Language of document : ECLI:EU:C:2024:82

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

LAILA MEDINA

vom 25. Januar 2024(1)

Rechtssache C753/22

QY

gegen

Bundesrepublik Deutschland

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts [Deutschland])

„Vorabentscheidungsersuchen – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Gemeinsame Asylpolitik – Entscheidung eines Mitgliedstaats über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Gefahr, in diesem Mitgliedstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren – Folgen für den neuen, in einem anderen Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz – Prüfung dieses neuen Antrags durch den anderen Mitgliedstaat – Ermittlung einer möglichen extraterritorialen Bindungswirkung der Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Gegenseitige Anerkennung – Informationsaustausch“






I.      Einleitung

1.        Das Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) hat in einem Verfahren zwischen Frau QY, einer syrischen Staatsangehörigen, der in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (im Folgenden: Bundesamt) ein Vorabentscheidungsersuchen betreffend die Entscheidung dieses Bundesamts vorgelegt, mit der der Antrag von Frau QY auf Anerkennung dieser Eigenschaft abgelehnt wurde.

2.        Im vorliegenden Fall kann Deutschland, der Mitgliedstaat, an den der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtet wurde (im Folgenden: zweiter Mitgliedstaat), Frau QY nicht nach Griechenland, in den Mitgliedstaat, der ihr erstmals einen solchen Status zuerkannt hat (im Folgenden: erster Mitgliedstaat), zurückführen, da sie dies in Anbetracht der Lebensverhältnisse für Flüchtlinge in diesem Mitgliedstaat der ernsthaften Gefahr aussetzen würde, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) zu erfahren(2).

3.        Vor diesem Hintergrund möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Primärrecht der Union und die einschlägigen Bestimmungen dreier im Bereich des Asylrechts der Union erlassener Sekundärrechtsakte, nämlich der Dublin‑III-Verordnung(3), der Verfahrensrichtlinie(4) und der Qualifikationsrichtlinie(5), dahin auszulegen seien, dass der zweite Mitgliedstaat verpflichtet sei, die vom ersten Mitgliedstaat zuerkannte Flüchtlingseigenschaft ohne weitere Prüfung der für die Bejahung der Flüchtlingseigenschaft erforderlichen materiellen Voraussetzungen anzuerkennen.

4.        Der vorliegende Fall wirft die Frage auf, ob es eine gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zwischen den Mitgliedstaaten geben kann, und, wenn ja, ob diese Anerkennung fortbesteht, wenn der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens nicht mehr gelten kann. Ähnliche Fragestellungen sind derzeit Gegenstand von drei weiteren beim Gerichtshof anhängigen Rechtssachen(6).

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

5.        Art. 78 Abs. 1 und 2 AEUV lautet:

„(1)      Die Union entwickelt eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden soll. Diese Politik muss mit dem Genfer Abkommen vom 28. Juli 1951[(7)] [im Folgenden: Genfer Abkommen] … im Einklang stehen.

(2)      Für die Zwecke des Absatzes 1 erlassen das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen in Bezug auf ein gemeinsames europäisches Asylsystem ([im Folgenden: GEAS)], das Folgendes umfasst:

a)      einen in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asylstatus für Drittstaatsangehörige;

…“

1.      DublinIII-Verordnung

6.        Art. 3 Abs. 1 und 2 der Dublin‑III-Verordnung bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.

(2)      Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.

Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der [Charta] mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat … die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.

Kann keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.“

7.        Art. 34 dieser Verordnung enthält Vorschriften über den Informationsaustausch.

2.      Verfahrensrichtlinie

8.        Art. 33 („Unzulässige Anträge“) Abs. 1 und 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie lautet:

„(1)      Zusätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der [Dublin‑III-Verordnung] ein Antrag nicht geprüft wird, müssen die Mitgliedstaaten nicht prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der [Qualifikationsrichtlinie] zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf der Grundlage des vorliegenden Artikels als unzulässig betrachtet wird.

(2)      Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten, wenn

a)      ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat …“.

3.      Qualifikationsrichtlinie

9.        In Art. 4 Abs. 1, 2 und 3 der Qualifikationsrichtlinie ist die Prüfung der Tatsachen und Umstände bei Anträgen auf internationalen Schutz geregelt.

10.      Die Art. 11, 12, 13 und 14 dieser Richtlinie sind für den vorliegenden Fall ebenfalls von Bedeutung.

B.      Deutsches Recht

11.      § 60 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: AufenthaltsG) bestimmt, dass in Anwendung des Genfer Abkommens, „ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden [darf], in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.“

12.      Dem vorlegenden Gericht zufolge schließt nach § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthaltsG, wenn außerhalb des Bundesgebiets einer Person die Flüchtlingseigenschaft in Bezug auf einen bestimmten Staat zuerkannt worden ist, die Zuerkennung dieser Eigenschaft auch für deutsche Behörden die Abschiebung in diesen Staat aus. Mit dem Erlass dieser Regelung habe der deutsche Gesetzgeber eine für die betroffene Person auf den Abschiebungsschutz beschränkte Bindungswirkung der Anerkennung dieser Eigenschaft angeordnet, aber keinen neuen Anspruch hinsichtlich der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft geschaffen.

III. Ausgangsverfahren, Vorlagefrage und Verfahren vor dem Gerichtshof

13.      Frau QY, einer syrischen Staatsangehörigen, wurde 2018 in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Zu einem vom vorlegenden Gericht nicht offengelegten Zeitpunkt stellte sie einen Antrag auf internationalen Schutz in Deutschland.

14.      Ein deutsches Verwaltungsgericht stellte in seinem Urteil fest, dass Frau QY in Anbetracht der Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge in Griechenland der ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren, so dass sie nicht in diesen Mitgliedstaat zurückgeführt werden könne.

15.      Mit Bescheid vom 1. Oktober 2019 gewährte das Bundesamt ihr subsidiären Schutz und lehnte ihren Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab.

16.      Das Verwaltungsgericht (Deutschland) wies die von Frau QY eingereichte Klage mit der Begründung ab, der geltend gemachte Anspruch folge nicht bereits daraus, dass ihr in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei. Der Antrag sei unbegründet, weil ihr in Syrien keine Verfolgung drohe.

17.      Frau QY legte daraufhin Sprungrevision beim Bundesverwaltungsgericht (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, ein. Sie macht geltend, dass das Bundesamt an die bereits erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch Griechenland gebunden sei.

18.      Das vorlegende Gericht führt aus, dass keine Bestimmung des deutschen Rechts Frau QY das Recht auf Anerkennung der von einem anderen Mitgliedstaat zuerkannten Flüchtlingseigenschaft verleihe. Es weist ferner darauf hin, dass ihr Antrag von den deutschen Behörden nicht als unzulässig abgelehnt werden könne, weil Frau QY zwar in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei, ihr aber Gefahr drohe, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren, würde sie in diesen Mitgliedstaat zurückgeführt. Das vorlegende Gericht betont, dass es erforderlich sei, die Rechtsfolgen zu ermitteln, die sich daraus ergäben, dass diese Möglichkeit aufgrund der Gefahr des Verstoßes gegen diese Bestimmung nicht zur Verfügung stehe.

19.      Es hält es für notwendig, zu klären, ob das Unionsrecht der Vornahme einer neuerlichen Prüfung durch das Bundesamt entgegenstehe, bei der dieses nicht durch eine frühere Entscheidung gebunden sei, mit der ein anderer Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt habe, und ob einer solchen Entscheidung zwingend extraterritoriale Wirkung zukomme. Das vorlegende Gericht vertritt die Auffassung, dass es sich nicht aus dem Primär- und Sekundärrecht der Union ergebe, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem Mitgliedstaat der inhaltlichen Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz durch die zuständige Behörde eines zweiten Mitgliedstaats entgegenstehe. Zusammengefasst ist es der Ansicht, dass das Unionsrecht keine ausdrückliche Bestimmung enthalte, die einen Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen über die Zuerkennung dieser Eigenschaft aufstellen würde.

20.      Dies vorausgeschickt, weist das vorlegende Gericht jedoch darauf hin, dass der Gerichtshof bisher nicht über die Frage entschieden habe, ob sich eine Bindungswirkung aus Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung ableiten lasse, wonach ein Antrag auf internationalen Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat inhaltlich zu prüfen sei. Ferner führt es aus, dass Art. 4 Abs. 1 Satz 2 und Art. 13 der Qualifikationsrichtlinie auf die gleiche Weise ausgelegt werden könnten. Darüber hinaus könne die Möglichkeit des zweiten Mitgliedstaats, einen Antrag nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie als unzulässig zu betrachten, weil der erste Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft bereits zuerkannt habe, als Ausdruck des Grundsatzes einer einzigen inhaltlichen Prüfung eines Asylantrags zu verstehen sein.

