich durch die schriftliche Antwort der Kommission auf die Fragen des Gerichtshofs verdeutlicht, wonach das Ergebnis der endgültigen Berechnung u. a. vom akzeptablen Mindestpreis (zwischen 10 % und 50 % des Niveaus der Durchschnittspreise)(295) abhängt und die Kommission „diesen Ansatz in Betracht gezogen“ hat. Obwohl die Kommission vorträgt, dass sich die Verluste an traditionellen Eigenmitteln für den Unionshaushalt auf insgesamt 2 092 703 277,93 Euro beliefen, wenn der akzeptable Mindestpreis auf 10 % des berichtigten Durchschnittspreises festgesetzt würde, entspricht doch dieser Betrag 78,1 % des Betrags, den die Kommission in der vorliegenden Rechtssache auf der Grundlage des auf 50 % des berichtigten Durchschnittspreises festgesetzten akzeptablen Mindestpreises fordert, was meines Erachtens nicht zu vernachlässigen ist. Somit ist festzustellen, dass die Verwendung einer auf statistische Daten gestützten Methodik mit der Möglichkeit einhergeht, unterschiedliche, aber jeweils gleich gut fundierte Bezugspunkte festzulegen, was dazu führt, dass das erzielte Ergebnis von dieser Methodik abhängt.
286. Aufgrund der vorstehenden Überlegungen bin ich der Ansicht, dass es der Kommission in einem Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV nicht verwehrt werden kann, zur Schätzung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln für den Unionshaushalt aufgrund des Verstoßes des betreffenden Mitgliedstaats gegen seine zollrechtlichen Verpflichtungen in einem Fall, in dem wegen des Unterlassens dieses Mitgliedstaats unmittelbare Beweise fehlen, ihre Klage auf eine Methodik zu stützen, die auf statistischen Daten beruht. Um Ziel und Zweck des Vertragsverletzungsverfahrens zu wahren, kann jedoch eine solche Methodik zur Schätzung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln nur zugelassen werden, soweit die Wahl einer bestimmten Methode angesichts der Besonderheiten des Einzelfalls gerechtfertigt ist, wobei die zugrunde gelegten Referenzwerte weder willkürlich noch verzerrt sein dürfen, und die Verwendung dieser Methodik eine kohärente quantitative Analyse darstellt, die auf sämtliche verfügbare Daten gestützt ist. Je begrenzter die unmittelbaren Beweise zur Stützung der zu der fraglichen Methodik gehörenden Grunddaten sind, desto vorsichtiger muss die Auswahl der von dieser Methodik verwendeten normativen Kriterien erfolgen. Dieser Aspekt ist umso wichtiger, als die Schätzung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV bewirken soll, dass sich der Mitgliedstaat für den streitigen Zeitraum so behandeln lassen muss, als hätte er die Ansprüche festgestellt und in die Buchführung aufgenommen(296). Schließlich verstärkt es die Zuverlässigkeit der gewählten Methodik zur Bestimmung der aufgrund der gerügten Vertragsverletzung eingetretenen Verluste an traditionellen Eigenmitteln, wenn diese Wahl mit Angaben dazu einhergeht, welche alternativen Methoden es gibt, zu welchen Ergebnisse diese jeweils führen und aus welchen Gründen sich die Kommission gerade für die in Rede stehende Methodik entschieden hat.
4) Zur Verwendung der auf statistischen Daten beruhenden Methodik im vorliegenden Fall
287. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich aus den Schriftsätzen der Parteien und aus den gesamten Akten ergibt, dass aufgrund der Natur des Verstoßes gegen die Zollbestimmungen nur wenige unmittelbare Beweise für die Beurteilung des Ausmaßes der Verluste an traditionellen Eigenmitteln vorliegen, die mit den Einfuhren in das Vereinigte Königreich im Zeitraum der Zuwiderhandlung zusammenhängen. Im Einzeln beschränken sich diese Beweise im Wesentlichen auf zwölf Artikel, die 2017 von den britischen Zollbehörden einer Laboruntersuchung unterzogen worden sind(297), und auf Ergebnisse von Kontrollen der chinesischen Zollverwaltung(298). Solche Beweise sind indes nicht repräsentativ für die Beurteilung des korrekten Zollwerts der betreffenden Einfuhren und das Ausmaß der Verluste an traditionellen Eigenmitteln, die dem Unionshaushalt wegen der betrügerischen Unterbewertung dieser Einfuhren entstanden sind(299). Wie im Rahmen der vorliegenden Schlussanträge bereits mehrfach dargelegt, sind es im vorliegenden Fall objektive Umstände, nämlich die Untätigkeit des Vereinigten Königreichs angesichts des bekannten Risikos unterbewerteter Einfuhren, die die Bezifferung dieser Verluste unmöglich machen. Daher teile ich die Auffassung der Kommission, dass sich der wirkliche Wert der unterbewerteten Waren nicht mehr bestimmen lässt, weil diese bereits zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr im Zollgebiet der Union überlassen worden sind, so dass sich die Höhe der Verluste an traditionellen Eigenmitteln nur anhand einer nachträglichen Schätzung im strengen Sinn berechnen lässt. Nach meinem Eindruck wird dieser Ausgangspunkt vom Vereinigten Königreich nicht wirklich bestritten, da dieses für den Fall, dass der ihm vorgeworfene Verstoß festgestellt werden sollte, seine eigene statistische Methode zur Bestimmung der etwaigen Verluste an traditionellen Eigenmitteln vorlegt.
288. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Parteien auf der Grundlage der ihnen zur Verfügung stehenden Daten darin übereinstimmen, dass es im Zeitraum der Zuwiderhandlung wegen Unterbewertung von aus China eingeführten Waren einen Zollbetrug im Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs gegeben hat und dass die Menge der unterbewerteten Einfuhren zwischen 2012 und 2016 erheblich gestiegen ist(300). Ebenso ist zwischen den Parteien unstreitig, dass die Aktion Swift Arrow(301), vergleicht man die Daten des ersten Halbjahrs 2017 mit denen des ersten Halbjahrs 2018, zu einem beträchtlichen Rückgang der Menge der in das Vereinigte Königreich eingeführten und betrügerisch unterbewerteten Erzeugnisse geführt hat, während die Menge der rechtmäßigen Einfuhren auf einem vergleichbaren Niveau geblieben ist. Auch wenn die Parteien weiter über die Auslegung dieser Tatsachen uneins sind, akzeptieren sie diese doch als solche. Die Parteien streiten auch nicht über die grundsätzliche Geeignetheit einer auf statistischen Daten beruhenden Methodik für die Beurteilung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln aufgrund eines Zollbetrugs, bei der in einem ersten Schritt die Menge der betrügerisch unterbewerteten Einfuhren während des Zeitraums der Zuwiderhandlung und sodann der „korrekte“ Zollwert dieser Waren bestimmt wird. In einem zweiten Schritt wird der Betrag der zusätzlichen Zölle anhand der Differenz zwischen dem angemeldeten und diesem „korrekten“ Wert berechnet.
289. Dagegen gehen die Ansichten der Parteien über die Grundelemente der zur Berechnung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln verwendeten Methoden völlig auseinander. Was als Erstes die Bestimmung der Menge der unterbewerteten Waren angeht, ist nach Auffassung der Kommission die Menge der Einfuhren zu berücksichtigen, die unterhalb des akzeptablen Mindestpreises, festgesetzt auf der Grundlage eines Durchschnittspreises auf der Ebene der Union-28 und der täglichen aggregierten Gesamtdaten aus der Datenbank Surveillance 2, liegen, während nach Ansicht des Vereinigten Königreichs diese Menge anhand einer „Konformitätsschwelle“ zu bestimmen ist, die nach Maßgabe der bei der Einfuhr in das Vereinigte Königreich angemeldeten Werte festgelegt wird und bei deren Unterschreiten die betreffenden Erzeugnisse unterbewertet sein können(302). Was als Zweites den Referenzwert für die „Neubewertung“ der unterbewerteten Waren betrifft, ist dies nach Ansicht der Kommission die Differenz zwischen dem angemeldeten Wert und dem berichtigten Durchschnittspreis für die Union-28, während das Vereinigte Königreich die Auffassung vertritt, dass die unterhalb der „Konformitätsschwelle“ liegenden Artikel durch Berechnung der Differenz zwischen dem angemeldeten Wert (je Artikel) und diesem Schwellenwert „neu bewertet“ werden könnten. Der Unterschied zwischen den methodischen Ansätzen führt zu einem enormen Unterschied im Ergebnis der Schätzung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln. Auf der Grundlage der OLAF‑Methodik schätzt die Kommission, dass ihr ein Betrag von 2 679 637 088,86 Euro (Bruttobetrag abzüglich der Einziehungskosten) als traditionelle Eigenmittel hätte zur Verfügung gestellt werden müssen. Demgegenüber schätzt das Vereinigte Königreich diesen Betrag in einem ersten Schritt auf 217 646 623 GBP(303), vor einem den Zahlungsaufforderungen C18 Breach entsprechenden Abzug(304). In einem zweiten Schritt setzt es diesen Betrag auf 143 115 553 GBP herab, wovon 44 296 285 GBP für die Zahlungsaufforderungen C18 Breach abzuziehen seien. Zusammengefasst besteht einer der wichtigsten Unterschiede zwischen den von den Parteien vorgeschlagenen Methoden darin, dass der Ansatz der Kommission von den Durchschnittspreisen auf der Ebene der gesamten Union ausgeht, während sich die britische Methode allein auf die Verwendung der Daten des Vereinigten Königreichs stützt.
