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Rechtssache C1/23 PPU

X u. a.

gegen

État belge

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal de première instance francophone de Bruxelles [Französischsprachiges Gericht erster Instanz von Brüssel, Belgien])

 Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 18. April 2023

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Richtlinie 2003/86/EG – Recht auf Familienzusammenführung – Art. 5 Abs. 1 – Stellung eines Antrags auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung – Regelung eines Mitgliedstaats, nach der die Familienangehörigen des Zusammenführenden den Antrag persönlich bei der zuständigen diplomatischen Vertretung dieses Mitgliedstaats stellen müssen – Unmöglichkeit oder übermäßige Schwierigkeit, diese Vertretung aufzusuchen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7 und 24“

1.        Zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen – Eilvorabentscheidungsverfahren – Voraussetzungen – Trennung und Zurückhalten von Kleinkindern von ihrem Vater, dem internationaler Schutz zuerkannt worden ist – Gefahr einer ernsthaften Beeinträchtigung ihrer Beziehung – Entscheidung des Rechtsstreits, die Auswirkungen auf die Situation haben kann, durch die diese Gefahr begründet wird – Anwendung des Eilvorabentscheidungsverfahrens

(Satzung des Gerichtshofs, Art. 23a; Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 107)

(vgl. Rn. 25-27)

2.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86 – Beachtung der Grundrechte – Recht auf Achtung des Familienlebens – Pflicht, das Wohl des Kindes zu berücksichtigen – Nationale Regelung, nach der die Familienangehörigen des Zusammenführenden den Antrag auf Familienzusammenführung persönlich bei der zuständigen diplomatischen Vertretung stellen müssen – Unmöglichkeit oder übermäßige Schwierigkeit, diese Vertretung aufzusuchen – Unzulässigkeit – Möglichkeit für den betreffenden Mitgliedstaat, das persönliche Erscheinen dieser Angehörigen in einem späteren Stadium des Verfahrens zur Beantragung der Familienzusammenführung zu verlangen

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3; Richtlinie des Rates 2003/86, Art. 5 Abs. 1)

(vgl. Rn. 40, 41, 44-60)


Zusammenfassung

Frau X und Herr Y, syrische Staatsangehörige, heirateten im Jahr 2016 in Syrien. Ihre beiden Kinder wurden 2016 und 2018 geboren. Herr Y verließ Syrien 2019 und reiste nach Belgien, während Frau X und ihre beiden Kinder in der Stadt Afrin im Nordwesten Syriens blieben, wo sie sich derzeit noch befinden. Im August 2022 wurde Herrn Y in Belgien die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.

Mit E‑Mail vom 28. September 2022, die an das Office des étrangers (Ausländeramt, Belgien) (im Folgenden: Amt) gerichtet war, stellte der Anwalt der Kläger im Namen von Frau X sowie der beiden Kinder einen Antrag auf Familienzusammenführung, damit sie Herrn Y nach Belgien nachziehen können. In dieser E‑Mail hieß es, dieser Antrag sei über ihren Anwalt beim Amt eingereicht worden, da sich Frau X und ihre Kinder in außergewöhnlichen Umständen befänden, die sie tatsächlich daran hinderten, eine belgische diplomatische Vertretung aufzusuchen, um dort einen Antrag auf Familienzusammenführung zu stellen, wie es nach belgischem Recht erforderlich ist.

Am 29. September 2022 antwortete das Amt, nach diesen Rechtsvorschriften sei es nicht möglich, einen solchen Antrag per E‑Mail zu stellen, und forderte die Kläger auf, sich mit der zuständigen belgischen Botschaft in Verbindung zu setzen. In einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vom 9. November 2022 verklagten die Kläger des Ausgangsverfahrens den belgischen Staat vor dem vorlegenden Gericht, um die Registrierung ihres Antrags auf Familienzusammenführung zu erreichen. Sie sind der Meinung, dass die belgische Regelung, nach der Familienmitglieder eines Flüchtlings einen Antrag auf Einreise und Aufenthalt auch dann nur persönlich und bei einer diplomatischen Vertretung stellen dürften, wenn es ihnen nicht möglich sei, sich dorthin zu begeben, nicht im Einklang mit dem Unionsrecht stehe.

