Language of document : ECLI:EU:T:2023:132

URTEIL DES GERICHTS (Sechste Kammer)

15. März 2023(*)

„Gemeinschaftsgeschmacksmuster – Nichtigkeitsverfahren – Eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster, das einen Stuhl darstellt – Älteres Geschmacksmuster – Nichtigkeitsgrund – Offenbarung des älteren Geschmacksmusters – Offenbarung im Internet – Angaben zum älteren Geschmacksmuster – Ermessen der Beschwerdekammer – Art. 63 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002“

In der Rechtssache T‑89/22,

Homy Casa Ltd mit Sitz in Guangzhou (China), vertreten durch Rechtsanwältin J. Vogtmeier,

Klägerin,

gegen

Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO), vertreten durch E. Nicolás Gómez und J. Ivanauskas als Bevollmächtigte,

Beklagter,

andere Beteiligte im Verfahren vor der Beschwerdekammer des EUIPO und Streithelferin vor dem Gericht:

Albatros International GmbH mit Sitz in Nerdlen (Deutschland), vertreten durch Rechtsanwalt A. Biesterfeld‑Kuhn,

erlässt

DAS GERICHT (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin M. J. Costeira (Berichterstatterin), der Richterin M. Kancheva und des Richters U. Öberg,

Kanzler: R. Ūkelytė, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

auf die mündliche Verhandlung vom 1. Dezember 2022

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer auf Art. 263 AEUV gestützten Klage begehrt die Klägerin, die Homy Casa Ltd, die Aufhebung der Entscheidung der Dritten Beschwerdekammer des Amtes der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) vom 30. November 2021 (Sache R 837/2020‑3) (im Folgenden: angefochtene Entscheidung).

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

2        Am 14. Mai 2019 beantragte die Streithelferin, die Albatros International GmbH, beim EUIPO die Nichtigerklärung des auf eine Anmeldung durch die Klägerin vom 29. Juli 2015 eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters, das in folgenden Ansichten wiedergegeben ist:

Image not foundImage not foundImage not foundImage not found

3        Das Geschmacksmuster, dessen Nichtigerklärung beantragt wurde, ist zur Verwendung für folgende Erzeugnisse der Klasse 06‑01 des Abkommens von Locarno vom 8. Oktober 1968 zur Errichtung einer Internationalen Klassifikation für gewerbliche Muster und Modelle in geänderter Fassung bestimmt: „Stühle“.

4        Als Nichtigkeitsgrund wurde Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 2002, L 3, S. 1) angeführt.

5        Der Antrag auf Nichtigerklärung wurde auf die fehlende Neuheit und Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters gestützt, und zwar u. a. im Hinblick auf das folgende ältere Geschmacksmuster D 1 (im Folgenden: älteres Geschmacksmuster):

Image not found

6        Am 6. April 2020 wies die Nichtigkeitsabteilung den Antrag auf Nichtigerklärung zurück. Sie war der Auffassung, dass das angegriffene Geschmacksmuster gegenüber dem älteren Geschmacksmuster Neuheit aufweise.

7        Am 23. April 2020 legte die Streithelferin beim EUIPO Beschwerde gegen die Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung ein.

8        Mit der angefochtenen Entscheidung gab die Beschwerdekammer der Beschwerde statt, hob die Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung auf und erklärte das angegriffene Geschmacksmuster für nichtig, weil ihm im Hinblick auf das ältere Geschmacksmuster die Eigenart im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 fehle.

 Anträge der Parteien

9        Die Klägerin beantragt,

–        die angefochtene Entscheidung aufzuheben;

–        dem EUIPO die Kosten einschließlich der im Beschwerdeverfahren angefallenen Kosten aufzuerlegen.

10      Das EUIPO beantragt,

–        die Klage abzuweisen;

–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

11      Die Streithelferin beantragt, die Klage abzuweisen.

 Rechtliche Würdigung

 Zur Zulässigkeit des erstmals vor dem Gericht vorgelegten Schriftstücks

12      Das EUIPO und die Streithelferin tragen vor, dass die Anlage K 6 zur Klageschrift erstmals vor dem Gericht vorgelegt worden sei, so dass es sich um einen neuen Gesichtspunkt handele, der als unzulässig anzusehen sei.

13      Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass es sich bei der Anlage K 6 nicht um einen neuen Gesichtspunkt handele, da sie der englischen Übersetzung der Anlagen LHR 1 und LHR 10 entspreche.

14      Hierzu ist zum einen festzustellen, dass die in Rede stehende Anlage, die einem englischsprachigen Auszug eines Verkaufsangebots des vom älteren Geschmacksmuster erfassten Erzeugnisses auf der Website „amazon.de“ entspricht, nicht zu den von der Klägerin vor der Beschwerdekammer vorgelegten Unterlagen gehörte. Zum anderen enthält diese Anlage eine Information, die nicht in den Anlagen LHR 1 und LHR 10 enthalten war, nämlich dass das betreffende Erzeugnis Teil der Produktreihe Agionda 2017 war, und über die die Beschwerdekammer beim Erlass der angefochtenen Entscheidung nicht verfügte. Dieses Dokument stellt somit einen neuen Gesichtspunkt dar.