290. Nach dieser Darstellung sind nacheinander die beiden Etappen der Methodik zu prüfen, auf die sich die Kommission für ihre Schätzung des Verlusts an traditionellen Eigenmitteln stützt, nämlich die der Bestimmung der Menge der unterbewerteten Einfuhren und die des Referenzwerts für die „Neubewertung“ dieser Einfuhren.
i) Zur Bestimmung der Menge der unterbewerteten Einfuhren
291. Das Vereinigte Königreich macht geltend, zum einen gebe es keine überzeugende Rechtfertigung für die Verwendung des von den Durchschnittspreisen für die Union-28 abgeleiteten akzeptablen Mindestpreises zur Bestimmung der Menge der unterbewerteten Waren im Zeitraum der Zuwiderhandlung. Zum anderen ergebe sich aus der Klageschrift und den schriftlichen Äußerungen der Kommission im Vorverfahren, dass die im Zeitraum November 2011 bis November 2014 festgestellten Verluste an traditionellen Eigenmitteln sich auf die zusätzlichen Zölle beschränkten, deren Zahlung die britischen Behörden mit den später aufgehobenen Zahlungsaufforderungen C18 Snake verlangt hätten.
292. In Anbetracht dieses Verteidigungsvorbringens des Vereinigten Königreichs ist die Problematik der Bestimmung der Menge der unterbewerteten Einfuhren während des Zeitraums der Zuwiderhandlung in zwei Schritten zu prüfen, indem zunächst zum Zeitraum von November 2011 bis November 2014 und sodann zu den Schätzungen der Kommission für den Zeitraum vom 1. Januar 2015 bis 11. Oktober 2017 Stellung genommen wird.
– Zum Zeitraum von November 2011 bis November 2014
293. Zum Gegenstand des Antrags betreffend den Zeitraum von November 2011 bis November 2014 hat die Kommission in Beantwortung der Fragen des Gerichtshofs erläutert, sie werfe dem Vereinigten Königreich vor, gegen seine Verpflichtungen nach der Regelung über die traditionellen Eigenmittel verstoßen zu haben, und fordere deshalb auf der Grundlage der OLAF‑Methodik bestimmte Beträge im Zusammenhang mit den unterbewerteten Einfuhren.
294. Aus Art. 120 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs und der dazu ergangenen Rechtsprechung ergibt sich, dass die Klageschrift den Streitgegenstand angeben und eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten muss und dass diese Angaben so klar und deutlich sein müssen, dass sie dem Beklagten die Vorbereitung seines Verteidigungsvorbringens und dem Gerichtshof die Wahrnehmung seiner Kontrollaufgabe ermöglichen. Folglich müssen sich die tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die eine Klage gestützt wird, zusammenhängend und verständlich unmittelbar aus der Klageschrift ergeben, und die Anträge der Klageschrift müssen eindeutig formuliert sein, damit der Gerichtshof nicht ultra petita entscheidet oder eine Rüge übergeht(305). Insbesondere muss die Klage der Kommission eine zusammenhängende und detaillierte Darlegung der Gründe enthalten, aus denen diese zu der Überzeugung gelangt ist, dass der betreffende Mitgliedstaat gegen eine der ihm nach den Verträgen obliegenden Verpflichtungen verstoßen hat. Daher sind bei einem Widerspruch in der Darlegung des von der Kommission zur Stützung ihrer Vertragsverletzungsklage geltend gemachten Klagegrundes die gestellten Anforderungen nicht erfüllt(306).
295. Im vorliegenden Fall stelle ich fest, dass die Kommission zur Veranschlagung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln in der Klageschrift ausdrücklich angegeben hat, dass der Zeitraum von November 2011 bis November 2014 „wegen der vom Vereinigten Königreich selbst festgestellten und später annullierten Schulden erfasst“ sei. Zudem macht die Kommission bei der Beschreibung der Vertragsverletzung in der Klageschrift lange Ausführungen zu dem Rechtsverstoß, der ihrer Ansicht in dem Verwaltungsfehler liegt, der mit der Aufhebung der Zahlungsaufforderungen C18 Snake begangen worden sei(307). Mit diesem Verwaltungsfehler, für den die britischen Behörden finanziell hafteten, habe das Vereinigte Königreich die Verluste an traditionellen Eigenmitteln für den Unionshaushalt verursacht. Damit wird in der Klageschrift meines Erachtens ein Zusammenhang zwischen dem dem Vereinigten Königreich zurechenbaren Verwaltungsfehler und den Verlusten an traditionellen Eigenmitteln dargetan, die dieser Staat der Kommission nach deren Ansicht zur Verfügung stellen muss. In der Erwiderung hat die Kommission dem hinzugefügt, dass „die vorliegende Vertragsverletzungsklage die vom Vereinigten Königreich im Rahmen der [Aktion] Snake festgestellten Zollschulden betrifft“.
296. Meines Erachtens hat somit die Kommission selbst mit diesen Angaben bezüglich dieses Zeitraums den Gegenstand des zweiten Klagegrundes auf die Verluste an traditionellen Eigenmitteln begrenzt, für die das Vereinigte Königreich wegen der von ihm selbst im Rahmen der Aktion Snake festgestellten Schulden haften soll, was namentlich die 23 Zahlungsaufforderungen C18 Snake umfasst, die an die Wirtschaftsbeteiligten gerichtet waren und später aufgehoben worden sind. Diese Sichtweise sehe ich durch die von der Kommission im Mahnschreiben und in der mit Gründen versehenen Stellungnahme erhobenen Rügen bestätigt. So heißt es in dem Mahnschreiben, dass „auf der Grundlage der 24 festgestellten und später annullierten Schulden die Beträge als Eigenmittel für den betreffenden Zeitraum (November 2011-2014) geschuldet sind“(308). Zu beachten ist auch, dass in der mit Gründen versehene Stellungnahme zunächst dieselbe Formulierung wie in der Klageschrift verwendet und sodann eindeutig klargestellt wird, dass, „[s]oweit das Vereinigte Königreich mit diesem Vorbringen den zeitlichen Rahmen der Zuwiderhandlung begrenzen will, … darauf hinzuweisen [ist], dass sich die Forderung der Kommission für den Zeitraum von 2011 bis zum Ende der [Aktion] Snake im Jahr 2014 auf die Beträge erstreckt, auf die sich die nachträglichen Zahlungsaufforderungen beziehen, die die britischen Behörden nach dieser Aktion erlassen und später aufgehoben haben“(309).
297. Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass hinsichtlich des Zeitraums von November 2011 bis November 2014 der Gegenstand des zweiten Klagegrundes auf die Feststellung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln begrenzt ist, für die das Vereinigte Königreich aufgrund der zusätzlichen Zollschulden haftet, die im Rahmen der Aktion Snake und namentlich der 23 Zahlungsaufforderungen C18 Snake festgestellt worden sind, die infolge eines von diesem Mitgliedstaat zu vertretenden Verwaltungsfehlers aufgehobenen worden sind(310).
– Zum Zeitraum vom 1. Januar 2015 bis 11. Oktober 2017
298. Was den Zeitraum vom 1. Januar 2015 bis 11. Oktober 2017 angeht, verwendet die Kommission zur Bestimmung der Höhe der Verluste an traditionellen Eigenmitteln und namentlich der Menge der unterbewerteten Einfuhren in der Klageschrift die OLAF‑Methodik. Nach ihrem Ansatz dient ihr die Menge der Einfuhren, die mit einem unter einer Risikoschwelle von 50 % des berichtigten Durchschnittspreises liegenden Wert angemeldet wurden, als Grundlage für die Bestimmung der Höhe dieser Verluste, die damit dem Betrag der traditionellen Eigenmittel entspricht, die das Vereinigte Königreich eingezogen und der Union zur Verfügung gestellt hätte, wenn es seinen Verpflichtungen nachgekommen wäre. Nach Ansicht des Vereinigten Königreichs ist dieses Vorgehen der Kommission willkürlich. Es wendet sich somit dagegen, jede Anmeldung von Waren unterhalb dieser Schwelle automatisch als unterbewertet anzusehen, und sieht darin lediglich einen Umstand, der Zweifel begründen kann, die zu zusätzlichen Kontrollen führen können.
299. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission im Grundsatz die Auffassung teilt, dass nicht jede eingeführte Ware, deren Wert unter dem Durchschnittspreis der Erzeugnisse derselben Kategorie liegt, grundsätzlich als definitionsgemäß unterbewertet anzusehen ist, wobei sie geltend macht, dass die OLAF‑Methodik nicht auf sämtliche in das Vereinigte Königreich eingeführten und mit einem Wert unter 50 % des berichtigten Durchschnittspreises angemeldeten Waren angewandt worden sei, sondern dass sie tägliche Aggregierungen verwende. Wenn manche Warenpartien einen unter 50 % des berichtigten Durchschnittspreises liegenden Wert hätten und andere einen Durchschnitt ergäben, der über dem akzeptablen Mindestpreis auf der Ebene der Union-28 liege, habe die Verwendung von täglichen Aggregierungen zur Folge, dass der Durchschnitt der täglichen Aggregierung über dem akzeptablen Mindestpreis liege, so dass die tägliche Aggregierung, die diese unterbewerteten Partien enthalte, nicht in die berechneten Mittelverluste einfließe(311). Diese Verwendung täglicher aggregierter Daten berge zwar die Gefahr, dass bestimmte rechtmäßige Einfuhren in die Menge der unter dem akzeptablen Mindestpreis angemeldeten Waren einbezogen würden, doch schließe die OLAF‑Methodik u. a. einen bestimmten Anteil unterbewerteter Waren aus. Mir scheint, dass das Vereinigte Königreich in seinen schriftlichen Antworten auf die Fragen des Gerichtshofs von seinem früheren Standpunkt abrückt und letztlich diesem Vorbringen der Kommission zustimmt, wenn es ausführt, der einzige Grund dafür, dass der von dieser berechnete Betrag der traditionellen Eigenmittel den nach der Methode des Vereinigten Königreichs berechneten weit übersteige, sei die Verwendung viel höherer „Neubewertungs“-Preise im Rahmen der OLAF‑Methodik(312).
