SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
PAOLO MENGOZZI
vom 17. April 2012(1)
Rechtssache C‑355/10
Europäisches Parlament
gegen
Rat der Europäischen Union
„Nichtigkeitsklage – Beschluss 2010/252 – Durchführungsbefugnisse – Beschränkungen – Verordnung Nr. 562/2006 – Schengener Grenzkodex – Grenzüberwachung“
1. Im vorliegenden Verfahren beantragt das Europäische Parlament beim Gerichtshof, den Beschluss 2010/252/EU des Rates vom 26. April 2010 zur Ergänzung des Schengener Grenzkodex(2) hinsichtlich der Überwachung der Seeaußengrenzen im Rahmen der von der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union koordinierten operativen Zusammenarbeit (im Folgenden: angefochtener Beschluss)(3) für nichtig zu erklären. Für den Fall, dass der Klage stattgegeben wird, beantragt das Parlament, die Wirkungen des Beschlusses bis zum Inkrafttreten des an seine Stelle tretenden Beschlusses aufrechtzuerhalten.
I – Normativer Rahmen und angefochtener Beschluss
2. Der Schengener Grenzkodex (im Folgenden: SGK) legt u. a. die maßgebenden Rechtsvorschriften für die Grenzkontrolle von Personen fest, die die Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union überschreiten (Art. 1 Abs. 2). Gemäß seinem Art. 3 Buchst. b gilt dieser „unbeschadet der Rechte der Flüchtlinge und Personen, die um internationalen Schutz ersuchen, insbesondere hinsichtlich der Nichtzurückweisung“.
3. Der Begriff der „Außengrenzen“ wird in Art. 2 Nr. 2 festgelegt als „die Landgrenzen der Mitgliedstaaten, einschließlich der Fluss- und Binnenseegrenzen, der Seegrenzen und der Flughäfen sowie der Flussschifffahrts-, See- und Binnenseehäfen, soweit sie nicht Binnengrenzen sind“. Nach Art. 2 Nr. 10 der Verordnung Nr. 562/2006 sind „Grenzübertrittskontrollen“ die „Kontrollen, die an den Grenzübergangsstellen erfolgen, um festzustellen, ob die betreffenden Personen mit ihrem Fortbewegungsmittel und den von ihnen mitgeführten Sachen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreisen oder aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ausreisen dürfen“. Der Begriff der „Grenzüberwachung“ ist in Art. 2 Nr. 11 definiert als „die Überwachung der Grenzen zwischen den Grenzübergangsstellen und die Überwachung der Grenzübergangsstellen außerhalb der festgesetzten Verkehrsstunden, um zu vermeiden, dass Personen die Grenzübertrittskontrollen umgehen“.
4. Titel II des SGK mit der Überschrift „Außengrenzen“ besteht aus vier Kapiteln. Kapitel II enthält Bestimmungen, die die Grenzübertrittskontrollen von Personen durch die Grenzschutzbeamten, die Überwachung der Grenzen und die Einreiseverweigerung regeln sollen.
5. Die Vorschriften über die Grenzüberwachung finden sich in Art. 12. Die Absätze 1 bis 4 dieses Artikels, die den Zweck der Überwachung, die Befugnisse der Grenzschutzbeamten und die Überwachungsmodalitäten festlegen, lauten wie folgt:
„(1) Die Grenzüberwachung dient insbesondere der Verhinderung des unbefugten Grenzübertritts, der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität und der Veranlassung von Maßnahmen gegen Personen, die die Grenze unerlaubt überschreiten.
(2) Die Grenzschutzbeamten setzen zur Grenzüberwachung stationär postierte oder mobile Kräfte ein. Diese Überwachung wird in einer Weise durchgeführt, dass Personen daran gehindert und davon abgehalten werden, die Kontrollen an den Grenzübergangsstellen zu umgehen.
(3) Die Überwachung zwischen den Grenzübergangsstellen erfolgt durch Grenzschutzbeamte, deren Anzahl und Methoden bestehenden oder vorhergesehenen Gefahren und Bedrohungen anzupassen sind. Sie erfolgt unter häufigem, nicht vorhersehbarem Wechsel der Überwachungszeiten, so dass das unbefugte Überschreiten der Grenze das ständige Risiko birgt, entdeckt zu werden.
(4) Zur Durchführung der Überwachung werden stationär postierte oder mobile Kräfte eingesetzt, die ihre Aufgaben in Form von Bestreifung oder Postierung überwiegend an erkannten oder vermuteten Schwachstellen mit dem Ziel erfüllen, Personen aufzugreifen, die die Grenze unbefugt überschreiten.“
6. Art. 12 Abs. 5 in der durch Art. 1 Nr. 1 der Verordnung Nr. 296/2008(4) geänderten Fassung bestimmt:
„(5) Alle zusätzlichen Überwachungsmodalitäten, die durch Ergänzungen eine Änderung nicht wesentlicher Bestimmungen dieser Verordnung bewirken, werden gemäß dem in Artikel 33 Absatz 2 genannten Regelungsverfahren mit Kontrolle erlassen.“(5)
7. Art. 33 Abs. 2 SGK, ebenfalls geändert durch die Verordnung Nr. 296/2008, bestimmt:
„Wird auf diesen Absatz Bezug genommen, so gelten die Artikel 5a Absätze 1 bis 4 und Artikel 7 des Beschlusses 1999/468/EG [des Rates vom 28. Juni 1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse (im Folgenden: Komitologie-Beschluss)(6)] unter Beachtung von dessen Artikel 8.“
8. Der durch den Beschluss 2006/512(7) eingefügte Art. 5a des Komitologie-Beschlusses regelt einen neuen Typ der Modalitäten bei der Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse unter der Bezeichnung „Regelungsverfahren mit Kontrolle“. Auf dieses Verfahren wird bei Maßnahmen von allgemeiner Tragweite zur Änderung nicht wesentlicher Bestimmungen eines nach dem Verfahren des Art. 251 EG erlassenen Basisrechtsakts zurückgegriffen, einschließlich der Streichung einiger dieser Bestimmungen oder Hinzufügung neuer nicht wesentlicher Bestimmungen (dritter Erwägungsgrund des Beschlusses 2006/512 und Art. 2 Abs. 2 des Komitologie-Beschlusses).
9. Der angefochtene Beschluss wurde aufgrund von Art. 12 Abs. 5 SGK unter Rückgriff auf das Verfahren nach Art. 5a Abs. 4 des Komitologie-Beschlusses getroffen, das dann heranzuziehen ist, wenn die von der Kommission beabsichtigten Maßnahmen nicht mit der Stellungnahme des gemäß Art. 5a Abs. 1 eingesetzten Ausschusses im Einklang stehen oder keine Stellungnahme vorliegt(8). Nach diesem Verfahren unterbreitet die Kommission dem Rat unverzüglich einen Vorschlag für die zu ergreifenden Maßnahmen und übermittelt diesen Vorschlag gleichzeitig dem Parlament (Art. 5a Abs. 4 Buchst. a). Beabsichtigt der Rat den Erlass der vorgeschlagenen Maßnahmen, so unterbreitet er diese unverzüglich dem Parlament (Art. 5a Abs. 4 Buchst. d), das den Erlass dieser Maßnahmen „innerhalb einer Frist von vier Monaten ab Übermittlung des Vorschlags gemäß Buchstabe a mit der Mehrheit seiner Mitglieder“ ablehnen kann, wobei diese Ablehnung darin begründet sein muss, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen über die im Basisrechtsakt vorgesehenen Durchführungsbefugnisse hinausgehen oder dass diese Maßnahmen mit dem Ziel oder dem Inhalt des Basisrechtsakts unvereinbar sind oder gegen die Grundsätze der Subsidiarität oder der Verhältnismäßigkeit verstoßen (Art. 5a Abs. 4 Buchst. e). Spricht sich das Parlament innerhalb dieser Frist gegen die vorgeschlagenen Maßnahmen aus, so werden diese nicht erlassen Anderenfalls werden die Maßnahmen vom Rat erlassen (Art. 5a Abs. 4 Buchst. g).
10. Nach dem zweiten und dem elften Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hat dieser sich den Erlass zusätzlicher Regeln für die Überwachung der Seegrenzen durch Grenzschutzbeamte bei den von der − mit der Verordnung Nr. 2007/2004 (im Folgenden: Frontex-Verordnung)(9) geschaffenen − Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (im Folgenden: Agentur oder Frontex) koordinierten operativen Tätigkeiten zum Ziel gesetzt. Er besteht aus zwei Artikeln und einem in zwei Teile gegliederten Anhang, von denen der erste „Vorschriften für die von der Agentur koordinierten Maßnahmen an den Seegrenzen“ und der zweite „Leitlinien für Such- und Rettungsmaßnahmen und für die Ausschiffung im Rahmen von durch die Agentur koordinierten Maßnahmen an den Seegrenzen“ heißt. Gemäß Art. 1 ist „[d]ie Überwachung der Seeaußengrenzen im Rahmen der operativen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, die von der Europäischen Agentur … koordiniert wird, in den in Teil I des Anhangs niedergelegten Vorschriften geregelt. Diese Vorschriften und die nicht verbindlichen Leitlinien in Teil II des Anhangs sind Teil des von der Agentur für den jeweiligen Einsatz aufgestellten Einsatzplans“.
