Language of document : ECLI:EU:C:2023:736

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NICHOLAS EMILIOU

vom 5. Oktober 2023(1)

Rechtssache C283/21

VA

gegen

Deutsche Rentenversicherung Bund,

Beteiligter:

RB

(Vorabentscheidungsersuchen des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen [Deutschland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Soziale Sicherheit der Wandererwerbstätigen – Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – Verordnung (EG) Nr. 987/2009 – Art. 44 Abs. 2 – Anwendungsbereich – Leistungen bei Invalidität – Berechnung – Berücksichtigung von in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten ‚Kindererziehungszeiten‘ – Voraussetzungen – Art. 21 AEUV – Freizügigkeit von Unionsbürgern“






I.      Einleitung

1.        Unionsbürger können während ihres gesamten Lebens in verschiedenen Mitgliedstaaten leben und arbeiten. Sie dürfen auch ihre „Karriere unterbrechen“ und sich der Erziehung ihrer Kinder widmen. Eine Person kann ihre berufliche Laufbahn in einem Mitgliedstaat beginnen (im Folgenden: Mitgliedstaat A) und sodann ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen, um ihre Kinder in einem anderen Mitgliedstaat aufzuziehen (im Folgenden: Mitgliedstaat B), bevor sie ihre berufliche Laufbahn im Mitgliedstaat A wiederaufnimmt. Verlangt das Unionsrecht in einer solchen Situation, dass der Mitgliedstaat A bei der Gewährung einer Rente für die betreffende Person seine Rechtsvorschriften auf die im Mitgliedstaat B zurückgelegten „Kindererziehungszeiten“ anwendet und diese Zeiten so berücksichtigt, als wären sie in seinem eigenen Hoheitsgebiet zurückgelegt worden?

2.        Dies war die Kernfrage der Rechtssachen, die zu den Urteilen Elsen(2), Kauer(3) und Reichel-Albert(4) geführt haben und die im Rahmen der Anwendung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71(5), die durch die Verordnungen (EG) Nr. 883/2004(6) und Nr. 987/2009(7) aufgehoben und ersetzt wurde, ergangen sind, sowie, in jüngerer Zeit, des Urteils Pensionsversicherungsanstalt (Kindererziehungszeiten im Ausland)(8), das, wie die vorliegende Rechtssache, einen Sachverhalt betraf, der durch diese beiden zuletzt genannten Verordnungen geregelt wird.

3.        Im Urteil Pensionsversicherungsanstalt hat der Gerichtshof entschieden, dass es sich, obwohl der Unionsgesetzgeber mittlerweile mit Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 eine Sondervorschrift zur Berücksichtigung von im Mitgliedstaat B zurückgelegten „Kindererziehungszeiten“ durch den Mitgliedstaat A erlassen hat, bei dieser Bestimmung nicht um eine abschließende Regelung handelt. Die rechtliche Lösung, die der Gerichtshof im Rahmen der Anwendung der Verordnung Nr. 1408/71 zu einer Zeit entwickelt hat, in der der Unionsgesetzgeber hierzu noch keine Bestimmung erlassen hatte, blieb daher relevant. Auf dieser Grundlage entschied der Gerichtshof, dass Mitgliedstaat A in einer Situation, in der die Voraussetzungen des Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 nicht erfüllt waren, so dass die betreffende Person sich nicht auf diese Bestimmung berufen konnte, dennoch nach Art. 21 AEUV, der die Freizügigkeit der Unionsbürger schützt, verpflichtet war, seine Rechtsvorschriften auf im Mitgliedstaat B zurückgelegte „Kindererziehungszeiten“ anzuwenden und diese Zeiträume so zu behandeln, als wären sie in seinem Hoheitsgebiet zurückgelegt worden, sofern eine „hinreichende Verbindung“ mit den durch die betreffende Person in diesem Mitgliedstaat zurückgelegten „Versicherungszeiten“ bestand. Das wäre der Fall, wenn die betreffende Person sowohl vor als auch nach der Verlegung ihres Wohnsitzes in den Mitgliedstaat B ausschließlich im Mitgliedstaat A gearbeitet und Beiträge entrichtet hätte(9).

4.        Der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens ist etwas anders gelagert. VA, die Klägerin des Ausgangsverfahrens, hat nach meinem Verständnis sowohl vor als auch nach der Erziehung ihrer Kinder in den Niederlanden Zeiten zurückgelegt, die in Deutschland „Versicherungszeiten“ gleichgestellt werden können. Jedoch hat sie erst mehrere Jahre, nachdem sie aufgehört hatte, sich der Erziehung ihrer Kinder zu widmen, begonnen, Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung zu zahlen.

5.        Vor diesem Hintergrund lautet die zentrale Frage in der vorliegenden Rechtssache, ob das Kriterium der „hinreichenden Verbindung“, das der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung entwickelt hat, in einer Situation erfüllt ist, in der die betreffende Person keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung des Mitgliedstaats A entrichtet hat, bevor sie sich der Erziehung ihrer Kinder im Mitgliedstaat B gewidmet hat. Wie ich im Folgenden darlegen werde, bin ich der Auffassung, dass diese Frage zu bejahen ist. Meines Erachtens hindert dieser Umstand für sich genommen nämlich nicht das Entstehen einer „hinreichenden Verbindung“ zwischen den im Mitgliedstaat B zurückgelegten „Kindererziehungszeiten“ und den im Mitgliedstaat A zurückgelegten „Versicherungszeiten“.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Verordnung Nr. 883/2004

6.        Titel II („Bestimmung des anwendbaren Rechts“) der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 enthält u. a. Art. 11, der bestimmt:

„(1)      Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

(3)      Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:

a)      eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;

e)      jede andere Person, die nicht unter die Buchstaben a) bis d) fällt, unterliegt unbeschadet anders lautender Bestimmungen dieser Verordnung, nach denen ihr Leistungen aufgrund der Rechtsvorschriften eines oder mehrerer anderer Mitgliedstaaten zustehen, den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats.

…“

2.      Verordnung Nr. 987/2009

7.        Die Verordnung Nr. 987/2009 regelt nach Art. 89 der Verordnung Nr. 883/2004 die Durchführung der letztgenannten Verordnung.

8.        Im 14. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 987/2009 heißt es:

„Bestimmte Regeln und Verfahren sind für die Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften für die Anrechnung der Zeiten, die ein Versicherter in verschiedenen Mitgliedstaaten der Kindererziehung gewidmet hat, erforderlich.“

9.        Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 bestimmt:

„(1)      Im Sinne dieses Artikels bezeichnet der Ausdruck ‚Kindererziehungszeit‘ jeden Zeitraum, der im Rahmen des Rentenrechts eines Mitgliedstaats ausdrücklich aus dem Grund angerechnet wird oder Anrecht auf eine Zulage zu einer Rente gibt, dass eine Person ein Kind aufgezogen hat, unabhängig davon, nach welcher Methode diese Zeiträume berechnet werden[,] und unabhängig davon, ob sie während der Erziehungszeit anfallen oder rückwirkend anerkannt werden.

(2)      Wird nach den Rechtsvorschriften des gemäß Titel II der [Verordnung Nr. 883/2004] zuständigen Mitgliedstaats keine Kindererziehungszeit berücksichtigt, so bleibt der Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach Titel II der [Verordnung Nr. 883/2004] auf die betreffende Person anwendbar waren, weil diese Person zu dem Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind nach diesen Rechtsvorschriften begann, eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, zuständig für die Berücksichtigung dieser Zeit als Kindererziehungszeit nach seinen eigenen Rechtsvorschriften, so als hätte diese Kindererziehung in seinem eigenen Hoheitsgebiet stattgefunden.

…“

B.      Nationales Recht

10.      § 56 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuchs (im Folgenden: SGB VI) in der Fassung des Gesetzes vom 28. November 2018 (BGBl. I S. 2016) sieht vor:

„(1)      Kindererziehungszeiten sind Zeiten der Erziehung eines Kindes in dessen ersten drei Lebensjahren. Für einen Elternteil … wird eine Kindererziehungszeit angerechnet, wenn

1.      die Erziehungszeit diesem Elternteil zuzuordnen ist,

2.      die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist oder einer solchen gleichsteht und

3.      der Elternteil nicht von der Anrechnung ausgeschlossen ist.

(3)      Eine Erziehung ist im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt, wenn der erziehende Elternteil sich mit dem Kind dort gewöhnlich aufgehalten hat. Einer Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland steht gleich, wenn der erziehende Elternteil sich mit seinem Kind im Ausland gewöhnlich aufgehalten hat und während der Erziehung oder unmittelbar vor der Geburt des Kindes wegen einer dort ausgeübten Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit Pflichtbeitragszeiten hat …

(5)      Die Kindererziehungszeit beginnt nach Ablauf des Monats der Geburt und endet nach 36 Kalendermonaten …“

11.      § 249 Abs. 1 SGB VI in der Fassung des Gesetzes vom 23. Juni 2014 (BGBl. I S. 787) bestimmt:

„Die Kindererziehungszeit für ein vor dem 1. Januar 1992 geborenes Kind endet 24 Kalendermonate nach Ablauf des Monats der Geburt.“

III. Sachverhalt, nationales Verfahren und Vorlagefragen

12.      VA, die Klägerin des Ausgangsverfahrens, ist eine 1958 geborene deutsche Staatsangehörige. Von 1962 bis 2010 lebte sie in Vaals (Niederlande), einem Ort, der etwa 5 km von Aachen (Deutschland) entfernt ist(10). Während sie dort lebte, besuchte sie in Aachen die Schule. Im August 1975 begann sie in Aachen eine Ausbildung als staatlich anerkannte Erzieherin.