300. Die unterschiedlichen Ansätze der Parteien hinsichtlich der Menge der im Zeitraum der Zuwiderhandlung eingeführten unterbewerteten Waren, die der Berechnung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln zugrunde gelegt wird, lassen sich also ganz offenkundig durch die unterschiedlichen von den Parteien gewählten Schwellenwerte erklären. Während die OLAF‑Methodik auf dem akzeptablen Mindestpreis beruht, der 50 % des berichtigten Durchschnittspreises für die Union-28 beträgt, befürwortet das Vereinigte Königreich eine Berechnung, die sich für die Bestimmung der Unterbewertungsschwelle auf von den britischen Zollbehörden gesammelte individuelle Einfuhranmeldungen stützt(313). Angesichts der Unterschiede zwischen diesen Kriterien und der Tatsache, dass sowohl mit der OLAF‑Methodik als auch mit der vom Vereinigten Königreich vorgeschlagenen Methodik dieselben Verluste, aber jeweils auf einer anderen Ebene, veranschlagt werden sollen, bin ich der Ansicht, dass die Letztgenannte einen relevanten Vergleichsbezugswert für eine kritische Beurteilung der anhand der OLAF‑Methodik berechneten unterbewerteten Einfuhrmengen im Zeitraum der Zuwiderhandlung darstellen könnte. In Beantwortung der Fragen des Gerichtshofs danach, wie es sich auf die Höhe der Eigenmittelverluste auswirken würde, wenn der britische Schwellenwert für Unterbewertung anstelle des akzeptablen Mindestpreises als Referenzwert der von der Kommission als unterbewertet angesehenen Einfuhren herangezogen würde, hat das Vereinigte Königreich ausgeführt, es habe zwar die Berechnungen der Kommission nicht genau nachvollziehen können, doch seien die Verluste an traditionellen Eigenmitteln um geschätzte 4,4 % oder 4,7 % geringer. Somit erklärt sich, wie das Vereinigte Königreich zu Recht vorgetragen hat, der enorme Unterschied in der Schätzung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln meines Erachtens hauptsächlich durch den Referenzwert für die „Neubewertung“ der unterbewerteten Waren statt durch ihre Menge(314).
301. Daraus ergibt sich, dass die Methode der Kommission die Menge der im Zeitraum der Zuwiderhandlung unterbewerteten Waren nicht eindeutig überschätzt. Unter Berücksichtigung der Länge dieses Zeitraums und der Natur des fraglichen Betrugs weichen die Standpunkte der Parteien zu diesem Faktor meines Erachtens nicht signifikant voneinander ab, denn der Unterschied von weniger als 5 % zwischen der Schätzung der Kommission und der des Vereinigten Königreichs hält sich in akzeptablen Grenzen. Daher ist den von der Kommission in der Klageschrift vorgetragenen Schätzungen der Mengen an unterbewerteten Einfuhren als Grundlage für die Bestimmung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln zu folgen.
ii) Zum Referenzwert für die Bestimmung der Höhe der Eigenmittelverluste
302. Wie in diesen Schlussanträgen bereits dargelegt, gehen die Ansichten der Parteien vor allem darüber auseinander, auf welchem Preisniveau die „Neubewertung“ der als unterbewertet geltenden Waren erfolgen muss, um die zusätzlichen Zölle zu berechnen und das Ausmaß der Verluste an traditionellen Eigenmitteln für den Unionshaushalt zu bestimmen. Nach Auffassung der Kommission muss eine solche Korrektur auf der Ebene der berichtigten Durchschnittspreise erfolgen, weil sich zum einen der Preis von Textilien und Schuhen im Lauf der Zeit nicht signifikant verändere und weil zum anderen wegen des Fehlens physischer Kontrollen und Probenahmen durch die britischen Zollbehörden auf einem statistisch repräsentativen Niveau anzunehmen sei, dass die Preise und die Qualität der unterbewerteten Waren der Verteilung der Preise entsprächen, die nicht von der Unterbewertung betroffen seien. Dagegen macht das Vereinigte Königreich geltend, diese methodische Entscheidung sei nicht gerechtfertigt, da es keinen Beweis für die Annahme gebe, dass die unterbewerteten Waren dieselben Preis- und Qualitätsmerkmale aufwiesen wie die übrigen aus China eingeführten Waren. Die festgestellten Tatsachen schienen im Gegenteil nahezulegen, dass die unterbewerteten Einfuhren auf das untere Segment des britischen Markts zielten.
303. Wie bereits dargelegt, darf der Referenzwert als normatives Kriterium nicht willkürlich sein und soll bewirken, dass sich der Mitgliedstaat für den streitigen Zeitraum so behandeln lassen muss, als hätte er die Ansprüche festgestellt und in die Buchführung aufgenommen. Meines Erachtens muss der Referenzwert im Einklang mit sämtlichen tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten des fraglichen Verstoßes stehen, da er eins der grundlegenden Kriterien für die Bestimmung des Ausmaßes der Verluste an traditionellen Eigenmitteln ist(315).
304. Zunächst ergibt sich aus der – im Übrigen der Sache nach vom Vereinigten Königreich nicht bestrittenen – Analyse der Kommission, dass die unterbewerteten Einfuhren von Textilien und Schuhen aus China zum mengenmäßig größten Teil im Rahmen des Zollverfahrens 42 erfolgt sind, dass sie also für andere Mitgliedstaaten des Zollgebiets der Union bestimmt waren. Beispielsweise wurde dem OLAF‑Bericht zufolge 2016 für 87 % der Einfuhren von Textilien und Schuhen von geringem Wert in das Vereinigte Königreich das Zollverfahren 42 genutzt, während in demselben Zeitraum nur 13 % der Einfuhren von Textilien und Schuhen aus China im Rahmen des Zollverfahrens 40 erfolgten. Diese Diskrepanz bestätigt meines Erachtens die Verlagerung von für andere Mitgliedstaaten bestimmten betrügerischen Operationen in das Vereinigte Königreich(316). Meiner Ansicht nach macht die Kommission ebenfalls zu Recht geltend, dass hinsichtlich der Einziehung der Zölle nicht innerhalb der unter diese beiden Zollverfahren fallenden Waren zu unterscheiden sei, da die verbleibenden 13 % im Zollverfahren 40 angemeldeten Einfuhren nach der Zollabwicklung im Vereinigten Königreich in andere Mitgliedstaaten hätten weiterbefördert werden können. Folglich wurde die große Mehrheit der unterbewerteten Einfuhren direkt oder indirekt in den Markt für Textilien und Schuhe der Union in ihrer Gesamtheit gelenkt und nicht spezifisch in den britischen Markt, so dass es keinen triftigen Grund gibt, sie auf der Grundlage eines anderen Referenzwerts „neu zu bewerten“ als des Wertes, der für das Preisniveau der betreffenden Erzeugnisse in der gesamten Union kennzeichnend ist.
305. Sodann geht aus den Schriftsätzen hervor, dass das Vereinigte Königreich die Verwendung des Referenzwerts, der auf den berichtigten Durchschnittspreisen beruht, die ihrerseits auf die unionsweiten Durchschnittspreise gestützt ist, mit der Begründung beanstandet, dieser berücksichtige nicht die Qualität und den Eingangsmitgliedstaat der betreffenden Waren, zumal die Kommission nicht den Beweis für den Wert der betreffenden Waren erbracht habe. Daher sei den Daten des Vereinigten Königreichs der Vorzug vor dem berichtigten Durchschnittspreis der Union zu geben. In diesem Zusammenhang ist, wie in diesen Schlussanträgen bereits dargelegt(317), der Kommission kaum ein Vorwurf daraus zu machen, dass sie keine unmittelbaren Beweise für den Wert der unterbewerteten Waren erbracht hat, da deren Fehlen die Folge der Untätigkeit der britischen Zollbehörden ist. Meines Erachtens kann in Ermangelung unmittelbarer Beweise für den Wert der betreffenden Waren ein auf statistische Daten wie die hier in Rede stehenden gestützter Beweis im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV zur Bestimmung der Eigenmittelverluste für den Unionshaushalt zugelassen werden.
306. Zu diesen Beanstandungen ist zudem darauf hinzuweisen, dass die Bestimmung des Ausmaßes der Eigenmittelverluste im vorliegenden Fall auf die Feststellung gerichtet sein muss, welchen Beitrag der betreffende Mitgliedstaat zum Unionshaushalt aufgrund der Einziehung der Zölle im Zeitraum der Zuwiderhandlung hätte leisten müssen, wenn es nicht zu den im Rahmen des ersten Klagegrundes beschriebenen Unregelmäßigkeiten gekommen wäre. Wie bereits dargelegt(318), stellen die Einnahmen aus den Einfuhrzöllen traditionelle Eigenmittel der Union dar, die dieser gemäß den Bestimmungen der Verordnungen Nrn. 1150/2000 und 609/2014 von den Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden müssen(319). Der Einziehung der Einfuhrzölle geht die Bestimmung des Zollwerts der Waren und die Berechnung der auf diese zu erhebenden Zölle voraus, zwei Schritte, die wiederum die Voraussetzung für die Überlassung der eingeführten Waren zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr im Zollgebiet der Union und ihr endgültiges Inverkehrbringen sind. Daher kann die Schätzung von durch fehlende Zollkontrollen verursachten Verlusten für den Unionshaushalt nicht auf die eventuelle Bestimmung der betreffenden Waren für den Markt eines einzelnen Mitgliedstaats und insbesondere für die nach Produktqualität unteren oder oberen Segmente dieses Marktes gestützt werden, was in Ermangelung unmittelbarer Beweise spekulativ ist, da der Zollwert der in die Union eingeführten Waren von den zuständigen Zollbehörden bestimmt wird. Folglich kann ich mich nur dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs anschließen, dass der Zollwert der Waren den Kosten ihres Erwerbs vom Ausführer entspricht, wobei dieser Wert sich nach der Natur und der Qualität der Waren und nicht nach ihrer Bestimmung richtet(320). Demnach ist es für die Bestimmung des Zollwerts der Waren bei ihrem Verbringen in das Zollgebiet unerheblich, für welchen Mitgliedstaat sie bestimmt sind, so dass die Kommission zur Bestimmung des Ausmaßes der Verluste an traditionellen Eigenmitteln aufgrund des Zollbetrugs durch Unterbewertung der Waren zu Recht nicht nach der Bestimmung der Erzeugnisse innerhalb der Union unterschieden hat(321).