11. Teil I des Anhangs legt in Nr. 1 einige allgemeine Grundsätze fest, die sicherstellen sollen, dass die Maßnahmen der Seeüberwachung unter Beachtung der Grundrechte und des Grundsatzes der Nichtzurückweisung durchgeführt werden. Nr. 2 enthält eingehende Vorschriften über das Aufgreifen und listet die möglichen Maßnahmen auf, die „im Rahmen von Überwachungseinsätzen gegen Schiffe oder andere Wasserfahrzeuge, bei denen ein begründeter Verdacht auf Beförderung von Personen besteht, die sich den Grenzkontrollen zu entziehen versuchen, … ergriffen werden [können]“ (Nr. 2.4). Die Bedingungen für das Ergreifen solcher Maßnahmen unterscheiden sich je nachdem, ob das Schiff in den Hoheitsgewässern oder in der Anschlusszone eines Mitgliedstaats (Nr. 2.5.1) oder auf hoher See (Nr. 2.5.2) abgefangen wird. Teil II des Anhangs enthält unter Nr. 1 Vorschriften für die am Überwachungseinsatz beteiligten Einheiten bei Such- und Rettungsmaßnahmen einschließlich der Meldungen und der Übermittlung von Informationen an die örtlich zuständige Rettungsleitstelle und an die Einsatzleitstelle, und definiert einige Bedingungen für das Vorliegen von Seenot. Nr. 2 legt Einzelheiten für die Modalitäten der Ausschiffung aufgegriffener oder geretteter Personen fest.
II – Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Beteiligten
12. Mit Klageschrift, die am 12. Juli 2010 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat das Parlament die vorliegende Klage erhoben. Die Kommission ist dem Rechtsstreit als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Rates beigetreten. Die Bevollmächtigten der drei Organe haben in der Sitzung vom 25. Januar 2012 mündlich verhandelt.
13. Das Parlament beantragt, den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären und anzuordnen, dass die Wirkungen des Beschlusses seiner Ersetzung aufrechterhalten werden, bis er ersetzt wird, sowie dem Rat die Kosten aufzuerlegen.
14. Der Rat beantragt, die Klage für unzulässig zu erklären, hilfsweise, sie als unbegründet abzuweisen und dem Parlament die Kosten aufzuerlegen.
15. Die Kommission beantragt, die Klage abzuweisen und dem Parlament die Kosten aufzuerlegen.
III – Zur Klage
A – Zur Zulässigkeit
16. Der Rat erhebt in erster Linie die Einrede der Unzulässigkeit der Klage. Er macht geltend, mit dem Verzicht auf das Vetorecht gemäß Art. 5a Abs. 1 Buchst. e des Komitologie-Beschlusses habe das Parlament das Recht zur Anfechtung des angefochtenen Beschlusses beim Gerichtshof verloren. Auch wenn der angefochtene Beschluss kein Akt des Parlaments sei, könne er doch irgendwie auch diesem Organ zugerechnet werden, weil er auch infolge dessen fehlender Stellungnahme erlassen worden sei. Das Parlament könne daher für die vorliegende Klage, die sich auf die gleichen Gründe stütze – Überschreitung der Grenzen der Durchführungsbefugnisse –, die ihm erlaubt hätten, sich im Rahmen des Regelungsverfahrens mit Kontrolle dem Erlass des angefochtenen Beschlusses zu widersetzen, kein Rechtsschutzinteresse für sich in Anspruch nehmen.
17. Diese Einrede ist meines Erachtens zurückzuweisen.
18. Wie das Parlament in der mündlichen Verhandlung zu Recht bemerkt hat, ist die Zuerkennung eines vollen Klagerechts an das Parlament nach dem Vorbild des Rates und der Kommission ein Kernelement der Verfassungsarchitektur der Union und eine der entscheidenden Stufen des Prozesses der Demokratisierung ihrer Organstrukturen.
19. Der Gerichtshof hat klar bestätigt, dass die Ausübung des Klagerechts der sogenannten privilegierten Kläger weder vom Nachweis des Vorliegens eines Rechtsschutzinteresses(10) noch von der Parteistellung des Mitgliedstaats(11) oder des Organs(12) während des Verfahrens zum Erlass des angefochtenen Aktes abhängig ist.
20. Im Rahmen des Regelungsverfahrens mit Kontrolle ist das Parlament nicht verpflichtet, dem Erlass des Aktes zu widersprechen, auch wenn es der Auffassung ist, dass Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit vorliegen, die ihm die Ausübung des Vetorechts gestatten könnten. Sein Standpunkt kann indessen auch von Einschätzungen politischer Art abhängig sein, wie dies bei dem angefochtenen Beschluss anscheinend der Fall war(13), ohne dass dies den Verlust seines Rechts mit sich bringt, die Nichtigerklärung des Aktes im Anschluss an seinen Erlass zu fordern und zu erreichen. Insoweit braucht im Übrigen kaum betont zu werden, dass die Kontrolle der Rechtmäßigkeit eines Aktes über die Ausübung des Vetorechts im Verfahren seiner Annahme eben wegen dessen möglicher Abhängigkeit von Einschätzungen politischer Art nicht als Ersatz für die gerichtliche Nachprüfung angesehen werden kann.
21. Der Rat verweist darauf, dass das Parlament sein Rechtsschutzbedürfnis gegen den betreffenden Akt behalte, jedoch nicht aus denselben Gründen, die ihm erlaubt hätten, sich seinem Erlass zu widersetzen. Konkret verpflichte eine solche Einschränkung das Parlament, einen solchen Akt gestützt auf die Gründe anzugreifen, die zur Begründung der zu ihm gehörenden Durchführungsmaßnahme gehörten, ohne dass diese Gegenstand einer normalen politischen Auseinandersetzung im Gesetzgebungsverfahren gewesen sein müssten.
22. Schließlich weise ich höchst hilfsweise darauf hin, dass für die Ausübung des Vetorechts des Parlaments im Rahmen des Regelungsverfahrens mit Kontrolle eine größere Mehrheit erforderlich ist(14), als dies normalerweise für Entscheidungen des Parlaments geboten ist(15), und dass die Erhebung einer Klage beim Gerichtshof durch den Präsidenten des Parlaments in dessen Namen, wenn sie auf Empfehlung des zuständigen Ausschusses erfolgt, auch unabhängig von einer Abstimmung im Plenum des Parlaments beschlossen werden kann(16). Würde man dem Parlament das Recht vorenthalten, gegen einen im Regelungsverfahren mit Kontrolle ergangenen Akt trotz des in diesem Verfahren zum Ausdruck gekommenen Standpunkts eine Nichtigkeitsklage zu erheben, würde man damit u. a. der Parlamentsminderheit ein Schutzinstrument nehmen.
23. Aus all diesen Gründen ist die Klage meines Erachtens für zulässig zu erklären.
B – Zur Begründetheit
24. Das Parlament steht auf dem Standpunkt, dass der angefochtene Beschluss die Grenzen der gemäß Art. 12 Abs. 5 SGK übertragenen Durchführungsbefugnisse überschreitet und daher den Anwendungsbereich seiner Rechtsgrundlage verlässt. Es erhebt in diesem Zusammenhang drei Rügen. Erstens füge der angefochtene Beschluss in den SGK neue wesentliche Elemente ein. Zweitens ändere er wesentliche Elemente des SGK. Drittens gerate er in Konflikt mit dem durch die Frontex-Verordnung geschaffenen System. Diese Rügen werden im Folgenden getrennt geprüft.
25. Vor der Fortsetzung dieser Prüfung sind jedoch kurz die Etappen der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Umfang und zu den Beschränkungen der Befugnisse zur Durchführung von Gemeinschaftsakten unter den Aspekten zu durchlaufen, die im vorliegenden Fall erheblich sind.