13.      Am 1. August 1978 begann VA ein einjähriges Praktikum in einem Kindergarten in Aachen. Normalerweise wäre dieses Jahr als versicherungspflichtige Beschäftigungszeit in Deutschland anzusehen gewesen. Weil jedoch nicht genügend bezahlte Stellen vorhanden waren, leistete VA ihr Praktikum unentgeltlich ab und war damit von einer solchen Versicherungspflicht befreit. Daher entrichtete sie keine Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung.

14.      Als ihr Praktikum im August 1979 endete, nahm VA ihre Ausbildung als staatlich anerkannte Erzieherin in Aachen wieder auf und erwarb die Fachhochschulreife, während sie weiterhin in den Niederlanden lebte. Nach dem Abschluss ihrer Ausbildung im Juli 1980 ging sie in Deutschland und in den Niederlanden keiner beruflichen Tätigkeit mehr nach.

15.      VA bekam dann zwei Kinder. Als sie geboren wurden, hatte VA noch keine Beiträge zur deutschen Rentenversicherung entrichtet. Sie zog ihre Kinder in den Niederlanden auf.

16.      Zwischen September 1993 und August 1995 sowie nachfolgend zwischen April 1999 und Oktober 2012 war sie in Deutschland beschäftigt. Ihre Beschäftigung war nicht versicherungspflichtig, weil sie nach deutschem Recht als „geringfügig“ angesehen wurde.

17.      VA zog 2010 nach Deutschland zurück. Nach Oktober 2012 nahm sie eine Erwerbstätigkeit auf und wurde versicherungspflichtig. Sie begann, Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung zu entrichten.

18.      Seit März 2018 erhält VA aus Deutschland eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Bei der Berechnung der Höhe dieser Rente war die Deutsche Rentenversicherung Bund, die Beklagte des Ausgangsverfahrens, der Auffassung, dass die maßgeblichen Zeiten neben den Zeiten, in denen VA Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet habe (dem Zeitraum seit 2012), die Zeiten umfasse, während derer sie eine Ausbildung in Deutschland absolviert habe (zwischen August 1975 und Juli 1978 sowie zwischen August 1979 und Juli 1980), sowie die „Kindererziehungszeit“ zwischen dem 1. April und dem 1. Juni 1999, in der sie ihre Kinder in den Niederlanden aufgezogen habe, während sie als Beschäftigte in Deutschland gearbeitet habe (ohne versicherungspflichtig zu sein).

19.      VA trägt vor, dass die Deutsche Rentenversicherung Bund die „Kindererziehungszeiten“, die sie in den Niederlanden zwischen dem 15. November 1986 und dem 31. März 1999, als sie keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sei, zurückgelegt habe (im Folgenden: streitige Zeiten), nicht als relevante Zeiten berücksichtigt habe. Sie klagte gegen diese Nichtberücksichtigung vor einem erstinstanzlichen Gericht. Ihre Klage hatte keinen Erfolg.

20.      VA legte gegen die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts Berufung beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (Deutschland) ein.

21.      Dieses Gericht weist darauf hin, dass eine Anrechnung der streitigen Zeiten nach § 56 Abs. 3 Satz 1 SGB VI daran scheitere, dass die Erziehung der beiden Kinder von VA während dieser Zeiten nicht in Deutschland erfolgt sei. Auch könnten die streitigen Zeiten nicht in den Anwendungsbereich von § 56 Abs. 3 Satz 2 SGB VI fallen, da VA hierfür mit ihren Kindern gewöhnlich im Ausland hätte leben und während dieser Zeiten oder unmittelbar zuvor Pflichtbeitragszeiten in Deutschland wegen einer im Ausland (d. h. in den Niederlanden) ausgeübten Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit hätte zurücklegen müssen. Zudem seien die in Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 genannten Voraussetzungen nicht erfüllt, weil VA, als ihre Kinder geboren wurden und die streitigen Zeiten zu laufen begannen, in Deutschland nicht beschäftigt oder selbständig erwerbstätig gewesen sei.

22.      Vor diesem Hintergrund ist nach Ansicht des vorlegenden Gerichts fraglich, ob die streitigen Zeiten in Anbetracht der Urteile des Gerichtshofs, darunter u. a. das Urteil Reichel-Albert, durch die Deutsche Rentenversicherung Bund für die Zwecke der Rentengewährung zu berücksichtigen seien, da es einige Anhaltspunkte gebe, die das Vorliegen einer „hinreichenden Verbindung“ auf der Grundlage von Art. 21 AEUV nahelegen würden. Insoweit unterscheide sich die Situation von VA zum einen von derjenigen, die zu dem genannten Urteil geführt habe, denn vor der Geburt ihrer Kinder sei VA in Deutschland überhaupt nicht versicherungspflichtig gewesen. Daher habe sie keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung dieses Mitgliedstaats entrichtet. Darüber hinaus habe sie nicht lediglich ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat (die Niederlande) verlegt, sie habe dort tatsächlich dauerhaft gelebt.

23.      Zum anderen stehe die gesamte Erwerbsbiographie von VA mit Deutschland in Verbindung: Sie habe ausschließlich in Deutschland die Schule besucht, das von ihr in Deutschland absolvierte einjährige Praktikum wäre versicherungspflichtig gewesen, hätte zu dieser Zeit nicht eine unzureichende Zahl bezahlter Plätze zur Verfügung gestanden, und die übrigen Jahre, in denen VA eine Ausbildung absolvierte, seien als „rentenrechtliche Zeiten“ vermerkt worden. Ferner hätten ihre Kinder in Deutschland die Schule besucht, und VA habe sich mit ihrer Familie in den Niederlanden sehr nahe an der Grenze zu Deutschland niedergelassen.

24.      In Anbetracht dieser Gesichtspunkte fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Tatsache, dass die streitigen Zeiten nach nationalem Recht nicht berücksichtigt werden, mit Art. 21 AEUV vereinbar ist.

25.      Unter diesen Umständen hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (Deutschland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Wird nach den Vorschriften der Niederlande – als nach den Rechtsvorschriften gemäß Titel II der Verordnung Nr. 883/2004 zuständigem Mitgliedstaat – eine „Kindererziehungszeit“ im Sinne des Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 dadurch berücksichtigt, dass die Zeit der Kindererziehung in den Niederlanden als reine Wohnzeit eine Rentenanwartschaft begründet?

2.      Sofern Frage 1 verneint wird:

Ist Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 – in Fortentwicklung der Urteile Elsen und Reichel-Albert des Gerichtshofs – erweiternd dahingehend auszulegen, dass der zuständige Mitgliedstaat die „Kindererziehungszeit“ auch dann berücksichtigen muss, wenn die erziehende Person vor und nach der Kindererziehung zwar rentenrechtliche Zeiten wegen Ausbildung oder Beschäftigung nur im System dieses Staates hat, aber unmittelbar vor oder nach der Kindererziehung Beiträge in dieses System nicht entrichtet hat?

26.      Das Vorabentscheidungsersuchen vom 23. April 2021 ist am 4. Mai 2021 in das Register des Gerichtshofs eingetragen worden. Die deutsche, die tschechische und die niederländische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Dieselben Parteien, mit Ausnahme der tschechischen Regierung, waren in der mündlichen Verhandlung vom 11. Mai 2023 vertreten.

IV.    Würdigung

27.      Um eine Rente zu berechnen(11), stützen sich die zuständigen Träger der Mitgliedstaaten typischerweise auf die Zahl der von der betreffenden Person zurückgelegten „Versicherungszeiten“ oder „Wohnzeiten“(12). In Anbetracht des übergeordneten Zwecks der Verordnungen Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009, der darin besteht, „nur eine Koordinierungsregelung vorzusehen“ und daher die Eigenheiten der nationalen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit zu berücksichtigen(13), ist es Sache des einzelnen Mitgliedstaats, zu entscheiden, was als „Versicherungszeiten“ oder „Wohnzeiten“ gilt und was diesen Zeiten gleichgestellt werden kann(14), solange die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats mit den Bestimmungen des AEUV über die Freizügigkeit, insbesondere Art. 21 AEUV, in Einklang stehen(15).

28.      Einige Mitgliedstaaten – aber nicht alle – haben vorgesehen, dass „Kindererziehungszeiten“ mit „Versicherungszeiten“ oder „Wohnzeiten“ gleichzustellen und daher für die Gewährung eines Rentenanspruchs zu berücksichtigen sind.

29.      In diesem Rahmen führt Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 eine Sonderregel ein, mit der für den Fall, dass eine Person in verschiedenen Mitgliedstaaten gearbeitet und ihre Kinder aufgezogen hat, die Sachverhalte bestimmt werden sollen, unter denen Mitgliedstaat A (der Mitgliedstaat, in dem die Person gearbeitet hat) seine Rechtsvorschriften auf die im Mitgliedstaat B zurückgelegten „Kindererziehungszeiten“ anzuwenden hat, und nach der, wenn dies der Fall ist, diese Zeiten so zu behandeln sind, als wären sie im Mitgliedstaat A zurückgelegt worden(16). Die Zuständigkeit des Mitgliedstaats A ist subsidiär zu der Zuständigkeit des Mitgliedstaats B. Die Verpflichtung des Mitgliedstaats A, seine Rechtsvorschriften auf die im Mitgliedstaat B zurückgelegten „Kindererziehungszeiten“ anzuwenden, greift nämlich nur dann, wenn es nicht bereits die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats B ermöglichen, die Kindererziehungszeiten zu berücksichtigen.