307. Nur ergänzend ist zur Wahl des berichtigten Durchschnittspreises für die Union-28 als Referenzwert für die Veranschlagung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln für den Unionshaushalt ein weiteres Mal(322) zum einen darauf hinzuweisen, dass die Union eine einheitliche Zollunion bildet, so dass für den Erlass der zollrechtlichen Bestimmungen ausschließlich die Union zuständig ist. Zum anderen bestimmt die Einziehung der auf der Grundlage der Einfuhren aus Drittländern berechneten Zölle den Umfang des Unionshaushalts. Demzufolge ist meines Erachtens in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem wegen der Untätigkeit der nationalen Behörden unmittelbare Beweise für die Bestimmung des Ausmaßes der Eigenmittelverluste fehlen, der methodische Ansatz der Kommission zu bestätigen, der auf eine gemeinsame Bezugsgröße abstellt, ohne die Besonderheiten jedes einzelnen Mitgliedstaats zu berücksichtigen, wie etwa Lebensstandard und Kaufkraft seiner Bevölkerung, die für den Verkaufspreis der betreffenden Erzeugnisse in jedem einzelnen Mitgliedstaat ausschlaggebend sein können. Aus diesen Gründen bin ich der Ansicht, dass dem Ansatz der Kommission zu folgen ist, der darin besteht, als Referenzwert die berichtigten Durchschnittspreise auf der Ebene der Union heranzuziehen, die ihrerseits auf den von den Mitgliedstaaten an die gemeinsame Datenbank Surveillance 2 gemeldeten Werten beruhen(323). Dieser Referenzwert ist somit der Wert, der der Berechnung der traditionellen Eigenmittel hätte zugrunde gelegt werden müssen, die dem Unionshaushalt bei ordnungsgemäßer Anwendung des Zollrechts der Union zur Verfügung zu stellen gewesen wären. Da diese Methodik auf das Mittel der angemeldeten Preise gestützt ist, spiegelt dieser Wert die Natur und die Qualität aller im Zeitraum der Zuwiderhandlung eingeführten Erzeugnisse wider, ohne den Marktsegmenten, zu denen die betreffenden Waren gehören, irgendeinen Rang zuzuweisen. Da die Parteien nicht die Prämisse bestreiten, dass es sich bei in Rede stehenden Textilien und Schuhen aus China um Erzeugnisse mit recht stabilen Preisen handelt(324), sind die berichtigten Durchschnittspreise auf der Ebene der Union meines Erachtens als ein geeigneter und nicht willkürlicher Referenzwert für die Veranschlagung der Eigenmittelverluste für den Unionshaushalt anzusehen(325).
5) Zusammenfassung zur Veranschlagung der traditionellen Eigenmittel
308. Aufgrund der vorstehenden Überlegungen bin ich der Ansicht, dass das Vorbringen der Kommission in der Klageschrift den Gerichtshof nicht in die Lage versetzt, sich mit Gewissheit zum genauen Ausmaß der mit der vorliegenden Klage geltend gemachten Verluste an traditionellen Eigenmitteln zu äußern.
309. Was als Erstes den Zeitraum von November 2011 bis November 2014 angeht, sind Gegenstand der Klage, wie in diesen Schlussanträgen bereits dargelegt,(326) nur die den Zahlungsaufforderungen C18 Snake entsprechenden Schulden. Demzufolge kann die Kommission nur die Feststellung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln, die sich aus der Aufhebung dieses Zahlungsaufforderungen ergeben, und nicht darüber hinausgehender Verluste verlangen. Der von der Kommission in der Klageschrift gestellte Antrag bezieht sich jedoch auf Eigenmittelverluste der Union für den genannten Zeitraum in Höhe von 1 001 511 991,60 Euro(327). Wie das Vereinigte Königreich hierzu meines Erachtens zu Recht geltend macht, spiegelt dieser Betrag nicht das Vorbringen der Kommission wider, aus dem sich ergibt, dass sich ihr Antrag für den genannten Zeitraum auf die Beträge bezieht, über die die von den britischen Behörden erlassenen und später aufgehobenen Zahlungsaufforderungen C18 Snake ergangen sind. Hervorzuheben ist, dass ungeachtet dessen, dass diese Behörden den Zollwert der im Rahmen der Aktion Snake als unterbewertet ermittelten Waren anhand der berichtigten Durchschnittspreise auf Unionsebene bestimmt hatten, was ein vom Vereinigten Königreich zu vertretender Verwaltungsfehler war(328), die Schätzung der mit den Zahlungsaufforderungen C18 Snake zusammenhängenden Eigenmittelverluste jedenfalls 357 Millionen GBP nicht übersteigen kann(329). Dem Vereinigten Königreich zufolge ergibt sich aus den Zahlungsaufforderungen C18 Snake ein Betrag von 192 568 694,30 GBP(330). Dieser Widerspruch zwischen den mit den Klageanträgen geforderten Beträgen auf der einen Seite und der Begründung der Klageschrift als Grundlage für die Feststellung der Eigenmittelverluste im Zeitraum der Zuwiderhandlung lässt sich meines Erachtens nur dadurch erklären, dass die Kommission eine falsche Referenzgrundlage gewählt hat, die darin besteht, dass sie in ihre Berechnung neben den mit der Einziehung der Zahlungsaufforderungen C18 Snake zusammenhängenden Beträgen sämtliche auf der Grundlage statistischer Daten als unterbewertet angesehenen Einfuhren für diesen Zeitraum einbezogen hat. Da im vorliegenden Fall erhebliche Ungewissheiten hinsichtlich der Richtigkeit des Betrags verbleiben, den die Kommission für den Zeitraum von November 2011 bis November 2014 wegen der Eigenmittelverluste für den Unionshaushalt fordert, hat sie diesen Betrag meines Erachtens nicht rechtlich hinreichend dargetan.
310. Als Zweites ergibt sich aus dem Vorstehenden, dass die OLAF‑Methodik, die die Kommission zur Schätzung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln für den Zeitraum vom 1. Januar 2015 bis 11. Oktober 2017 angewandt hat, geeignet und nicht willkürlich ist, so dass sie zur Bestimmung der Menge der im Zeitraum der Zuwiderhandlung eingeführten Waren und des Referenzwerts für deren „Neubewertung“ herangezogen werden kann.
311. Grundsätzlich kann der Gerichtshof zwar dem Antrag der Kommission stattgeben, den Betrag der traditionellen Eigenmittel für den Zeitraum vom 1. Januar 2015 bis 11. Oktober 2017 zu beziffern, es stellt sich jedoch die Frage, ob für den Zeitraum vom 1. Mai 2015 bis 11. Oktober 2017, der den zusätzlichen Zöllen entspricht, für die ab Mai 2018 die im Rahmen der Aktion Breach ergangenen Zahlungsaufforderungen C18 Breach ergangen sind, die mit diesen Zahlungsaufforderungen verlangten Beträge in die Schätzung des Betrags einbezogen werden müssen, dessen Feststellung die Kommission beantragt. Hierzu trägt das Vereinigte Königreich vor, es habe von 27 Wirtschaftsbeteiligten Zölle in Höhe von insgesamt 25 Millionen GBP gefordert und die entsprechenden Beträge(331) in die B-Buchführung aufgenommen(332). Obwohl die Kommission von acht dieser Zahlungsaufforderungen seit Mai 2018 Kenntnis gehabt habe(333), habe sie die entsprechenden Beträge nicht bei ihrer Schätzung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln abgezogen. Die Entscheidung über diese buchmäßige Erfassung sei weder in der mit Gründen versehenen Stellungnahme noch in der Klageschrift beanstandet worden, obwohl für acht dieser Zahlungsaufforderungen C18 Breach die Aufnahme in die B‑Buchführung im Mai 2018 erfolgt sei, die Kommission davon also während des Vorverfahrens Kenntnis gehabt habe. Die Kommission entgegnet darauf, dass sich das Vereinigte Königreich während des gesamten Vorverfahrens geweigert habe, die Einzelheiten ihrer Berechnung zu übermitteln (insbesondere die verwendeten Anmeldungen, Mengen und „Neubewertungs“-Werte darzulegen), so dass sie nicht in der Lage sei, diese Einfuhren von der Gesamtmenge der Einfuhren zu trennen, die mit dem auf die täglichen aggregierten Daten aus Surveillance 2 gestützten Ansatz erfasst würden.
312. Nach ständiger Rechtsprechung kann eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV nur erhoben werden, wenn der betreffende Mitgliedstaat der mit Gründen versehenen Stellungnahme innerhalb der darin gesetzten Frist nicht nachgekommen ist(334). Das Vorliegen einer Vertragsverletzung ist folglich anhand der Lage zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf dieser Frist befand(335). Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Klagebeantwortung, ohne dass dies von der Kommission bestritten wird, dass das Vereinigte Königreich im Mai 2018 und damit vor Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 24. September 2018 gesetzten Frist acht Zahlungsaufforderungen C18 Breach erlassen hat, die den Zeitraum ab 1. Mai 2015 betrafen. Da die Kommission hiervon vor der Übermittlung der mit Gründen versehenen Stellungnahme Kenntnis hatte, hätte sie die entsprechenden Beträge in die mit Gründen versehene Stellungnahme vom 24. September 2018 aufnehmen müssen. Daher kann das Vereinigte Königreich im Hinblick auf die Berechnung des endgültigen für den Zeitraum vom 1. Mai bis 11. Oktober 2017 geschuldeten Betrags nur den Abzug dieser acht Zahlungsaufforderungen C18 Breach geltend machen. Wie in den vorliegenden Schlussanträgen mehrfach dargelegt worden ist, sind für die Frage, ob die diesen acht Zahlungsaufforderungen entsprechenden Beträge für die Zwecke des vorliegenden Verfahrens zu berücksichtigen sind, Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 609/2014 und Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1150/2000 zu beachten, wonach die Mitgliedstaaten der Kommission alle den festgestellten Abgaben entsprechenden Beträge zur Verfügung stellen müssen(336). Aus den Akten geht aber nicht hervor und wird auch von den Parteien nicht geltend gemacht, dass die fraglichen acht Zahlungsaufforderungen C18 Breach im Sinne von Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 609/2014 uneinbringlich geworden wären oder dass es sich um gemäß Art. 103 des Zollkodex der Union verjährte Forderungen handelte(337). Folglich wären nach heutigem Stand die diesen acht Zahlungsaufforderungen entsprechenden Beträge vom geschätzten Betrag der traditionellen Eigenmittel für den Zeitraum von 2015 bis 2017 abzuziehen, zumal das Vereinigte Königreich Tatsachen zu diesem Abzug vorgetragen hat(338). Meines Erachtens ist es jedoch in einem Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV nicht Sache des Gerichtshofs, sich an die Stelle der Kommission zu setzen und selbst den genauen Betrag zu berechnen, der den acht Zahlungsaufforderungen C18 Breach entspricht, oder diesen von dem von der Kommission als Eigenmittel für den Unionshaushalt geforderten Betrag „abzuziehen“.