1. Die Rechtsprechung zum Umfang und zu den Beschränkungen der Befugnisse zur Durchführung von Gemeinschaftsakten
26. Umfang und Beschränkungen der Durchführungsbefugnisse der Kommission sind vom Gerichtshof in einer Rechtsprechung umrissen worden, die in den 70er-Jahren mit dem Urteil Köster(17) begonnen hat. In der Rechtssache, die zu diesem Urteil geführt hat, hatte der Gerichtshof sich im Wege der Vorabentscheidung u. a. zur Rechtmäßigkeit des durch eine Agrarverordnung eingeführten Verwaltungsausschussverfahrens zu äußern. Bei dieser Gelegenheit hat er festgestellt, dass aufgrund der im Vertrag selbst zum Ausdruck gekommenen Unterscheidung zwischen den Maßnahmen, die ihre Grundlage unmittelbar im Vertrag selbst finden, und dem abgeleiteten Recht, das zur Durchführung dieser Maßnahmen dienen soll, der Gesetzgeber berechtigt ist, in den erstgenannten „die wesentlichen Grundzüge der zu regelnden Materie“ festzulegen, während den zweitgenannten der Erlass der Durchführungsbestimmungen überlassen bleibt, die dem „Vollzug der Prinzipien“ der Grundverordnung dienen(18). Im Urteil Rey Soda hat der Gerichtshof klargestellt, dass der Ausdruck „Durchführung“ weit auszulegen ist(19). Dieser Schluss ergab sich nach Auffassung des Gerichtshofs sowohl aus dem Tenor des seinerzeit geltenden Art. 155 des Vertrags (jetzt Art. 211 EG) und dem Gesamtzusammenhang des Vertrags als auch aus den „Anforderungen der Praxis“. Dem Gerichtshof zufolge kann sich der Rat in bestimmten Bereichen wie etwa der Gemeinsamen Agrarpolitik veranlasst sehen, der Kommission „eine weitgehende Beurteilungs- und Handlungsbefugnis“ zu übertragen. In solchen Fällen, d. h., wenn der Rat der Kommission eine weitreichende Zuständigkeit verliehen hat, sind deren Grenzen laut Gerichtshof nach den allgemeinen Hauptzielen des Basisrechtsakts und weniger nach dem Buchstaben der Ermächtigung zu beurteilen(20). Im Urteil Zuckerfabrik Franken(21) hat der Gerichtshof bei der Auslegung der Grenzen der Übertragung von im Verwaltungsausschussverfahren auszuübenden Befugnissen in einer Verordnung zur gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte bekräftigt, dass der Kommission aufgrund dieser Übertragung „die Regelung aller für die Durchführung der Grundregelung erforderlichen oder nützlichen Einzelheiten, soweit sie nicht mit dieser Regelung und den vom Rat erlassenen Durchführungsbestimmungen im Widerspruch stehen“, überlassen worden war(22). In anderen Urteilen hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Kommission innerhalb der Grenzen zu handeln hat, die sich aus dem Gesamtsystem und aus dem Zweck der Grundregelung(23) sowie aus deren Vorschriften ergeben(24).
27. Im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik hat der Gerichtshof seit dem angeführten Urteil Rey Soda der Kommission unter Anerkennung der besonderen Rolle, die sie in diesem Sektor als einziger Handlungsträger spielt, der „in der Lage ist, die Entwicklung der Agrarmärkte ständig und aufmerksam zu verfolgen und mit der durch die Situation gebotenen Schnelligkeit zu handeln“(25), weitgehende Durchführungsbefugnisse zuerkannt. Außerhalb dieses Sektors oder benachbarter Sektoren ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs indessen eher restriktiv. Im Urteil Vreugdenhil(26) zum Gemeinsamen Zolltarif hat der Gerichtshof klargestellt, dass „eine solche weite Auslegung der Befugnisse der Kommission nur im Rahmen der Regelungen über die Agrarmärkte in Betracht kommt“(27).
28. Im Urteil Deutschland/Kommission(28) hat der Gerichtshof den Begriff der wesentlichen Elemente („Hauptbestandteile“) einer Rechtsvorschrift(29) verdeutlicht, deren Definition Sache des Gesetzgebers ist. Die Rechtssache, die zu diesem Urteil geführt hat, betraf eine Klage, die gegen die Rechtmäßigkeit eines Systems von Sanktionen gerichtet war, die im Rahmen einer gemeinschaftlichen Einkommensbeihilfe anzuwenden waren, die die Kommission aufgrund einer Ermächtigung des Rates eingeführt hatte. Deutschland machte geltend, dass solche Sanktionen als wesentliche Teile der Regelung des betreffenden Sektors anzusehen seien, weil sie sich auf grundlegende Rechte der Einzelnen auswirkten, und ferner, dass die streitigen Maßnahmen nicht der Durchführung der Grundregeln, sondern deren Ergänzung dienten. Der Gerichtshof antwortete, dass als „wesentlich“ im Bereich der Landwirtschaft „nur solche Bestimmungen angesehen werden [können], durch die die grundsätzlichen Ausrichtungen der Gemeinschaftspolitik umgesetzt werden“, und dass dies im gegebenen Fall nicht für Sanktionen gelte, die eine ordnungsgemäße Verwaltung der zu ihrer Verwirklichung dienenden Gemeinschaftsmittel gewährleisten sollten. Einige Jahre später stufte der Gerichtshof als „nicht wesentlich“ eine Vorschrift in einer Verordnung des Rates zum Programm TACIS ein, die die Änderung einer Schwelle ohne Anhörung des Parlaments zuließ, weil „sie das allgemeine System der fraglichen Verordnung [nicht berührt]“(30). Erst kürzlich hat der Gerichtshof einer Klage des Parlaments gegen eine Entscheidung der Kommission über die Genehmigung eines die Sicherheit der philippinischen Grenzen betreffenden Vorhabens im Rahmen der finanziellen und technischen Hilfe zugunsten der Entwicklungsländer Asiens und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit ihnen stattgegeben. In diesem Urteil hat der Gerichtshof festgestellt, dass das mit der angefochtenen Entscheidung verfolgte Ziel, d. h. die Bekämpfung des Terrorismus und der internationalen Kriminalität, nicht zu den Zielen der Verordnung gehöre, die mit der Entscheidung habe durchgeführt werden sollen, und auch keine unmittelbare Verbindung mit ihnen aufweise(31).
29. Der dargestellten Rechtsprechung lässt sich entnehmen, dass die Durchführungsbefugnisse vor allem im Hinblick auf die Grundmerkmale der betreffenden Politik und auf den mehr oder weniger breiten Handlungsspielraum zu definieren sind, der der Kommission bei deren Verwirklichung eingeräumt wird. Die besagten Grenzen sind ferner aufgrund des Gehalts der Ermächtigungsvorschrift sowie des Inhalts und der Zielsetzung des Basisrechtsakts sowie aufgrund von dessen Gesamtsystem zu ermitteln. Die Festlegung der besagten Grenzen wie auch die Ermittlung der Wesentlichkeit oder Unwesentlichkeit der Teile der Grundregelung, die mit dem Durchführungsakt eingeführt oder geändert wurden(32), erschöpft sich bei weitem nicht in einer mechanischen Übernahme der in der Rechtsprechung verwendeten Formeln, sondern muss sich aus einer Würdigung im Licht aller vorgenannten Elemente ergeben.
2. Anwendung der Grundsätze der dargestellten Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall
30. Die einzelnen im vorhergehenden Abschnitt dargestellten Elemente werden nun im Kontext der Klage untersucht, die Gegenstand dieses Verfahrens ist.
a) Überlegungen zu dem Sachgebiet, zu dem der Grundakt und der angefochtene Beschluss gehören
31. Bei der Bereitstellung von Instrumenten für die Kontrolle der äußeren Grenzen und zur Bekämpfung der heimlichen Einwanderung ist der Gesetzgeber der Union aufgerufen, heikle Entscheidungen zu treffen, die starke Auswirkungen auf die Freiheitsrechte Einzelner haben und sich auf die Beachtung der Menschenrechte, die internationalen Pflichten der Mitgliedstaaten und deren Beziehungen sowie die der Union zu Drittstaaten auswirken können. Dies gilt nicht nur für die Festlegung der wesentlichen Ausrichtungen der Politik der Grenzsicherung, sondern auch für die Bestimmung der Maßnahmen, die diese Ausrichtungen verwirklichen sollen. Mithin ist es gerechtfertigt, dass in diesem Rahmen die Ausübung von Durchführungsbefugnissen stärker in eher technisch ausgerichtete Sektoren einzuordnen ist und demzufolge der Handlungsspielraum der Kommission weniger ausgedehnt ist(33).
32. Aus diesen Gründen bin ich der Meinung, dass der Hinweis des Rates auf die oben dargestellte Rechtsprechung des Gerichtshofs und den Umfang der Durchführungsbefugnisse, den diese der Kommission zubillige, im vorliegenden Fall mit äußerster Vorsicht zu behandeln ist.
b) Zum Gegenstand und zum Umfang der Durchführungsbefugnisse nach Art. 12 Abs. 5 SGK
33. In dieser Hinsicht ist vor allem darauf hinzuweisen, dass die italienische Fassung des Art. 12 Abs. 5 SGK die Möglichkeit des Erlasses von „ergänzenden Überwachungsmaßnahmen“ (misure di sorveglianza supplementari) anführt, während andere Sprachfassungen eine Formulierung aufweisen, die sich eher in Richtung auf „zusätzliche Maßnahmen betreffend die Ausübung der Überwachung“ bewegt(34).
