Language of document : ECLI:EU:C:2012:691

Rechtssache C‑40/11

Yoshikazu Iida

gegen

Stadt Ulm

(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg)

„Art. 20 AEUV und 21 AEUV – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 51 – Richtlinie 2003/109/EG – Drittstaatsangehörige – Aufenthaltsrecht in einem Mitgliedstaat – Richtlinie 2004/38/EG – Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige von Unionsbürgern sind – Drittstaatsangehöriger, der weder einen Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat begleitet noch ihm dorthin nachzieht, sondern im Herkunftsmitgliedstaat des Unionsbürgers bleibt – Aufenthaltsrecht des Drittstaatsangehörigen im Herkunftsmitgliedstaat eines Unionsbürgers, der sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhält – Unionsbürgerschaft – Grundrechte“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 8. November 2012

1.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen – Richtlinie 2003/109 – Gewährung einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung – Voraussetzungen – Pflicht zur Stellung eines Antrags auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels – Drittstaatsangehöriger, der seinen Antrag freiwillig zurückgenommen hat – Folge

(Richtlinie 2003/109 des Rates, Art. 5 und 7 Abs. 1)

2.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38 – Begünstigte – Familienangehörige – Begriff – Verwandter in aufsteigender Linie, dem nicht von einem Unionsbürger Unterhalt gewährt wird – Ausschluss

(Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 2 Nr. 2 Buchst. d und Art. 3 Abs. 1)

3.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38 – Begünstigte – Familienangehörige – Begriff – Ehegatte – Voneinander getrennt lebende Ehegatten – Einbeziehung

(Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 2 Nr. 2 Buchst. a und Art. 3 Abs. 1)

4.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38 – Begünstigte – Familienangehöriger, der einen Unionsbürger weder begleitet hat noch ihm nachgezogen ist – Ausschluss

(Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 3 Abs. 1)

5.        Unionsbürgerschaft – Bestimmungen des Vertrags – Anwendungsbereich – Unionsbürger, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat – Voraussetzung für die Einbeziehung – Anwendung von Maßnahmen, die bewirken, dass der tatsächliche Genuss des Kernbestands der mit dem Unionsbürgerstatus verbundenen Rechte verwehrt wird – Weigerung des Herkunftsmitgliedstaats eines Unionsbürgers, einem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen das Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38 zu gewähren – Umstand, der zum Nachweis des Verwehrens nicht ausreicht – Würdigung im Hinblick auf Art. 51 der Charta der Grundrechte – Sachverhalt, der nicht unter das Unionsrecht fällt

(Art. 20 AEUV und 21 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 51; Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates; Richtlinie 2003/109 des Rates)

1.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnrn. 36-48)

2.        Nach Art. 2 Nr. 2 Buchst. d der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221, 68/360, 72/194, 73/148, 75/34, 75/35, 90/364, 90/365 und 93/96 ergibt sich die Eigenschaft des Familienangehörigen, dem der aufenthaltsberechtigte Unionsbürger „Unterhalt gewährt“, aus einer tatsächlichen Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Familienangehörige vom Aufenthaltsberechtigten materiell unterstützt wird, so dass sich bei Vorliegen der umgekehrten Situation, in der dem Aufenthaltsberechtigten vom Staatsangehörigen eines Drittstaats Unterhalt gewährt wird, der Drittstaatsangehörige nicht auf die Eigenschaft als Verwandter in aufsteigender Linie, dem der Aufenthaltsberechtigte „Unterhalt gewährt“, berufen kann, um in den Genuss eines Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat zu gelangen.

(vgl. Randnr. 55)

3.        Nach Art. 2 Nr. 2 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221, 68/360, 72/194, 73/148, 75/34, 75/35, 90/364, 90/365 und 93/96 wird der Ehegatte eines Unionsbürgers, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, als ,,Familienangehöriger“ dieses Bürgers eingestuft. Es wird nichts weiter vorausgesetzt als die Ehegatteneigenschaft dieser Person. Daher muss der Ehegatte nicht notwendigerweise ständig bei dem Unionsbürger wohnen, um Inhaber eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts zu sein. Das eheliche Band kann nämlich nicht als aufgelöst angesehen werden, solange dies nicht durch die zuständige Stelle ausgesprochen worden ist. Dies ist bei Ehegatten, die lediglich voneinander getrennt leben, nicht der Fall, selbst wenn sie die Absicht haben, sich später scheiden zu lassen.

(vgl. Randnrn. 57, 58)

4.        Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221, 68/360, 72/194, 73/148, 75/34, 75/35, 90/364, 90/365 und 93/96 gewährt allein den Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die diese Person begleiten oder ihr nachziehen, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht. Ein solches Erfordernis entspricht dem Zweck der abgeleiteten Rechte auf Einreise und Aufenthalt, die die Richtlinie 2004/38 für Familienangehörige von Unionsbürgern vorsieht, da andernfalls der Unionsbürger dadurch, dass ihn seine Familie nicht in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nicht dorthin nachziehen darf, in seiner Freizügigkeit beeinträchtigt sein könnte, weil ihn dies davon abhalten könnte, von seinem Recht Gebrauch zu machen, in diesen Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten. Daher kann einem Drittstaatsangehörigen, der seinen Familienangehörigen, der Unionsbürger ist und sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, weder in den Aufnahmemitgliedstaat begleitet hat noch ihm dorthin nachgezogen ist, auf der Grundlage der Richtlinie 2004/38 kein Aufenthaltsrecht gewährt werden.

(vgl. Randnrn. 61-63)

5.        In Fällen, die nicht durch die Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221, 68/360, 72/194, 73/148, 75/34, 75/35, 90/364, 90/365 und 93/96 geregelt sind und in denen auch kein anderer Anknüpfungspunkt an die Bestimmungen des Unionsrechts über die Unionsbürgerschaft gegeben ist, kann ein Drittstaatsangehöriger kein von einem Unionsbürger abgeleitetes Aufenthaltsrecht beanspruchen.

Ein solcher Bezug ist nicht erwiesen, wenn durch die Weigerung, einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, einen Aufenthaltstitel zu erteilen, dem Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands der mit seinem Unionsbürgerstatus verbundenen Rechte nicht verwehrt oder die Ausübung seines Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, nicht behindert werden kann. Insoweit stellt die rein hypothetische Aussicht einer Beeinträchtigung des Rechts auf Freizügigkeit der Unionsbürger keinen Bezug zum Unionsrecht her, der eng genug wäre, um die Anwendung der Unionsbestimmungen zu rechtfertigen.

Im Übrigen ist, um festzustellen, ob eine solche Weigerung die Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 der Charta der Grundrechte betrifft, u. a. zu prüfen, ob mit der in Rede stehenden nationalen Regelung eine Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann, sowie ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann.

Da die Weigerung, einen Aufenthaltstitel zu erteilen, nicht die Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 der Charta der Grundrechte betrifft, weil die Situation desjenigen, der den Aufenthaltstitel beantragt, nicht vom Unionsrecht geregelt wird, kann die Vereinbarkeit dieser Weigerung mit den Grundrechten nicht anhand der durch die Charta begründeten Rechte geprüft werden.

(vgl. Randnrn. 76, 77, 79-82 und Tenor)