313. Die vorstehenden Überlegungen bringen mich zu dem Schluss, dass dem zweiten Klagegrund zu folgen ist, soweit er auf die Feststellung des Verstoßes des Vereinigten Königreichs gegen die vorgenannten Bestimmungen über die Eigenmittel gerichtet ist, dass jedoch der Antrag der Kommission auf Bezifferung des Betrags der Eigenmittel zurückzuweisen ist.
314. Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, festzustellen, dass das Vereinigte Königreich für den Zeitraum von November 2011 bis November 2014 nicht den korrekten Betrag an traditionellen Eigenmitteln bezüglich der betrügerischen Einfuhren, die es im Rahmen der Aktion Snake und mit den später aufgehobenen Zahlungsaufforderungen C18 Snake festgestellt hat, zur Verfügung gestellt und damit gegen die Art. 2 und 8 der Beschlüsse 2007/436 und 2014/335 sowie Art. 2, 6, 9, 10, 11 und 17 der Verordnung Nr. 1150/2000, denen die Art. 2, 6, 9, 10, 12 und 13 der Verordnung Nr. 609/2014 entsprechen, verstoßen hat. Ich schlage jedoch vor, den im dritten Absatz des ersten Klageantrags enthaltenen Antrag in vollem Umfang zurückzuweisen, soweit er diesen Zeitraum betrifft, da die Kommission die Richtigkeit der dort genannten Beträge nicht dargetan hat.
315. Hinsichtlich des Zeitraums vom 1. Januar 2015 bis 11. Oktober 2017 komme ich zu dem Schluss, dass das Vereinigte Königreich dadurch gegen die vorgenannten Bestimmungen verstoßen hat, dass es die geschuldeten Beträge nicht zur Verfügung gestellt hat. Da jedoch der den acht Zahlungsaufforderungen C18 Breach entsprechende Betrag vom Betrag der traditionellen Eigenmittel abgezogen werden müsste und es nicht Sache des Gerichtshofs ist, den erstgenannten Betrag anstelle der Kommission zu bestimmen, kann der Betrag der traditionellen Eigenmittel für den Zeitraum vom 1. Januar 2015 bis 11. Oktober 2017 im Rahmen der vorliegenden Klage nicht bestimmt werden.
316. Wenn der Gerichtshof meinem Entscheidungsvorschlag zum zweiten Klagegrund folgt, wird die Frage des Wechselkurses, der für die Berechnung des Eigenmittelbetrags heranzuziehen ist, gegenstandslos. Daher werde ich sie im Folgenden hilfsweise und nur für den Fall kurz prüfen, dass der Gerichtshof sich für die Bezifferung des Betrags entscheiden sollte.
4. Zu den Verzugszinsen
317. Was die vom Vereinigten Königreich erhobene Einrede angeht, der Antrag der Kommission auf Verzugszinsen nach Art. 12 der Verordnung Nr. 609/2014 sei unzulässig, weil die Kommission in der mit Gründen versehenen Stellungnahme keinen Rechtsverstoß hinsichtlich der Zahlung von Verzugszinsen gerügt habe, weise ich darauf hin, dass der genannte Art. 12, dem Art. 11 der Verordnung Nr. 1150/2000 entspricht, in dieser Stellungnahme ausdrücklich erwähnt wird(339). Mit der Klageschrift wird somit entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs nicht der Gegenstand des Rechtsstreits erweitert, so dass diese Unzulässigkeitseinrede zurückzuweisen ist.
318. Nach Ansicht der Kommission war das Vereinigte Königreich wegen des unauflösbaren Zusammenhangs zwischen den Verpflichtungen zur Feststellung der Eigenmittel der Union und ihrer fristgemäßen Gutschrift auf dem Konto der Kommission auf der einen Seite und der zur Zahlung von Verzugszinsen auf der anderen(340) nach Art. 12 der Verordnung Nr. 609/2014 zur Zahlung dieser Zinsen verpflichtet. Gemäß dem Wortlaut dieser Bestimmung werde der Betrag dieser Zinsen erst dann berechnet, wenn das Vereinigte Königreich den Betrag der Hauptforderung zur Verfügung gestellt und damit den Verzug bei der Gutschrift der Beträge der traditionellen Eigenmittel auf diesem Konto beendet habe. Das Vereinigte Königreich hält den Antrag auf Verzugszinsen für unzulässig, weil verfrüht, da diese Verpflichtung zur Zahlung von Verzugszinsen erst zu einem späteren Zeitpunkt entstehe. Wie bereits dargelegt(341), besteht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein unlösbarer Zusammenhang zwischen der Verpflichtung zur Feststellung der Eigenmittel der Gemeinschaften, der Verpflichtung zu deren Gutschrift auf dem Konto der Kommission innerhalb der gesetzten Frist und schließlich der Verpflichtung zur Zahlung von Verzugszinsen. Die Verpflichtung zur Gutschrift der Eigenmittel und die Verpflichtung zur Zahlung von Verzugszinsen wegen verspäteter Gutschrift stehen im Verhältnis Hauptschuld und akzessorische Schuld zueinander(342). Wenn der Gerichtshof dem zweiten Klagegrund folgt und befindet, dass das Vereinigte Königreich gegen seine Verpflichtungen zur Feststellung und Gutschrift der Eigenmittel verstoßen hat, ist dieser Staat folglich zur Zahlung von Verzugszinsen verpflichtet. Der Vollständigkeit halber weise ich darauf hin, dass die Parteien sich darüber einig zu sein scheinen, dass bei Zahlung der in Rede stehenden Beträge durch das Vereinigte Königreich die Obergrenze von 16 % nach Art. 1 Abs. 6 der Verordnung 2016/804 anzuwenden ist(343).
D. Zur Verletzung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV
319. Die Rüge eines Verstoßes gegen die Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV ist meines Erachtens eigenständig zu prüfen, soweit es um das Vorbringen der Kommission geht, es seien keine Informationen übermittelt worden(344). Mit dieser Rüge wirft die Kommission dem Vereinigten Königreich nämlich vor, sich geweigert zu haben, ihr zum einen eine Kopie der rechtlichen Beurteilung, die zur Aufhebung der Zahlungsaufforderungen C18 Snake geführt habe, oder irgendeinen sonstigen Anhaltspunkt für den Inhalt dieser Beurteilung und zum anderen alle zur Bestimmung der daraus folgenden Verluste an traditionellen Eigenmitteln nötigen Gesichtspunkte zu übermitteln. Dieses Vorbringen ist jedoch unabhängig von dem von der Kommission im Rahmen des ersten Klagegrundes vorgebrachten Argument, das Unterlassen von Zollkontrollmaßnahmen stelle einen Verstoß gegen die Verpflichtung der Zollbehörden dar, Maßnahmen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union zu treffen.
320. Nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit sind die Mitgliedstaaten bekanntlich verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten(345). Nach dieser Bestimmung müssen die Mitgliedstaaten der Kommission die Erfüllung ihrer Aufgaben erleichtern, die gemäß Art. 17 Abs. 1 EUV insbesondere darin bestehen, für die Anwendung der Verträge sowie der von den Organen aufgrund der Verträge getroffenen Bestimmungen Sorge zu tragen(346).
321. Im vorliegenden Fall geht zum ersten Vorwurf der Kommission(347) aus den Akten hervor, dass diese das Vereinigte Königreich aufgefordert hatte, ihr eine Kopie der rechtlichen Beurteilung zu übermitteln, mit der die Aufhebung der Zahlungsaufforderungen C18 Snake gerechtfertigt wurde(348). In der Antwort vom 22. Juni 2018 auf die mit Gründen versehene Stellungnahme gab das Vereinigte Königreich an, die Annullierung der Schulden sei in völliger Unabhängigkeit von dem zuständigen Prüfer entschieden worden(349), ohne dass dieser sich auf irgendeine rechtliche Beurteilung – eine solche existiere im Übrigen nicht – gestützt habe. Stattdessen hätten die nationalen Behörden sich auf die Vorlage von Kopien einiger der ergangenen Annullierungsschreiben beschränkt. Die fragliche rechtliche Beurteilung habe die gegen verschiedene Wirtschaftsbeteiligte eingeleiteten Liquidierungsverfahren betroffen, sie habe jedoch nicht zur Aufhebung der Zahlungsaufforderungen C18 Snake geführt.
322. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass im besonderen Kontext der Offenlegung von Zolldokumenten die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet sind, der Kommission ihre Aufgabe, für die Anwendung des Vertrags Sorge zu tragen, zu erleichtern und ihr auch die Angaben zur Feststellung der ordnungsgemäßen Zahlung der Eigenmittel zur Verfügung zu stellen(350). Auch wenn die in Rede stehende rechtliche Beurteilung für die Prüfung der Rechtsgrundlage für die Aufhebungsentscheidung des zuständigen Prüfers nicht relevant gewesen sein sollte, folgt daraus meines Erachtens, dass die Kommission den Mitgliedstaat zu Recht zur Vorlage dieses Dokuments aufgefordert hat, da aus den Akten hervorgeht, dass dieser dessen Existenz mehrfach eingeräumt hatte(351). Zu betonen ist auch, dass die Kommission sich ihre Ansicht, dass die rechtliche Beurteilung der Aufhebung der Zahlungsaufforderungen C18 Snake zugrunde liege, zwar aufgrund der vom Vereinigten Königreich gegebenen Erläuterungen gebildet hat, dass sie aber die Aufforderung zur Überlassung des fraglichen Dokuments, das die traditionellen Eigenmittel der Union und damit den Unionshaushalt betraf, wegen der Nichteinziehung der nach diesen Zahlungsaufforderungen geschuldeten Beträge ausgesprochen hat. Der Umstand, dass sich später herausstellte, dass die Aufhebung der Zahlungsaufforderungen C18 Snake auf anderen Gründen beruhte, ändert meines Erachtens nichts daran, dass die Kommission zu dieser Aufforderung im Rahmen ihrer vorstehend umschriebenen Aufgabe berechtigt war.