34. Dies vorausgeschickt und unabhängig von der wörtlichen Bedeutung der besagten Vorschrift scheint der Gegenstand der in ihr enthaltenen Ermächtigung tatsächlich so verstanden werden zu müssen, dass es um die praktischen Modalitäten bei der Durchführung der Überwachung geht. Für dieses Verständnis sprechen sowohl die Präambel des SGK(35) als auch die der Verordnung Nr. 296/2008(36) – die mit der Einführung des Hinweises auf das Regelungsverfahren mit Kontrolle Art. 12 Abs. 5 SGK geändert hat – sowie die vorbereitenden Arbeiten zum SGK(37). In diesem Punkt scheint mir überdies im Wesentlichen Übereinstimmung zwischen Parlament und Rat zu bestehen.
35. Ihre Standpunkte weichen indessen nicht nur bei der Möglichkeit, die Maßnahmen im angefochtenen Beschluss als einfache „Durchführungsmodalitäten“ einzustufen, sondern ganz allgemein bei dem der Kommission übertragenen Handlungsspielraum voneinander ab, also beim Umfang der Ermächtigung. Das Parlament macht im Kern geltend, Art. 12 Abs. 5 erlaube lediglich das Ergreifen von Maßnahmen vorwiegend technischer Art. Der Rat meint hingegen, der Gesetzgeber habe es vorgezogen, Inhalt und Natur der zu erlassenden Vorschriften nicht festzulegen, und damit der Kommission weitgehende Durchführungsbefugnisse übertragen.
36. Der Standpunkt des Parlaments scheint mir den Umfang der Ermächtigung, um die es geht, übermäßig restriktiv auszulegen. Wie nämlich der Rat zu Recht bemerkt hat, liefern sowohl die Verwendung einer allgemeinen Formulierung als auch die Entscheidung für ein Komitologie-Verfahren, das den Erlass von Maßnahmen zur Änderung des Basisrechtsakts zulässt, obgleich es von einer durchgreifenderen Kontrolle der Modalitäten der Ausübung der Durchführungsbefugnisse begleitet wird, Indizien für die Absicht, der Kommission einen gewissen Handlungsspielraum zu gewähren.
c) Zur Zielrichtung und zum allgemeinen System der Grundregelung
37. Der Rat führt aus, im System des SGK sei die Grenzkontrolle der wesentliche Baustein der Politik der Kontrolle an den äußeren Grenzen, und der Gesetzgeber habe aus diesem Grunde im Rahmen des Verfahrens gemäß Art. 251 EG beschlossen, sie erschöpfend zu regeln, und vorgesehen, dass einige ihrer Modalitäten nur im Regelungsverfahren mit Kontrolle erlassen oder abgeändert werden könnten. Bei der Grenzkontrolle hingegen habe sich der Gesetzgeber darauf beschränkt, deren Ziele und die Grundmodalitäten festzulegen, und damit der Kommission einen weiten Handlungsspielraum beim Erlass ergänzender Maßnahmen zugestanden.
38. Verschiedene Aspekte hindern mich, dem Standpunkt des Rates zu folgen.
39. An erster Stelle ergibt sich aus dem Verordnungsvorschlag der Kommission, dass die Systematik des SGK größtenteils darauf zurückzuführen ist, dass in ihm Rechtsnormen zusammengeführt werden, die im Rahmen unterschiedlicher Rechtsinstrumente wie insbesondere dem Schengener Übereinkommen(38) und dem Gemeinsamen Handbuch für die Außengrenzen(39) bereits erlassen worden waren. Diese Instrumente sahen bereits eine eingehende Regelung der Grenzkontrollen vor und regelten einige Modalitäten bei deren Durchführung. Die Gesamtheit dieser Rechtsvorschriften ist zum Teil im Text des SGK und zum Teil in dessen Anhängen übernommen worden.
40. Zweitens findet die These, dass im System des SGK die Überwachung im Verhältnis zu den Grenzkontrollen eine dienende oder zweitrangige Rolle spiele, in der Präambel des SGK offensichtlich keine Bestätigung. Insbesondere der achte Erwägungsgrund hält es nach der Klarstellung, dass die Grenzkontrollen die Personenkontrollen an den Grenzübergangsstellen und die Überwachung zwischen diesen Grenzübergangsstellen umfassen, für notwendig, dass „die Voraussetzungen, Kriterien und Modalitäten sowohl der Kontrollen an den Grenzübergangsstellen als auch der Überwachung festgelegt werden.“ Der siebzehnte Erwägungsgrund, der die Zuweisung von Durchführungsbefugnissen an die Kommission betrifft, unterscheidet überhaupt nicht zwischen Kontrollen und Überwachung, sondern bezieht sich ganz allgemein auf „ein Verfahren …, das es der Kommission ermöglicht, bestimmte für die Grenzkontrollen geltende praktische Modalitäten anzupassen.“
41. Schließlich ergibt sich aus den Akten, die dem Erlass des SGK vorausgegangen sind und diesen vorbereitet haben sowie ganz allgemein aus anderen Instrumenten der Politik der Grenzkontrolle, in allererster Linie der Frontex-Verordnung, von der im Folgenden noch eingehender die Rede sein wird, dass die Überwachung eines der wichtigsten Instrumente dieser Politik ist(40). Art. 77 Abs. 1 Buchst. b AEUV bestimmt, dass „[d]ie Union … eine Politik [entwickelt], mit der die Personenkontrolle und die wirksame Überwachung des Grenzübertritts an den Außengrenzen sichergestellt werden soll“, wobei beiden Aspekten dieser Politik gleiches Gewicht zukommt.
42. Dies vorausgeschickt bin ich der Meinung, dass auch das in der mündlichen Verhandlung vom Vertreter des Rates mit Nachdruck vorgebrachte Argument zurückgewiesen werden muss, wonach im Licht des allgemeinen Systems des SGK und des der Kommission zustehenden Handlungsspielraums die Letztgenannte bei der Ausübung ihrer Durchführungsbefugnisse berechtigt sei, jede Maßnahme zu erlassen, die sie als sachdienlich und nützlich für die Verfolgung der Ziele ansehe, die der SGK für die Grenzüberwachung festgelegt habe, und die dessen Vorschriften nicht widerspreche.
43. Dieses Argument stützt sich auf die Prämisse, dass die gemäß Art. 12 Abs. 5 SGK zu treffenden Maßnahmen, da sie dazu bestimmt seien, bestimmte praktische Modalitäten der Durchführung der Überwachung zu regeln, gewissermaßen definitionsgemäß die wesentlichen Aspekte der Grundregelung nicht berührten, da diese dem Gesetzgeber vorbehalten seien.
44. Aus den Gründen, die ich zum Teil bereits in Nr. 38 meiner Schlussanträge darlegen konnte, ist dieser Prämisse meines Erachtens nicht zu folgen. Hier braucht nur ergänzt zu werden, dass die praktische Durchführung des Ziels, den unerlaubten Grenzübertritt zu verhindern, im konkreten Fall zu Entscheidungen führen kann, die die Einwanderungspolitik einer bestimmten Rechtsordnung tiefgreifend prägen können. Man denke z. B. an den Umfang der den Grenzwachen übertragenen Befugnisse, an die Zulassung eines Truppeneinsatzes, an die Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung der individuellen Situation der Personen, die einen unerlaubten Grenzübertritt versuchen oder dessen verdächtigt werden, an die Natur der zu treffenden Maßnahmen, wenn diese Personen angehalten werden, an die Modalitäten ihrer Entfernung und ganz allgemein an das Erfordernis, die Gesamtheit aller Maßnahmen zur Bekämpfung der heimlichen Einwanderung in Einklang mit den Vorschriften über die Menschenrechte zu bringen(41).
45. Im Gegensatz zum Rat bin ich daher nicht der Meinung, dass die Grenzen der Durchführungsbefugnisse gemäß Art. 12 Abs. 5 SGK nur auf der Grundlage der allgemeinen Ziele der Überwachung bestimmt werden können, wie sie in dieser Vorschrift festgelegt wurden.
46. Im Licht all dieser Erwägungen sind nunmehr die vom Parlament erhobenen Rügen zu prüfen.
3. Zur ersten Rüge: Der angefochtene Beschluss füge neue wesentliche Aspekte in den SGK ein.
a) Vorbringen der Beteiligten
47. Das Parlament macht erstens geltend, Teil I Nr. 2.4 des Anhangs zum angefochtenen Beschluss sehe beim Abfangen und Aufgreifen Maßnahmen vor, die über das hinausgingen, was Art. 12 SGK als Überwachungstätigkeit zulasse, und übertrage den Grenzwachen in diesem Rahmen besonders weitgehende Befugnisse, die die Ausübung eines weiten Ermessens einschlössen. Als Beispiel nennt das Parlament die Möglichkeit der „Beschlagnahme des Schiffs und Festnahme der an Bord befindlichen Personen;“ oder „Führen des Schiffs bzw. Beförderung der an Bord befindlichen Personen zu einem Drittstaat oder aber Überstellung des Schiffs bzw. der an Bord befindlichen Personen an die Behörden eines Drittstaates“ (Nr. 2.4 Buchst. d und f). Dem Parlament zufolge gestattet Art. 12 Abs. 5 SGK einzig den Erlass von Maßnahmen technischer und praktischer Art, wie sich insbesondere aus dem siebzehnten Erwägungsgrund des SGK und aus der Präambel der Verordnung Nr. 296/2008 ergebe.