15      Da die Klage beim Gericht auf die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der von den Beschwerdekammern des EUIPO erlassenen Entscheidungen im Sinne von Art. 61 der Verordnung Nr. 6/2002 gerichtet ist, ist es nicht Aufgabe des Gerichts, den Sachverhalt im Licht erstmals bei ihm vorgebrachter Gesichtspunkte zu überprüfen.

16      Daher ist diese Anlage zurückzuweisen, ohne dass ihre Beweiskraft geprüft zu werden braucht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. März 2010, Grupo Promer Mon Graphic/HABM – PepsiCo [Wiedergabe eines runden Werbeträgers], T‑9/07, EU:T:2010:96, Rn. 24).

 Zur Zulässigkeit der erstmals vor dem Gericht vorgebrachten Argumente

17      Das EUIPO trägt vor, das Argument der Klägerin, dass das in den Anlagen LHR 1 und LHR 10 genannte Erzeugnis nicht mit dem vom älteren Geschmacksmuster erfassten Erzeugnis übereinstimme, werde vor dem Gericht erstmals vorgetragen. Dasselbe macht die Streithelferin in Bezug auf das Vorbringen der Klägerin geltend, dass sich das angegriffene Geschmacksmuster vom älteren Geschmacksmuster aufgrund einer Verstärkung zwischen dem vorderen und dem hinteren Stuhlbein unterscheide.

18      Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass diese Argumente bereits in ihrer Stellungnahme vom 9. Oktober 2020 zum Schriftsatz der Streithelferin enthalten seien, in der diese die Begründung ihrer Beschwerde vor der Beschwerdekammer darlege.

19      Hierzu ist festzustellen, dass die fraglichen Argumente entgegen dem Vorbringen der Klägerin nicht in ihrer Stellungnahme vom 9. Oktober 2020 enthalten sind. Sie sind auch nicht in ihrer Stellungnahme vom 18. Dezember 2019 zum Antrag auf Nichtigerklärung enthalten. Diese Argumente stellen somit neue Gesichtspunkte dar, zu denen die Beschwerdekammer nicht Stellung nehmen konnte.

20      Wie oben in Rn. 15 ausgeführt, ist die Klage beim Gericht auf die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der von den Beschwerdekammern des EUIPO erlassenen Entscheidungen im Sinne von Art. 61 der Verordnung Nr. 6/2002 gerichtet, so dass es nicht Aufgabe des Gerichts ist, den Sachverhalt im Licht erstmals bei ihm vorgebrachter Gesichtspunkte zu überprüfen.

21      Folglich ist dieses Vorbringen als unzulässig zurückzuweisen (vgl. Urteil vom 13. Juli 2022, Unimax Stationery/EUIPO – Mitsubishi Pencil [uni], T‑369/21, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:451, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 Zur Begründetheit

22      Die Klägerin stützt ihre Klage im Wesentlichen auf drei Klagegründe, mit denen sie erstens einen Verstoß gegen Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 6/2002 in Verbindung mit deren Art. 7, zweitens einen Verstoß gegen Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 6/2002 in Verbindung mit deren Art. 6 und drittens einen Verstoß gegen Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 6/2002 in Verbindung mit deren Art. 5 geltend macht.

 Erster Klagegrund: Verstoß gegen Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 6/2002 in Verbindung mit deren Art. 7

23      Die Klägerin trägt im Wesentlichen zunächst vor, dass die Beschwerdekammer zu Unrecht, und ohne eine Erklärung hierfür zu geben, das Datum der Erstellung der Amazon Standard Identification Number (ASIN) dem Datum der Offenbarung des älteren Geschmacksmusters D 1 gleichgesetzt habe. Zudem habe der Tag, an dem das vom älteren Geschmacksmuster erfasste Erzeugnis auf der Amazon-Plattform zum Verkauf angeboten worden sei, nach der Rechtsprechung des Gerichts und der nationalen Rechtsprechung des Bundespatentgerichts (Deutschland) keinen ausreichenden Beweiswert für die Feststellung des Tags der Offenbarung des älteren Geschmacksmusters. Schließlich weist die Klägerin darauf hin, dass sie im Verwaltungsverfahren zahlreiche Nachweise und Indizien vorgelegt habe, die von der Beschwerdekammer nicht richtig gewürdigt worden seien und die die Glaubhaftigkeit der Offenbarung des älteren Geschmacksmusters als relevantes älteres Geschmacksmuster in Frage stellten. Insbesondere sei es zum einen ungewöhnlich, dass es zu einem von Amazon angebotenen Produkt in sechs Jahren nur eine einzige Kundenbewertung gebe. Außerdem beziehe sich diese Bewertung nicht auf das vom älteren Geschmacksmuster erfasste Erzeugnis. Zum anderen sei das in den Anlagen LHR 1 und LHR 10 abgebildete Erzeugnis nicht das vom älteren Geschmacksmuster erfasste Erzeugnis.