323. Ich stelle fest, dass die Parteien nicht grundsätzlich darüber streiten, dass das Vereinigte Königreich die fragliche rechtliche Beurteilung nicht vorgelegt hat. Dieses räumt die Nichtvorlage ein, macht aber geltend, selbst wenn die Zahlungsaufforderungen C18 Snake auf der Grundlage dieser rechtlichen Beurteilung und nicht einer unabhängigen Entscheidung des zuständigen Prüfers aufgehoben worden wären, sei diese Beurteilung doch jedenfalls durch das Berufsgeheimnis geschützt und es könne keine Ausnahme vom grundlegenden Schutz ihres vertraulichen Charakters geben. Es bestehe nur die Verpflichtung, der Kommission die sachdienlichen Dokumente „in angemessener Weise“ zur Verfügung zu stellen(352), so dass sie dieses Dokument der Kommission nicht habe übermitteln müssen.
324. Dem ist meines Erachtens nicht zu folgen. Wie die Kommission zutreffend ausgeführt hat, ergibt sich dieses Verständnis aus einer unrichtigen Auslegung des vom Vereinigten Königreich angeführten Urteils Kommission/Italien(353). In dieser Rechtssache hatte die Kommission die Italienische Republik nämlich aufgefordert, eine Aufstellung sämtlicher in Rede stehender Beträge einschließlich der Bezeichnungen der zugrunde liegenden Zolldokumente vorzulegen. Mit der Erwägung, dass die Kommission bei der Anforderung von Dokumenten in angemessener Weise vorgehen muss, ist der Gerichtshof auf das Vorbringen des betreffenden Mitgliedstaats eingegangen, es bedürfe „erheblicher Vorbereitungen“, um der Aufforderung der Kommission nachzukommen, weshalb er ihr „innerhalb der festgesetzten Frist“ nicht Folge leisten könne(354). Daher ist dieses Urteil meines Erachtens für die vorliegende Rechtssache nicht relevant, und ich stelle fest, dass es nicht die Problematik der Offenlegung von unter das Berufsgeheimnis fallenden Dokumenten behandelt.
325. Was das Verteidigungsvorbringen des Vereinigten Königreichs angeht, die in Rede stehende rechtliche Beurteilung sei durch das „Berufsgeheimnis“ geschützt, das ihr vertraulichen Charakter verleihe, bin ich der Ansicht, dass der Beklagte nicht dargetan hat, aus welchem Grund ein Dokument, das von den Dienststellen von HMRC unter Einschaltung eines Prüfers, der ebenfalls dieser Behörde anzugehören scheint(355), erstellt worden ist, selbst wenn es unter das „Berufsgeheimnis“ fiele, nicht der Kommission sollte übermittelt werden können. Da die in Rede stehende rechtliche Beurteilung nämlich an eine Dienststelle derselben Behörde gerichtet war, fällt sie wohl unter die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu hausinternen Gutachten(356). Nach ständiger Rechtsprechung kann sich zudem ein Mitgliedstaat nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen, um die Nichteinhaltung der aus dem Unionsrecht folgenden Verpflichtungen zu rechtfertigen(357). Folglich kann sich das Vereinigte Königreich zur Rechtfertigung der Nichtbeachtung seiner Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit nicht auf derartige Schwierigkeiten berufen, um seine Entscheidung zu rechtfertigen, der Kommission nicht die Dokumente betreffend die Zahlungsaufforderungen C18 Snake zu übermitteln.
326. Was den zweiten Vorwurf der Kommission betreffend die Verletzung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit(358) betrifft, wonach das Vereinigte Königreich trotz wiederholter Aufforderungen durch die Kommission nicht alle nötigen Informationen zur Bestimmung der Höhe der sich aus den Zahlungsaufforderungen C18 Snake ergebenden Eigenmittelverluste vorgelegt habe, so tritt dieser Staat diesem Vorbringen nach meinem Eindruck nicht wirklich entgegen. Zudem ergibt sich aus den Akten, dass das Vereinigte Königreich erst im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens auf dieses Vorbringen eingegangen ist. Angesichts dessen ist festzustellen, dass das Vereinigte Königreich gegen seine aus dem Grundsatz zu loyaler Zusammenarbeit folgenden Verpflichtungen verstoßen hat.
327. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen bin ich der Ansicht, dass das Vereinigte Königreich dadurch, dass es der Kommission nicht die in Rede stehende rechtliche Beurteilung und alle nötigen Angaben zur Bestimmung der Höhe der aus den Zahlungsaufforderungen C18 Snake folgenden Eigenmittelverluste übermittelt hat, gegen seine Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen hat.
E. Zum Verstoß gegen die Verpflichtungen aus den Rechtsvorschriften über die Mehrwertsteuer und über die Mehrwertsteuereigenmittel
328. Mit ihrem dritten Klagegrund wirft die Kommission dem Vereinigten Königreich vor, es habe gegen seine Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 310 Abs. 6 und Art. 325 AEUV sowie Art. 2 Abs. 1 Buchst. b und d, die Art. 83 und 85 bis 87 und Art. 143 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112 verstoßen. Zur Begründung macht die Kommission der Sache nach geltend, die unrichtige Bestimmung des Zollwerts der im Rahmen des Zollverfahrens 40 wie des Zollverfahrens 42 eingeführten Waren habe zu einer Verringerung der Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer geführt, so dass der Union ein Teil ihrer Eigenmittel vorenthalten worden sei.
329. Zum Zollverfahren 40 führt die Kommission aus, nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. d sowie den Art. 85 bis 87 der Richtlinie 2006/112 sei die Mehrwertsteuer vom Einfuhrmitgliedstaat zu erheben und in die Bemessungsgrundlage für diese Steuer seien der Zollwert sowie die Zölle und Nebenkosten einzubeziehen. Da die Mehrwertsteuer nicht unter Berücksichtigung des korrekten Zollwerts der eingeführten Waren erhoben worden sei, seien die entsprechenden Beträge nicht für die Bestimmung der Grundlage der Mehrwertsteuereigenmittel berücksichtigt worden.
330. Zum Zollverfahren 42 führt die Kommission aus, dem OLAF‑Bericht zufolge 2016 seien 87 % der Waren über das Vereinigte Königreich in andere Mitgliedstaaten eingeführt worden. Für die im Rahmen des Zollverfahrens 42 eingeführten Waren sei die Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer gemäß Art. 83 der Richtlinie 2006/112 der Einkaufspreis der Gegenstände oder gleichartiger Gegenstände oder mangels eines Einkaufspreises der Selbstkostenpreis, wie diese Preise zum Zeitpunkt der Bewirkung dieser Umsätze festgestellt würden. Sei der Zollwert der eingeführten Waren unrichtig, sei demgemäß auch die Berechnung der vom Bestimmungs- oder vom Versendungsmitgliedstaat zu erhebenden Mehrwertsteuer unrichtig.
331. Daraus leitet die Kommission ab, dass das Vereinigte Königreich dadurch, dass es keine Maßnahmen gegen die Unterbewertung der eingeführten Waren ergriffen habe, gegen seine Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 3 EUV sowie Art. 310 Abs. 6 und Art. 325 AEUV verstoßen und der Union dadurch, dass es die vollständige Erhebung der Mehrwertsteuer nicht sichergestellt habe, einen Teil der aus dieser Steuer fließenden Eigenmittel vorenthalten habe. Zudem müssten die Mitgliedstaaten nach Art. 143 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112, der die Bedingungen für Einfuhren im Rahmen des Zollverfahrens 42 festlege, alle geeigneten Maßnahmen ergreifen, um die Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen. Folglich habe das Vereinigte Königreich dadurch, dass es solche Maßnahmen nicht ergriffen habe, die Fähigkeit der anderen Mitgliedstaaten zur Erhebung der Mehrwertsteuer beeinträchtigt und müsse dafür haften.
332. Das Vereinigte Königreich macht demgegenüber geltend, der Forderung der Kommission fehle jede rechtliche Grundlage. Weder die Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 noch Art. 4 Abs. 3 EUV implizierten eine Haftung eines Mitgliedstaats für die Verluste an traditionellen Eigenmitteln oder an Mehrwertsteuereigenmitteln, die anderen Mitgliedstaaten entstünden. Zudem sei die Kommission, die sich auf die Berufung auf die allgemeinen Pflichten zu loyaler Zusammenarbeit und zur Betrugsbekämpfung beschränke, nicht in der Lage, die genaue Rechtsgrundlage für eine Haftung eines Mitgliedstaats für die Erhebung der Mehrwertsteuer außerhalb seiner Grenzen in einem anderen Mitgliedstaat anzugeben. Folgte man der These der Kommission, ließe sich im Übrigen nicht bemessen, in welchem Maße ein Mitgliedstaat für den Eigenmittelverlust haften sollte, der aufgrund einer von ihm zu vertretenden Pflichtverletzung in einem anderen Mitgliedstaat entstehe.
333. Das Vereinigte Königreich weist ferner darauf hin, dass gemäß Art. 83 der Richtlinie 2006/112 die Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer auf im Rahmen des Zollverfahrens 42 eingeführte Waren auf dem Kaufpreis beruhe, der dem Endabnehmer im Bestimmungsmitgliedstaat in Rechnung gestellt werde. Dieser zweite Staat habe die ordnungsgemäße Erklärung der Mehrwertsteuer auf diese Erwerbsvorgänge zu überprüfen und sie sicherzustellen. Folglich sei der von der Kommission behauptete Kausalzusammenhang nicht nachgewiesen. Schließlich ergebe sich aus dem Tatsachenvortrag der Kommission in keiner Weise, dass das Vereinigte Königreich durch sein Verhalten andere Mitgliedstaaten an der Erhebung der Mehrwertsteuer gehindert habe.