48. Das Parlament führt in seiner Erwiderung weiter aus, die Vorschriften des angefochtenen Beschlusses über das Abfangen und Aufgreifen gingen über den materiellen wie räumlichen Anwendungsbereich des Begriffs der „Grenzüberwachung“ im Sinne von Art. 2 Nr. 11 SGK hinaus. Insbesondere bemerkt das Parlament unter Hinweis auf die Definition der „Seeaußengrenzen“ in der Entscheidung Nr. 574/2007(42), dass der SGK nicht die Anordnung von Überwachungsmaßnahmen gestatte, die für die Hohe See gelten sollten.
49. Zweitens macht das Parlament geltend, die Bestimmungen des Teils II des Anhangs über Such- und Rettungsmaßnahmen lägen ebenfalls außerhalb des Bereichs der Überwachungstätigkeiten im Sinne von Art. 12 SGK. Außerdem schüfen solche Bestimmungen neue Pflichten oder neue Bestimmungen im Unionsrecht, die nicht als „nicht wesentliche Bestimmungen“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 des Komitologie-Beschlusses gelten könnten. Insoweit erwähnt das Parlament die Pflicht der beteiligten Einsatzkräfte, „jedem Schiff oder jeder Person in Seenot Hilfe [zu leisten]“ (Nr. 1.1) sowie die Vorschrift, dass die Ausschiffung vorrangig in dem Drittland erfolgen sollte, von dem aus das Schiff mit den Personen in See gestochen ist (Nr. 2.1 Abs. 2). Das Parlament unterstreicht weiter, dass, anders als aus der Überschrift des Teils II des Anhangs hervorzugehen scheine, die dort festgelegten Ausrichtungen keineswegs als nicht bindend angesehen werden könnten, weil gemäß Art. 1 Satz 2 des angefochtenen Beschlusses diese Ausrichtungen „Teil des von der Agentur für den jeweiligen Einsatz aufgestellten Einsatzplans“ sind.
50. Der Rat entgegnet, Teil I Nr. 2.4 des Anhangs des angefochtenen Beschlusses zähle Maßnahmen auf, die im Verlauf von Überwachungseinsätzen getroffen werden könnten oder die auf jeden Fall den internationalen Verträgen entsprächen. Diese Maßnahmen widersprächen nicht den in Art. 12 SGK definierten Zielen der Überwachung. Zum Vorbringen des Parlaments in der Erwiderung, die Vorschriften über Abfangen und Aufgreifen gingen über den materiellen und räumlichen Anwendungsbereich des Begriffs der Überwachung hinaus, erhebt der Rat vor allem die Einrede der Unzulässigkeit, da es verspätet erfolgt sei. Außerdem sei dieses Vorbringen unbegründet. Erstens sei die Definition des Begriffs der „Seeaußengrenzen“ in der Entscheidung Nr. 574/2007, auf die sich das Parlament beziehe, im Kontext des SGK nicht anwendbar. Zweitens müsse beim Fehlen einer ausdrücklichen Definition die Überwachung der Seegrenzen als auf Einsätze auf Hoher See ausgedehnt verstanden werden, weil nur eine solche Auslegung, die im Übrigen mit den geltenden Völkerrechtsnormen, insbesondere dem Protokoll von Palermo(43), vereinbar sei, es ermögliche, die nützliche Wirkung des Art. 12 SGK sicherzustellen. Im Übrigen habe das Parlament keine ausreichenden Gründe für die Annahme vorgebracht, dass Überwachungseinsätze auf Hoher See nicht in den materiellen Anwendungsbereich des Begriffs der Überwachung im Sinne von Art. 12 SGK fielen.
51. Was die Leitlinien in Teil II des Anhangs betrifft, unterstreicht der Rat vor allem deren Unverbindlichkeit, die sich eindeutig deren Wortlaut und dem angefochtenen Beschluss insgesamt entnehmen lasse. Zu ihrem Umfang bemerkt der Rat, dass die Pflichten der Mitgliedstaaten bei Such- und Rettungsmaßnahmen in internationalen Übereinkommen geregelt seien. Die betreffenden Leitlinien stellten eine zusammenhängende Auslegung der Vorschriften dieser Übereinkommen sicher, die heranzuziehen sei, wenn die Notwendigkeit der Hilfeleistung für ein Schiff in Seenot – die, wie der Rat einräumt, streng genommen nicht als Überwachung eingestuft werden könne – im Verlauf eines von der Agentur koordinierten Überwachungseinsatzes entstehe. Die Mitgliedstaaten seien indessen frei, einer solchen Auslegung nicht zu folgen und in den mit der Agentur abgestimmten Einsatzplan andere Maßnahmen einzufügen.
52. Die Kommission vertritt die Auffassung, die Befugnis, einen Akt durch Hinzufügung neuer nicht wesentlicher Aspekte zu vervollständigen, impliziere, dass zusätzliche Pflichten geschaffen und neue Tätigkeiten geregelt würden, soweit diese für die Durchführung des Basisrechtsakts notwendig oder nützlich seien und nicht im Widerspruch zu diesem stünden.
53. Nach Meinung der Kommission ist der angefochtene Beschluss für die Erreichung des Ziels der Verhinderung eines unbefugten Grenzübertritts, wie es in Art. 2 Nr. 11 und in Art. 12 SGK festgelegt sei, notwendig, jedenfalls aber nützlich. Dies sei die Zielrichtung der Vorschriften des angefochtenen Beschlusses über Patrouillen auf Hoher See. Zu unterstreichen sei ferner, dass keine Vorschrift des SGK dessen Anwendung auf Überwachungseinsätze in internationalen Gewässern ausschließe. Außerdem bestätige Anhang VI des SGK, der Grenzkontrollen im Hafen eines Drittstaats oder bei einer Überfahrt zulasse, dass der räumliche Anwendungsbereich des SGK sich auch auf Einsätze außerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten erstrecke, falls diese in den materiellen Anwendungsbereich des SGK fielen, z. B. unter den Begriff der Überwachung. Hierzu meint die Kommission, das Parlament vertrete eine überaus restriktive Auslegung des „Begriffs der Überwachung“. Das Aufgreifen falle unter den Begriff der Überwachung, wenn es Schiffe betreffe, bei denen der Verdacht bestehe, dass sie in das Unionsgebiet eindringen und sich den Grenzkontrollen entziehen wollten. Die Überwachung beschränke sich mithin nicht auf eine bloß passive Tätigkeit, was im Übrigen Art. 12 Abs. 4 SGK bestätige, der die Festnahme von Personen zulasse. Die Kommission ist ebenfalls der Meinung, dass Such- und Rettungsmaßnahmen im Verlauf von Überwachungseinsätzen unter den Begriff der Überwachung fallen. Sie weist hierzu darauf hin, dass es häufig eben der Überwachungseinsatz sei, der Such- und Rettungsmaßnahmen notwendig mache, wenn das Schiff im Anschluss an das Aufgreifen absichtlich versenkt werde.
b) Würdigung
54. Zunächst ist die vom Rat erhobene Einrede der Unzulässigkeit gegen das Vorbringen in der Erwiderung zurückzuweisen, dass die Vorschriften über Abfangen und Aufgreifen über den materiellen und räumlichen Anwendungsbereich des Begriffs der Überwachung hinausgingen. Anders als der Rat vorträgt, handelt es sich nämlich um ein Vorbringen, das die bereits in der Klageschrift vorgetragenen Klagegründe erweitert und sie weiterentwickelt, nicht aber um einen neuen und verspätet vorgebrachten Klagegrund. Ich verweise ferner darauf, dass Unzuständigkeitsgründe als zwingende Gründe von Amts wegen zu berücksichtigen sind(44).
55. Zur Begründetheit ist zu untersuchen, ob, wie das Parlament meint, der Rat mit dem angefochtenen Beschluss die Durchführungsbefugnisse im Sinne von Art. 12 Abs. 5 SGK überschritten und für die Grundregelung wesentliche Aspekte geregelt habe. Insbesondere ist das Parlament vor allem der Auffassung, dass der angefochtene Beschluss Maßnahmen vorsehe, die nicht in den materiellen Anwendungsbereich des Begriffs der Überwachung im SGK fallen.