24      Das EUIPO und die Streithelferin treten dem Vorbringen der Klägerin entgegen.

25      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 ein Geschmacksmuster als der Öffentlichkeit zugänglich gemacht gilt, wenn es nach der Eintragung oder auf andere Weise bekannt gemacht oder wenn es ausgestellt, im Verkehr verwendet oder auf sonstige Weise offenbart wurde, und zwar vor dem Tag der Anmeldung zur Eintragung oder, wenn eine Priorität in Anspruch genommen wird, vor dem Prioritätstag, es sei denn, dass dies den in der Europäischen Union tätigen Fachkreisen des betreffenden Wirtschaftszweigs im normalen Geschäftsverlauf nicht bekannt sein konnte.

26      Nach der Rechtsprechung gilt ein Geschmacksmuster daher als offenbart, wenn die Partei, die dies geltend macht, die die Offenbarung darstellenden Tatsachen bewiesen hat. Um diese Vermutung zu widerlegen, ist es hingegen Sache der die Offenbarung bestreitenden Partei, rechtlich hinreichend zu belegen, dass die Umstände des konkreten Falles verhindern konnten, dass diese Tatsachen den Fachkreisen des betreffenden Wirtschaftszweigs im normalen Geschäftsverlauf bekannt sind (vgl. Urteil vom 13. Juni 2019, Visi/one/EUIPO – EasyFix [Informationstafeln für Fahrzeuge], T‑74/18, EU:T:2019:417, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Zur Feststellung der Offenbarung eines älteren Geschmacksmusters ist daher eine zweistufige Analyse durchzuführen, bei der erstens geprüft wird, ob die im Antrag auf Nichtigerklärung vorgelegten Nachweise zum einen den Tatbestand der Offenbarung eines Geschmacksmusters und zum anderen den zeitlichen Vorrang dieser Offenbarung vor dem Anmelde- oder Prioritätstag des angegriffenen Geschmacksmusters belegen, und zweitens – falls der Inhaber des angegriffenen Geschmacksmusters das Gegenteil behauptet haben sollte –, ob diese Tatsachen den in der Union tätigen Fachkreisen des betreffenden Wirtschaftszweigs im normalen Geschäftsverlauf vernünftigerweise bekannt sein konnten, da andernfalls eine Offenbarung als unwirksam angesehen und nicht berücksichtigt wird (vgl. Urteil vom 13. Juni 2019, Informationstafeln für Fahrzeuge, T‑74/18, EU:T:2019:417, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28      Die Verordnung (EG) Nr. 2245/2002 der Kommission vom 21. Oktober 2002 zur Durchführung der Verordnung Nr. 6/2002 (ABl. 2002, L 341, S. 28) enthält keinerlei Einzelheiten zu den Beweisen, die der Antragsteller im Nichtigkeitsverfahren in Bezug auf die Offenbarung des älteren Geschmacksmusters beizubringen hat. Insbesondere bestimmt Art. 28 Abs. 1 Buchst. b Ziff. v dieser Verordnung lediglich, dass der Antrag auf Nichtigerklärung, wenn er u. a. mit der fehlenden Neuheit des Gemeinschaftsgeschmacksmusters, für das der Schutz beantragt wird, begründet wird, die Angabe und die Wiedergabe des Geschmacksmusters des Antragstellers im Nichtigkeitsverfahren, das schädlich für die Neuheit oder Eigenart des Gemeinschaftsgeschmacksmusters sein könnte, für das der Schutz beantragt wird, sowie Unterlagen, die die frühere Offenbarung des älteren Geschmacksmusters belegen, enthalten muss (vgl. Urteil vom 23. Oktober 2018, Mamas and Papas/EUIPO – Wall‑Budden [Nestchen für Kinderbetten], T‑672/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:707, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Ferner legen weder die Verordnung Nr. 6/2002 noch die Verordnung Nr. 2245/2002 eine verpflichtende Form für die Beweise fest, die vom Antragsteller im Nichtigkeitsverfahren zum Nachweis der Offenbarung seines Geschmacksmusters vor dem Tag der Anmeldung des Geschmacksmusters, für das der Schutz beantragt wird, beizubringen sind. So verlangt Art. 28 Abs. 1 Buchst. b Ziff. v und vi der Verordnung Nr. 2245/2002 nur, dass der Antrag auf Nichtigerklärung „Unterlagen, die die Existenz [des] älteren [Geschmacksmusters] belegen“, und die „zur Begründung vorgebrachten Tatsachen, Beweismittel und Bemerkungen“ enthält. Auch Art. 65 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 sieht nur eine nicht erschöpfende Liste von in Verfahren vor dem EUIPO möglichen Beweismitteln vor (vgl. Urteil vom 23. Oktober 2018, Nestchen für Kinderbetten, T‑672/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:707, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Daraus folgt, dass der Antragsteller die Beweise, von denen er annimmt, dass ihre Vorlage beim EUIPO der Stützung seines Antrags auf Nichtigerklärung dient, frei wählen kann und dass das EUIPO alle vorgelegten Beweisstücke daraufhin prüfen muss, ob sie tatsächlich die Offenbarung des älteren Geschmacksmusters belegen (vgl. Urteil vom 23. Oktober 2018, Nestchen für Kinderbetten, T‑672/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:707, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Die Offenbarung eines älteren Geschmacksmusters lässt sich jedoch nicht mit Wahrscheinlichkeitsannahmen oder Vermutungen nachweisen, sondern muss auf konkreten und objektiven Umständen beruhen, die eine tatsächliche Offenbarung des älteren Geschmacksmusters auf dem Markt belegen. Im Übrigen sind die vom Antragsteller im Nichtigkeitsverfahren vorgelegten Beweise in ihrer Wechselbeziehung zu würdigen. Denn auch wenn einige von ihnen möglicherweise für sich genommen nicht ausreichen, um die Offenbarung eines älteren Geschmacksmusters zu belegen, können sie doch, wenn sie miteinander verbunden oder zusammen mit anderen Dokumenten oder Informationen betrachtet werden, dazu beitragen, den Beweis für die Offenbarung zu erbringen. Schließlich sind zur Beurteilung des Beweiswerts eines Dokuments die Wahrscheinlichkeit und die Glaubhaftigkeit der darin enthaltenen Informationen zu prüfen. Zu berücksichtigen sind insbesondere die Herkunft des Dokuments, die Umstände seiner Ausarbeitung, sein Adressat sowie die Frage, ob es seinem Inhalt nach vernünftig und glaubhaft erscheint (vgl. Urteil vom 23. Oktober 2018, Nestchen für Kinderbetten, T‑672/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:707, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Im vorliegenden Fall hat die Streithelferin als Beweis für die Offenbarung des älteren Geschmacksmusters die Anlagen LHR 1 und LHR 10 vorgelegt, bei denen es sich um zwei Verkaufsangebote des vom älteren Geschmacksmuster erfassten Erzeugnisses auf der Online‑Verkaufsplattform „amazon.de“ handelt.