30.      Wie die tschechische Regierung ausführt, besteht der Zweck von Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 nicht darin, zu gewährleisten, dass auf die Situation eines Begünstigten die vorteilhaftesten Rechtsvorschriften angewandt werden, oder darin, den Mitgliedstaat zu verpflichten, „Kindererziehungszeiten“ nach seinen Rechtsvorschriften als relevante „Versicherungs-“ oder „Wohnzeiten“ zu berücksichtigen; vielmehr sollen Situationen vermieden werden, in denen solche Zeiten nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats allein deshalb nicht berücksichtigt würden, weil sie in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegt wurden. In diesem Sinne kommt in dieser Bestimmung daher der allgemeine Grundsatz der Gleichbehandlung zum Ausdruck, den Art. 5 der Verordnung Nr. 883/2004 kodifizieren soll(17) und der sich unmittelbar aus Art. 21 AEUV ergibt.

31.      Wie ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Pensionsversicherungsanstalt(18) erklärt habe, hängt die Antwort auf die Frage, ob die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats A nach Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 anwendbar sind, davon ab, ob die folgenden drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:

–        Nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats B werden keine „Kindererziehungszeiten“ berücksichtigt,

–        die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats A waren zuvor auf die betreffende Person anwendbar, weil sie in diesem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübte, und

–        für diese Person galten wegen dieser Tätigkeit die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats A zu dem Zeitpunkt fort, zu dem nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats die Berücksichtigung der „Kindererziehungszeit“ für das betreffende Kind begann(19).

32.      Den Angaben in der Verfahrensakte und den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts entnehme ich, dass VA die zweite und die dritte Voraussetzung, die ich oben dargelegt habe, nicht erfüllt, weil sie keine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit im Mitgliedstaat A (Deutschland) ausgeübt und damit zu keinem Zeitpunkt vor der Geburt ihrer Kinder in Deutschland Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet hat, obwohl sie ihre Ausbildung in Deutschland beendet und dort ein einjähriges Praktikum in einem Kindergarten absolviert hat.

33.      Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass der Gerichtshof in seinem Urteil Pensionsversicherungsanstalt entschieden hat, dass Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 „die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten … nicht abschließend regelt“(20). In dieser Rechtssache erfüllte die betreffende Person die oben in Nr. 31 aufgeführte dritte Voraussetzung ebenfalls nicht (die zweite Voraussetzung hingegen erfüllte sie). Wie ich bereits in Nr. 3 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, hat der Gerichtshof entschieden, dass der Mitgliedstaat A, obwohl die Person sich unter diesen Umständen nicht auf Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 stützen konnte, dennoch verpflichtet war, seine Rechtsvorschriften auf die im Mitgliedstaat B zurückgelegten „Kindererziehungszeiten“ anzuwenden und diese Zeiten so zu berücksichtigen, als wären sie in seinem eigenen Hoheitsgebiet zurückgelegt worden . Der Gerichtshof hat dieses Ergebnis auf Art. 21 AEUV und auf die Tatsache gestützt, dass zwischen diesen Zeiten und den im Mitgliedstaat A zurückgelegten „Versicherungszeiten“ (im betreffenden Fall Zeiten der Beschäftigung oder der selbständigen Erwerbstätigkeit) eine „hinreichende Verbindung“ bestand(21).

34.      In Anbetracht dieses Urteils ist die zweite Frage des vorlegenden Gerichts dahin zu verstehen, dass im Wesentlichen gefragt wird, ob das Kriterium der „hinreichenden Verbindung“, das der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung nicht auf der Grundlage von Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009, sondern auf der Grundlage von Art. 21 AEUV entwickelt hat, in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens erfüllt ist. Die diesbezüglichen Zweifel des vorlegenden Gerichts beruhen darauf, dass VA – im Gegensatz zu den Klägerinnen in den Fällen, die zu den Urteilen Elsen, Kauer, Reichel-Albert und Pensionsversicherungsanstalt geführt haben und in denen der Gerichtshof entschieden hat, dass eine solche „hinreichende Verbindung“ bestand – überhaupt keine Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet hat und nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats auch nicht als in Deutschland „beschäftigt“ oder „selbständig erwerbstätig“ angesehen werden konnte, bevor sie ihre Kinder in den Niederlanden aufzog.

35.      Ich werde erläutern, warum diese Tatsache für sich genommen den Mitgliedstaat A (Deutschland) meines Erachtens nicht von der Pflicht entbindet, seine Rechtsvorschriften auf im Mitgliedstaat B (den Niederlanden) zurückgelegte „Kindererziehungszeiten“ anzuwenden. Bevor ich mich diesem Punkt zuwende, werde ich jedoch eine Antwort auf die erste Frage geben, die die Auslegung der ersten, oben in Nr. 31 dargelegten Voraussetzung betrifft, nämlich, dass „Kindererziehungszeiten“ nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats B nicht berücksichtigt werden dürfen, damit für Mitgliedstaat A diese Pflicht entsteht. Insoweit weise ich darauf hin, dass die Kommission geltend macht, dass diese Frage im vorliegenden Fall unerheblich sei, da die zweite und die dritte Voraussetzung von Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 jedenfalls nicht erfüllt seien. Ich stimme zu, dass VA sich im Ausgangsverfahren nicht auf diese Bestimmung stützen kann. Das bedeutet meines Erachtens jedoch nicht, dass die Frage, ob Mitgliedstaat B (vorliegend die Niederlande) die streitigen Zeiten nicht berücksichtigt, unerheblich ist. Ich bin nämlich der Auffassung, dass in einer Situation, in der die Verordnungen Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 zeitlich anwendbar sind (wie es vorliegend der Fall ist), die erste Voraussetzung von Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 entsprechend Anwendung findet, wenn die Frage, ob „Kindererziehungszeiten“ berücksichtigt werden, nicht durch diese Vorschrift geregelt wird, sondern durch das Kriterium der „hinreichenden Verbindung“, das der Gerichtshof gestützt auf Art. 21 AEUV entwickelt hat.

A.      Zur ersten Frage: Wann werden „Kindererziehungszeiten“ nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats B „berücksichtigt“?

36.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die oben in Nr. 31 beschriebene erste Voraussetzung erfüllt ist, wenn solche Zeiten nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats B (hier die Niederlande) Rentenansprüche nicht deshalb begründen, weil sie „Versicherungszeiten“ gleichgestellt werden, sondern deshalb, weil sie als „Wohnzeiten“ gelten.

37.      Zunächst möchte ich zwei Aspekte klarstellen. Erstens möchte ich erklären, warum, wie ich bereits oben in Nr. 35 ausgeführt habe, diese in Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 aufgestellte Voraussetzung entsprechend anwendbar ist, wenn die betreffende Person ihren Anspruch nicht auf diese Bestimmung stützen kann und sich daher stattdessen auf Art. 21 AEUV und das vom Gerichtshof in seinen Urteilen Elsen, Kauer, Reichel-Albert und Pensionsversicherungsanstalt entwickelte Kriterium der „hinreichenden Verbindung“ berufen muss.

38.      Ich erinnere insoweit zunächst daran, dass, wie ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Pensionsversicherungsanstalt(22) dargelegt habe, eines der Kernprinzipien der Verordnungen Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 lautet, dass die Person, für die diese Verordnungen gelten, „den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats [unterliegt]“(23).

39.      Meines Erachtens muss diesem Kernprinzip nicht nur im Rahmen der Anwendung von Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 Rechnung getragen werden, sondern auch bei der Anwendung des Kriteriums der „hinreichenden Verbindung“ gemäß Art. 21 AEUV. Andernfalls könnte eine Person, die ihre Kinder im Ausland aufzieht, die relevanten „Kindererziehungszeiten“ nach diesem Kriterium nämlich sowohl in Mitgliedstaat A als auch in Mitgliedstaat B berücksichtigen lassen (Doppelberücksichtigung) oder sie könnte frei wählen, welche Rechtsvorschriften für sie günstiger wären, diejenigen des Mitgliedstaats A oder diejenigen des Mitgliedstaats B, da beide Rechtsvorschriften auf ihre Situation angewandt werden könnten („Rosinenpicken“). Demnach wäre das Kriterium der „hinreichenden Verbindung“ nicht, wie Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009, als Einführung einer nur subsidiären Zuständigkeit des Mitgliedstaats A zu betrachten(24). Vielmehr müsste es als Einführung einer doppelten Zuständigkeit (in Bezug auf sowohl Mitgliedstaat A als auch Mitgliedstaat B) betrachtet werden.

40.      Außerdem weise ich darauf hin, dass Art. 21 Abs. 1 AEUV bestimmt: „Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten“(25). Nach meinem Dafürhalten ist daher eine Auslegung dieser Bestimmung, die der übergeordneten Systematik oder einem der diesen beiden Verordnungen zugrunde liegenden zentralen Grundsätze zuwiderliefe, abzulehnen(26).