Das vorlegende Gericht bestätigt, dass nach belgischem Recht in einer Situation wie der vorliegenden keine Abweichung von der Verpflichtung zur physischen Anwesenheit zu Beginn des Verfahrens vorgesehen sei. Dieses Gericht weist jedoch darauf hin, dass Frau X und ihre Kinder keine reale Möglichkeit hätten, Afrin zu verlassen und eine zuständige diplomatische Vertretung Belgiens aufzusuchen, da die angrenzenden Länder, in denen sich solche Vertretungen befänden, für Personen, die aus Syrien fliehen, nicht sicher oder wegen der erforderlichen Überquerung einer Frontlinie unerreichbar seien. Zwar überlasse Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86(1) es den Mitgliedstaaten, zu bestimmen, wer – der Zusammenführende oder die Familienangehörigen – den Antrag auf Familienzusammenführung stellen könne, doch laufe im vorliegenden Fall die vom belgischen Gesetzgeber getroffene Entscheidung darauf hinaus, Frau X und ihren Kindern jegliche Möglichkeit vorzuenthalten, den ihren zu stellen. Es sei daher zu prüfen, ob diese Versagung die praktische Wirksamkeit dieser Richtlinie beeinträchtige oder gegen die Grundrechte(2) verstoße, die diese Richtlinie schützen solle.

Im Rahmen des Eilvorabentscheidungsverfahrens stellt der Gerichtshof fest, dass die Richtlinie 2003/86(3) in Verbindung mit der Charta(4) einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der für die Stellung eines Antrags auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung die Familienangehörigen des Zusammenführenden, namentlich eines anerkannten Flüchtlings, die für den Ort ihres Wohnsitzes oder ihres Aufenthalts im Ausland zuständige diplomatische oder konsularische Vertretung eines Mitgliedstaats auch dann persönlich aufsuchen müssen, wenn es für sie unmöglich oder übermäßig schwierig ist, sich zu dieser Vertretung zu begeben. Allerdings bleibt es diesem Mitgliedstaat unbenommen, das persönliche Erscheinen dieser Angehörigen in einem späteren Stadium des Verfahrens zur Beantragung der Familienzusammenführung zu verlangen.

Würdigung durch den Gerichtshof

Der Gerichtshof begründet dieses Ergebnis zum einen damit, dass die Mitgliedstaaten zur Erreichung des Ziels der Richtlinie 2003/86, die Familienzusammenführung zu begünstigen, in Situationen wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden die erforderliche Flexibilität beweisen müssen, um den Betroffenen zu ermöglichen, ihren Antrag auf Familienzusammenführung tatsächlich rechtzeitig zu stellen, und deswegen die Antragstellung erleichtern und insbesondere den Rückgriff auf Fernkommunikationsmittel zulassen müssen. Denn ohne eine solche Flexibilität erlaubt es die Anforderung des persönlichen Erscheinens bei einer zuständigen diplomatischen oder konsularischen Vertretung bei der Antragstellung nicht, etwaige Hindernisse zu berücksichtigen, die die wirksame Stellung eines solchen Antrags verhindern könnten, insbesondere wenn die Familienangehörigen des Zusammenführenden sich in einem Land befinden, das von einem bewaffneten Konflikt geprägt ist. Zudem kann, was die besondere Lage von Flüchtlingen betrifft, das Fehlen jeglicher Flexibilität seitens des betreffenden Mitgliedstaats, das die Familienangehörigen der Betroffenen daran hindert, ungeachtet der Umstände ihren Antrag auf Familienzusammenführung zu stellen, dazu führen, dass sie die in Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2003/86(5) vorgesehene Frist nicht einhalten können und dass unter Verkennung des Ziels, der Lage von Flüchtlingen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, ihre Familienzusammenführung daher zusätzlichen Bedingungen unterworfen sein könnte. Dementsprechend führt die Anforderung des persönlichen Erscheinens bei der Stellung eines Antrags auf Zusammenführung, ohne dass Ausnahmen zugelassen würden, um der konkreten Lage, in der sich die Familienangehörigen des Zusammenführenden befinden, Rechnung zu tragen, dazu, dass die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung praktisch unmöglich gemacht wird, so dass eine solche Regelung, angewandt ohne die erforderliche Flexibilität, das mit der Richtlinie 2003/86 verfolgte Ziel beeinträchtigt und dieser ihre praktische Wirksamkeit nimmt.