21.      Außerdem merkt das vorlegende Gericht an, dass sich der vorliegende Fall von der derzeit beim Gerichtshof anhängigen Rechtssache C‑352/22, Generalstaatsanwaltschaft Hamm (Ersuchen um Auslieferung eines Flüchtlings in die Türkei), unterscheide, die ein Auslieferungsersuchen eines Drittstaats betreffe, aus dem die betroffene Person geflohen sei. Im vorliegenden Fall habe das Bundesamt Frau QY subsidiären Schutz gewährt, so dass sie nicht abgeschoben werden könne.

22.      Schließlich fragt sich das vorlegende Gericht, wie Rn. 42 des Beschlusses in der Rechtssache Hamed und Omar(8) zu verstehen sei. Einerseits könnte der Verweis auf ein „neues“ Asylverfahren für eine neuerliche Prüfung sprechen. Andererseits könnte die Bezugnahme auf die „[mit der Flüchtlingseigenschaft] verbundenen Rechte“ eine Anerkennung des bereits von einem anderen Mitgliedstaat zuerkannten Status implizieren.

23.      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen hat das Bundesverwaltungsgericht das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Sind in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie eingeräumten Befugnis, einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem anderen Mitgliedstaat als unzulässig abzulehnen, keinen Gebrauch machen darf, weil die Lebensverhältnisse in diesem Mitgliedstaat den Antragsteller der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta aussetzen würden, Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung, Art. 4 Abs. 1 Satz 2 und Art. 13 der Qualifikationsrichtlinie sowie Art. 10 Abs. 2 und 3, Art. 33 Abs. 1 und 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie dahin auszulegen, dass die bereits erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft den Mitgliedstaat daran hindert, den bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz ergebnisoffen zu prüfen, und ihn dazu verpflichtet, ohne Untersuchung der materiellen Voraussetzungen dieses Schutzes dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen?

24.      Frau QY, die belgische, die tschechische, die deutsche, die irische, die griechische, die französische, die italienische, die luxemburgische, die niederländische und die österreichische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Mit Ausnahme der belgischen, der tschechischen und der österreichischen Regierung haben sie auch in der mündlichen Verhandlung vom 26. September 2023 mündlich vorgetragen.

IV.    Würdigung

25.      Der dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen zugrunde liegende Sachverhalt ist dadurch gekennzeichnet, dass die betroffene Person nicht in den ersten Mitgliedstaat, nämlich nach Griechenland, zurückgeführt werden kann. Die Vorlagefrage beruht daher auf der Prämisse, dass im Asylsystem des ersten Mitgliedstaats – insbesondere hinsichtlich der Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge – das nach dem Unionsrecht und insbesondere nach Art. 4 der Charta erforderliche Schutzniveau der Grundrechte nicht mehr gewährleistet werden kann (Abschnitt A).

26.      Vor diesem Hintergrund soll im Wesentlichen mit der dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage geklärt werden, ob im Unionsrecht ein Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gelte, wonach der zweite Mitgliedstaat die der betroffenen Person zuvor vom ersten Mitgliedstaat zuerkannte Flüchtlingseigenschaft anzuerkennen und ihr Wirkung zu verleihen habe. Meines Erachtens lässt sich diese Frage in zwei Teile aufspalten. Erstens ist es von grundlegender Bedeutung, zu klären, ob ein solcher Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im Bereich der Asylpolitik der Union gilt (Abschnitt B). Zweitens ist für den Fall, dass diese Frage verneint wird, ebenfalls zu ermitteln, in welcher Art und Weise die im zweiten Mitgliedstaat nachfolgenden Verwaltungsverfahren durchgeführt werden sollten, die sich auf neue Anträge im zweiten Mitgliedstaat beziehen (Abschnitt C)(9).

A.      Vorbemerkungen zu den außergewöhnlichen Umständen, die sich aus dem Verlust gegenseitigen Vertrauens ergeben

27.      Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten beruht auf der grundlegenden Prämisse, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet(10). Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung der Unionsrechtsakte, mit denen sie umgesetzt werden, und gegenseitigen Vertrauens darauf, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der in der Charta anerkannten Grundrechte, insbesondere ihren Art. 1 und 4, in denen einer der Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten verankert ist, zu bieten(11). Folglich muss im Rahmen des GEAS die Vermutung gelten, dass die Behandlung von Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Charta, des Genfer Abkommens und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten erfolgt(12).

28.      Unbeschadet dieser Konformitätsvermutung hat der Gerichtshof auch entschieden, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass das GEAS in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, d. h. dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist(13). Daher ist die Anwendung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens unter außergewöhnlichen Umständen(14) nicht mit der Pflicht zur grundrechtskonformen Auslegung und Anwendung der Dublin‑III-Verordnung vereinbar(15).

29.      Im vorliegenden Fall gilt die Prämisse, auf die sich das gegenseitige Vertrauen im Bereich des GEAS gründet – wonach jeder dieser Staaten davon ausgehen muss, dass alle anderen Mitgliedstaaten im Einklang mit den unionsrechtlich anerkannten Grundrechten handeln – gegenüber dem ersten Mitgliedstaat nicht mehr. Die Vorlagefrage wurde im Zusammenhang mit „außergewöhnlichen Umständen“ im Sinne der einschlägigen Rechtsprechung vorgelegt und beruht auf der doppelten Prämisse, dass die zuvor genannte Vermutung nicht gelte, da erstens ein Bruch des gegenseitigen Vertrauens darin liege, dass die Antragstellerin im Mitgliedstaat, der ihr die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt habe, einer ernsthaften Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt wäre. Zweitens sei es der deutschen Asylbehörde daher nicht möglich, den Antrag gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie als unzulässig abzulehnen.

1.      Der Bruch des gegenseitigen Vertrauens und die Auslegung von Art. 3 Abs. 2 der DublinIII-Verordnung

a)      Art. 3 Abs. 1 der DublinIII-Verordnung und die Grundregel

30.      Mit dem durch die Dublin‑III-Verordnung geschaffenen System sollen die Kriterien und Verfahren festgelegt werden, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zur Anwendung gelangen. Es beruht auf dem in Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung verankerten Grundsatz, dass ein einziger Mitgliedstaat für die Prüfung zuständig ist, ob ein Antragsteller internationalen Schutz benötigt.

31.      Um dieses Ziel zu erreichen, legt Kapitel III der Dublin‑III-Verordnung eine Rangfolge objektiver und für die Mitgliedstaaten und die betroffenen Personen gerechter Kriterien fest(16). Diese Kriterien sind in den Art. 8 bis 15 dieser Verordnung enthalten und sollen eine klare und praktikable Formel für eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats bereitstellen, um einen effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und um das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden. Bei der Anwendung dieser Kriterien übten die griechischen Behörden ihre Zuständigkeit für den Erlass der Entscheidung aus, mit der Frau QY die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde.

b)      Art. 3 Abs. 2 der DublinIII-Verordnung

32.      Im Urteil in den verbundenen Rechtssachen N. S. u. a. hat der Gerichtshof anerkannt, dass das Asylsystem in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stoßen kann, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist(17). Der Gerichtshof hat den automatischen Vollzug der Dublin‑II-Verordnung(18), der Vorgängerin der Dublin‑III-Verordnung, aufgegeben, „[d]amit die Union und ihre Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen in Bezug auf den Schutz der Grundrechte der Asylbewerber nachkommen können“(19). Er hat anerkannt, dass die Mitgliedstaaten einen Asylbewerber nicht an den im Sinne der Dublin‑II-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat überstellen dürfen, wenn ihnen systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat bekannt sind, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden.

33.      Mit Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung wurde das im Urteil in den verbundenen Rechtssachen N. S. u. a. beschriebene Szenario, d. h. das Szenario der außergewöhnlichen Umstände, kodifiziert und das – systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat umfassende – doppelte Kriterium eingeführt, das es erlaubt, die Überstellung eines Antragstellers in den Mitgliedstaat, der die Entscheidung erlassen hat, abzulehnen(20).