56. Die „Grenzüberwachung“ wird in Art. 2 Nr. 11 SGK definiert als „die Überwachung der Grenzen zwischen den Grenzübergangsstellen und die Überwachung der Grenzübergangsstellen außerhalb der festgesetzten Verkehrsstunden, um zu vermeiden, dass Personen die Grenzübertrittskontrollen umgehen“. Nach Art. 12 Abs. 1 SGK dient „[d]ie Grenzüberwachung … insbesondere der Verhinderung des unbefugten Grenzübertritts, der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität und der Veranlassung von Maßnahmen gegen Personen, die die Grenze unerlaubt überschreiten“.
57. Wie Rat und Kommission zu Recht unterstreichen, wird die Überwachung im SGK im Wesentlichen durch ihre Ziele definiert. Aufgrund dieser Definition zeichnet sich ein besonders weiter Begriff ab, der jede Maßnahme umfassen kann, die die Umgehung der Grenzkontrollen vermeiden oder ihnen zuvorkommen soll. Andererseits müssen die Überwachungsmaßnahmen, um, wie dies Art. 77 Abs. 1 Buchst. b AEUV fordert, wirksam zu sein, sowohl dem Typus der betreffenden Grenze als auch dem konkreten Risiko der heimlichen Einwanderung angepasst werden, die von zahlreichen Faktoren (geografische, wirtschaftliche, geopolitische, klimatische usw.) abhängig ist. Daraus folgt, dass der Begriff der Überwachung dynamisch und flexibel auszulegen ist und die Maßnahmen, die sich als notwendig erweisen, um die Ziele des Art. 12 Abs. 1 SGK zu verfolgen, äußerst weit gefächert und variabel sind.
58. Das Parlament macht weiter geltend, der SGK lege eine weitgehend passive Überwachung fest. Diese These wird aber durch den Wortlaut des Art. 12 SGK nicht bestätigt, der, wenn er bei den Zielen der Überwachung das Ergreifen von Maßnahmen gegenüber Personen, die unbefugt in das Unionsgebiet eingereist sind, aufzählt, auch Zugriffe billigt, die über die bloße Tätigkeit der Überwachung der Grenzen hinausgehen(45). Dasselbe muss von vorbeugenden oder abschreckenden Maßnahmen gesagt werden, die anscheinend keine andere Grenze kennen als die, die mit einem konkreten Risiko der Umgehung von Grenzkontrollen zusammengeht.
59. Demgemäß halte ich fest, dass der Großteil der in Teil I Nr. 2.4 des Anhangs des angefochtenen Beschlusses aufgeführten Maßnahmen des Aufgreifens unter den Begriff der Überwachung im oben dargestellten Sinne gehört. Ich habe jedoch Zweifel, ob es möglich ist, unter diesen Begriff die in Buchst. d und f angeführten Maßnahmen zu bringen, die den Grenzschutzbeamten die „Beschlagnahme des Schiffs und [die] Festnahme der an Bord befindlichen Personen“ und das „Führen des Schiffs bzw. Beförderung der an Bord befindlichen Personen zu einem Drittstaat oder aber Überstellung des Schiffs bzw. der an Bord befindlichen Personen an die Behörden eines Drittstaates“ gestatten, sowie auch die in Teil II des Anhangs des angefochtenen Beschlusses eingefügten Vorschriften über Such- und Rettungsmaßnahmen, auch wenn diese Maßnahmen und Vorschriften die Überwachungseinsätze zu einem guten Ende führen oder den Situationen begegnen sollen, die im Verlauf solcher Einsätze eintreten(46).
60. In diesem Punkt bedarf es indessen keiner endgültigen Stellungnahme. Wie sich nämlich den bisherigen Überlegungen entnehmen lässt, ließe sich, selbst wenn davon auszugehen wäre, dass der angefochtene Beschluss praktische Modalitäten der Ausübung der Überwachung innerhalb der Grenzen der Definition dieses Begriffes im SGK festlegt, doch nicht ausschließen, dass er, wie das Parlament meint, wesentliche Aspekte der Grundregelung behandelt.
61. Ich bin daher im Hinblick sowohl auf den Sektor, zu dem die besagte Regelung gehört, als auch auf die Ziele und das allgemeine System des SGK, in dem die Überwachung als grundlegende Komponente der Politik der Grenzkontrolle fungiert, und trotz des der Kommission in Art. 12 Abs. 5 zugestandenen Handlungsspielraums der Meinung, dass eingreifende Maßnahmen wie die in Teil I Nr. 2.4 des Anhangs des angefochtenen Beschlusses, insbesondere die in den Buchst. b, d, f und g genannten, sowie die Vorschriften über die Ausschiffung in Teil II dieses Anhangs wesentliche Aspekte der Seeaußenüberwachung sind. Zu diesen Maßnahmen gehören Möglichkeiten der Einflussnahme auf die persönliche Freiheit der Personen und auf ihre Grundrechte (z. B. die Durchsuchungen, das Aufgreifen, die Beschlagnahme des Schiffes usw.), die Möglichkeit dieser Personen, in der Union den Schutz zu erbitten und zu erhalten, den sie gegebenenfalls aufgrund des Völkerrechts beanspruchen können. (das gilt etwa bei den Regeln für die Aufbringung eines Schiffes, in Ermangelung genauer Angaben zu der Art und Weise, wie die Behörden die persönliche Situation der Personen an Bord des aufgebrachten Schiffes zu berücksichtigen haben)(47), sowie die Beziehungen der Union oder der an dem Überwachungseinsatz beteiligten Mitgliedstaaten zu den bei diesem Einsatz betroffenen Drittstaaten.
62. Ähnliches hat meines Erachtens bezüglich der Bestimmungen des angefochtenen Beschlusses zu gelten, die das Aufgreifen von Schiffen auf Hoher See regeln sollen. Einerseits nämlich lassen diese Vorschriften ausdrücklich das Ergreifen der im vorangehenden Absatz erwähnten Maßnahmen in internationalen Gewässern zu, eine Möglichkeit, die im vorstehend beschriebenen Kontext als wesentlich anzusehen ist, ganz unabhängig von der Begründetheit der These des Parlaments, wonach der räumliche Anwendungsbereich des SGK bezüglich der Seegrenzen durch die Außengrenze der territorialen Gewässer der Mitgliedstaaten oder der angrenzenden Zone umschrieben wird und sich nicht auf die Hohe See erstreckt(48). Andererseits zwingen diese Vorschriften, die die einheitliche Anwendung des einschlägigen Völkerrechts im Rahmen von Überwachungseinsätzen an den Seegrenzen sicherstellen sollen(49), auch wenn sie, wie der Rat und die Kommission mit Nachdruck vertreten, für die an solchen Einsätzen beteiligten Mitgliedstaaten weder andere Pflichten begründen noch ihnen andere Befugnisse übertragen als die, die aus dieser Regelung abgeleitet werden können, diese Staaten doch zu einer besonderen Auslegung dieser Pflichten und Befugnisse und bringen potenziell ihre völkerrechtliche Verantwortung ins Spiel(50).
63. Zwei weitere Beobachtungen sprechen für die Schlussfolgerung, zu der ich soeben gelangt bin.
64. Zunächst berühren einige der Vorschriften des angefochtenen Beschlusses Problembereiche, die nicht nur sensibel, sondern auch besonders umstritten sind, wie etwa die Geltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung in internationalen Gewässern(51) oder die Bestimmung des Ortes, an den gerettete Personen aufgrund der mit der SAR-Übereinkunft eingeführten Regelung zu verbringen sind(52). In diesen Problembereichen bestehen, wie dem Entscheidungsvorschlag der Kommission zu entnehmen ist, bei den Mitgliedstaaten unterschiedliche Meinungen(53).
65. Sodann ergibt sich bei einem Vergleich der Regelung der Grenzkontrollen im SGK, dass die Definition der praktischen Modalitäten der Durchführung solcher Kontrollen, soweit es Aspekte betrifft, die mutatis mutandis mit den im angefochtenen Beschluss geregelten verglichen werden können, dem Gesetzgeber vorbehalten ist, obwohl die Kommission im Verordnungsvorschlag eine andere Meinung vertreten hatte(54).
66. Nach alledem bin ich der Auffassung, dass der angefochtene Beschluss wesentliche Aspekte der Grundregelung im Sinne der Rechtsprechung regelt, die ich in den Nrn. 26 bis 29 dieser Schlussanträge dargestellt habe.
67. Daher ist der ersten Rüge des Parlaments nach meinem Dafürhalten stattzugeben.
4. Zur zweiten Rüge: Der angefochtene Beschluss verändere wesentliche Aspekte des SGK
68. Mit seiner zweiten Rüge macht das Parlament geltend, der angefochtene Beschluss ändere mit der Regelung, dass die Grenzschutzbeamten das aufgebrachte Schiff anweisen könnten, den Kurs zu ändern und einen Bestimmungsort außerhalb der Hoheitsgewässer anzusteuern, bzw. das Schiff oder die Personen an Bord in einen Drittstaat führen bzw. befördern könnten (Teil I Nr. 2.4 Buchst. e und f des Anhangs des angefochtenen Beschlusses) einen wesentlichen Aspekt des SGK, nämlich den in Art. 13 verankerten Grundsatz, wonach „[d]ie Einreiseverweigerung … nur mittels einer begründeten Entscheidung unter genauer Angabe der Gründe für die Einreiseverweigerung erfolgen [kann]“.