33      Nach Prüfung dieser Unterlagen ist die Beschwerdekammer wie die Nichtigkeitsabteilung zu dem Ergebnis gelangt, dass die von der Streithelferin vorgelegten Beweise die Feststellung erlaubten, dass das ältere Geschmacksmuster im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 vor dem Tag der Anmeldung des angegriffenen Geschmacksmusters offenbart worden sei.

34      Insbesondere war die Beschwerdekammer der Ansicht, dass die Auszüge des Verkaufsangebots des vom älteren Geschmacksmuster erfassten Erzeugnisses auf der Online‑Verkaufsplattform Amazon, die die URL‑Adresse der Website, eine klare Abbildung des älteren Geschmacksmusters, seine ASIN und das Datum der erstmaligen Verfügbarkeit des Erzeugnisses auf der Plattform enthielten, für die Anwendung von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 hinreichend beweiskräftig seien.

35      Entgegen dem Vorbringen der Klägerin ist dieser Schlussfolgerung der Beschwerdekammer, die keinen Fehler aufweist, beizupflichten.

36      Nach der Rechtsprechung gibt es nämlich keine Einschränkung hinsichtlich des Ortes, an dem eine Offenbarung stattfinden muss, damit ein Geschmacksmuster als der Öffentlichkeit zugänglich gemacht gilt (vgl. Urteil vom 20. Oktober 2021, JMS Sports/EUIPO – Inter‑Vion [Spiralhaargummi], T‑823/19, EU:T:2021:718, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37      Aus der Rechtsprechung ergibt sich ferner, dass, selbst wenn die Annahme naheliegen mag, dass der Inhalt einer Website jederzeit geändert werden und nachträglich schwer überprüft werden kann, solche Erwägungen aufgrund der von Amazon für jedes erstmals in ihrem Katalog angebotene Produkt vergebenen ASIN auf die Verkaufsangebote auf der Website von Amazon keine Anwendung finden können. Die ASIN ist eine an jeden Artikel im Katalog vergebene eindeutige Referenznummer, die es erlaubt, diesen Artikel auf der Online‑Verkaufsplattform Amazon zu identifizieren. Der Website „Amazon.de Hilfe“ ist zu entnehmen, dass diese Nummer erstellt wird, wenn ein Produkt zum ersten Mal im Amazon‑Katalog angeboten wird, und dass es verboten ist, eine neue ASIN für ein bereits auf Amazon angebotenes Produkt zu vergeben. Derselben Website zufolge wird, wenn ein Verkäufer Daten zu einem Produkt an Amazon übermittelt, automatisch geprüft, ob es bereits eine Produktdetailseite oder eine Angebots‑Website mit einer ASIN für das Produkt gibt, das der Verkäufer anbieten will (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2018, Gramberg/EUIPO – Mahdavi Sabet [Hülle für Mobiltelefon], T‑166/15, EU:T:2018:100, Rn. 43 bis 46 und 71).

38      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Anlagen LHR 1 und LHR 10 tatsächlich Screenshots von Verkaufsangeboten des vom älteren Geschmacksmuster erfassten Erzeugnisses auf der Website „amazon.de“ entsprachen. In diesen Verkaufsangeboten, die dieselbe ASIN hatten, war eindeutig der 16. Oktober 2012 als Zeitpunkt der Verfügbarkeit des Erzeugnisses auf der Plattform angegeben.

39      Folglich ist der Beschwerdekammer darin beizupflichten, dass diese Anlagen hinreichend genaue und verlässliche Informationen zum Zeitpunkt der Verfügbarkeit des vom älteren Geschmacksmuster erfassten Erzeugnisses enthalten.