34.      Im vorliegenden Verfahren betrifft die Vorlagefrage ein solches Szenario. Folglich gilt hier die Vermutung der Gleichwertigkeit der nationalen Asylsysteme nicht, auf der die Regelungen der Dublin‑III-Verordnung beruhen. Dies bedeutet, dass die deutschen Behörden die betroffene Person nicht nach Griechenland zurückführen dürfen, da sie der Ansicht sind, dass die Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufwiesen. Entfaltet sich dieses Szenario aufgrund einer tatsächlichen Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta, so haben die nationalen Behörden des Mitgliedstaats, in dem sich der Asylbewerber aufhält, zu bestimmen, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung seines Antrags zuständig wird.

c)      Nach der Anwendung von Art. 3 Abs. 2 der DublinIII-Verordnung zuständige Mitgliedstaat

35.      Zunächst ist es wichtig, in Erinnerung zu rufen, dass in Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung folgende Zuständigkeitsregelung festgelegt wird: Der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat hat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fortzusetzen, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann. Führt diese Prüfung nicht zur Bestimmung eines anderen zuständigen Mitgliedstaats, sieht Unterabs. 3 vor, dass, „[wenn] keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden [kann], … der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat [wird].“

36.      Im vorliegenden Fall hat sich das vorlegende Gericht nicht dazu geäußert, ob und, wenn ja, in welcher Weise die deutschen Behörden die nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung erforderliche Prüfung vorgenommen haben. Es steht jedoch außer Frage, dass sich diese Behörden auf der Grundlage des genannten Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 für zuständig erachten(21). Für die Zwecke der vorliegenden Schlussanträge ist daher davon auszugehen, dass sich die Zuständigkeit der deutschen Behörden auf diesen Unterabs. 3 gründet.

2.      Die Unzulässigkeit nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie

37.      Gemäß Art. 33 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie sind die Mitgliedstaaten nicht gehalten, Anträge auf internationalen Schutz nach Maßgabe der Qualifikationsrichtlinie zu prüfen, wenn die Anträge nach diesem Artikel unzulässig sind. Art. 33 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie zählt abschließend die Konstellationen auf, in denen die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten können(22). Insbesondere sieht Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie vor, dass ein Antrag als unzulässig abgelehnt werden darf, wenn einem Antragsteller zuvor von einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt wurde. Diese Ausnahme von der allgemeinen Zulässigkeit solcher Anträge lässt sich mit der Bedeutsamkeit des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens erklären(23). Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie konkretisiert den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Rahmen des GEAS(24).

38.      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu diesem Grundsatz(25) dürfen die Behörden eines Mitgliedstaats jedoch keinen Gebrauch von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie machen, wenn sie auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu dem Schluss gekommen sind, dass in dem Mitgliedstaat, in dem der Drittstaatsangehörige bereits internationalen Schutz genießt, entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen und dass es im Hinblick auf diese Schwachstellen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die betroffene Person tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden(26).

39.      Da die Vorlagefrage darauf beruht, dass die deutsche Asylbehörde im vorliegenden Fall keine Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie erlassen könne, lässt sich logisch schlussfolgern, dass das vorlegende Gericht die folgenden Faktoren festgestellt hat: Es liegen systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vor, und es gibt ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme, dass Drittstaatsangehörige wie Frau QY tatsächlich Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden.

40.      In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob Entscheidungen im Bereich der Asylpolitik gegenseitig anzuerkennen sind, und welche Folgen gegebenenfalls der Verlust des gegenseitigen Vertrauens für eine solche Anerkennung zeitigt.

3.      Die Auswirkungen des Verlusts gegenseitigen Vertrauens

41.      Wie bereits erwähnt, beruht der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auf der Prämisse, dass von jedem Mitgliedstaat verlangt wird, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten(27). Aus diesem Grundsatz ergeben sich Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten(28). Gegenseitiges Vertrauen darf jedoch nicht mit blindem Vertrauen verwechselt werden(29). Gegenseitiges Vertrauen kann in Wegfall geraten, wenn das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem der Mitgliedstaaten systemische Schwachstellen aufweisen(30). Daraus folgt, dass sich, wenn diese Vermutung widerlegt wird und ein Mitgliedstaat das Vertrauen in das Asylsystem eines anderen Mitgliedstaats verloren hat, unweigerlich eine Reihe von Fragen stellen: Welche Auswirkungen hat dieser Vertrauensverlust auf die Rechte und Pflichten der Mitgliedstaaten? Welche Rechte und Pflichten bleiben dagegen unberührt? Wirkt sich der Vertrauensverlust eines Mitgliedstaats zudem auf die Folgen aus, die mit den von einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidungen verbunden sind?

42.      Die Auswirkungen eines solchen Vertrauensverlusts sind alles andere als offensichtlich. Man könnte argumentieren, dass, wenn der zweite Mitgliedstaat (Deutschland) aufgrund von Schwachstellen, die die Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge betreffen, das Vertrauen in das Asylsystem des ersten Mitgliedstaats (Griechenland) verliert, der zweite Staat dem ersten lediglich im Hinblick auf seine Behandlung von Flüchtlingen misstrauen würde, nicht aber in Bezug auf seine Verfahren zur Bearbeitung von Asylanträgen. Die Auswirkungen dieses Vertrauensverlusts würden sich daher darauf beschränken, dass die betroffene Person nicht in den ersten Mitgliedstaat zurückgeführt wird. Der zweite Mitgliedstaat würde jedoch weiterhin auf die Begründetheit der Entscheidung des ersten Mitgliedstaats über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vertrauen. Umgekehrt könnte auch argumentiert werden, dass der Vertrauensverlust zu einem allgemeinen Misstrauen gegenüber dem gesamten Asylsystem des ersten Mitgliedstaats führt, einschließlich im Hinblick auf die Gültigkeit der ursprünglichen, vom ersten Mitgliedstaat erlassenen Entscheidung.

43.      Insoweit bin ich der Auffassung, dass es wichtig ist, zwischen den Asylverfahren und insbesondere den Bedingungen für die Bearbeitung von Asylanträgen im ersten Mitgliedstaat einerseits und den Lebensverhältnissen von Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz in diesem Mitgliedstaat andererseits zu unterscheiden(31). Wenn der zweite Mitgliedstaat Kenntnis von Schwachstellen im ersten Mitgliedstaat hat (woraus der Vertrauensverlust resultiert), kann dies theoretisch das Asylverfahren und/oder die Lebensverhältnisse betreffen. Im vorliegenden Fall bezieht sich das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen eindeutig auf die „Lebensverhältnisse“ im ersten Mitgliedstaat. Meines Erachtens kann daher ungeachtet des von den Gerichten des zweiten Mitgliedstaats festgestellten Vertrauensverlusts im Hinblick auf die Lebensverhältnisse im ersten Mitgliedstaat davon ausgegangen werden, dass die in Rede stehende Entscheidung der betroffenen Person gegenüber gültig erlassen wurde. Im Licht dieser Unterscheidung ist zu klären, ob – und wenn ja, in welcher Weise – der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im Bereich der Asylpolitik gilt, wenn Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 der Dublin‑III-Verordnung Anwendung findet und Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensverordnung nicht angewendet werden kann, weil die betroffene Person tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden.

B.      Gegenseitige Anerkennung im Bereich der Asylpolitik

44.      Die Beantwortung der Frage, ob der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im Bereich der Asylpolitik gilt und, wenn ja, in welcher Weise, umfasst zwei Aspekte: Zunächst sollte ermittelt werden, ob die gegenseitige Anerkennung unter gewöhnlichen Umständen als übergeordneter Grundsatz gilt. Erst dann kann geklärt werden, ob der zweite Mitgliedstaat bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände verpflichtet ist, die vom ersten Mitgliedstaat zuerkannte Flüchtlingseigenschaft und den sich daraus ergebenden Schutz automatisch anzuerkennen.

45.      In seiner grundlegenden Anwendungsform würde der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung verlangen, dass eine in einem der Mitgliedstaaten der Europäischen Union erlassene Entscheidung über die Flüchtlingseigenschaft eines Drittstaatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat uneingeschränkt zu akzeptieren wäre(32). Gegenseitige Anerkennung bedeutet also, dass der zweite Mitgliedstaat eine von der zuständigen Behörde des ersten Mitgliedstaats erlassene Entscheidung so anerkennt und vollzieht, als wäre sie seine eigene(33). Der Schutz und die Rechte, die einem Flüchtling im ersten Mitgliedstaat gewährt werden, sollten dieser Person in den zweiten Mitgliedstaat nachfolgen; sonst wäre die gegenseitige Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft bedeutungslos(34).

46.      Eine solche gegenseitige Anerkennung sollte, damit sie im Bereich des GEAS gilt, im Primär- oder Sekundärrecht der Union verankert sein. Ich werde daher die Bestimmungen i) des Primärrechts und ii) des Sekundärrechts der Union analysieren, um zu klären, ob ein solcher Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen im Bereich der Asylpolitik gilt.

1.      Ergibt sich ein leitender Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung aus dem Primärrecht der Union?

47.      Nach Art. 78 Abs. 1 Satz 1 AEUV entwickelt die Union eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz. Zu diesem Zweck erlassen das Europäische Parlament und der Rat gemäß Art. 78 Abs. 2 Buchst. a und b AEUV Maßnahmen in Bezug auf ein GEAS. Dazu gehört u. a. ein in der ganzen Union gültiger einheitlicher Asylstatus für Drittstaatsangehörige(35). Allerdings sieht keine der Bestimmungen in Titel V Kapitel 2 AEUV eine Verpflichtung oder einen Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der von einem anderen Mitgliedstaat zuerkannten Flüchtlingseigenschaft vor(36). Während den Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit(37) unmittelbare Wirkung zukommt(38), sie für sich stehen und unmittelbar anwendbare Rechte enthalten, die dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zu voller Wirksamkeit und Relevanz verhelfen, ist es nicht ersichtlich, dass dies auch bei den Vertragsbestimmungen in Titel V Kapitel 2 AEUV der Fall wäre. Vielmehr ist in keiner Vertragsbestimmung ausdrücklich vorgesehen, dass dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im Bereich der Asylpolitik volle Wirksamkeit zukäme und dass er geltend gemacht werden könnte.