Zum anderen weist der Gerichtshof darauf hin, dass eine nationale Vorschrift, die ausnahmslos das persönliche Erscheinen der Familienangehörigen des Zusammenführenden für die Stellung eines Antrags auf Familienzusammenführung selbst dann verlangt, wenn dieses Erscheinen unmöglich oder übermäßig schwierig ist, gegen das in Art. 7 der Charta, gegebenenfalls in Verbindung mit deren Art. 24 Abs. 2 und 3, niedergelegte Recht auf Achtung der Einheit der Familie verstößt. Eine solche Verpflichtung, bezogen auf das – wenn auch legitime Ziel –, Betrügereien im Zusammenhang mit der Familienzusammenführung zu bekämpfen, stellt nämlich einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft dar. Da das Verfahren zur Beantragung der Familienzusammenführung in mehreren Phasen abläuft, können die Mitgliedstaaten das persönliche Erscheinen der Familienangehörigen des Zusammenführenden in einem späteren Stadium dieses Verfahrens verlangen, ohne dass es für die Bearbeitung des Antrags auf Familienzusammenführung erforderlich wäre, ein solches Erscheinen bereits bei der Antragstellung vorzuschreiben. Damit jedoch das mit der Richtlinie 2003/86 verfolgte Ziel der Begünstigung der Familienzusammenführung und die Grundrechte, die diese Richtlinie schützen soll, nicht beeinträchtigt werden, muss der Mitgliedstaat, wenn er das persönliche Erscheinen der Familienangehörigen des Zusammenführenden in einem späteren Verfahrensabschnitt verlangt, dieses Erscheinen erleichtern, insbesondere durch die Ausstellung konsularischer Dokumente oder freie Grenzübertritte, und die Häufigkeit persönlichen Erscheinens auf das absolut Notwendige reduzieren.


1      Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12).


2      Es geht dabei um das in Art. 7 der Charta der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) garantierte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, den in Art. 24 der Charta niedergelegten Anspruch des Kindes auf Berücksichtigung des Kindeswohls sowie auf regelmäßige persönliche Beziehungen zu beiden Elternteilen.


3      Es handelt sich um Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86.


4      Der Gerichtshof verweist auf Art 7 und Art 24 Abs. 2 und 3 der Charta.


5      Nach dieser Bestimmung „[können d]ie Mitgliedstaaten … von dem Flüchtling die Erfüllung der in Artikel 7 Absatz 1 genannten Voraussetzungen verlangen, wenn der Antrag auf Familienzusammenführung nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten nach der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gestellt wurde“. Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 bestimmt seinerseits: „Bei Einreichung des Antrags auf Familienzusammenführung kann der betreffende Mitgliedstaat vom Antragsteller den Nachweis verlangen, dass der Zusammenführende über Folgendes verfügt:
a) Wohnraum, der für eine vergleichbar große Familie in derselben Region als üblich angesehen wird und der die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltenden allgemeinen Sicherheits- und Gesundheitsnormen erfüllt;
b) eine Krankenversicherung für ihn selbst und seine Familienangehörigen, die im betreffenden Mitgliedstaat sämtliche Risiken abdeckt, die in der Regel auch für die eigenen Staatsangehörigen abgedeckt sind;
c) feste und regelmäßige Einkünfte, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaates für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreich[en]. Die Mitgliedstaaten beurteilen diese Einkünfte anhand ihrer Art und Regelmäßigkeit und können die Höhe der Mindestlöhne und ‑renten sowie die Anzahl der Familienangehörigen berücksichtigen.“