40      Außerdem ist festzustellen, dass die Klägerin keinen ernsthaften und konkreten Anhaltspunkt vorgebracht hat, der Zweifel an der Glaubhaftigkeit der in diesen Anlagen enthaltenen Informationen aufwerfen könnte. Ihr Vorbringen beschränkt sich nämlich darauf, in abstrakter und theoretischer Weise geltend zu machen, wie der Inhalt der Verkaufsangebote auf der Website Amazon manipuliert werden könnte. Wie jedoch die Beschwerdekammer in Rn. 31 der angefochtenen Entscheidung – unter Verweis u. a. auf Rn. 49 des Urteils vom 20. Oktober 2021, Spiralhaargummi (T‑823/19, EU:T:2021:718) – zu Recht festgestellt hat, stellt die rein abstrakte Möglichkeit, dass Inhalt oder Datum einer Website manipuliert werden, keinen hinreichenden Grund dar, um die Glaubhaftigkeit des Beweises in Form eines Screenshots dieser Website in Frage zu stellen. Diese Glaubhaftigkeit kann nur durch die Berufung auf Tatsachen in Frage gestellt werden, die in konkreter Weise auf eine Manipulation schließen lassen, wie eindeutige Hinweise auf Verfälschungen, unbestreitbare Widersprüche in den angegebenen Informationen oder offensichtliche Unstimmigkeiten, die vernünftigerweise Zweifel an der Authentizität der Screenshots der betreffenden Website rechtfertigen können. Das Vorbringen der Klägerin wird jedoch im Wesentlichen auf unbelegte Behauptungen gestützt, denen nicht gefolgt werden kann.

41      Dies gilt zum einen für das Vorbringen, dass es sich bei dem in diesen Anlagen enthaltenen Zeitpunkt des Verkaufsangebots nicht um den 16. Oktober 2012 habe handeln können, da die einzige Kundenbewertung am 27. Mai 2018 erfolgt sei. Es sei nämlich ungewöhnlich, dass es zu einem von Amazon angebotenen Produkt in sechs Jahren nur eine einzige Kundenbewertung gebe. Wie die Beschwerdekammer in Rn. 32 der angefochtenen Entscheidung aber zutreffend ausgeführt hat, stellt der Umstand, dass es nur eine einzige Kundenbewertung gibt, keinen hinreichenden Hinweis auf die geringe Zuverlässigkeit des Inhalts dieser Anlagen dar.

42      Dies gilt zum anderen für das Vorbringen, dass das in dieser Bewertung verwendete Wort nicht dem von dem älteren Geschmacksmuster erfassten Erzeugnis entspreche. Insoweit ist in Übereinstimmung mit der Beschwerdekammer davon auszugehen, dass diese Feststellung keinen Gesichtspunkt darstellen kann, der geeignet wäre, die Glaubhaftigkeit dieser Anlagen in Frage zu stellen, da die Nutzer die Begriffe frei wählen können, die sie zur Beschreibung eines Erzeugnisses für richtig halten.

43      Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass das Vorbringen, wonach es sich bei dem Erzeugnis in den Anlagen LHR 1 und LHR 10 nicht um das vom älteren Geschmacksmuster erfasste Erzeugnis handele, und die zur Stützung dieses Vorbringens vorgelegte Anlage oben in den Rn. 21 bzw. 16 für unzulässig erklärt worden sind.

44      Folglich hat die Beschwerdekammer fehlerfrei festgestellt, dass die Anlagen LHR 1 und LHR 10 für den Nachweis des Zeitpunkts der Offenbarung des älteren Geschmacksmusters ausreichend seien.

45      Das weitere Vorbringen der Klägerin kann diese Schlussfolgerung nicht in Frage stellen.

46      Erstens trägt die Klägerin vor, dass die Beschwerdekammer zu Unrecht, und ohne eine Erklärung hierfür zu geben, das Datum der Erstellung der ASIN dem Datum der Offenbarung des älteren Geschmacksmusters gleichgesetzt habe.

47      Insoweit kann es in Übereinstimmung mit dem EUIPO mit der Feststellung sein Bewenden haben, dass die Klägerin die angefochtene Entscheidung missversteht, da aus dieser nicht hervorgeht, dass die Beschwerdekammer die behauptete Gleichsetzung vorgenommen hat. In Rn. 30 der angefochtenen Entscheidung hat die Beschwerdekammer nämlich festgestellt, dass „das Datum der erstmaligen Verfügbarkeit (‚Im Angebot von Amazon.de seit: 16. Oktober 2012‘) ebenfalls in diesem [dem Abschnitt Information] angegeben ist, was – wie [die Streithelferin] erläutert hat – belegt, dass das Erzeugnis auf der Plattform Amazon seit dem 16. Oktober 2012 verfügbar ist, d. h. vor dem Tag der Anmeldung des angegriffenen [Gemeinschaftsgeschmacksmusters]“. In Rn. 33 der angefochtenen Entscheidung hat die Beschwerdekammer daher festgestellt, dass „das ältere Geschmacksmuster D 1 der Öffentlichkeit ab dem 16. Oktober 2012 zugänglich gemacht wurde“.