69. Die Auffassung des Parlaments beruht auf der Prämisse, dass der angeführte Art. 13 auch auf die Grenzüberwachung anwendbar sei. Einer solchen Auslegung widersprechen sowohl Rat als auch Kommission, die der Meinung sind, dass die Pflicht zum Erlass eines mit Gründen versehenen Bescheides aufgrund dieser Vorschrift nur für den Fall gilt, dass die Versagung der Einreise einer Person gegenüber erklärt wird, die sich ordnungsgemäß an den Grenzübergangsstellen eingefunden und sich den vom SGK vorgesehenen Kontrollen unterzogen hat.
70. Die Rüge des Parlaments ist meines Erachtens zurückzuweisen, ohne dass es erforderlich wäre, die heikle Frage des Anwendungsbereichs des Art. 13 SGK in der Sache zu klären, da sie der Gerichtshof aller Wahrscheinlichkeit nach ohnehin in der Zukunft zu klären haben wird.
71. Zwar ist nämlich, worauf der Rat hinweist, diese Vorschrift in dem angefochtenen Beschluss nicht ausdrücklich genannt, jedoch kann nichts ihre Anwendung im Kontext der in ihm geregelten Überwachungsmaßnahmen ausschließen. Diese Anwendung mag vielleicht praktische Schwierigkeiten mit sich bringen, ist aber selbst bei den vom Parlament erwähnten Sachverhalten nicht unmöglich. Ich weise außerdem darauf hin, dass gemäß Teil I Nr. 1.2 des Anhangs des angefochtenen Beschlusses die Maßnahmen nach Nr. 2.4 unter Beachtung des völkerrechtlichen Grundsatzes der Nichtzurückweisung erfolgen müssen, auch wenn das Aufgreifen auf Hoher See erfolgt. Die Durchführungsmodalitäten dieser Maßnahmen müssen es daher den Grenzschutzbeamten bereits erlauben, die Kontrollen durchzuführen, die erforderlich sind, um sicherzustellen, dass dieser Grundsatz nicht verletzt wird(55).
72. Was das vom Parlament in seiner Erwiderung vorgebrachte Argument betrifft, der angefochtene Beschluss habe den materiellen und räumlichen Anwendungsbereich des Art. 13 zumindest ausgedehnt und auf Sachverhalte anwendbar gemacht, die früher nicht vom SGK gedeckt worden seien, so stimmt es mit den Argumenten zur Stützung der ersten Rüge überein. Hierzu verweise ich auf die Erwägungen, die ich bereits im Rahmen der Prüfung dieser Rüge vorgetragen habe.
73. Demgemäß bin ich der Auffassung, dass die zweite Rüge des Parlaments als unbegründet zurückzuweisen ist.
5. Zur dritten Rüge: Der angefochtene Beschluss ändere die Frontex-Verordnung
a) Vorbringen der Beteiligten
74. Im Rahmen seiner dritten Rüge macht das Parlament geltend, der angefochtene Beschluss gehe über den Anwendungsbereich des Art. 12 Abs. 5 hinaus, der der Kommission oder dem Rat nicht die Befugnis übertrage, Regeln für die von der Agentur koordinierten Einsätze zu erlassen, deren Aufgaben und deren Arbeitsweise vielmehr in der Frontex-Verordnung geregelt seien. Der angefochtene Beschluss habe hingegen als einziges Ziel die Regelung der genannten Einsätze, womit er Pflichten nicht nur für die Mitgliedstaaten, sondern auch für die Agentur selbst begründe. Als Beispiel führt das Parlament an, dass gemäß Art. 1 des angefochtenen Beschlusses die Vorschriften in Teil I des Anhangs dieses Beschlusses und die nicht verbindlichen Leitlinien in Teil II des Anhangs „Teil des von der Agentur für den jeweiligen Einsatz aufgestellten Einsatzplans [sind]“. Diese Bestimmung ändere Art. 8e Abs. 1 der Frontex-Verordnung, dem zufolge „der Exekutivdirektor [der Agentur] und der antragstellende Mitgliedstaat … den Einsatzplan [koordinieren], der die Bedingungen für die Entsendung der Teams im Einzelnen festlegt“(56). Außerdem ordne dieser an, in den Einsatzplan Regeln über die Modalitäten der Ausschiffung der aufgegriffenen oder geretteten Personen aufzunehmen, und ändere spürbar die Rolle der an dem Einsatz beteiligten Grenzschutzbeamten. In seiner Erwiderung ergänzt das Parlament, dass der angefochtene Beschluss den räumlichen Anwendungsbereich der Frontex-Verordnung ausweite, wie er in Art. 1a Abs. 1 definiert sei.
75. Rat und Kommission weisen vor allem darauf hin, dass gemäß Art. 16 Abs. 1 SGK die Überwachungsmaßnahmen von den Mitgliedstaaten in enger Kooperation untereinander durchzuführen seien, und dass diese Zusammenarbeit, wie Abs. 2 dieses Artikels klarstelle, von der Agentur Frontex koordiniert werde. Eine Verbindung zur Frontex-Verordnung sei daher unvermeidlich. Sie schließe indessen aus, dass der angefochtene Beschluss eine Änderung dieser Verordnung bewirke. Die Einbeziehung der Regeln des angefochtenen Beschlusses auf der Einsatzebene führe nicht zu einer solchen Änderung, weil solche Regeln, die die Modalitäten der Überwachung bestimmten, leicht zu den Aspekten der Ebene gerechnet werden könnten, wie sie in den Buchst. c und d des Art. 8e der Frontex-Verordnung aufgeführt seien(57). Die Kommission ergänzt, dass die Adressaten des angefochtenen Beschlusses nur die Mitgliedstaaten seien, die dann, wenn sie aufgerufen seien, gemeinsam mit der Agentur einen Einsatzplan festzulegen, so vorzugehen hätten, dass der Anhang des Beschlusses Teil dieses Plans sei. Der angefochtene Beschluss habe indessen keinerlei Einfluss auf die Arbeitsweise der Agentur. Vielmehr sei es eher die Frontex-Verordnung, die die Ausweitung der Verpflichtung bewirke, die der angefochtene Beschluss den Mitgliedstaaten auferlege. Der Rat macht schließlich geltend, dass, auch wenn davon auszugehen sei, dass der angefochtene Beschluss die Vorschriften der Art. 8e und 8g durch Hinzufügung neuer, nicht wesentlicher Aspekte ändere, dieser Beschluss gleichwohl noch nicht rechtswidrig sei, weil SGK und Frontex-Verordnung sich als Rechtsinstrumente der Verwirklichung der Politik des Schutzes der Außengrenzen im Sinne von Art. 77 AEUV gegenseitig ergänzten.
b) Würdigung
76. Zurückzuweisen ist vor allem das hilfsweise vorgebrachte Argument des Rates, der angefochtene Beschluss sei auch dann nicht rechtswidrig, wenn er die Frontex-Verordnung ändere. Wie das Parlament richtig bemerkt, ist die Kommission (oder der Rat) bei der Ausübung ihrer (seiner) Durchführungsbefugnisse nicht berechtigt, einen anderen Gesetzgebungsakt als den Basisrechtsakt allein deshalb zu ändern, weil die beiden Rechtsinstrumente verschiedene Aspekte ein und derselben Frage regeln und in gewisser Hinsicht als gegenseitige Ergänzungen angesehen werden könnten. In diesem Punkt ist auch die Kommission einverstanden.
77. Es ist somit zu prüfen, ob der angefochtene Beschluss, wie das Parlament meint, die Frontex-Verordnung ändert oder die Wirkung hat, Aspekte dieser Verordnung zu ändern.
78. Zwischen den beiden Rechtsakten besteht unzweifelhaft eine Verbindung, wie sowohl der Rat als auch die Kommission zu Recht bemerkt haben. Der SGK und die zu seiner Durchführung erlassene Regelung sollen auch bei von Frontex geleiteten Überwachungseinsätzen Anwendung finden, und die Rolle der Agentur bei der Koordinierung der operativen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten an den Außengrenzen wird in Art. 16 Abs. 2 SGK ausdrücklich anerkannt.