334. Hierzu ist in einem ersten Schritt näher auf das rechtliche System der Mehrwertsteuereigenmittel einzugehen (Abschnitt 1), und in einem zweiten Schritt sind nacheinander die jeweils die Zollverfahren 40 (Abschnitt 2) und 42 (Abschnitt 3) betreffenden Rügen zu untersuchen.
1. Zum rechtlichen System der Bereitstellung der Mehrwertsteuereigenmittel für den Unionshaushalt
335. Zur Schaffung eines Binnenmarkts, in dem der Wettbewerb nicht verfälscht und der freie Warenverkehr sichergestellt ist, hat der Unionsgesetzgeber die Regeln über die Umsatzsteuer mittels eines Mehrwertsteuersystems harmonisiert, bei der es sich eine die meisten Wirtschaftsbereiche erfassende Verbrauchsteuer handelt. In diesem Sinn sieht die Richtlinie eine gemeinsame Regel für die Steuerbemessungsgrundlage vor. Nach Art. 73 dieser Richtlinie umfasst die Bemessungsgrundlage, auf die der Mehrwertsteuersatz angewandt wird, „alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen“(359). Über diesen Grundsatz hinaus gelten für die Steuerbemessungsgrundlage besondere Bestimmungen, u. a. für den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen(360) oder die Einfuhr von Gegenständen(361).
336. Gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2007/436 und Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2014/335 umfassen die Eigenmittel der Union neben den traditionellen Eigenmitteln die Einnahmen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes(362) auf die nach Unionsvorschriften bestimmte harmonisierte Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer ergeben. Dieser einheitliche Satz ist ein „Abrufsatz“ für diese Mittel und kein Steuersatz, da er keine Steuerpflichten für den Steuerzahler schafft, sondern nur die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, den der Union von ihnen geschuldeten Betrag von jeder beliebigen Einnahmequelle ihres Haushalts abzuführen(363).
337. Zur Bemessungsgrundlage für diese Eigenmittel, die von der in der Richtlinie 2006/112 vorgesehenen Steuerbemessungsgrundlage zu unterscheiden ist, sieht Art. 3 der Verordnung Nr. 1553/89 der Sache nach vor, dass die Grundlage der Mehrwertsteuereigenmittel in der Weise berechnet wird, dass die gesamten von dem Mitgliedstaat in diesem Jahr getätigten Mehrwertsteuernettoeinnahmen durch den Satz geteilt werden, zu dem diese Steuer in dem betreffenden Jahr erhoben wird, oder, wenn in einem Mitgliedstaat mehrere Mehrwertsteuersätze angewandt werden, durch den gewogenen mittleren Mehrwertsteuersatz(364).
338. Mit diesem System der Eigenmittel soll somit hinsichtlich der Mehrwertsteuermittel eine Verpflichtung für die Mitgliedstaaten geschaffen werden, einen Teil der von ihnen als Mehrwertsteuer erhobenen Beträge der Union als Eigenmittel zur Verfügung zu stellen(365).
339. Folglich besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuereinnahmen unter Beachtung des einschlägigen Unionsrechts und der Bereitstellung der entsprechenden Mehrwertsteuermittel für den Haushalt der Union, da jedes Versäumnis bei der Erhebung Ersterer potenziell zu einer Verringerung Letzterer führt(366). Somit müssen die Mitgliedstaaten eine wirksame Erhebung der Eigenmittel der Union garantieren, indem sie auch Eigenmittel beitreiben müssen, die dem Haushalt der Union durch Betrug entzogen wurden(367).
340. Für den Mehrwertsteuerbereich ergibt sich u. a. aus den Art. 2 und 273 der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV, dass die Mitgliedstaaten nicht nur die allgemeine Verpflichtung haben, alle gesetzgeberischen und administrativen Maßnahmen zu ergreifen, um die Erhebung der gesamten in ihrem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu erheben, sondern auch Betrug bekämpfen müssen(368). Wie bereits dargelegt(369), verpflichtet zudem Art. 325 AEUV die Mitgliedstaaten, rechtswidrige Handlungen, die gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtet sind, mit abschreckenden und wirksamen Maßnahmen zu bekämpfen und insbesondere zur Bekämpfung von Betrug(370), der gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtet ist, die gleichen Maßnahmen zu ergreifen, die sie zur Bekämpfung von Betrug treffen, der gegen ihre eigenen finanziellen Interessen gerichtet ist(371).
341. Angesichts der vorstehenden Ausführungen habe ich kaum Zweifel, dass im vorliegenden Fall des Unterlassens geeigneter Maßnahmen zur Bekämpfung des Betrugsrisikos und zur Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Bewertung der eingeführten Waren(372) unter dem Gesichtspunkt der Mehrwertsteuereigenmittel einen Verstoß gegen Art. 325 AEUV, mit dem Art. 4 Abs. 3 EUV konkretisiert wird(373), darstellen kann, der geeignet ist, die finanziellen Interessen der Union zu beeinträchtigen. Allerdings ergibt sich aus der vorstehend angeführten Rechtsprechung, dass zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuereinnahmen durch einen Mitgliedstaat und der Bereitstellung der Mehrwertsteuermittel für den Unionshaushalt nur ein potenzieller Zusammenhang besteht. Folglich ist meines Erachtens anhand der Regeln, die jeweils für die im vorliegenden Fall anwendbaren Zollverfahren gelten, zu prüfen, ob dem Unionshaushalt ein Teil der Mehrwertsteuereigenmittel konkret dadurch vorenthalten worden ist, dass die Behörden des Vereinigten Königreichs in der im Rahmen der Behandlung des ersten Klagegrundes beschriebenen Weise die Durchführung der Zollkontrollen unterlassen haben.
2. Zur Rüge betreffend den Verlust an Mehrwertsteuereigenmitteln im Rahmen des Zollverfahrens 40
342. Das Zollverfahren 40 entspricht dem Fall, dass aus einem Drittland eingeführte Waren unmittelbar zum zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr überlassen werden(374). Gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112 gehört die Einfuhr von Gegenständen zu den der Mehrwertsteuer unterliegenden Umsätzen. Nach Art. 85 dieser Richtlinie, ist „[b]ei der Einfuhr von Gegenständen … die Steuerbemessungsgrundlage der Betrag, der durch die geltenden Gemeinschaftsvorschriften als Zollwert bestimmt ist“. Diese Steuerbemessungsgrundlage wird nach den Regeln angepasst, die in den Art. 86 und 87 der Richtlinie 2006/112 enthalten sind(375). Nach Art. 70 Abs. 1 des Zollkodex der Union(376) ist der Zollwert „der Transaktionswert, das heißt der für die Waren bei einem Verkauf zur Ausfuhr in das Zollgebiet der Union tatsächlich gezahlte oder zu zahlende Preis“. Daraus ergibt sich, dass mit Art. 85 der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit Art. 70 Abs. 1 des Zollkodex der Union in die Steuerbemessungsgrundlage alles einbezogen werden soll, was den Wert des Gegenstands für dessen Endverbraucher bestimmt(377).
343. Vor diesem Hintergrund steht fest, dass das Vereinigte Königreich aufgrund dessen, dass es nicht die geeigneten Maßnahmen zur Bekämpfung des Zollbetrugs ergriffen hat, die Regeln für die Bestimmung der Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer bei den Wareneinfuhren im Rahmen des Zollverfahrens 40 nicht anwenden konnte. Zu prüfen bleibt jedoch, ob die aus dieser Steuer fließenden Eigenmittel hierdurch konkret berührt worden sind. Dazu macht die Kommission, die das Vorliegen der gerügten Vertragsverletzung zu beweisen hat(378), allgemein geltend, die Verkürzung der Mehrwertsteuereigenmittel folge ipso facto aus der Unterbewertung des Zollwerts der eingeführten Waren.
344. Meines Erachtens wird mit diesem Vorbringen jedoch ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Unterlassen des Vereinigten Königreichs und einer etwaigen Verringerung der Mehrwertsteuereigenmittel nicht hinreichend bewiesen. Wie nämlich bereits dargelegt(379), wird die Grundlage der Mehrwertsteuereigenmittel anhand der gesamten von dem Mitgliedstaat getätigten Mehrwertsteuernettoeinnahmen, geteilt durch den Mehrwertsteuersatz, berechnet. Für die eingeführten Waren hängen die gesamten Nettoeinnahmen jedoch nicht nur vom Zollwert der Gegenstände ab, sondern auch vom Verkaufspreis, der dem Endabnehmer in Rechnung gestellt wird. Der Betrag der Mehrwertsteuereigenmittel bleibt somit gleich, wenn der Endabnehmer einen Kaufpreis gezahlt hat, der dem tatsächlichen Zollwert des Gegenstands entspricht. Demgemäß folgt aus der bloßen Feststellung der Unterbewertung des Zollwerts der eingeführten Waren nicht automatisch eine Verringerung der Bemessungsgrundlage für die Berechnung der Mehrwertsteuereigenmittel.
345. Unter diesen Umständen können meines Erachtens die allgemeinen Ausführungen der Kommission zur Begründung ihrer Ansicht, dass der Union hinsichtlich der Einfuhren von Gegenständen im Rahmen des Zollverfahrens 40 ein Teil der Mehrwertsteuereigenmittel vorenthalten worden sei, allein keinen hinreichenden Beweis dafür darstellen. Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, diesen Antrag der Kommission zurückzuweisen.
3. Zur Rüge betreffend den Verlust an Mehrwertsteuereigenmitteln im Rahmen des Zollverfahrens 42
346. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass dem OLAF‑Bericht zufolge 87 % der Gesamtmenge der 2016 eingeführten Waren unter das Zollverfahren 42 fielen(380).
