Language of document : ECLI:EU:C:2018:583

Rechtssache C‑528/16

Confédération paysanne u. a.

gegen

Premier ministre
und
Ministre de l’Agriculture, de l’Agroalimentaire et de la Forêt

(Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État [Frankreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt – Mutagenese – Richtlinie 2001/18/EG – Art. 2 und 3 – Anhänge I A und I B – Begriff ‚genetisch veränderter Organismus‘ – Herkömmlich angewandte und als sicher geltende Verfahren/Methoden zur genetischen Veränderung – Neue Verfahren/Methoden der Mutagenese – Risiken für die menschliche Gesundheit und die Umwelt – Ermessen der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie – Richtlinie 2002/53/EG – Gemeinsamer Sortenkatalog für landwirtschaftliche Pflanzenarten – Herbizidtolerante Pflanzensorten – Art. 4 – Zulassung durch Mutagenese gewonnener genetisch veränderter Sorten zum gemeinsamen Sortenkatalog – Anforderung zum Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt – Befreiung“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 25. Juli 2018

1.        Rechtsangleichung – Absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen – Richtlinie 2001/18 – Genetisch veränderter Organismus – Begriff – Organismen, die mit Verfahren/Methoden der Mutagenese gewonnen werden – Einbeziehung

(Richtlinie 2001/18 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 2 Nr. 2 Buchst. a und b, Art. 3 Abs. 1 und Anhänge I A und I B)

2.        Rechtsangleichung – Absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen – Richtlinie 2001/18 – Geltungsbereich – Organismen, die mit herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen zum Einsatz kommenden und als sicher geltenden Verfahren/Methoden der Mutagenese gewonnen werden – Nichteinbeziehung – Organismen, die mit neuen Verfahren/Methoden der Mutagenese gewonnen werden – Einbeziehung

(Richtlinie 2001/18 des Europäischen Parlaments und des Rates, Erwägungsgrund 17, Art. 3 Abs. 1 und Anhang I B Nr. 1)

3.        Landwirtschaft – Gemeinsamer Sortenkatalog für landwirtschaftliche Pflanzenarten – Richtlinie 2002/53 – Zulassung von Sorten zum gemeinsamen Katalog – Voraussetzungen – Beachtung der Anforderungen zum Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt – Freistellung – Genetisch veränderte Sorten, die mit herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandten und als sicher geltenden Verfahren/Methoden der Mutagenese gewonnen werden

(Richtlinie 2002/53 des Rates, Art. 4 Abs. 4)

4.        Rechtsangleichung – Absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen – Richtlinie 2001/18 – Organismen, die mit herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandten und als sicher geltenden Verfahren/Methoden der Mutagenese gewonnen werden – Befugnis der Mitgliedstaaten, solche Organismen in der Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen oder anderen Verpflichtungen zu unterwerfen – Voraussetzungen

(Richtlinie 2001/18 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 3 Abs. 1 und Anhang I B Nr. 1)

1.      Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. März 2001 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt und zur Aufhebung der Richtlinie 90/220/EWG des Rates ist dahin auszulegen, dass die mit Verfahren/Methoden der Mutagenese gewonnenen Organismen genetisch veränderte Organismen im Sinne dieser Bestimmung darstellen.

Insoweit wird in Art. 2 Nr. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/18 klargestellt, dass es zu der genetischen Veränderung im Sinne der Definition des GVO mindestens durch den Einsatz der in Anhang I A Teil 1 aufgeführten Verfahren kommt. In Teil 1 von Anhang I A der Richtlinie 2001/18 werden zwar die Verfahren/Methoden der Mutagenese nicht ausdrücklich erwähnt, doch vermag dies nicht auszuschließen, dass mit diesen Verfahren/Methoden gewonnene Organismen unter die Definition des GVO in Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie fallen. Zum einen ist nämlich festzustellen, dass – wie sich aus dem Ausdruck „unter anderem“ im Einleitungssatz von Teil 1 des Anhangs I A ergibt – die dortige Aufzählung von Verfahren der genetischen Veränderung nicht abschließend ist. Folglich kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Aufzählung andere als die dort ausdrücklich genannten Verfahren der genetischen Veränderung ausschließt. Zum anderen hat der Unionsgesetzgeber die Mutagenese nicht in die abschließende Aufzählung der nicht zu einer genetischen Veränderung führenden Verfahren aufgenommen, die von Art. 2 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/18 in Verbindung mit Teil 2 ihres Anhangs I A erfasst werden. Die Mutagenese wird vielmehr in Anhang I B der Richtlinie ausdrücklich bei den Verfahren/Methoden der „genetischen Veränderung“ genannt, auf die Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie Bezug nimmt, der die Organismen betrifft, für die sie nicht gelten soll.