48      Daraus folgt, dass die Beschwerdekammer entgegen dem Vorbringen der Klägerin für die Feststellung des Zeitpunkts der Offenbarung des älteren Geschmacksmusters nicht auf den Zeitpunkt der Erstellung der ASIN, sondern auf den Zeitpunkt der Verfügbarkeit des Verkaufsangebots des vom älteren Geschmacksmuster erfassten Erzeugnisses auf der Plattform Amazon abgestellt hat.

49      Im Übrigen ist festzustellen, dass in der angefochtenen Entscheidung an keiner Stelle das Datum der Erstellung der ASIN genannt wird.

50      Folglich ist das Vorbringen der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen.

51      Zweitens macht die Klägerin geltend, dass die Screenshots der Website „amazon.de“ nach der Rechtsprechung des Gerichts und der nationalen Rechtsprechung des Bundespatentgerichts keinen ausreichenden Beweiswert hätten, um den Tag der Offenbarung des älteren Geschmacksmusters festzustellen.

52      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Analogie, die die Klägerin zum Urteil vom 16. Juni 2016, Fútbol Club Barcelona/EUIPO – Kule (KULE) (T‑614/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:357), herzustellen versucht, im vorliegenden Fall unmaßgeblich ist, da – wie oben aus Rn. 36 hervorgeht – die Möglichkeiten zu einer Änderung der Daten zu Verkaufsangeboten von Produkten auf der Plattform Amazon im Gegensatz zu Auszügen der Website Wikipedia, bei der es sich um eine nicht gesicherte Information handelt und deren Inhalt jederzeit und in bestimmten Fällen von jedem Besucher, selbst anonym, geändert werden kann, wesentlich geringer sind (vgl. Urteil vom 20. Oktober 2021, Spiralhaargummi, T‑823/19, EU:T:2021:718, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

53      Dasselbe gilt für den Verweis der Klägerin auf die Entscheidung des Bundespatentgerichts. Die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen der Beschwerdekammern ist nämlich ausschließlich anhand der Verordnung Nr. 6/2002 in ihrer Auslegung durch den Unionsrichter zu prüfen und nicht auf der Grundlage einer nationalen Rechtsprechung, selbst wenn diese auf Vorschriften beruht, die denen dieser Verordnung entsprechen (vgl. Urteil vom 4. Juli 2017, Murphy/EUIPO – Nike Innovate [Elektronisches Uhrenarmband], T‑90/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:464, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54      Jedenfalls hat die Klägerin keinen ernsthaften und konkreten Anhaltspunkt vorgebracht, der Zweifel an der Glaubhaftigkeit der in den Anlagen LHR 1 und LHR 10 enthaltenen Informationen aufwerfen könnte.

55      Folglich ist das Vorbringen der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen.

56      Nach alledem ist der erste Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.

 Zweiter Klagegrund: Verstoß gegen Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 6/2002 in Verbindung mit deren Art. 6

57      Die Klägerin wirft der Beschwerdekammer im Wesentlichen vor, dadurch einen Fehler begangen zu haben, dass sie die Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters im Hinblick auf das ältere Geschmacksmuster geprüft habe, obwohl dieses Geschmacksmuster von der Streithelferin in ihrem Antrag auf Nichtigerklärung und in dessen Begründung insoweit nicht geltend gemacht worden sei.

58      Das EUIPO und die Streithelferin halten die Rüge der Klägerin der Sache nach für irrelevant, da aus dem Antrag auf Nichtigerklärung und dessen Begründung klar hervorgehe, dass das ältere Geschmacksmuster zur Stützung der Nichtigkeitsgründe der fehlenden Neuheit und der fehlenden Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters geltend gemacht worden sei.

59      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 63 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 in Bezug auf die Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen bestimmt, dass das EUIPO im Rahmen eines Nichtigkeitsverfahrens bei dieser Ermittlung auf das Vorbringen und die Anträge der Beteiligten beschränkt ist. Diese Bestimmung betrifft insbesondere die tatsächliche Grundlage der Entscheidungen des EUIPO, also die Tatsachen und Beweise, auf die diese Entscheidungen wirksam gestützt werden können. So darf die Beschwerdekammer ihre Entscheidung über eine Beschwerde, mit der ein Nichtigkeitsverfahren abgeschlossen wird, nur auf die von den Verfahrensbeteiligten vorgetragenen Tatsachen und beigebrachten Beweise stützen (vgl. Urteil vom 17. September 2019, Aroma Essence/EUIPO – Refan Bulgaria [Körperpflegeschwamm], T‑532/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:609, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60      Ferner bestimmt Art. 52 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002, dass der Antrag auf Nichtigerklärung schriftlich einzureichen und zu begründen ist. Nach Art. 28 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i und vi der Verordnung Nr. 2245/2002 muss ein Antrag auf Nichtigerklärung die Angabe der Nichtigkeitsgründe und die zu seiner Begründung vorgebrachten Tatsachen, Beweismittel und Bemerkungen enthalten. Art. 28 Abs. 1 Buchst. b Ziff. v der Verordnung Nr. 2245/2002 verlangt darüber hinaus, dass der Antrag auf Nichtigerklärung, wenn er u. a. auf das Fehlen von Neuheit oder Eigenart des eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters gestützt wird, die Angabe und die Wiedergabe der älteren Geschmacksmuster, die schädlich für die Neuheit oder Eigenart des eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters sein könnten, sowie Unterlagen, die die Existenz dieser älteren Muster belegen, enthalten muss.