48.      Dies vorausgeschickt, bleibt die Frage offen, ob sich der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung aus diesen Vertragsbestimmungen ableiten lässt(39). Hierzu möchte ich darauf hinweisen, dass Art. 78 Abs. 1 AEUV der Europäischen Union eine Zuständigkeit im Bereich der Asylpolitik überträgt und deren Ziel dahin definiert, dass eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl entwickelt werden soll, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, „der internationalen Schutz benötigt“, „ein angemessener Status“ angeboten wird. Art. 78 Abs. 2 Buchst. a AEUV stellt eine Rechtsgrundlage(40) dar, die es dem Unionsgesetzgeber ermöglicht, einen „in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asylstatus“ zu schaffen(41). Dies bedeutet meines Erachtens, dass die mit diesem einheitlichen Status verbundenen Rechte ohne Tätigwerden des Unionsgesetzgebers weder voll wirksam noch geltend machbar sind(42). Daraus folgt, dass eine Vertragsbestimmung, die eine Rechtsgrundlage und eine Zuständigkeitsübertragung an die Unionsorgane enthält, nicht ausreicht, um die These zu stützen, dass sie auch unmittelbar anwendbare Rechte enthielte, die dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zu voller Wirksamkeit und Geltendmachbarkeit verhülfen(43).

49.      Der Vollständigkeit halber möchte ich hinzufügen, dass nach Art. 18 der Charta „[d]as Recht auf Asyl … nach Maßgabe des Genfer Abkommens … gewährleistet [wird].“ Während die gemeinsame Asylpolitik gemäß Art. 78 Abs. 1 AEUV „mit dem Genfer Abkommen … im Einklang stehen“ muss, verbietet das Völkerrecht die Ausübung extraterritorialer vollziehender Hoheitsgewalt, wo eine solche nicht ausdrücklich erlaubt ist, grundsätzlich als allgemeinen Grundsatz(44). Dieses Abkommen verlangt es indessen nicht, dass ein Vertragsstaat die zuvor von einem anderen Vertragsstaat zuerkannte Flüchtlingseigenschaft eines Asylbewerbers anerkennt. Daher kann aus diesem Abkommen keine Extraterritorialität abgeleitet werden. In ähnlicher Weise verlangt auch der EGMR in seiner Rechtsprechung keine Extraterritorialität und betont im Gegenteil den Ausnahmecharakter dieses Grundsatzes(45). Der in der Unionsrechtsordnung einzigartige Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung folgt nicht aus der EMRK(46).

50.      Schließlich führt die italienische Regierung in ihren Erklärungen u. a. aus, dass das Protokoll (Nr. 24) im Anhang zum AEU-Vertrag(47) für das vorliegende Verfahren von Bedeutung sei. Diese Auffassung teile ich nicht, da sich dieses Protokoll auf Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der Union bezieht, während der vorliegende Fall nur Drittstaatsangehörige betrifft.

51.      Da sich aus dem Primärrecht der Union kein übergeordneter Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ableiten lässt, stellt sich als Nächstes die Frage, ob sich der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im GEAS aus dem Sekundärrecht der Union ergibt.

2.      Kann gegenseitige Anerkennung aus dem Sekundärrecht der Union im Bereich des GEAS abgeleitet werden?

52.      Zur Beantwortung der vorstehenden Frage werde ich im Einklang mit der nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs üblichen Auslegungsmethode(48), entsprechend ihrer jeweiligen Relevanz für die Analyse, auf die Kriterien der am Wortlaut orientierten, der systematischen und der teleologischen Auslegung zurückgreifen. In diesem Zusammenhang lässt sich gegenseitige Anerkennung im GEAS nur bejahen, wenn festgestellt werden kann, dass der Unionsgesetzgeber beabsichtigte, den Mitgliedstaaten eine solche Anerkennung vorzuschreiben(49). Meines Erachtens muss eine solche Absicht jedoch nicht ausdrücklich im Wortlaut der betreffenden Bestimmungen des Sekundärrechts der Union zum Ausdruck kommen, sondern könnte auch aus dem Zusammenhang und den mit diesen Bestimmungen verfolgten Zielen abgeleitet werden. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die praktische Wirksamkeit einer Bestimmung des Sekundärrechts der Union vom Bestehen des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung zwischen den Mitgliedstaaten abhängt. Während eine Bestimmung des Sekundärrechts der Union daher zwar keinen ausdrücklichen Verweis auf „gegenseitige Anerkennung“ enthalten muss, muss eine klare Absicht des Unionsgesetzgebers vorliegen, einen solchen Grundsatz vorzuschreiben(50).

a)      Die DublinIII-Verordnung

53.      Zunächst machen einige der am vorliegenden Verfahren Beteiligten erstens geltend, dass die Dublin‑III-Verordnung nicht anwendbar sei, da der zuständige Mitgliedstaat (in diesem Fall Griechenland) der betroffenen Person bereits internationalen Schutz gewährt habe(51). Zweitens werfe das Ausgangsverfahren die Frage auf, wie mit dem in Deutschland gestellten Antrag auf internationalen Schutz und nicht mit dem zuvor in Griechenland gestellten Antrag umzugehen sei.

54.      Im Hinblick auf die Frage der Anwendbarkeit der Dublin‑III-Verordnung habe ich bereits erläutert, dass ihr Art. 3 Abs. 2 vorsieht, dass die Behörden des zweiten Mitgliedstaats für die Prüfung des Asylantrags zuständig sind. Da diese Bestimmung spezifisch das im Urteil in der Rechtssache N. S. u. a. behandelte Szenario kodifiziert, fällt die Fragestellung nach der Anerkennung der Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, wenn ein Mitgliedstaat das Vertrauen in die Aufenthaltsbedingungen im anderen Mitgliedstaat verloren hat, in den Anwendungsbereich der Dublin‑III-Verordnung(52). Folglich bin ich der Ansicht, dass die vorliegende Situation in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt.

55.      Die Dublin‑III-Verordnung legt die Kriterien und Verfahren fest, die zur Anwendung gelangen, um denjenigen Mitgliedstaat zu bestimmen, der für die Prüfung eines in einem der Mitgliedstaaten gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist(53). Auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung wird in dieser Verordnung jedoch nicht verwiesen. Nach jetziger Sachlage sind Asylanträge von den Mitgliedstaaten einzeln zu prüfen. Während das Dublin-System zwar auf dem Grundgedanken der Gleichwertigkeit der Asylsysteme der Mitgliedstaaten beruht, geht eine solche Vermutung jedoch nicht so weit, dass Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegenseitig anzuerkennen wären.

56.      Es ist wichtig, hervorzuheben, dass die in der Dublin‑III-Verordnung festgelegten Mechanismen einen hohen Grad an „Automatisierung“ der Verfahren im Hinblick auf negative Entscheidungen vorsehen, d. h. Entscheidungen, mit denen weder die Flüchtlingseigenschaft noch subsidiärer Schutz zuerkannt wird(54). Diese „Automatisierung“ stützt das Argument, dass die Dublin‑III-Verordnung dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zu voller Wirksamkeit und Geltendmachbarkeit verhelfe, allerdings nur im Hinblick auf negative Entscheidungen(55). Hat der erste Mitgliedstaat eine negative Entscheidung erlassen, so ist der zweite Mitgliedstaat nicht für die Prüfung eines bei ihm neu gestellten Asylantrags zuständig, sondern hat die betroffene Person in den ersten Mitgliedstaat zurückzuführen, der seinerseits die erforderlichen Maßnahmen zur Rückführung dieser Person in ihr Herkunftsland treffen muss. Darüber hinaus verpflichtet das mit der Dublin‑III-Verordnung eingeführte System die Mitgliedstaaten zur Durchführung „intensiver horizontaler grenzüberschreitender Zusammenarbeit zwischen nationalen Behörden“, um mögliche Eingriffe anderer Hoheitsträger nachvollziehen zu können(56).