41.      Hierzu erinnere ich auch daran, dass Art. 21 AEUV zwar insbesondere gewährleisten soll, dass Bürger, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, nicht diskriminiert werden, und dass sie, wie der Gerichtshof entschieden hat, nicht durch Beeinträchtigungen dieser Grundfreiheit von der Ausübung dieses Rechts abgehalten werden dürfen, doch soll diese Bestimmung nicht garantieren, dass sie aufgrund der Tatsache, dass sie von dem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, einen Vorteil erlangen. Wenn eine Person, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, einen Anspruch darauf hätte, dass die „Kindererziehungszeiten“, die sie im Ausland zurückgelegt hat, sowohl im Mitgliedstaat A als auch im Mitgliedstaat B berücksichtigt werden, oder wenn sie nach ihrem Belieben entscheiden dürfte, welche Rechtsvorschriften auf diese Zeiten anwendbar sein sollen („Rosinenpicken“), statt sich nur dann auf die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats A berufen zu dürfen, wenn nicht bereits Mitgliedstaat B die Berücksichtigung von „Kindererziehungszeiten“ zulässt, würde diese Person zweifellos einen Vorteil gegenüber einer Person erlangen, deren Leben auf das Hoheitsgebiet eines einzigen Mitgliedstaats beschränkt gewesen ist. Ein solches Ergebnis ginge über das hinaus, was Art. 21 AEUV verlangt.

42.      Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass alle Mitgliedstaaten, die in den Urteilen Elsen, Kauer, Reichel-Albert sowie, in jüngerer Zeit, Pensionsversicherungsanstalt, als „Mitgliedstaat B“ handelten (d. h. Frankreich, Belgien und Ungarn) die betreffenden „Kindererziehungszeiten“ nach ihren eigenen Rechtsvorschriften nicht berücksichtigten. Daher hat der Gerichtshof das Kriterium der „hinreichenden Verbindung“ bislang nur in einem Rahmen angewandt, in dem eindeutig war, dass der Mitgliedstaat B die betreffenden „Kindererziehungszeiten“ nicht berücksichtigte(27).

43.      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich meines Erachtens, dass eine „hinreichende Verbindung“ zwischen im Mitgliedstaat B zurückgelegten „Kindererziehungszeiten“ und im Mitgliedstaat A zurückgelegten „Versicherungszeiten“ nicht festgestellt werden kann, sofern nicht offensichtlich ist, dass Mitgliedstaat B die betreffenden „Kindererziehungszeiten“ nach seinen eigenen Rechtsvorschriften nicht berücksichtigt. Es ist davon auszugehen, dass diese Voraussetzung, die der Unionsgesetzgeber ausdrücklich in Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 eingefügt hat, in einem Kontext, in dem die Mitgliedstaaten sowohl dieser Bestimmung als auch dem durch den Gerichtshof zu Art. 21 AEUV entwickelten Kriterium der „hinreichenden Verbindung“ nachkommen müssen, entsprechend anwendbar ist, wenn man sich auf dieses Kriterium beruft.

44.      Dies vorausgeschickt möchte ich zweitens klarstellen, dass in einem Fall, in dem die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 erfüllt sind, davon ausgegangen werden kann, dass Mitgliedstaat B „Kindererziehungszeiten“ nach seinen Rechtsvorschriften berücksichtigt, auch wenn diese Zeiten „Wohnzeiten“ statt „Versicherungszeiten“ gleichgestellt werden. Nach Art. 44 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 bezeichnet der Begriff der „Kindererziehungszeit“ nämlich „jeden Zeitraum, der im Rahmen des Rentenrechts eines Mitgliedstaats ausdrücklich aus dem Grund angerechnet wird oder Anrecht auf eine Zulage zu einer Rente gibt, dass eine Person ein Kind aufgezogen hat, unabhängig davon, nach welcher Methode diese Zeiträume berechnet werden“.

45.      Aus dieser weiten Definition ergibt sich, dass man, um festzustellen, ob „Kindererziehungszeiten“ nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats B im Sinne von Art. 44 Abs. 2 dieser Verordnung berücksichtigt werden, nur klären muss, ob diese Zeiten nach dem Rentenrecht dieses Mitgliedstaats angerechnet werden (oder ein Anrecht auf eine Zulage zu einer Rente geben). Wie diese Zeiten genau angerechnet werden, einschließlich der Frage, ob sie als „Versicherungszeiten“ oder als „Wohnzeiten“ angerechnet werden, spielt keine Rolle.

46.      Meines Erachtens – und demselben Grundgedanken folgend wie oben in den Nrn. 39 und 40 – ist diese Definition im Rahmen der Anwendung des auf der Grundlage von Art. 21 AEUV entwickelten Kriteriums der „hinreichenden Verbindung“ entsprechend anwendbar. Andernfalls würde eine Person nämlich einen Anspruch darauf erwerben, dass die Zeiten, die sie der Erziehung von Kindern gewidmet hat, zweimal berücksichtigt werden (sowohl nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats A als auch nach denjenigen des Mitgliedstaats B), sofern Mitgliedstaat B solche Zeiten nur als „Wohnzeiten“ und nicht als „Versicherungszeiten“ berücksichtigt(28) Ein solches Ergebnis liefe der übergeordneten Systematik der Verordnungen Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 zuwider und ginge über das hinaus, was Art. 21 AEUV verlangt. Zugleich könnte ein solches Ergebnis das Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit beeinträchtigen, da die Unionsbürger – im umgekehrten Fall – die Zeit, die sie mit der Erziehung ihrer Kinder in Mitgliedstaat B verbracht haben, nicht durch den Mitgliedstaat A berücksichtigen lassen könnten, wenn solche Zeiten nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats als „Wohnzeiten“ und nicht als „Versicherungszeiten“ anzusehen wären. Insoweit sei daran erinnert, dass aus dem Urteil Pensionsversicherungsanstalt folgt, dass der Unionsgesetzgeber durch den Erlass von Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 nur einige der aus Art. 21 AEUV folgenden Verpflichtungen zur Berücksichtigung von „Kindererziehungszeiten“ konkretisiert hat. Da diese Verpflichtungen weiter reichen als diejenigen in diesem Instrument des Sekundärrechts, kann die Definition des Begriffs der „Kindererziehungszeiten“ nach Art. 21 AEUV meines Erachtens nicht enger sein als nach Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009.

47.      Im vorliegenden Ausgangsverfahren ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob „Kindererziehungszeiten“ bereits nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats B (Niederlande) zu berücksichtigen sind. Vorbehaltlich der dem vorlegenden Gericht obliegenden Prüfung ist zu beachten, dass es im Ausgangsverfahren um den Anspruch von VA auf Leistungen bei Invalidität geht, nicht um eine Altersrente(29). Die niederländische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass ihr nationales Recht die Gewährung von Leistungen bei Invalidität an selbständig erwerbstätige Personen wie VA nicht zulasse und dass „Kindererziehungszeiten“ „Wohnzeiten“ nur bei der Gewährung einer anderen Art von Rente, nämlich einer Altersrente, gleichgestellt würden. Sie hat ferner ausgeführt, soweit das Ausgangsverfahren nur die Gewährung von Leistungen bei Invalidität betreffe, müsse davon ausgegangen werden, dass nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats keine Kindererziehungszeiten zu berücksichtigen seien(30).

48.      Nach diesen Erwägungen zur Beantwortung der ersten Frage des vorlegenden Gerichts werde ich mich nunmehr der Frage zuwenden, ob das vom Gerichtshof in seinen Urteilen Elsen, Kauer und Reichel-Albert sowie, in jüngerer Zeit, im Urteil Pensionsversicherungsanstalt, angewandte Kriterium der „hinreichenden Verbindung“ im vorliegenden Fall einschlägig ist.

B.      Zur zweiten Frage: Was begründet eine „hinreichende Verbindung“?

49.      Mit der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Verpflichtung des Mitgliedstaats A (vorliegend Deutschland) nach Art. 21 AEUV, „Kindererziehungszeiten“ zu berücksichtigen, auch Anwendung findet, wenn die betreffende Person – wie es im Ausgangsverfahren der Fall ist – aufgrund ihrer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit in diesem Mitgliedstaat erst Beiträge entrichtet hat, nachdem sie ihre Kinder in einem oder mehreren Mitgliedstaaten aufgezogen hat, und vor der Geburt ihrer Kinder gar keine Beiträge entrichtet hat. In diesem Zusammenhang verweist das vorlegende Gericht ausdrücklich auf die Urteile Elsen, Kauer und Reichel-Albert, in denen der Gerichtshof das Kriterium der „hinreichenden Verbindung“ aufgestellt und entwickelt hat.

50.      Ich werde zum einen darlegen, warum man in einem Kontext, in dem die Verordnungen Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 zeitlich anwendbar sind, meines Erachtens der Versuchung widerstehen sollte, die „hinreichende Verbindung“ zu weit auszudehnen, und zum anderen, warum ich der Auffassung bin, dass eine derartige Verbindung bestehen kann, auch wenn eine Person aufgrund ihrer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung des Mitgliedstaats A entrichtet hat, bevor sie in den Mitgliedstaat B gezogen ist, um ihre Kinder aufzuziehen.