347. Wie in diesen Schlussanträgen bereits dargelegt, entspricht das Zollverfahren 42 dem Fall, dass bei der Einfuhr feststeht, dass die eingeführten Waren für einen anderen Mitgliedstaat bestimmt sind(381). In diesem Fall wird die Mehrwertsteuer im Bestimmungs- und nicht im Einfuhrmitgliedstaat geschuldet. Diese Befreiung ergibt sich aus Art. 143 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112, wonach die Mitgliedstaaten die Einfuhr von Gegenständen von der Steuer befreien, die von einem Drittgebiet oder einem Drittland aus in einen anderen Mitgliedstaat als den Mitgliedstaat der Beendigung der Versendung oder Beförderung versandt oder befördert werden, sofern die Lieferung dieser Gegenstände durch den gemäß Art. 201 dieser Richtlinie als Steuerschuldner bestimmten oder anerkannten Importeur bewirkt wird und gemäß ihrem Art. 138 befreit ist. Die Befreiung von der Mehrwertsteuer nach Art. 143 der Richtlinie 2006/112 beruht also auf dem Umstand, dass auf die Einfuhr eine innergemeinschaftliche Lieferung folgt, die ihrerseits gemäß Art. 138 dieser Richtlinie steuerbefreit ist.
348. Wie sich ferner aus Art. 68 der Richtlinie 2006/112 ergibt, tritt der Steuertatbestand zu dem Zeitpunkt ein, zu dem der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen bewirkt wird, gemäß Abs. 2 dieses Artikels also „zu dem Zeitpunkt …, zu dem die Lieferung gleichartiger Gegenstände innerhalb des Mitgliedstaats als bewirkt gilt“. Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass sich der Begriff „Lieferung von Gegenständen“ nicht auf die Eigentumsübertragung in den im anwendbaren nationalen Recht vorgesehenen Formen bezieht, sondern jede Übertragung eines körperlichen Gegenstands durch eine Partei umfasst, die die andere Partei ermächtigt, über diesen Gegenstand faktisch so zu verfügen, als wäre sie sein Eigentümer(382).
349. Zu den innergemeinschaftlichen Lieferungen schließlich geht aus den Art. 76 und 83 der Richtlinie 2006/112 hervor, dass die Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer der Einkaufspreis der Gegenstände oder gleichartiger Gegenstände oder mangels eines Einkaufspreises der Selbstkostenpreis ist, wie diese Preise zum Zeitpunkt der Bewirkung dieser Umsätze festgestellt werden.
350. Im vorliegenden Fall erscheint es mir schwierig, dem Vorbringen der Kommission zu folgen, dass sich die unrichtige Bestimmung des Zollwerts der eingeführten Waren auf den Betrag der der Union zur Verfügung gestellten Mehrwertsteuereigenmittel ausgewirkt habe. Angesichts der vorgenannten Regeln für Umsätze im Rahmen des Zollverfahrens 42 ist dieser unmittelbare Zusammenhang, den die Kommission im Übrigen in ihren Schriftsätzen nicht untermauert, meines Erachtens aus zwei Gründen nicht nachgewiesen. Zum einen korreliert die Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer für unter dieses Verfahren fallende Waren nicht mit dem Zollwert der eingeführten Gegenstände, sondern mit deren Kaufpreis im Bestimmungsmitgliedstaat. Zum anderen ist im Rahmen des Zollverfahrens 42 die gesamte Mehrwertsteuer in dem Mitgliedstaat zu erheben und zu entrichten, in den die Waren letztlich geliefert werden.
351. Hinzu kommt, dass die systemische Schwäche des Zollverfahrens 42 es verbietet, einen einzigen Mitgliedstaat für den Verlust von Mehrwertsteuereigenmitteln haften zu lassen. Hierzu weise ich darauf hin, dass der Rechnungshof in seinem Sonderbericht 13/2011 zur Kontrolle des Zollverfahrens 42 festgestellt hat, dass die Anwendung des Zollverfahrens 42 zu erheblichen Einnahmeausfällen geführt habe, die auf 2 200 Millionen Euro zu schätzen seien(383), und die unzureichenden Kontrollen der sieben geprüften Mitgliedstaaten beklagt hat(384). Der Rechnungshof empfahl u. a., die Übermittlung maßgeblicher Daten innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern und ein gemeinsames EU-Risikoprofil für Einfuhren im Wege des Zollverfahrens 42 einzuführen(385). In seinem Sonderbericht 24/2015 zur Bekämpfung des innergemeinschaftlichen Mehrwertsteuerbetrugs hat der Rechnungshof das Fortbestehen dieser Schwierigkeiten festgestellt und ausgeführt, dass „die von der Kommission vorgenommenen rechtlichen Verbesserungen bezüglich des Zollverfahrens 42 sowie die Weiterverfolgung der im Sonderbericht des Hofes Nr. 13/2011 ausgesprochenen Empfehlungen … positiv zu bewerten [sind, dass jedoch] die Betrugsbekämpfung durch eine bei der aktuellen Prüfung in den Mitgliedstaaten ermittelte mangelhafte Umsetzung und Fälle von Verstößen gegen die Vorschriften behindert [wird]“(386). Hierbei hat der Rechnungshof darauf hingewiesen, dass es in den meisten besuchten Mitgliedstaaten keine wirksamen Gegenkontrollen zwischen Zoll- und Steuerdaten gebe und dass Probleme hinsichtlich Genauigkeit, Vollständigkeit und Zeitnähe der Daten bestünden(387). Diese Feststellungen führen mich ebenfalls zur Zurückweisung der These der Kommission, das Vereinigte Königreich habe mit seinen Unterlassungen die anderen Mitgliedstaaten an der vollständigen Erhebung der Mehrwertsteuer gehindert.
352. Unter diesen Umständen und ungeachtet der Unterlassungen des Vereinigten Königreichs bei der Bestimmung des Zollwerts der in Rede stehenden Waren kann in Ermangelung eines unmittelbaren Zusammenhangs diesem Staat keine Verringerung der Mehrwertsteuereigenmittel aufgrund der Umsätze im Rahmen des Zollverfahrens 42 zur Last gelegt werden. Daher sollte der Gerichtshof meines Erachtens den dahin gehenden Antrag der Kommission zurückweisen.
353. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, den dritten Klagegrund sowohl hinsichtlich der Rüge des Verlusts von Mehrwertsteuereigenmitteln im Rahmen des Zollverfahrens 40 als auch hinsichtlich der des Verlusts von Mehrwertsteuereigenmitteln im Rahmen des Zollverfahrens 42 zurückzuweisen.
VII. Kosten
354. Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Nach Art. 138 Abs. 3 dieser Verfahrensordnung trägt, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt, jede Partei ihre eigenen Kosten. Der Gerichtshof kann jedoch entscheiden, dass eine Partei außer ihren eigenen Kosten einen Teil der Kosten der Gegenpartei trägt, wenn dies in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt erscheint. Da die Kommission die Verurteilung des Vereinigten Königreichs zur Tragung der Kosten beantragt hat und dieses mit seinem Vorbringen im Wesentlichen unterlegen ist, sind dem Vereinigten Königreich in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls neben seinen eigenen Kosten vier Fünftel der Kosten der Kommission aufzuerlegen. Letztere trägt ein Fünftel ihrer Kosten.
355. Gemäß Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung, nach dem Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten tragen, haben das Königreich Belgien, die Republik Estland, die Hellenische Republik, die Republik Lettland, die Portugiesische Republik und die Slowakische Republik ihre eigenen Kosten zu tragen.
VIII. Ergebnis
356. Aus den vorstehend dargelegten Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:
1. Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland hat dadurch, dass es im Zeitraum der Zuwiderhandlung keine Maßnahmen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union ergriffen und nicht die korrekten Beträge der Zölle für bestimmte Einfuhren von Textilien und Schuhen aus China buchmäßig erfasst hat, gegen seine Verpflichtungen aus Art. 325 AEUV, Art. 13 und Art. 220 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften in der durch die Verordnung (EG) Nr. 648/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 1. April 2005 geänderten Fassung, den Art. 3 und 46 sowie Art. 105 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union, Art. 248 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1335/2003 der Kommission vom 25. Juli 2003 geänderten Fassung und Art. 244 der Durchführungsverordnung (EU) 2015/2447 der Kommission vom 24. November 2015 mit Einzelheiten zur Umsetzung von Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union verstoßen.
2. Das Vereinigte Königreich hat dadurch, dass es der Union nicht den korrekten Betrag der traditionellen Eigenmittel im Zusammenhang mit diesen Einfuhren zur Verfügung gestellt hat, gegen seine Verpflichtungen aus den Art. 2 und 8 des Beschlusses 2014/335/EU, Euratom des Rates vom 26. Mai 2014 über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union und des Beschlusses 2007/436/EG, Euratom, des Rates vom 7. Juni 2007 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften, den Art. 2, 6, 9, 10, 12 und 13 der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 609/2014 des Rates vom 26. Mai 2014 zur Festlegung der Methoden und Verfahren für die Bereitstellung der traditionellen, der MwSt.‑ und der BNE‑Eigenmittel sowie der Maßnahmen zur Bereitstellung der erforderlichen Kassenmittel und den Art. 2, 6, 9, 10, 11 und 17 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1150/2000 des Rates vom 22. Mai 2000 zur Durchführung des Beschlusses 94/728 verstoßen.
3. Das Vereinigte Königreich hat dadurch, dass es der Kommission nicht die rechtliche Beurteilung der Rechtsabteilung von Her Majesty’s Revenue and Customs (Steuer- und Zollverwaltung des Vereinigten Königreichs) und alle nötigen Angaben zur Bestimmung der Höhe der Eigenmittelverluste übermittelt hat, die aus den im Rahmen der Aktion Snake nachträglich ergangenen Zahlungsaufforderungen folgen, gegen seine Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen.
4. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
5. Das Vereinigte Königreich trägt neben seinen eigenen Kosten vier Fünftel der Kosten der Europäischen Kommission.
6. Die Europäische Kommission trägt ein Fünftel ihrer eigenen Kosten.
7. Das Königreich Belgien, die Republik Estland, die Hellenische Republik, die Republik Lettland, die Portugiesische Republik und die Slowakische Republik tragen ihre eigenen Kosten.