57.      Wie die irische Regierung hervorhebt, enthält die Dublin‑III-Verordnung jedoch keine Rechtsvorschrift, die ausdrücklich den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im Hinblick auf von anderen Mitgliedstaaten erlassene positive Entscheidungen verankern würde. Diese Verordnung verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht zu automatischer Anerkennung und Vollzug der positiven Entscheidungen der anderen Mitgliedstaaten. Während die Lehre überzeugende Argumente „de lege ferenda“ zur Notwendigkeit der Einführung eines solchen Grundsatzes herausgearbeitet hat(57), hat der Unionsgesetzgeber trotz der Bemühungen der Kommission(58) keine definitiven Schritte in diese Richtung unternommen.

58.      Ich möchte hinzufügen, dass der Grundsatz eines einzigen zuständigen Mitgliedstaats ein zentrales Element des GEAS darstellt(59). In Anbetracht dieses Konzepts beschränkt sich die Durchführung des Verfahrens auf einen einzigen Mitgliedstaat, der damit für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig wird. Unter gewöhnlichen Umständen befasst sich daher nur ein Mitgliedstaat mit positiven und negativen Entscheidungen.

59.      Für den Fall des Vorliegens außergewöhnlicher Umstände sollte hinzugefügt werden, dass der nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung als zuständig bestimmter Mitgliedstaat die Verpflichtung übernimmt, das gesamte Verfahren im Einklang mit der Dublin‑III-Verordnung, der Verfahrensrichtlinie und der Qualifikationsrichtlinie durchzuführen. Dieser Mitgliedstaat ist für die Prüfung des Antrags, für die Gewährung internationalen Schutzes oder die Ablehnung des Antrags sowie gegebenenfalls für die Rückführung oder Abschiebung des Drittstaatsangehörigen zuständig. Wie die griechische Regierung geltend macht, erlaubt es das Dublin-System nicht, dass Regelungen des internationalen Schutzes in verschiedenen Mitgliedstaaten für dieselbe Person kumuliert werden. Kann der zweite Mitgliedstaat die betroffene Person jedoch nicht in den ersten Mitgliedstaat, der ihr die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, überstellen, werden die Bedenken im Hinblick auf die Kumulierung mehrerer Schutzregimes für dieselbe Person gegenstandslos. Der Grund dafür ist, dass eine solche Person die mit ihrer Flüchtlingseigenschaft verbundenen Rechte in Anbetracht der Schwachstellen der Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge im ersten Mitgliedstaat nicht in einer Weise ausüben kann, in der ihre unionsrechtlich anerkannten Grundrechte hinreichend gewahrt werden.

60.      Bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände weist die Dublin‑III-Verordnung die Zuständigkeit für die Bearbeitung des Antrags folglich dem zweiten Mitgliedstaat zu, lässt aber die Frage der Reichweite dieser Zuständigkeit und des anwendbaren Verfahrens offen. Es ist jedoch jedenfalls klar, dass die Dublin‑III-Verordnung keine Verpflichtung enthält, der positiven Asylentscheidung des ersten Mitgliedstaats Wirkung zu verleihen, wenn solche Umstände eintreten.

b)      Die Verfahrensrichtlinie

61.      Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung findet auch in den Bestimmungen der Verfahrensrichtlinie keine Erwähnung. Der in dieser Richtlinie gewählte Ansatz beruht auf dem Konzept eines einheitlichen Verfahrens und stützt sich auf gemeinsame Mindestnormen(60).

62.      In Bezug auf das Szenario der außergewöhnlichen Umstände haben das vorlegende Gericht und die am Verfahren Beteiligten auf Art. 10 der Verfahrensrichtlinie verwiesen. Im Licht der Erwägungsgründe 16 und 43 dieser Richtlinie gelesen, besagt diese Bestimmung, dass Entscheidungen über internationalen Schutz auf der Grundlage von Tatsachen zu ergehen haben und in der Sache zu prüfen sind sowie dass objektiv und unparteiisch zu beurteilen ist, ob der Antragsteller die materiellen Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes erfüllt. Die Verfahrensrichtlinie hebt somit das Erfordernis hervor, dass die zuständigen Mitgliedstaaten Anträge einzeln prüfen. Einerseits könnte man argumentieren, dass eine „Einzelprüfung“ bereits im ersten Mitgliedstaat durchgeführt wurde. Andererseits ließe sich auch die Auffassung vertreten, dass aufgrund der Schwachstellen der Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge im ersten Mitgliedstaat eine neuerliche Einzelprüfung erforderlich ist. Daraus folgt meines Erachtens, dass aus diesem Erfordernis keine Schlussfolgerung für oder gegen die Bindungswirkung einer Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gezogen werden kann, wenn eine Gefahr im Sinne von Art. 4 der Charta festgestellt wurde. Ich halte Art. 10 der Verfahrensrichtlinie nur dann für relevant, wenn der Gerichtshof bei der Auslegung anderer Bestimmungen des Sekundärrechts der Union entscheiden sollte, dass die deutschen Behörden ex nunc zu beurteilen haben, ob die betroffene Person die materiellen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt.

63.      In Ermangelung einer eindeutigen, aus der Verfahrensrichtlinie folgenden Verpflichtung, eine Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft automatisch anzuerkennen, sind weiterhin die Rechtsfolgen zu ermitteln, die sich daraus ergeben, dass die in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie vorgesehene Möglichkeit aufgrund der ernsthaften Gefahr für die betroffene Person, im ersten Mitgliedstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden, nicht zur Verfügung steht(61). Unter gewöhnlichen Umständen, wenn Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten herrscht, konkretisiert diese Bestimmung nicht nur den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Rahmen des GEAS, sondern auch den Grundsatz eines einzigen zuständigen Mitgliedstaats(62).

64.      Für den Fall des Vorliegens außergewöhnlicher Umstände hat der Gerichtshof jedoch in dem Beschluss in der Rechtssache Hamed und Omar unter Bezugnahme auf frühere Rechtsprechung entschieden, dass ein Mitgliedstaat (in diesem Fall Deutschland) sich nicht auf Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie berufen darf, um einen Asylantrag als unzulässig abzulehnen, der von einer Person gestellt wurde, der von einem anderen Mitgliedstaat (in diesem Fall Bulgarien) die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, dessen Asylsystem ähnliche systemische Schwachstellen aufweist wie diejenigen, die in der Rechtssache N. S. u. a. in Rede standen. Ferner hielt der Gerichtshof darüber hinaus auch fest, dass das deutsche Recht zwar einen gewissen Schutz für Asylbewerber bot, die sich mit dem der Rechtssache N. S. u. a. zugrundeliegenden Szenario konfrontiert sahen; es „[sah] jedoch ohne ein neues Asylverfahren nicht die Anerkennung dieser Eigenschaft und die Gewährung der damit verbundenen Rechte auch in Deutschland vor“(63). Diese Passage scheint, wenn auch nur implizit, die Vereinbarkeit des vom deutschen Gesetzgeber gewählten Ansatzes mit dem Unionsrecht zu bestätigen. Hätte die Verfahrensrichtlinie die Anerkennung dieser Eigenschaft vorgesehen, hätte der Gerichtshof diese Passage meines Erachtens völlig anders formuliert und verlangt, dass die deutschen Behörden der betroffenen Person eine solche Eigenschaft zuerkennen. Demgegenüber lässt die Bezugnahme auf ein „neues Asylverfahren“ vermuten, dass der zweite Mitgliedstaat berechtigt ist, ein zweites Asylverfahren durchzuführen, wenn eine Gefahr für die betroffene Person festgestellt wurde, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden. In der Praxis erhält der zweite Mitgliedstaat eine doppelte Zuständigkeit: die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags der betroffenen Person und die Zuständigkeit, den Rechten dieser Person Wirkung zu verleihen.

65.      Ich teile daher die Auffassung einiger der am Verfahren Beteiligten, wonach der Mitgliedstaat, bei dem ein neuer Antrag gestellt wurde, eine neuerliche Prüfung durchführen darf. Eine solche Prüfung ist jedoch im Einklang mit den der Verfahrensrichtlinie und der Charta zugrundeliegenden Zielen durchzuführen. Dies vorausgeschickt, und wie ich im Folgenden (vgl. Abschnitt C) erläutern werde, bedeutet eine neuerliche Prüfung keine „auf Werkseinstellungen zurückgesetzte“ Prüfung. In etwas üblicherer Weise ausgedrückt, beginnt der Mitgliedstaat, bei dem ein neuer Antrag gestellt wurde, nicht „bei null“, sondern sollte die Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats, mit der der betroffenen Person die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, bei seiner Beurteilung gebührend berücksichtigen.

c)      Die Qualifikationsrichtlinie

66.      Mit der Qualifikationsrichtlinie sollte auf der Grundlage des Genfer Abkommens ein „einheitlicher [Asyl‑]Status“ für Drittstaatsangehörige geschaffen werden(64). Den Erwägungsgründen 4, 23 und 24 der Qualifikationsrichtlinie zufolge stellt das Genfer Abkommen einen „wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen“ dar und sind die Bestimmungen dieser Richtlinie erlassen worden, um die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten anhand gemeinsamer Konzepte und Kriterien bei der Anwendung des Genfer Abkommens zu leiten(65). Folglich sind die Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie im Einklang mit dem Genfer Abkommen und den anderen einschlägigen Verträgen auszulegen, auf die Art. 78 Abs. 1 AEUV Bezug nimmt.