1.      Das Kriterium der „hinreichenden Verbindung“ nach dem Urteil Pensionsversicherungsanstalt

51.      Wie ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Pensionsversicherungsanstalt(31) erklärt habe, hat der Unionsgesetzgeber sich beim Erlass von Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 meines Erachtens bewusst dafür entschieden, das vom Gerichtshof zu der früher geltenden Rechtslage (d. h. in einem Kontext, in dem die Verordnung Nr. 1408/71 zeitlich anwendbar war) formulierte Kriterium der „hinreichenden Verbindung“ nicht heranzuziehen. Da diese Bestimmung nach den Urteilen Elsen und Kauer (wenngleich nicht nach dem Urteil Reichel-Albert) erlassen wurde, hätte der Gesetzgeber, hätte er dies gewünscht, dieses Kriterium nämlich ausdrücklich so übernehmen können, dass es vollständig in das Sekundärrecht der Union eingefügt worden wäre. Jedoch hat er sich – vielleicht aufgrund der Tatsache, dass dieses Kriterium aus sich heraus nicht so eindeutig ist wie die drei klar definierten Voraussetzungen in Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 (und offener formuliert ist als diese), und weil diese Vorschrift eine (begrenzte und klar ausgestaltete) Ausnahme von den Zuständigkeitsregeln des Titels II der Verordnung Nr. 883/2004 einführen sollte – dafür entschieden, dies nicht zu tun(32).

52.      Aus diesen und einigen weiteren Gründen gelange ich zu der Auffassung(33), dass der Gerichtshof nunmehr zwar entgegen meinem Vorschlag(34) entschieden hat, dass das Kriterium der „hinreichenden Verbindung“ in einer Situation maßgeblich bleibt, in der die Verordnungen Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 (statt der Verordnung Nr. 1408/71) zeitlich anwendbar sind, doch sollte man der Versuchung widerstehen, die Einbeziehung einer immer größeren Zahl von Fallgestaltungen in den Anwendungsbereich des Kriteriums der „hinreichenden Verbindung“ zu ermöglichen, und zwar nicht auf der Grundlage dieser Verordnungen, sondern auf der Grundlage von Art. 21 AEUV.

53.      Zu diesem Phänomen könnten mehrere Faktoren beitragen. Erstens ist, wie ich soeben dargelegt habe, nicht eindeutig, was eine „hinreichende Verbindung“ begründet. Das Kriterium der „hinreichenden Verbindung“ ist naturgemäß offen und hängt davon ab, welche Umstände im Einzelfall als erheblich angesehen werden können. In den Urteilen Elsen, Kauer, Reichel-Albert und Pensionsversicherungsanstalt wurden unterschiedliche Faktoren, einschließlich der Tatsache, dass die Klägerinnen ausschließlich im Mitgliedstaat A gearbeitet hatten oder dass sie ausschließlich in diesem Mitgliedstaat Beiträge entrichtet hatten, hervorgehoben, ohne dass einer dieser Faktoren als ausschlaggebend herausgestellt wurde(35). Zweitens ist der Gerichtshof bisher immer zu dem Ergebnis gelangt, dass eine „hinreichende Verbindung“ bestand, und nie dazu, dass sie fehlte. Frühere Urteile, in denen das Kriterium angewandt wurde, zeigen nämlich die Tendenz des Gerichtshofs, die Zahl der Situationen, in denen der Mitgliedstaat A verpflichtet sein kann, seine Rechtsvorschriften auf im Mitgliedstaat B zurückgelegte „Kindererziehungszeiten“ anzuwenden, eher auszudehnen als zu begrenzen. So unterlagen die Klägerinnen zwar in den Rechtssachen der Urteile Elsen und Kauer bis zum Beginn der im Ausland zurückgelegten „Kindererziehungszeiten“ weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats A(36), in den Rechtssachen der Urteilen Reichel-Albert und Pensionsversicherungsanstalt war dies hingegen nicht der Fall, was den Gerichtshof jedoch nicht daran gehindert hat(37), zu dem Ergebnis zu gelangen, dass eine „hinreichende Verbindung“ bestehe.

54.      Nach alledem überrascht es kaum, dass das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen eine Vielzahl von Umständen (wie die Tatsache, dass die gesamte Erwerbsbiographie von VA mit Deutschland verbunden ist, dass VA ausschließlich in Deutschland die Schule besucht hat oder dass sie sich in den Niederlanden nur wenige Kilometer von der Grenze zu Deutschland niedergelassen hat und dass ihre Kinder in Deutschland die Schule besucht haben) als für das Vorliegen einer „hinreichenden Verbindung“ potenziell erheblich angeführt hat(38).

55.      In den folgenden Abschnitten werde ich versuchen, den Anwendungsbereich dieses Kriteriums näher zu bestimmen. Ich werde zunächst (a) die Erwägungen darlegen, die meiner Ansicht nach für das Vorliegen einer solchen Verbindung nicht erheblich sind, bevor ich auf (b) die Erwägungen eingehen werde, die ich im Gegensatz dazu für ausschlaggebend halte.

a)      Nicht erhebliche Erwägungen

56.      Da, als Erstes, das Kriterium der „hinreichenden Verbindung“ in Rechtssachen entwickelt wurde, in denen der Gerichtshof zwei Fragen geprüft hat (nämlich zum einen die Frage, ob Mitgliedstaat A seine Rechtsvorschriften auf die in Mitgliedstaat B zurückgelegten „Kindererziehungszeiten“ anwenden musste, und zum anderen die Frage, ob, wenn dies der Fall war, solche Zeiten nach diesen Rechtsvorschriften so behandelt wurden, als wären sie im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats A zurückgelegt worden, so dass die Rechtsvorschriften mit Art. 21 AEUV in Einklang standen)(39), könnte man versucht sein, die Rechtsprechung, die für die zweite dieser Fragen einschlägig ist, auch als für die erste Frage relevant zu erachten.

57.      Insoweit sei darauf hingewiesen, dass der Gerichtshof in seinem Urteil Pensionsversicherungsanstalt z. B. daran erinnert hat, dass eine nationale Regelung, die bestimmte Inländer allein deshalb benachteiligt, weil sie von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, als Ungleichbehandlung anzusehen ist, die den Grundsätzen widerspricht, auf denen der Status eines Unionsbürgers bei der Ausübung seiner Freizügigkeit beruht(40). Ich räume ein, dass die relevanten „Kindererziehungszeiten“ im vorliegenden Fall nach den anwendbaren deutschen Rechtsvorschriften (d. h. nach § 56 Abs. 3 Satz 1 SGB VI) automatisch berücksichtigt worden wären, wenn VA ihre Kinder in Deutschland aufgezogen hätte. Daher wurde die Klägerin – ähnlich den Klägerinnen in den Ausgangsverfahren der Urteile Elsen, Kauer, Reichel-Albert und Pensionsversicherungsanstalt – allein deshalb benachteiligt, weil sie ihre Kinder in den Niederlanden statt in Deutschland aufgezogen hat.

58.      Dennoch bin ich der Auffassung, dass der Umstand, dass eine Person wie VA im Ausgangsverfahren benachteiligt wird, weil die „Kindererziehungszeiten“, die sie im Ausland zurückgelegt hat, im Mitgliedstaat A nicht zu berücksichtigen sind, für sich genommen für die Frage, ob eine „hinreichende Verbindung“ zwischen den im Mitgliedstaat B zurückgelegten „Kindererziehungszeiten“ und den im Mitgliedstaat A zurückgelegten „Versicherungszeiten“ besteht, nicht erheblich ist. Dieser Umstand betrifft vielmehr die Frage, ob die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats A mit Art. 21 AEUV vereinbar sind.

59.      Meines Erachtens sind diese beiden Fragen voneinander zu trennen und können nicht vermengt werden. Dies wurde durch den Gerichtshof in seinem Urteil Pensionsversicherungsanstalt bestätigt(41). Daher kann die bloße Tatsache, dass eine Person wie VA benachteiligt wird, weil die „Kindererziehungszeiten“, die sie im Mitgliedstaat B zurückgelegt hat, im Mitgliedstaat A nicht zu berücksichtigen sind, nicht geltend gemacht werden, um das Spektrum der Fallgestaltungen, in denen eine „hinreichende Verbindung“ besteht, zu erweitern(42).

60.      Als Zweites sei darauf hingewiesen, dass sich die meisten der von der deutschen Regierung in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Argumente auf die Tatsache konzentriert haben, dass VA engere Bindungen an die Niederlande habe als an Deutschland. Nach Ansicht dieser Regierung ist Deutschland daher nicht verpflichtet, seine Rechtsvorschriften auf die „Kindererziehungszeiten“, die VA in den Niederlanden zurückgelegt hat, anzuwenden.

61.      Ich stimme dieser Beurteilung nicht zu. Meines Erachtens steht die bloße Tatsache, dass die betreffende Person während der maßgeblichen „Kindererziehungszeiten“ auch Verbindungen zum System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats B hat (z. B. weil sie während dieser Zeiten im Mitgliedstaat B versicherungspflichtig ist), der Anwendung der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats A auf solche Zeiten nicht entgegen. Wie ich im Rahmen der Antwort auf die erste Frage dargelegt habe, besteht der Zweck des Kriteriums der „hinreichenden Verbindung“ nicht darin, in Abhängigkeit von der Frage, zu welchem System der sozialen Sicherheit der Kläger die engste Verbindung hat, zu entscheiden, welche Rechtsvorschriften Anwendung finden (diejenigen des Mitgliedstaats A oder diejenigen des Mitgliedstaats B). Vielmehr soll mit diesem Kriterium eine subsidiäre (Rest‑) Zuständigkeit des Mitgliedstaats A eingeführt werden, die den Umstand unberührt lässt, dass nur die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats B Anwendung finden, wenn „Kindererziehungszeiten“ nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats berücksichtigt werden.