(vgl. Rn. 33-37, 54, Tenor 1)

2.      Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/18 ist in Verbindung mit Nr. 1 ihres Anhangs I B und im Licht ihres 17. Erwägungsgrundes dahin auszulegen, dass nur die mit Verfahren/Methoden der Mutagenese, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit langem als sicher gelten, gewonnenen Organismen vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen sind.

Unter diesen Umständen kann Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/18 in Verbindung mit Nr. 1 ihres Anhangs I B nicht dahin ausgelegt werden, dass er mit neuen Verfahren/Methoden der Mutagenese, die seit dem Erlass der Richtlinie entstanden sind oder sich hauptsächlich entwickelt haben, gewonnene Organismen von ihrem Anwendungsbereich ausschließt. Denn eine solche Auslegung würde der im 17. Erwägungsgrund der Richtlinie zum Ausdruck kommenden Absicht des Unionsgesetzgebers zuwiderlaufen, von ihrem Anwendungsbereich nur Organismen auszunehmen, die mit herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandten und seit langem als sicher geltenden Verfahren/Methoden gewonnen werden. Folglich würde eine Auslegung der Ausnahme in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/18 in Verbindung mit Nr. 1 ihres Anhangs I B, wonach die mit Verfahren/Methoden der Mutagenese gewonnenen Organismen unterschiedslos vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen wären, den mit ihr verfolgten Schutzzweck beeinträchtigen und dem Vorsorgeprinzip zuwiderlaufen, zu dessen Umsetzung die Richtlinie dient.

(vgl. Rn. 51, 53, 54, Tenor 1)

3.      Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2002/53/EG des Rates vom 13. Juni 2002 über einen gemeinsamen Sortenkatalog für landwirtschaftliche Pflanzenarten in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2003 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass von den in dieser Bestimmung vorgesehenen Verpflichtungen die mit Verfahren/Methoden der Mutagenese, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit langem als sicher gelten, gewonnenen Sorten ausgenommen sind.

(vgl. Rn. 68, Tenor 2)

4.      Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/18 ist in Verbindung mit Nr. 1 ihres Anhangs I B, da er die mit Verfahren/Methoden der Mutagenese, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit langem als sicher gelten, gewonnenen Organismen vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausschließt, dahin auszulegen, dass den Mitgliedstaaten durch ihn nicht die Befugnis genommen wird, solche Organismen unter Beachtung des Unionsrechts, insbesondere der in den Art. 34 bis 36 AEUV aufgestellten Regeln über den freien Warenverkehr, den in der Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen oder anderen Verpflichtungen zu unterwerfen.

Der Unionsgesetzgeber hat diese Organismen nämlich vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2001/18 ausgeschlossen, ohne irgendwelche Angaben dazu zu machen, welcher rechtlichen Regelung sie unterworfen werden dürfen. Insbesondere ergibt sich aus der Richtlinie nicht, dass der Ausschluss der mit Verfahren/Methoden der Mutagenese, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit langem als sicher gelten, gewonnenen Organismen von ihrem Anwendungsbereich bedeutet, dass interessierte Personen solche Organismen nach Belieben absichtlich in die Umwelt freisetzen oder in der Union als Produkte oder in Produkten in den Verkehr bringen dürfen.

Die Ausnahme in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/18 in Verbindung mit Nr. 1 ihres Anhangs I B kann daher nicht dahin ausgelegt werden, dass sie die Mitgliedstaaten daran hindert, in diesem Bereich Rechtsvorschriften zu erlassen.

(vgl. Rn. 80-82, Tenor 3)