67.      In den Kapiteln I, III, IV, V und VI der Qualifikationsrichtlinie werden die gemeinsamen Kriterien zur Bestimmung der Personen festgelegt, „die tatsächlich Schutz benötigen“(66) und denen einer dieser beiden Status zu gewähren ist. Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 13 der Qualifikationsrichtlinie über kein Ermessen verfügen und einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der die materiellen Voraussetzungen erfüllt, um gemäß den Kapiteln II und III dieser Richtlinie als Flüchtling angesehen zu werden, die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen haben(67).

68.      Sodann legt Kapitel VII der Qualifikationsrichtlinie den Inhalt des internationalen Schutzes fest, was meines Erachtens eine Verbindung zwischen der betroffenen Person und dem Mitgliedstaat, der diesen Schutz gewährt, herstellt. Diese wird durch die Bestimmungen des genannten Kapitels VII veranschaulicht, die erstens verlangen, dass Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz Zugang zu Informationen, Aufenthaltstiteln, Reisedokumenten, Beschäftigung, Bildung, Verfahren für die Anerkennung von Befähigungsnachweisen, Integrationsmaßnahmen, Sozialhilfeleistungen sowie medizinischer Versorgung erhalten, und wonach zweitens für die Einheit des Familienverbands Sorge zu tragen ist(68).

69.      Indessen ist es wichtig, anzumerken, dass keine der vorgenannten Bestimmungen der Kapitel I bis VII der Qualifikationsrichtlinie tatsächlich zu extraterritorialen Wirkungen positiver Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Bezug steht. Insbesondere bildet Art. 13 dieser Richtlinie, auf den das nationale Gericht in seinem Vorlagebeschluss Bezug nimmt, keine Grundlage für die Annahme, dass nach der genannten Richtlinie eine Verpflichtung zur gegenseitigen Anerkennung bestünde.

70.      Die griechische Regierung macht in ihren Erklärungen geltend, dass die in Art. 25 der Qualifikationsrichtlinie verankerte Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats, einem Flüchtling ein Reisedokument auszustellen, so dass sich dieser außerhalb seines Gebiets frei bewegen könne, konkreter Ausdruck des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung sei(69). Diese Bestimmung erlegt jedoch lediglich dem ersten Mitgliedstaat Verpflichtungen zur Ausstellung dieser Dokumente auf, während der zweite Mitgliedstaat diese Dokumente bloß als für Reisezwecke gültig anerkennt. Diese Anerkennung ist von begrenzter Tragweite und ist ohne Belang für die Frage, ob der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im Hinblick auf positive Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft Anwendung findet. Mit anderen Worten stellt diese Bestimmung ein Beispiel für die gegenseitige Anerkennung von Reisedokumenten dar, das für die Frage der gegenseitigen Anerkennung positiver Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft belanglos ist.

71.      In der mündlichen Verhandlung haben die am Verfahren Beteiligten auch auf den vom ersten Mitgliedstaat ausgestellten langfristigen Aufenthaltstitel(70) verwiesen, um geltend zu machen, dass es im Bereich der Asylpolitik gegenseitige Anerkennung gebe. Insoweit hat der Gerichtshof klargestellt, dass jeder Drittstaatsangehörige, der sich, ohne die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befindet, schon allein deswegen dort illegal aufhältig ist(71). Art. 24 der Qualifikationsrichtlinie kann daher nicht dahin ausgelegt werden, dass er es von allen Mitgliedstaaten verlangen würde, einer Person, der ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat, einen Aufenthaltstitel auszustellen(72). Folglich können aus dem System der Aufenthaltstitel meines Erachtens keine Argumente für den vorliegenden Fall gewonnen werden.

72.      Darüber hinaus enthalten die Art. 11, 12 und 14 der Qualifikationsrichtlinie spezifische Vorschriften über das Erlöschen, den Ausschluss von und die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft. Meines Erachtens ermächtigen die genannten Artikel einen Mitgliedstaat nicht dazu, die von einem anderen Mitgliedstaat zuerkannte Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen oder zu beenden. Diese Zuständigkeit liegt allein bei dem Mitgliedstaat, der die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat. Dass der zweite Mitgliedstaat das Vertrauen in die Lebensverhältnisse im ersten Mitgliedstaat verloren hat, gibt den Behörden des zweiten Mitgliedstaats nicht das Recht, die Befugnisse des ersten Mitgliedstaats zu untergraben und dem Drittstaatsangehörigen seine Flüchtlingseigenschaft im ersten Mitgliedstaat zu entziehen. Das einzige Recht, das diesen Behörden zuwächst, wenn Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung zur Anwendung berufen ist, besteht darin, den zuständigen Mitgliedstaat bestimmen zu können und, falls erforderlich, im Hinblick auf die Frage, ob die in der Qualifikationsrichtlinie festgelegten Kriterien zur Zuerkennung dieser Eigenschaft erfüllt sind, eine neuerliche Prüfung vornehmen zu können.

73.      Eine solche Prüfung steht im Einklang mit dem von Art. 14 der Qualifikationsrichtlinie verfolgten Ziel, der es den Mitgliedstaaten erlaubt, einem Drittstaatsangehörigen die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen oder ihre Verlängerung abzulehnen. Insoweit bestätigen die Abs. 1 und 2 dieses Artikels den Gedanken, dass der Fortbestand der Flüchtlingseigenschaft insbesondere mit den im Herkunftsland der betroffenen Person vorherrschenden Umständen eng verknüpft ist. Außerdem ist das System so konzipiert, dass es dem zweiten Mitgliedstaat erlaubt, den Antrag neuerlich in der Sache zu prüfen, da er die ihm durch diese Bestimmung verliehenen Befugnisse ausüben kann, wenn er dies für erforderlich hält. Daher lässt sich aus dieser Bestimmung ableiten, dass der Unionsgesetzgeber beabsichtigte, dem zweiten Mitgliedstaat die Befugnis zur erneuten Prüfung der Begründetheit eines Antrags in der Sache einzuräumen. Schließlich ergibt sich aus Art. 14 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie, dass die zuerkannte Flüchtlingseigenschaft eng mit dem Mitgliedstaat verbunden ist, „in dem [der Flüchtling] sich aufhält“, was das Bestehen der oben angesprochenen Verbindung bestätigt(73).

74.      Folglich kann meines Erachtens nicht aus der Qualifikationsrichtlinie abgeleitet werden, dass positiven Asylentscheidungen eines Mitgliedstaats in einem anderen Mitgliedstaat Bindungswirkung zukäme, sei es unter gewöhnlichen oder außergewöhnlichen Umständen.

3.      Zwischenergebnis

75.      Das GEAS wird schrittweise aufgebaut, und nach dem AEUV ist es allein Sache des Unionsgesetzgebers, Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderlichenfalls grenzüberschreitende Bindungswirkung zu verleihen. Nichts in der Dublin‑III-Verordnung, der Verfahrensrichtlinie oder der Qualifikationsrichtlinie deutet darauf hin, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet wären, einer Person die Flüchtlingseigenschaft nur deshalb zuzuerkennen, weil ein anderer Mitgliedstaat ihr diese Eigenschaft bereits zuerkannt hat.

76.      Im vorliegenden Fall ist die Asylbehörde eines zweiten Mitgliedstaats (Deutschland), die nicht befugt ist, auf Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie zurückzugreifen, da dessen Anwendung die ernsthafte Gefahr eines Verstoßes gegen das in Art. 4 der Charta enthaltene Verbot mit sich brächte, nicht an eine frühere Entscheidung des ersten Mitgliedstaats (hier Griechenlands) über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gebunden. Die Asylbehörde des zweiten Mitgliedstaats hat den neuen Antrag im Einklang mit den Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie und der Verfahrensrichtlinie in der Sache zu prüfen.

77.      Während die Entscheidung des ersten Mitgliedstaats, die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, keine Bindungswirkung für die Asylbehörde des zweiten Mitgliedstaats entfaltet, ist zu ermitteln, ob die Letztere dazu verpflichtet ist, diese Entscheidung bei ihrer neuerlichen Prüfung des in Rede stehenden Asylantrags gebührend zu berücksichtigen.

C.      Das nachfolgende Verwaltungsverfahren im Szenario der „außergewöhnlichen Umstände“

78.      Vorab möchte ich darauf hinweisen, dass, wenn ein Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz deswegen in der Sache zu prüfen hat, weil der Antragsteller Gefahr läuft, im ersten Mitgliedstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden, die Richtlinie 2013/33/EU(74) anzuwenden ist, in der die Modalitäten für die Behandlung von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, für die Zeit während der Bearbeitung ihrer Anträge festgelegt werden.