61       Diesen Bestimmungen ist mithin zu entnehmen, dass es zum einen Sache des Antragstellers im Nichtigkeitsverfahren ist, dem EUIPO die erforderlichen Angaben und insbesondere eine genaue und vollständige Bezeichnung und Wiedergabe des Geschmacksmusters, dessen zeitlicher Vorrang behauptet wird, vorzulegen, um darzutun, dass das angegriffene Geschmacksmuster nicht rechtsgültig eingetragen werden kann. Zum anderen ist es nicht Sache des EUIPO, sondern des Antragstellers im Nichtigkeitsverfahren, die Gesichtspunkte und Angaben vorzubringen, durch die das Vorliegen dieses Nichtigkeitsgrundes belegt wird (vgl. Urteil vom 17. September 2019, Körperpflegeschwamm, T‑532/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:609, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

62      In Rn. 38 der angefochtenen Entscheidung ist die Beschwerdekammer davon ausgegangen, dass aus dem Formular für den Antrag auf Nichtigerklärung in Verbindung mit dem Schriftsatz, in dem die Gründe für diesen Antrag dargelegt werden, eindeutig hervorgehe, dass die Streithelferin von Anfang an angegeben habe, welche älteren Geschmacksmuster der Neuheit und Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters entgegenstünden. Diese Auslegung werde auch durch die Schlussfolgerung in der Beschwerdebegründung bestätigt, in der die Streithelferin ausgeführt habe, dass „… das Gemeinschaftsgeschmacksmuster Nr. 002745554‑0002 angesichts der in den Auszügen dargestellten Geschmacksmuster, die alle mit dem [angegriffenen Gemeinschaftsgeschmacksmuster] in hohem Maße vergleichbar sind, keine Besonderheiten aufweist, so dass der Antrag … gemäß Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der [Verordnung Nr. 6/2002] begründet ist“. Im Formular für den Antrag sei auch nicht zwischen den Geschmacksmustern unterschieden worden, die zur Stützung des Nichtigkeitsgrundes nach Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 6/2002 in Verbindung mit deren Art. 4 Abs. 1 geltend gemacht worden seien. Die Beschwerdekammer gelangte daher zu dem Ergebnis, dass die Nichtigkeitsabteilung einen Fehler begangen habe, indem sie das ältere Geschmacksmuster ausschließlich im Hinblick auf Art. 5 der Verordnung Nr. 6/2002 geprüft habe, während es auch im Hinblick auf Art. 6 dieser Verordnung hätte geprüft werden müssen.

63      Entgegen der Auffassung der Beschwerdekammer geht aus dem Formular für den Antrag auf Nichtigerklärung und dem Schriftsatz, in dem die Gründe für diesen Antrag dargelegt werden, aber nicht eindeutig hervor, dass das ältere Geschmacksmuster auch zur Stützung des Nichtigkeitsgrundes nach Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 geltend gemacht wurde. Diese Feststellung der Beschwerdekammer lässt sich nämlich kaum mit den in diesen Dokumenten enthaltenen Informationen in Einklang bringen.

64      Insoweit ist zum einen festzustellen, dass das Formular für den Antrag auf Nichtigerklärung keine Angabe dahin enthielt, dass das ältere Geschmacksmuster auch zur Stützung des Nichtigkeitsgrundes gemäß Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 geltend gemacht worden wäre. Insbesondere hatte die Streithelferin im Abschnitt „Veröffentlichungen/Kataloge/Websites“ keines der älteren Geschmacksmuster als schädlich für die Neuheit und Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters bezeichnet.

65      Zum anderen wurde der Schriftsatz, in dem die Gründe für den Antrag auf Nichtigerklärung dargelegt wurden, klar in zwei verschiedene Teile gegliedert, wobei der erste Art. 5 der Verordnung Nr. 6/2002 und der zweite Art. 6 dieser Verordnung betraf. Das ältere Geschmacksmuster wurde indes nur zur Stützung des Nichtigkeitsgrundes nach Art. 5 der Verordnung Nr. 6/2002 geltend gemacht und gehörte nicht zu den älteren Geschmacksmustern, die zur Stützung des Nichtigkeitsgrundes nach Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 geltend gemacht wurden.

66      Im Übrigen geht entgegen den Angaben des EUIPO und der Streithelferin in der mündlichen Verhandlung aus dem letzten Absatz dieses Schriftsatzes nicht hervor, dass das ältere Geschmacksmuster als geeignet bezeichnet wurde, der Neuheit und Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters entgegenzustehen. In diesem letzten Absatz beschränkt sich die Streithelferin nämlich auf den allgemeinen Hinweis, dass auf der Grundlage aller in den Auszügen dargestellten Geschmacksmuster festgestellt werden müsse, dass das angegriffene Geschmacksmuster keine Besonderheiten aufweise, so dass der Antrag auf Nichtigerklärung gemäß Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 6/2002 zulässig und begründet sei. Diese allgemeine Feststellung lässt somit nicht den Schluss zu, dass sich die Streithelferin zur Stützung des Nichtigkeitsgrundes der fehlenden Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters auf das ältere Geschmacksmuster berufen hätte.