62.      Insoweit möchte ich daran erinnern, dass das Kriterium der „hinreichenden Verbindung“ – wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat – vom Gerichtshof zunächst in seinem Urteil Elsen entwickelt wurde, das eine Grenzgängerin betraf. Grenzgänger weisen unvermeidlich sowohl zu dem Mitgliedstaat, in dem sie arbeiten, als auch zu dem Mitgliedstaat, in dem sie wohnen, Verbindungen auf. Somit ist klar, dass der bloße Umstand, dass eine Person Verbindungen zum Mitgliedstaat B hat, nicht dem Umstand entgegensteht, dass diese Person auch eine „hinreichende Verbindung“ zum System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats A hat.

63.      Als Drittes könnte man auch dahin argumentieren, dass die Klägerin für das Vorliegen einer „hinreichenden Verbindung“ in ihrem Leben ausschließlich in einem Mitgliedstaat (dem Mitgliedstaat A) gearbeitet haben muss. Der Gerichtshof hat dieses Merkmal nämlich in seinen Urteilen Elsen, Kauer, Reichel-Albert und Pensionsversicherungsanstalt betont.

64.      Dennoch birgt dieser Ansatz meines Erachtens zwei Probleme. Zum einen würde er Unionsbürger benachteiligen, die in mehreren Mitgliedstaaten gearbeitet haben und daher ihr Recht auf Freizügigkeit in Anwendung der Bestimmungen des AEUV ausgeübt haben. So kann eine Person sowohl vor als auch unmittelbar nach der Erziehung eines Kindes im Mitgliedstaat B im Mitgliedstaat A gearbeitet haben. Sollte dieser Person nur deshalb die Möglichkeit verwehrt werden, sich hinsichtlich der im Mitgliedstaat B zurückgelegten „Kindererziehungszeiten“ auf die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats A zu berufen, weil sie anschließend im Mitgliedstaat C oder sogar im Mitgliedstaat B arbeitet und nicht mehr im Mitgliedstaat A?

65.      Zum anderen könnte dieser Ansatz dem Mitgliedstaat A auch unverhältnismäßige Verpflichtungen auferlegen. Angenommen, die betreffende Person hätte überhaupt keine Verbindung mit dem Mitgliedstaat A gehabt, bevor sie ihre Kinder im Mitgliedstaat B aufgezogen hat, danach aber ausschließlich im Mitgliedstaat A gearbeitet hat. Sollte dieser Mitgliedstaat allein aus dem Grund, dass die betreffende Person geltend machen kann, ausschließlich in diesem Mitgliedstaat gearbeitet zu haben, verpflichtet sein, seine Rechtsvorschriften auf die im Mitgliedstaat B zurückgelegten „Kindererziehungszeiten“ anzuwenden, obwohl die betreffende Person erst viele Jahre später begonnen hat, im Mitgliedstaat A zu arbeiten?

66.      Schließlich glaube ich nicht, dass das Vorliegen einer „hinreichenden Verbindung“, wie das vorlegende Gericht ausführt, auf den bloßen Umstand gestützt werden kann, dass das Leben der betreffenden Person nach der Geburt ihrer Kinder „überwiegend“ auf das Rechts‑, Wirtschafts- und Sozialsystem des Mitgliedstaats A „ausgerichtet“ war (z. B. weil die Kinder im Mitgliedstaat A zur Schule gegangen sind oder weil sie nur wenige Kilometer von der Grenze zu diesem Mitgliedstaat wohnte). Dieses Merkmal weist zu viele Zufälligkeiten und Unsicherheiten auf und würde im Hinblick auf das Kriterium der „hinreichenden Verbindung“ nicht zu mehr Klarheit führen.

67.      Im Anschluss an diese Klarstellungen bleibt mir nur noch zu erläutern, welche Erwägungen für das Vorliegen einer „hinreichenden Verbindung“ ausschlaggebend sind.

b)      Ausschlaggebende Erwägungen

68.      Für mich steht fest, dass der ausschlaggebende Faktor für die Feststellung einer „hinreichenden Verbindung“ darin besteht, dass die betreffende Person „Versicherungszeiten“ im Mitgliedstaat A zurückgelegt hat, bevor (aber nicht notwendigerweise nachdem) sie ihre Kinder im Mitgliedstaat B aufgezogen hat (erste Voraussetzung). Der Umstand, dass sie nach Beendigung der im Mitgliedstaat B zurückgelegten „Kindererziehungszeiten“ zum Arbeiten in den Mitgliedstaat A zurückgekehrt ist, kann meines Erachtens die Schlussfolgerung des Gerichtshofs untermauern, dass eine „hinreichende Verbindung“ vorliegt. Er ist jedoch keine Voraussetzung für das Vorliegen einer solchen Verbindung.

69.      Wenn die betreffende Person nämlich, um sich auf die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats A berufen zu können, wieder in diesem Mitgliedstaat arbeiten oder dort weitere „Versicherungszeiten“ zurücklegen müsste, nachdem sie ihre Kinder im Mitgliedstaat B aufgezogen hat, wäre sie schlicht in der Ausübung ihres Rechts aus Art. 21 AEUV, sich in anderen Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, beeinträchtigt (da die betreffende Person, wenn sie keine Grenzgängerin wäre, im Ergebnis in den Mitgliedstaat A zurückziehen müsste, um diese weiteren „Versicherungszeiten“ zurückzulegen).

70.      Außerdem bin ich der Ansicht, dass die im Mitgliedstaat A zurückgelegten „Versicherungszeiten“ den der Kindererziehung gewidmeten Zeiten zwar nicht unmittelbar vorausgehen müssen, Mitgliedstaat A jedoch der letzte Mitgliedstaat sein muss, in dem die betreffende Person „Versicherungszeiten“ zurückgelegt hat, bevor sie ihre Kinder im Mitgliedstaat B aufgezogen hat (zweite Voraussetzung). Wenn eine Person „Versicherungszeiten“ im Mitgliedstaat A und sodann im Mitgliedstaat C zurücklegt, bevor sie ihre Kinder im Mitgliedstaat B aufzieht, ist nämlich meines Erachtens davon auszugehen, dass die im Mitgliedstaat B zurückgelegten „Kindererziehungszeiten“ enger mit den im Mitgliedstaat C zurückgelegten „Versicherungszeiten“ verbunden sind als mit den im Mitgliedstaat A zurückgelegten Zeiten. In einer solchen Situation muss Mitgliedstaat C, und nicht Mitgliedstaat A, seine Rechtsvorschriften anwenden(43).

71.      Ich möchte hinzufügen, dass diese zweite Voraussetzung mit der Regelung in Art. 44 Abs. 3 der Verordnung Nr. 987/2009 im Einklang steht, die vorsieht, dass die Verpflichtung des Mitgliedstaats A, im Mitgliedstaat B zurückgelegte „Kindererziehungszeiten“ nach seinen eigenen Rechtsvorschriften zu berücksichtigen, keine Anwendung findet, „wenn für die betreffende Person die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats aufgrund der Ausübung einer Beschäftigung oder einer selbständigen Erwerbstätigkeit anwendbar sind oder anwendbar werden“.

72.      Folglich muss das Kriterium der „hinreichenden Verbindung“ meines Erachtens auf zwei wesentlichen Elementen beruhen. Erstens muss die betreffende Person vor (aber nicht notwendigerweise nach) der Erziehung ihrer Kinder im Mitgliedstaat B „Versicherungszeiten“ im Mitgliedstaat A zurückgelegt haben. Zweitens muss Mitgliedstaat A der letzte Mitgliedstaat sein, in dem die betreffende Person diese „Versicherungszeiten“ zurückgelegt hat, bevor sie ihre Kinder im Mitgliedstaat B aufgezogen hat.

2.      Anwendung auf einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens

73.      Im Tenor des Urteils Pensionsversicherungsanstalt hat der Gerichtshof ausdrücklich hervorgehoben, dass die betreffende Person, sowohl vor als auch nach der Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat, in dem sie ihre Kinder aufgezogen hat, ausschließlich im Mitgliedstaat A Beiträge entrichtet hat. In Anbetracht dieser Formulierung kann man sich – wie das vorlegende Gericht im Fall des Ausgangsverfahrens – fragen, ob das Kriterium der „hinreichenden Verbindung“ in einer Situation wie der in Rede stehenden erfüllt ist, in der VA Zeiten zurückgelegt hat, die nach meinem Verständnis mit „Versicherungszeiten“ im Mitgliedstaat A (Deutschland) gleichgestellt werden können, bevor sie ihre Kinder im Mitgliedstaat B (den Niederlanden) aufgezogen hat, aber erst mehrere Jahre, nachdem sie sich nicht mehr der Erziehung ihrer Kinder gewidmet hat, begonnen hat, Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung des Mitgliedstaats A zu entrichten.

74.      Ich bin der Auffassung, dass dieser Umstand für sich genommen – wie ich bereits oben in Nr. 35 ausgeführt habe – der Anwendbarkeit der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats A (Deutschland) auf die streitigen Zeiten nicht entgegenstehen kann.