79.      Außerdem hat der zweite Mitgliedstaat bei der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz nicht bloß die sowohl in der Verfahrensrichtlinie als auch in der Qualifikationsrichtlinie festgelegten Grundsätze und Garantien einzuhalten, um festzustellen, ob die betroffene Person einen solchen Schutz benötigt, sondern auch die Erfordernisse zu beachten, die sich aus dem Grundsatz der guten Verwaltung ergeben, aus dem in Anbetracht dessen, dass diese Person aufgrund der außergewöhnlichen Umstände zwei aufeinanderfolgende Verwaltungsverfahren durchlaufen muss, besondere Verpflichtungen folgen. Mit anderen Worten verlagert sich die Verpflichtung aufgrund der Anwendung von Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung auf den zweiten Mitgliedstaat, der diese Erfordernisse zu beachten hat.

1.      Die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz

80.      Erstens hat der zweite Mitgliedstaat bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz die in Kapitel II der Verfahrensrichtlinie verankerten Grundsätze und Garantien, darunter Art. 10 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie, auf den das vorlegende Gericht Bezug genommen hat, zu berücksichtigen. Gemäß Art. 10 Abs. 2 hat die entscheidende Behörde zuerst festzustellen, ob der Antragsteller die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt und ob er, wenn dies nicht der Fall ist, Anspruch auf subsidiären Schutz hat. Nach Art. 10 Abs. 3 der Verfahrensrichtlinie haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass Entscheidungen über Anträge auf internationalen Schutz nach angemessener Prüfung und im Einklang mit den in Buchst. a bis d dieser Bestimmung aufgeführten Erfordernissen ergehen.

81.      Zweitens verlangt Art. 4 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie, dass der Mitgliedstaat „die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte“ prüft, wozu auch die Anhaltspunkte gehören, die zuvor vom ersten Mitgliedstaat berücksichtigt wurden, sowie der Umstand, dass der betroffenen Person von den Behörden eines anderen Mitgliedstaats die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde. Der weite Wortlaut dieser Bestimmung ist hervorzuheben. Aus diesem Grund sind alle Tatsachenfeststellungen und Informationsquellen als „Anhaltspunkte“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 und 2 der Qualifikationsrichtlinie zu betrachten, einschließlich derjenigen, die den ersten Mitgliedstaat zum Erlass seiner positiven Entscheidung bewogen haben. Es sollte auch berücksichtigt werden, dass der von der betroffenen Person gestellte Antrag bereits geprüft wurde und eine positive Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergangen ist.

82.      Insoweit dürfen die Behörden des zweiten Mitgliedstaats nicht einfach außer Acht lassen, dass die Behörden des ersten Mitgliedstaats der betroffenen Person zuvor die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt haben. Vielmehr sollte dem Vorliegen einer solchen Entscheidung die ihr gebührende Bedeutung beigemessen werden, wenn der Vertrauensverlust wegen unmenschlicher Behandlung und nicht aufgrund von Schwachstellen im Asylverfahren als solches eingetreten ist. Dass eine positive Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorliegt, kann somit einen der Anhaltspunkte darstellen, die die Tatsachen bestätigen, auf die sich die betroffene Person zur Stützung ihres Antrags auf internationalen Schutz berufen hat(75).

2.      Die aus dem Grundsatz der guten Verwaltung folgenden Erfordernisse

83.      Für den Fall, dass aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zurückgegriffen werden kann und Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung zur Anwendung kommt, enthalten weder diese Verordnung noch die Verfahrens- oder die Qualifikationsrichtlinie spezifische Regelungen für die Zusammenarbeit zwischen den Behörden des ersten und des zweiten Mitgliedstaats insbesondere nicht im Hinblick auf den Informationsaustausch untereinander oder hinsichtlich der vom zweiten Mitgliedstaat einzuhaltenden Fristen. Da der Vertrauensverlust im vorliegenden Fall die Lebensverhältnisse im ersten Mitgliedstaat und nicht das Asylverfahren selbst betrifft, können gewisse Bestimmungen dieser Verordnung und dieser Richtlinien bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände analog angewendet werden. Wenn das Unionsrecht jedoch keine detaillierten Verfahrensregeln für den Fall des Vorliegens außergewöhnlicher Umstände vorsieht, bleiben die Mitgliedstaaten gemäß dem Grundsatz der Verfahrensautonomie dafür zuständig, diese Regeln festzulegen, die jedoch nicht ungünstiger sein dürfen als diejenigen, die gleichartige dem innerstaatlichen Recht unterliegende Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht übermäßig erschweren oder praktisch unmöglich machen dürfen (Effektivitätsgrundsatz)(76).

84.      Eine nationale Behörde ist jedoch bei der Durchführung des Unionsrechts d. h. bei der Anwendung der Dublin‑III-Verordnung sowie der Verfahrens- und der Qualifikationsrichtlinie an den Grundsatz der guten Verwaltung als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts gebunden, der u. a. eine Sorgfalts- und Fürsorgepflicht der nationalen Behörden beinhaltet(77).

a)      Zusammenarbeit und Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten

85.      Art. 34 der Dublin‑III-Verordnung sieht Mechanismen für den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten vor. Auf der Grundlage dieser Bestimmung stellt der Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten eine bloße Möglichkeit dar, da ein solcher nur erfolgt, wenn ein „Mitgliedstaat … dies beantragt“(78). Wenn jedoch das in Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehene Szenario eintritt und insbesondere wenn das Vertrauen zwischen zwei Mitgliedstaaten verloren gegangen ist, sieht diese Verordnung keine spezifischen Regelungen für den Informationsaustausch vor. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Verpflichtung zur Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten in Bezug auf Antragsverfahren unberührt bleiben sollte, wenn der Vertrauensverlust die Aufenthaltsbedingungen im ersten Mitgliedstaat betrifft(79).

86.      Insoweit hat der zweite Mitgliedstaat, da Art. 4 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie verlangt, dass der Mitgliedstaat die „für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte“ prüft, und wenn die betroffene Person sich auf die vom ersten Mitgliedstaat erlassene Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beruft, die Umstände, die es dem ersten Mitgliedstaat ermöglicht haben, eine solche Entscheidung zu treffen, zu ermitteln. Um diesem Erfordernis zu genügen, müssen die zuständigen Behörden des zweiten Mitgliedstaats angesichts des nach dem Grundsatz der guten Verwaltung zu berücksichtigenden Umstands, dass der betroffenen Person die Flüchtlingseigenschaft bereits von einem anderen Mitgliedstaat zuerkannt wurde, erwägen, Art. 34 der Dublin‑III-Verordnung anzuwenden. Gemäß Art. 34 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung können diese Behörden ein Ersuchen um Informationen und insbesondere um eine Erläuterung der Umstände, die zur Zuerkennung dieser Eigenschaft geführt haben, an die zuständigen Behörden des ersten Mitgliedstaats richten, die in einem solchen Fall zur Beantwortung verpflichtet sind.

b)      Die angemessene Frist

87.      In Anbetracht des Ziels der zügigen Bearbeitung eines Antrags(80) und des Grundsatzes der guten Verwaltung als allgemeinem Grundsatz des Unionsrechts ist bei der Prüfung von Asylanträgen das Verfahren über den Zweitantrag innerhalb einer angemessenen Frist durchzuführen. Der 19. Erwägungsgrund der Verfahrensrichtlinie greift diesen Grundsatz der Zügigkeit von Asylverfahren in der Union eindeutig auf und gestattet den Mitgliedstaaten die „Flexibilität …, der Prüfung eines Antrags Vorrang vor der Prüfung anderer, früher gestellter Anträge einzuräumen,“ damit die „Gesamtdauer des Verfahrens in bestimmten Fällen verkürzt wird“.

88.      Wenn also das in Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehene Szenario eintritt, sollte die Dauer der beiden kumulativen Verfahren Berücksichtigung finden. Antragsteller, denen bereits in einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, die aus dieser Eigenschaft in diesem ersten Mitgliedstaat aufgrund der Gefahr, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren, jedoch keinen Nutzen ziehen können, beantragen unter „außergewöhnlichen Umständen“, die auf einen Vertrauensverlust zwischen den Mitgliedstaaten zurückzuführen sind, internationalen Schutz im zweiten Mitgliedstaat. Fälle, die unter solche „außergewöhnliche Umstände“ fallen, sollten zu den „bestimmten Fällen“ gezählt werden, denen unter dem 19. Erwägungsgrund der Verfahrensrichtlinie Vorrang eingeräumt wird.