79. Allerdings enthalten weder diese Vorschrift noch irgendeine Vorschrift des SGK Regeln oder gestatten den Erlass von Maßnahmen, die die operative Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten an den Außengrenzen der Gemeinschaft regeln sollen. Es könnte auch nicht anders sein, weil Art. 66 EG, der dem Rat die Befugnis zum Erlass solcher Maßnahmen übertrug – und auf den sich die Frontex-Verordnung stützt –, nicht zu den Rechtsgrundlagen des SGK gehört(58). Außerdem sieht der SGK die Pflicht der Mitgliedstaaten vor, nicht mit der Arbeitsweise von Frontex zu kollidieren. Art. 16 Abs. 3 Satz 1 SGK macht nämlich, soweit er zulässt, dass die Mitgliedstaaten unabhängig von Frontex weiterhin mit anderen Mitgliedstaaten und/oder Drittstaaten an den Außengrenzen auf operativer Ebene zusammenarbeiten, dies davon abhängig, dass diese Zusammenarbeit die Tätigkeit der Agentur ergänzt und die Zuständigkeiten der Agentur unberührt lässt. Außerdem gilt gemäß Unterabs. 2 dieser Vorschrift, dass „[d]ie Mitgliedstaaten … jegliche Handlung [unterlassen], die den Betrieb der Agentur oder die Erreichung ihrer Ziele in Frage stellen könnte“(59).
80. Demgegenüber setzt sich der angefochtene Beschluss zum Hauptziel, „im Kontext der von der Agentur koordinierten operativen Zusammenarbeit und der zusätzlichen Verstärkung dieser Zusammenarbeit“ „ergänzende Regeln für die Überwachung der Seegrenzen durch Grenzschutzbeamte“ festzulegen (Erwägungsgründe 2 und 11), und bestimmt in Art. 1, dass diese Überwachung „in den in Teil I des Anhangs niedergelegten Vorschriften geregelt [ist]“; hierzu sieht er vor, dass „die Vorschriften und die nicht verbindlichen Leitlinien in Teil II des Anhangs Teil des von der Agentur für den jeweiligen Einsatz aufgestellten Einsatzplans [sind]“(60).
81. Es trifft zu, wie insbesondere die Kommission bemerkt, dass der angefochtene Beschluss Pflichten lediglich zu Lasten der Mitgliedstaaten und nicht der Agentur begründet und dass es, wenn der Einsatzplan zwischen dieser und dem ersuchenden Staat koordiniert werden muss, im konkreten Fall vorkommen kann, dass die Vorschriften des angefochtenen Beschlusses nicht in diesem Aufnahme finden(61).
82. Dies ändert aber nichts daran, dass Art. 1 des angefochtenen Beschlusses den Handlungsspielraum des ersuchenden Mitgliedstaats und als Reflex den der Agentur beträchtlich einengt, so dass er potenziell mit deren Arbeit erheblich in Konflikt gerät. Ein Beispiel für das Gesagte liefern die Ereignisse im Zusammenhang mit dem von Malta im März 2011 beantragten Eingreifen von Frontex während der Libyen-Krise. Das Ersuchen von Malta, in den Einsatzplan u. a. nicht die Leitlinien in Teil II des angefochtenen Beschlusses aufzunehmen, hat von Seiten mehrerer Mitgliedstaaten Widerspruch erfahren und zu langen Verhandlungen zwischen der Agentur und der Regierung von Malta geführt und damit den Beginn des Einsatzes verhindert(62).
83. Konkret wird der gesamte Anhang des angefochtenen Beschlusses einschließlich nicht bindender Ausrichtungen – deren Verbindlichkeit angesichts der Fassung des Art. 1 schwer zu bestreiten ist(63) – als Teil der Gemeinschaftsmaßnahmen zum Schutz der Außengrenzen verstanden, für die die Agentur gemäß Art. 1 Abs. 2 der Frontex-Verordnung eine vereinfachte und möglichst wirkungsvolle Anwendung sicherzustellen hat(64).
84. Im Übrigen regeln die nicht bindenden Leitlinien in Teil II des Anhangs des angefochtenen Beschlusses für Such- und Rettungseinsätze Aspekte des Einsatzes, die nicht zu den Aufgaben von Frontex gehören. Wie die Kommission selbst in ihrem Vorschlag unterstrichen hat, auf dessen Grundlage der angefochtene Beschluss erlassen wurde, ist Frontex keine SAR-Agentur(65), und „[d]ie meisten von Frontex koordinierten Einsätze zur See werden zu Such- und Rettungsmaßnahmen [und] fallen [daher] aus dem Anwendungsbereich der Frontex-Koordinierung heraus“(66). Gleiches gilt bezüglich der Regeln über die Ausschiffung. Gleichwohl sieht der angefochtene Beschluss vor, dass die besagten Leitlinien Teil des Einsatzplans sind.
85. Nach alledem bin ich der Auffassung, das der angefochtene Beschluss, soweit er Aspekte der operativen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten beim Schutz der Außengrenzen der Union regelt, die in den Anwendungsbereich der Frontex-Verordnung fallen, und auf jeden Fall Regeln aufstellt, die mit der Arbeit der mit dieser Verordnung geschaffenen Agentur kollidieren, die Durchführungsbefugnisse nach Art. 12 Abs. 5 SGK überschreitet.
86. Bevor ich diesen Punkt abschließe, möchte ich indessen darauf hinweisen, dass der normative Zusammenhang, dem die vorstehenden Erwägungen gelten, durch die Verordnung Nr. 1168/2011 geändert worden ist(67). Diese Verordnung hat u. a. in Art. 1 Abs. 2 eine ausdrückliche Verweisung auf den SGK eingefügt, in Art. 2 Abs. 1, der die Aufgaben der Agentur festlegt, einen Buchstaben „da“ eingefügt, der die Unterstützung der Agentur „bei humanitären Notsituationen und Seenotrettungen“ vorsieht, sowie in Buchst. j des neuen Art. 3a und in Art. 8e die Aspekte vorgesehen, die in den Einsatzplan bei Seeeinsätzen aufzunehmen sind; einschließlich „Verweise auf Völkerrecht und die Rechtsvorschriften der Union im Zusammenhang mit dem Aufbringen von Schiffen, Rettungen auf See und Ausschiffungen“.
87. Selbst wenn man annimmt, dass eine solche Änderung im Gesetzgebungsverfahren im Rahmen des vorliegenden Verfahrens berücksichtigt werden müsste, greift dies meiner vorstehenden Schlussfolgerung nicht vor. Auch nach Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1168/2011 werden die Maßnahmen, die die praktischen Modalitäten der von Frontex koordinierten Seeeinsätze festlegen sollen, weiterhin konkret durch Verweisung auf einen Akt zur Durchführung eines anderen Rechtsinstruments geregelt werden, das wiederum auf eine Rechtsgrundlage gestützt ist, die für sich allein den Erlass solcher Maßnahmen nicht erlaubt hätte. Mit der Festlegung solcher Vorschriften hat der angefochtene Beschluss die Grenzen der Durchführungsbefugnisse nach Art. 12 Abs. 5 SGK überschritten.
88. Demgemäß bleibt festzuhalten, dass auch der dritten Rüge des Parlaments stattzugeben ist.
C – Schlussanträge zur Klage
89. Nach alledem ist meines Erachtens der Klage stattzugeben und der angefochtene Beschluss für nichtig zu erklären.
IV – Zum Antrag des Parlaments auf Aufrechterhaltung der Wirkungen des angefochtenen Beschlusses
90. Das Parlament beantragt beim Gerichtshof für den Fall, dass dieser entscheidet, den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären, gemäß der ihm in Art. 264 Abs. 2 AEUV verliehenen Befugnis, die Aufrechterhaltung der Wirkungen des Beschlusses bis zum Erlass eines neuen Aktes anzuordnen. Diese Vorschrift, nach der „der Gerichtshof, falls er dies für notwendig hält, diejenigen ihrer Wirkungen [bezeichnet], die als fortgeltend zu betrachten sind“, ist auch herangezogen worden, um vorübergehend alle Wirkungen eines solchen Aktes bis zu seiner Ersetzung aufrecht zu erhalten(68).
91. Im vorliegenden Fall würde die schlichte Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses der Union ein wichtiges Rechtsinstrument nehmen, das das gemeinsame Handeln der Mitgliedstaaten bei den Tätigkeiten der Überwachung der Seegrenzen der Union koordinieren und diese Tätigkeit weitgehend konform mit den Menschenrechten und der Schutzregelung für Flüchtlinge gestalten soll.
92. Aus diesen Gründen bin ich der Auffassung, dass dem Antrag des Parlaments stattzugeben ist und die Wirkungen des angefochtenen Beschlusses bis zum Inkrafttreten einer im allgemeinen Gesetzgebungsverfahren erlassenen Entscheidung aufrechterhalten werden müssen.
V – Ergebnis
93. Aufgrund all dieser Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor,
– die Einrede des Rates zurückzuweisen und die Klage für zulässig zu erklären;
– der Klage stattzugeben und den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;
– festzustellen, dass die Wirkungen des Beschlusses bis zum Inkrafttreten eines im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassenen Rechtsakts aufrechterhalten werden;
– dem Rat die Kosten aufzuerlegen und festzustellen, dass die Kommission ihre eigenen Kosten trägt.