67      Folglich kann aus dem Formular für den Antrag auf Nichtigerklärung und dem Schriftsatz, in dem die Gründe für diesen Antrag dargelegt werden, nicht geschlossen werden, dass das ältere Geschmacksmuster auch zur Stützung des Nichtigkeitsgrundes nach Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 geltend gemacht wurde.

68      Außerdem hat das Gericht bereits entschieden, dass sich weder das EUIPO noch der Antragsteller im Nichtigkeitsverfahren zur Begründung des Fehlens der Eigenart (Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002) auf bestimmte der geltend gemachten älteren Geschmacksmuster stützen können, wenn sich aus dem Antrag auf Nichtigerklärung ergibt, dass diese Geschmacksmuster nur zur Stützung eines anderen Nichtigkeitsgrundes wie z. B. des Fehlens der Neuheit (Art. 5 dieser Verordnung) geltend gemacht wurden (vgl. Urteil vom 27. April 2022, Group Nivelles/EUIPO – Easy Sanitary Solutions [Duschabfluss], T‑327/20, EU:T:2022:263, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

69      Daher hat die Beschwerdekammer dadurch, dass sie den auf Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 gestützten Nichtigkeitsgrund im Licht des älteren Geschmacksmusters geprüft hat, obwohl dieses Geschmacksmuster nicht zu den von der Streithelferin zur Stützung dieses Nichtigkeitsgrundes in ihrem Antrag geltend gemachten Geschmacksmustern gehörte, die Grenzen ihrer Befugnisse überschritten und folglich gegen Art. 63 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 verstoßen.

70      Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen der Art. 4 bis 9 der Verordnung Nr. 6/2002 die Anwendung unterschiedlicher rechtlicher Kriterien erfordern (vgl. Urteil vom 10. Juni 2020, L. Oliva Torras/EUIPO – Mecánica del Frío [Anhängevorrichtungen für Fahrzeuge], T‑100/19, EU:T:2020:255, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

71      Die Annahme, dass die Beschwerdekammer von Amts wegen einen vom Beschwerdeführer nicht geltend gemachten Nichtigkeitsgrund prüfen kann, hätte somit außerdem zur Folge, dass dem Beschwerdeführer die Möglichkeit genommen würde, sein Vorbringen zu einem solchen Nichtigkeitsgrund geltend zu machen, zumal der von der Beschwerdekammer von Amts wegen geprüfte Nichtigkeitsgrund im vorliegenden Fall die Beurteilung unterschiedlicher rechtlicher Kriterien erforderte, da es sich um zwei verschiedene Nichtigkeitsgründe handelt. Insbesondere geht der Wortlaut von Art. 6 über den von Art. 5 der Verordnung Nr. 6/2002 hinaus, und ein angegriffenes Geschmacksmuster wird als neu im Sinne von Art. 5 der Verordnung Nr. 6/2002 angesehen werden können, auch wenn es keine Eigenart im Sinne von deren Art. 6 aufweist (vgl. Urteil vom 14. März 2018, Gifi Diffusion/EUIPO – Crocs [Fußbekleidung], T‑424/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:136, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Erfordernis der Eigenart nach Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 ist nämlich strenger als das Erfordernis der Neuheit nach Art. 5 dieser Verordnung, weil es einen höheren Grad der Differenzierung gegenüber jedem älteren Geschmacksmuster verlangt (vgl. Urteil vom 27. April 2022, Duschabfluss, T‑327/20, EU:T:2022:263, Rn. 170 und die dort angeführte Rechtsprechung).

72      Unter diesen Umständen ist dem zweiten Klagegrund stattzugeben, ohne dass die übrigen Rügen der Klägerin näher geprüft zu werden brauchen.

73      Folglich ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben.

 Kosten

74      Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

75      Da im vorliegenden Fall das EUIPO unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag der Klägerin die Kosten aufzuerlegen, die ihr im Rahmen des vorliegenden Verfahrens entstanden sind.

76      Die Klägerin hat außerdem beantragt, dem EUIPO die ihr im Verfahren vor der Beschwerdekammer entstandenen Kosten aufzuerlegen. Nach Art. 190 Abs. 2 der Verfahrensordnung gelten die Aufwendungen der Parteien, die für das Verfahren vor der Beschwerdekammer notwendig waren, als erstattungsfähige Kosten. Folglich sind dem EUIPO auch die Kosten der Klägerin aufzuerlegen, die für das Verfahren vor der Beschwerdekammer notwendig waren.

77      Da die Streithelferin ebenfalls unterlegen ist, die Klägerin aber nicht beantragt hat, sie zur Tragung der Kosten zu verurteilen, sind der Streithelferin nur ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Sechste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Entscheidung der Dritten Beschwerdekammer des Amtes der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) vom 30. November 2021 (Sache R 837/20203) wird aufgehoben.

2.      Das EUIPO trägt die Kosten einschließlich der Kosten der Homy Casa Ltd, die für das Verfahren vor der Beschwerdekammer des EUIPO notwendig waren.

3.      Die Albatros International GmbH trägt ihre eigenen Kosten.

Costeira

Kancheva

Öberg

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. März 2023.

Der Kanzler

 

Der Präsident

E. Coulon

 

S. Papasavvas


*      Verfahrenssprache: Deutsch.