75.      In dieser Hinsicht muss ich einräumen, dass es grundsätzlich sinnvoll ist, den Anspruch einer Person auf eine Rente von der Tatsache abhängig zu machen, dass die betreffende Person Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung des für die Gewährung einer solchen Rente zuständigen Mitgliedstaats entrichtet hat. Daher kann ich nachvollziehen, warum einige Mitgliedstaaten den Begriff der „Versicherungszeiten“ auf Zeiten beschränken möchten, während derer die betreffende Person aufgrund ihrer Beschäftigung oder ihrer selbständigen Erwerbstätigkeit tatsächlich Beiträge entrichtet hat. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass andere Mitgliedstaaten, einschließlich Deutschland, die Gleichstellung bestimmter Zeiten im Leben einer Person, während derer diese Person solche Beiträge nicht entrichtet hat und nicht beschäftigt oder selbständig erwerbstätig (und daher nicht versicherungspflichtig) war, zulassen.

76.      Hierzu erinnere ich daran, dass der Begriff der „Versicherungszeiten“ nach Art. 1 Buchst. t der Verordnung Nr. 883/2004 nicht auf „Beitragszeiten, Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbstständigen Erwerbstätigkeit …“ begrenzt ist. Dieser Begriff findet auch Anwendung auf „alle Zeiten[, die] nach diesen Rechtsvorschriften als den Versicherungszeiten gleichwertig anerkannt sind“. Folglich können „Versicherungszeiten“ im Sinne dieser Bestimmung von einer Person in einem Mitgliedstaat zurückgelegt werden, obwohl diese Person keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung dieses Mitgliedstaats entrichtet (und in diesem Mitgliedstaat nicht beschäftigt oder selbständig erwerbstätig ist).

77.      Vorliegend macht die deutsche Regierung meines Erachtens geltend, dass die Ausbildungszeiten, die VA in Deutschland zurückgelegt hat, bevor sie ihre Kinder in den Niederlanden aufgezogen hat, „Versicherungszeiten“ nach § 58 Abs. 1 SGB VI gleichgestellt sind. Das vorlegende Gericht äußert sich in seinem Vorabentscheidungsersuchen ähnlich. Es weist nämlich darauf hin, dass entsprechende „Anrechnungszeiten“ oder „versicherungsrelevante Zeiten“ im Versicherungsverlauf von VA für die Zeiten vermerkt worden seien, während derer VA diese Ausbildung absolviert habe.

78.      Überdies ist Deutschland der letzte Mitgliedstaat, in dem VA „Versicherungszeiten“ zurückgelegt hat, bevor sie in die Niederlande zog.

79.      Folglich neige ich – vorbehaltlich der dem vorlegenden Gericht obliegenden Prüfungen – angesichts der Erwägungen, die ich oben in den Nrn. 68 bis 72 hervorgehoben habe, zu der Auffassung, dass die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats A (Deutschland) auf die streitigen Zeiten Anwendung finden und dass dieser Mitgliedstaat nach Art. 21 AEUV verpflichtet ist, diese Zeiten so zu berücksichtigen, als wären sie in seinem Hoheitsgebiet zurückgelegt worden(44).

V.      Ergebnis

80.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (Deutschland) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

Art. 44 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit

ist dahin auszulegen, dass der für die Zahlung einer Rente zuständige Mitgliedstaat seine Rechtsvorschriften so anwenden und in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegte „Kindererziehungszeiten“ gemäß Art. 21 AEUV so berücksichtigen muss, als wären diese Zeiten in seinem Hoheitsgebiet zurückgelegt worden, soweit zum einen die betreffende Person „Versicherungszeiten“ im erstgenannten Mitgliedstaat zurückgelegt hat, bevor sie diese „Kindererziehungszeiten“ zurückgelegt hat, und soweit zum anderen dieser Mitgliedstaat der letzte Mitgliedstaat war, in dem diese Person vor der Wohnsitzverlegung solche „Versicherungszeiten“ zurückgelegt hat. Die Verpflichtung des ersten Mitgliedstaats, die im zweiten Mitgliedstaat zurückgelegten „Kindererziehungszeiten“ zu berücksichtigen, findet keine Anwendung, wenn jener Mitgliedstaat diese Zeiten bereits nach seinen eigenen Rechtsvorschriften berücksichtigt. „Versicherungszeiten“ können Zeiten einschließen, die nach den Rechtsvorschriften des für die Zahlung der Rente verantwortlichen Mitgliedstaats „Versicherungszeiten“ gleichgestellt sind und während derer keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung dieses Mitgliedstaats entrichtet wurden.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Urteil vom 23. November 2000 (C‑135/99, EU:C:2000:647, im Folgenden: Urteil Elsen).


3      Urteil vom 7. Februar 2002 (C‑28/00, EU:C:2002:82, im Folgenden: Urteil Kauer).


4      Urteil vom 19. Juli 2012 (C‑522/10, EU:C:2012:475, im Folgenden: Urteil Reichel-Albert).


5      Verordnung des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. 1971, L 149, S. 2, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1).


6      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1).


7      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2009, L 284, S. 1).


8      Urteil vom 7. Juli 2022 (C‑576/20, EU:C:2022:525, im Folgenden: Urteil Pensionsversicherungsanstalt).


9      Ebd. (Rn. 63).


10      Dem vorlegenden Gericht zufolge lebte VA zwischen 1962 und 1975 mit Unterbrechungen in den Niederlanden. Ab 1975 lebte sie durchweg dort.


11      Nach Art. 1 Buchst. w der Verordnung Nr. 883/2004 bezeichnet der Begriff „Renten“ „nicht nur Renten im engeren Sinn, sondern auch Kapitalabfindungen, die an deren Stelle treten können, und Beitragserstattungen sowie, soweit Titel III nichts anderes bestimmt, Anpassungsbeträge und Zulagen“. Er umfasst Leistungen bei Invalidität wie solche, wie sie VA im vorliegenden Fall beansprucht (vgl. Kapitel 4 [„Leistungen bei Invalidität“]). Vgl. auch Art. 3 Abs. 1 Buchst. c dieser Verordnung, der klarstellt, dass dieses Instrument nicht nur auf Renten, sondern auch auf Leistungen bei Invalidität Anwendung findet.


12      Vgl. für den vorliegenden Fall Art. 45 der Verordnung Nr. 883/2004, der klarstellt, dass die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats den Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs davon abhängig machen können, dass Versicherungs- oder Wohnzeiten zurückgelegt wurden.


13      Vgl. u. a. vierter Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 883/2004.


14      Zur Definition der Begriffe „Versicherungszeiten“ und „Wohnzeiten“ vgl. Art. 1 Buchst. t und v der Verordnung Nr. 883/2004. Beide Begriffe werden anhand der „Rechtsvorschriften, nach denen sie zurückgelegt worden sind oder als zurückgelegt gelten“ definiert.


15      Vgl. Urteil Pensionsversicherungsanstalt (Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).


16      Konkret bedeutet dies, dass, soweit die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die Berücksichtigung von „Kindererziehungszeiten“ bei der Gewährung eines Rentenanspruchs allgemein erlauben, diese Rechtsvorschriften in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten zurückgelegte „Kindererziehungszeiten“ nicht anderes behandeln dürfen als die im Inland zurückgelegten „Kindererziehungszeiten“.


17      Vgl. in diesem Sinne auch fünfter Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 883/2004.


18      C‑576/20, EU:C:2022:75, Nr. 32.


19      Am Rande sei darauf hingewiesen, dass Art. 44 Abs. 3 der Verordnung Nr. 987/2009 klarstellt, dass die in Abs. 2 dieses Artikels vorgesehene Verpflichtung nicht gilt, wenn für die betreffende Person die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats aufgrund der Ausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit anwendbar sind oder anwendbar werden.


20      Vgl. Urteil Pensionsversicherungsanstalt (Rn. 55).


21      Ebd. (Rn. 66).


22      C‑576/20, EU:C:2022:75, Nrn. 64 und 65.


23      Vgl. Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004. Die durch diese Verordnung und durch die Verordnung Nr. 987/2009 eingeführte Koordinierungsregelung verfolgt ein doppeltes Ziel: Zum einen soll verhindert werden, dass Personen, die in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 fallen, der Schutz auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit vorenthalten wird, weil keine nationalen Rechtsvorschriften für sie gelten, und zum anderen sollen die gleichzeitige Anwendung von Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermieden werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. März 2020 Pensionsversicherungsanstalt [Rehabilitationsleistung], C‑135/19, EU:C:2020:177, Rn. 46).


24      Ebd. (Rn. 46).


25      Hervorhebung nur hier.


26      Wie ich im Folgenden darlegen werde, gilt dies natürlich unbeschadet dessen, dass die Vereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift mit einer Bestimmung des sekundären Unionsrechts (wie, im vorliegenden Fall, Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009) nicht zwangsläufig zur Folge hat, dass die Anwendung dieser Regelung nicht an den Bestimmungen des AEUV zu messen wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. April 2013, Jeltes u. a., C‑443/11, EU:C:2013:224, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).


