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Vorabentscheidungsersuchen des Sofiyski gradski sad (Bulgarien), eingereicht am 30. Mai 2023– Strafverfahren gegen M.S.S. u. a.

(Rechtssache C-338/23, Bravchev1 )

Verfahrenssprache: Bulgarisch

Vorlegendes Gericht

Sofiyski gradski sad

Parteien des Ausgangsverfahrens

M.S.S. u. a.

Vorlagefragen

Sind mit den unionsrechtlichen Vorschriften und den ihnen entsprechenden bulgarischen Rechtsvorschriften vereinbar:

–     Handlungen der in einem Strafprozess bevollmächtigten Verteidigerin eines Angeklagten, die während des laufenden Verfahrens als Bevollmächtigte der Handelsgesellschaft des Angeklagten (zivilrechtliche) Geschäfte tätigt, die bewusst auf die Schaffung von Voraussetzungen für eine Ablehnung wegen Befangenheit und einen „Interessenkonflikt“ der erkennenden Strafrichterin in Bezug auf diesen Angeklagten abzielen[?]

Falls der Gerichtshof diese Frage verneint, wird er um Antwort ersucht, ob der diesen Angeklagten vertretende Rechtsbeistand, der sich offiziell als Bevollmächtigter der im Eigentum des Angeklagten stehenden Handelsgesellschaft legitimiert hat, um an anderen zivilrechtlichen außergerichtlichen Verfahren mitzuwirken, die während des anhängigen Strafverfahrens zur gezielten und bewussten Schaffung von künstlichen Voraussetzungen für eine Ablehnung wegen Befangenheit und einen Interessenkonflikt der Strafrichterin in Bezug auf diesen Angeklagten geführt haben, die Verteidigung des Angeklagten in diesem Strafverfahren fortsetzen darf.

Sofern die Beurteilung, ob tatsächliche Ablehnungsgründe vorliegen, in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts fällt: Wie ist das in der Richtlinie 2013/48/EU1 festgelegte Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren zu verstehen und handelt es sich dabei um ein absolutes Recht, das uneingeschränkt an die Person eines bestimmten Rechtsbeistands gebunden ist[?] Wie ist der Widerspruch aufzulösen, der darin besteht, dass zum einen das in der europäischen Richtlinie festgelegte Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, das sich im nationalen Recht widerspiegelt, dem Angeklagten volle Befugnisse erteilt, seine Verteidigerin auszuwählen und zu bevollmächtigen, und zum anderen eben diese Verteidigerin Handlungen gesetzt hat, um den Angeklagten dabei zu unterstützen, künstliche Voraussetzungen für eine Ablehnung der berichterstattenden Richterin wegen Befangenheit zu schaffen[?]

Wie ist das in Art. 7 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2012/13/EU1 festgelegte Recht der anderen 13 Angeklagten auf Unterrichtung in Strafverfahren und auf Einsicht in die Verfahrensakte im Hinblick auf das Ablehnungsgesuch und die ihm beigefügten Unterlagen der betreffenden Verteidigerin auszulegen und zu regeln[?] Wie ist dieses Vorgehen der Verteidigerin mit dem Recht der Richterin als Unionsbürgerin auf Achtung des Privat- und Familienlebens in Einklang zu bringen?

Wenn es dem Angeklagten persönlich oder durch seine Handelsgesellschaft gelingt, durch gezieltes und aktives Handeln künstliche Voraussetzungen für einen Interessenkonflikt zu schaffen, ist dann tatsächlich von einem „Interessenkonflikt“ auszugehen, auch wenn diese Voraussetzungen versteckte Hebel darstellen, um sich der Strafverfolgung zu entziehen[?]

Stellt die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens zu den oben genannten Fragen für die Verteidigerin des betreffenden Angeklagten einen Grund dafür dar, die Einleitung und Durchführung eines Disziplinarverfahrens gegen die Richterin des vorlegenden nationalen Gerichts zu beantragen, nachdem diese Richterin unmittelbar nach der Feststellung der Handlungen der Verteidigerin Anzeige bei den zuständigen nationalen Behörden erstattet hat[?]

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1     Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.

1     Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (ABl. 2013, L 294, S. 1).

1     ABl. 2012, L 142, S. 1.