27      Da der Gerichtshof in seinen Urteilen Elsen, Kauer, Reichel-Albert und Pensionsversicherungsanstalt nicht ausdrücklich festgestellt hat, dass die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats B keine Berücksichtigung der maßgeblichen „Kindererziehungszeiten“ vorsahen, könnte man diese Urteile auch dahin verstehen, dass die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats A auf solche Zeiten unter Ausschluss der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats B Anwendung finden sollten (vgl. zur Stützung dieser Auslegung die Urteile Elsen [Rn. 28] und Kauer [Rn. 30 und 31]). Jedoch wäre eine solche Auslegung meines Erachtens zumindest dann unzutreffend, wenn die Verordnungen Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 zeitlich anwendbar sind (was in den Urteilen Eisen, Kauer und Reichel-Albert nicht der Fall war). Dies würde nämlich bedeuten, dass sich eine Person nach dem Kriterium der „hinreichenden Verbindung“ nur auf die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats A berufen könnte, während sich dieselbe Person gemäß Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 auf die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats B berufen und, wenn nach diesen Rechtsvorschriften keine „Kindererziehungszeiten“ berücksichtigt werden, auf die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats A stützen könnte (im Grunde bekäme sie einen „zweiten Versuch“, um solche Zeiten berücksichtigen zu lassen). Ich bin der Auffassung, dass das auf der Grundlage von Art. 21 AEUV entwickelte Kriterium der „hinreichenden Verbindung“ Unionsbürgern kein geringeres Schutzniveau gewährleisten kann als diese Bestimmung.


28      In einem solchen Fall ginge man davon aus, dass Mitgliedstaat B die Berücksichtigung von „Kindererziehungszeiten“ nach seinen Rechtsvorschriften nicht zulässt. Mitgliedstaat A wäre daher nach dem Kriterium der „hinreichenden Verbindung“ verpflichtet, seine Rechtsvorschriften auf die der Erziehung von Kindern im Mitgliedstaat B gewidmeten Zeiten anzuwenden. Tatsächlich würden diese Zeiten jedoch nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats B noch als „Wohnzeiten“ angerechnet.


29      Ich weise darauf hin, dass die deutsche Regierung geltend macht, dass es, damit „Kindererziehungszeiten“ als nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats B „berücksichtigt“ anzusehen seien, nur darauf ankomme, dass diese Zeiten nach dem Recht des Mitgliedstaats B bei der Gewährung irgendeiner Art von Rente (sei es einer Altersrente oder Leistungen bei Invalidität) angerechnet würden. Ich bin anderer Meinung. Meines Erachtens ist zu prüfen, ob sie auf die in Rede stehende spezifische Art von Rente angerechnet werden.


30      Der Vollständigkeit halber weise ich darauf hin, dass die niederländische Regierung vorträgt, dass der gemäß Titel II der Verordnung Nr. 883/2004 zuständige Mitgliedstaat nicht die Niederlande, sondern Deutschland sei, da die Invalidität von VA eingetreten sei, während sie in Deutschland gelebt und gearbeitet habe. Diese Auslegung ist meines Erachtens eindeutig unzutreffend. Um zu entscheiden, welche Rechtsvorschriften auf eine bestimmte Zeit (wie im vorliegenden Fall die „Kindererziehungszeiten“) anzuwenden sind, ist die Situation der betreffenden Person während dieser Zeiten zu beurteilen, und nicht zu dem Zeitpunkt, in dem die Person den Anspruch auf eine Rente erwarb.


31      C‑576/20, EU:C:2022:75, Nrn. 60 bis 63.


32      Ebd. (Nrn. 64 und 65).


33      Diese hängen insbesondere mit der Tatsache zusammen, dass man im Anschluss an das Urteil Pensionsversicherungsanstalt zu dem Ergebnis gelangen könnte, dass die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die den Inhalt von Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 vollständig widerspiegeln, Art. 21 AEUV zuwiderlaufen könnten, wenn nach diesen Rechtsvorschriften die Berücksichtigung von „Kindererziehungszeiten“ in anderen Situationen unzulässig ist (wobei solche Situationen angesichts der dem Kriterium der „hinreichenden Verbindung“ innewohnenden Uneindeutigkeit schwer vorausgesehen werden können).


34      Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Pensionsversicherungsanstalt.


35      So befand der Gerichtshof in seinem Urteil Elsen, dass zwischen diesen Zeiten und den Beschäftigungszeiten von Frau Elsen in Deutschland eine „enge Verbindung“ bestand. Es konnte nicht davon ausgegangen werden, dass Frau Elsen keiner „Berufstätigkeit“ mehr nachging oder deshalb den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterlag, in dem sie wohnte (Frankreich). Dagegen scheint mir die Entscheidung des Gerichtshofs in seinem Urteil Reichel-Albert in gewisser Weise von anderen Erwägungen beeinflusst worden zu sein. Zum einen hatte Frau Reichel-Albert in nur einem Mitgliedstaat (Deutschland) gearbeitet und Beiträge entrichtet, und zwar sowohl vor als auch nach der vorübergehenden Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat (Belgien), in dem sie zu keiner Zeit gearbeitet hatte. Zum anderen war Frau Reichel-Albert aus rein familiären Gründen nach Belgien verzogen, und zwar unmittelbar aus Deutschland, wo sie bis zu dem Monat vor ihrem Umzug gearbeitet hatte.


36      Vgl. Urteile Elsen (Rn. 26) und Kauer (Rn. 32).


37      In diesen beiden Fällen unterlag die Klägerin nämlich seit mehreren Monaten oder sogar seit über einem Jahr, bevor die Zeiten zu laufen begannen, nicht mehr den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats A.


38      Siehe oben, Nr. 23.


39      Wie ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Pensionsversicherungsanstalt (C‑576/20, EU:C:2022:75, Nr. 38) ausgeführt habe, beruhte die Rechtsprechung des Gerichtshofs vor dem Inkrafttreten der Verordnungen Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 nach meinem Verständnis nämlich auf einem zweistufigen Ansatz, der auf der Anwendbarkeit der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats A auf im Mitgliedstaat B zurückgelegte „Kindererziehungszeiten“ basierte, sofern zwischen diesen Zeiten und den im Mitgliedstaat A aufgrund einer Berufstätigkeit zurückgelegten Versicherungszeiten eine „enge Verbindung“ oder eine „hinreichende Verbindung“ bestand (erste Stufe), und auf der sich aus Art. 21 AEUV ergebenden Verpflichtung, wonach nach diesen Rechtsvorschriften die im Mitgliedstaat B zurückgelegten „Kindererziehungszeiten“ so behandelt werden mussten, als hätten sie im Mitgliedstaat A stattgefunden (d. h. diese Zeiten gleichbehandelt werden mussten) (zweite Stufe).


40      Vgl. Urteile Pensionsversicherungsanstalt (Rn. 61) und Reichel-Albert (Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).


41      Vgl. insbesondere Rn. 63 und 64 dieses Urteils.


42      Hinzuzufügen ist, dass die Vorschriften, die Teil der durch die Verordnungen Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 eingeführten Koordinierungsregelung sind, insgesamt überflüssig würden, wenn jedes Mal, wenn eine Person ihr Recht auf Freizügigkeit in Anwendung der Bestimmungen des AEUV wahrnimmt, das einzige Kriterium die Frage wäre, ob diese Person benachteiligt würde, wenn sie sich nicht weiterhin auf die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats berufen könnte, die zuvor für sie galten. Dieses Ergebnis würde nicht nur für die Mitgliedstaaten, sondern auch für die Unionsbürger selbst zu vielen Unsicherheiten führen (und könnte die Wahrnehmung des durch diese Vorschriften geschützten Rechts der Unionsbürger auf Freizügigkeit damit letztlich erschweren statt sie zu erleichtern).


43      Insoweit sei daran erinnert, dass der Gerichtshof zu Art. 45 AEUV, der die Arbeitnehmerfreizügigkeit betrifft, bereits entschieden hat, dass eine Situation, die auf einer Gesamtheit von Umständen beruht, die zu ungewiss und zu indirekt sind, die Entscheidung des Arbeitnehmers, von seiner Freizügigkeit Gebrauch zu machen, nicht beeinflussen kann und keine Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit darstellt (vgl. Urteil vom 24. November 2022, MCM [Beihilfe zur Finanzierung eines Auslandsstudiums], C‑638/20, EU:C:2022:916, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ich bin der Ansicht, dass diese Erwägungen auch im Rahmen der Anwendung von Art. 21 AEUV gelten. Daher dürfen die „Kindererziehungszeiten“ nicht zu weit von den „Versicherungszeiten“ im Mitgliedstaat A entfernt sein oder zu sehr von ihnen losgelöst sein.


44      Zu der Frage, ob die nationalen Rechtsvorschriften des Ausgangsverfahrens mit Art. 21 AEUV in Einklang stehen (die zweite Stufe, auf die ich oben in Fn. 39 verwiesen habe), weise ich darauf hin, dass der Gerichtshof sowohl im Urteil Elsen (Rn. 34) als auch im Urteil Reichel-Albert (Rn. 39) bereits die Gelegenheit wahrgenommen hat, in Bezug auf frühere (identische) Fassungen der Bestimmungen wie den im Ausgangsverfahren streitigen festzustellen, dass solche Bestimmungen Unionsbürger benachteiligen, die von ihrem in Art. 21 AEUV verbürgten Recht, sich in den Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben, und daher gegen Art. 21 AEUV verstoßen. Diese Schlussfolgerung gilt meines Erachtens nach wie vor.