89.      Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass Art. 31 Abs. 7 Buchst. a dieser Richtlinie, der es den Mitgliedstaaten erlaubt, „die Prüfung eines Antrags … vor[zu]ziehen, … wenn der Antrag begründet erscheint“, zudem dafür spricht, dem Asylantrag im zweiten Mitgliedstaat infolge dieser spezifischen „außergewöhnlichen Umstände“ Vorrang einzuräumen, wenn der erste Mitgliedstaat bereits festgestellt hat, dass die betreffende Person Anrecht auf die Flüchtlingseigenschaft hat.

90.      Wenn also das in Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehene Szenario eintritt, erlegt der Grundsatz der guten Verwaltung dem zweiten Mitgliedstaat eine spezifische Verpflichtung auf, dessen Behörden umgehend handeln müssen, da die betroffene Person bereits ein erstes Antragsverfahren sowie möglicherweise ein Gerichtsverfahren, in dem die Gefahr nach Art. 4 der Charta festgestellt wurde, durchlaufen hat. Insoweit ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass Art. 31 Abs. 3 der Verfahrensrichtlinie von den Mitgliedstaaten verlangt, sicherzustellen, dass das Prüfungsverfahren innerhalb von sechs Monaten nach förmlicher Antragstellung zum Abschluss gebracht wird(81). Diese Sechsmonatsfrist ist somit die unter gewöhnlichen Umständen für einen Antrag vorgesehene Höchstbearbeitungsdauer. Die hier in Rede stehenden außergewöhnlichen Umstände sollten ein noch zügigeres Vorgehen erfordern, und der Antrag an den zweiten Mitgliedstaat sollte innerhalb eines wesentlich kürzeren Zeitraums bearbeitet werden.

91.      Der erste Mitgliedstaat, der der betroffenen Person die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, hat ebenfalls eine spezifische erweiterte Verpflichtung auf sich zu nehmen, um den zweiten Mitgliedstaat bei der möglichst zügigen Bearbeitung des von der betroffenen Person gestellten Antrags zu unterstützen. Allgemein gilt beim Informationsaustausch nach Art. 34 der Dublin‑III-Verordnung die in Art. 34 Abs. 5 festgelegte Frist wonach die zur Übermittlung von Informationen ersuchten Mitgliedstaaten gehalten sind, innerhalb von fünf Wochen zu antworten(82). Diese fünfwöchige Frist entspricht auch der unter gewöhnlichen Umständen für einen Antrag vorgesehene Höchstbearbeitungsdauer. Den „außergewöhnlichen Umständen“, die sich aus dem infolge einer Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta verloren gegangenen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten ergeben, sollte mit einem noch zügigeren Vorgehen begegnet werden. Der erste Mitgliedstaat sollte alle Informationsersuchen des zweiten Mitgliedstaats innerhalb einer deutlich kürzeren Frist als derjenigen, die unter gewöhnlichen Umständen gilt, beantworten(83).

3.      Zwischenergebnis

92.      Nach alledem bin ich der Auffassung, dass die zuständige Behörde des zweiten Mitgliedstaats den neuen Antrag im Einklang mit den Bestimmungen der Verfahrensrichtlinie und der Qualifikationsrichtlinie in der Sache zu prüfen und festzustellen hat, ob die betroffene Person die materiellen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt, wobei die Beachtung des Grundsatzes der guten Verwaltung sicherzustellen ist. Aus diesem Grundsatz sowie aus dem Erfordernis der Prüfung aller für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie ergibt sich die Pflicht zur Berücksichtigung des Umstands, dass der von der betroffenen Person gestellte Asylantrag bereits geprüft wurde und eine positive Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft von den Behörden des ersten Mitgliedstaats erlassen wurde. Die zuständigen Behörden des zweiten Mitgliedstaats haben der Prüfung des Antrags Vorrang einzuräumen und die Anwendung von Art. 34 der Dublin‑III-Verordnung zu erwägen, der Mechanismen für den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten vorsieht, wobei der erste Mitgliedstaat alle Informationsersuchen des zweiten Mitgliedstaats innerhalb einer deutlich kürzeren Frist als derjenigen, die unter gewöhnlichen Umständen gilt, zu beantworten hat.

V.      Ergebnis

93.      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

In einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes eingeräumten Befugnis, einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem anderen Mitgliedstaat als unzulässig abzulehnen, keinen Gebrauch machen darf, weil die Lebensverhältnisse in diesem Mitgliedstaat den Antragsteller der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union aussetzen würden, sind

Art. 78 Abs. 1 und 2 AEUV,

Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist,

Art. 4 Abs. 1 und Art. 13 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes sowie

Art. 10 Abs. 2 und 3 sowie Art. 33 Abs. 1 und 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32

dahin auszulegen, dass sie einen Mitgliedstaat nicht dazu verpflichten, den dem Antragsteller bereits von einem anderen Mitgliedstaat zuerkannten internationalen Schutz ohne inhaltliche Prüfung anzuerkennen.

Bei der Prüfung des neuen, aufgrund des Vorliegens der in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 604/2013 genannten außergewöhnlichen Umstände gestellten Antrags haben die zuständigen Behörden im Einklang mit den Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 und der Richtlinie 2013/32 festzustellen, ob die betroffene Person die erforderlichen materiellen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt, wobei die Beachtung des Grundsatzes der guten Verwaltung sicherzustellen und insbesondere der Umstand zu berücksichtigen ist, dass der von der betroffenen Person gestellte Antrag bereits von den Behörden eines anderen Mitgliedstaats geprüft wurde, da dieser Umstand einen maßgeblichen Anhaltspunkt im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 darstellt. Die zuständigen Behörden, die diese Beurteilung vornehmen, haben der Prüfung des Antrags Vorrang einzuräumen und die Anwendung von Art. 34 der Verordnung Nr. 604/2013 zu erwägen, der Mechanismen für den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten vorsieht, wobei der erste Mitgliedstaat alle Informationsersuchen des zweiten Mitgliedstaats innerhalb einer wesentlich kürzeren Frist als derjenigen, die unter gewöhnlichen Umständen gilt, zu beantworten hat.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Vgl. Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a. (C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 101), und Beschluss vom 13. November 2019, Hamed und Omar (C‑540/17 und C‑541/17, EU:C:2019:964, Rn. 43).


3      Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31) (im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung).


4      Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) (im Folgenden: Verfahrensrichtlinie).


5      Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9) (im Folgenden: Qualifikationsrichtlinie).


6      Vgl. Rechtssachen El Baheer (C‑288/23) und Cassen (C‑551/23), Schlussanträge des Generalanwalts de la Tour in der Rechtssache Generalstaatsanwaltschaft Hamm (Ersuchen um Auslieferung eines Flüchtlings in die Türkei) (C‑352/22, EU:C:2023:794) sowie, für eine nähere Erläuterung, Fn. 33 der vorliegenden Schlussanträge.


7      United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 (1954), in Kraft getreten am 22. April 1954.


8      Beschluss vom 13. November 2019, Hamed und Omar (C‑540/17 und C‑541/17, EU:C:2019:964).


9      Letzteres ist eine Folgefrage, die sich aus der Vorlagefrage ergibt, und der Gerichtshof hat die Verfahrensbeteiligten in der Sitzung aufgefordert, dazu Stellung zu nehmen.


10      Vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13 (Beitritt der Union zur EMRK) vom 18. Dezember 2014 (EU:C:2014:2454, Rn. 168).


11      Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a. (C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 83).


12      Ebd. (Rn. 85). Diese Konvention (im Folgenden: EMRK) wurde am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet.


13      Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 81, im Folgenden: Urteil in den verbundenen Rechtssachen N. S. u. a.).


14      Die Wendung „außergewöhnliche Umstände“ wird im Gutachten 2/13 (Beitritt der Union zur EMRK) vom 18. Dezember 2014 (EU:C:2014:2454, Rn. 191) und im Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a. (C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 84), hervorgehoben, wo der Gerichtshof ausführt, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat verlangt, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten.


15      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Jawo (C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung).


16      Vgl. fünfter Erwägungsgrund der Dublin‑III-Verordnung.


17      Urteil in den verbundenen Rechtssachen N. S. u. a. (Rn. 81).


18      Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. 2003, L 50, S. 1).


19      Urteil in den verbundenen Rechtssachen N. S. u. a. (Rn. 94).


20      Es sollte hinzugefügt werden, dass der Gerichtshof in seinem bahnbrechenden Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127), das Erfordernis der systemischen Schwachstellen weiter nuanciert hat, indem er die Auffassung vertrat, dass eine Überstellung als solche eine tatsächliche Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta darstellen kann, wenn die Überstellung eines Asylbewerbers mit der tatsächlichen und erwiesenen Gefahr einer wesentlichen und unumkehrbaren Verschlechterung seines Gesundheitszustands verbunden wäre. Folglich kann eine solche Gefahr ungeachtet der Qualität der Aufnahme und der verfügbaren Versorgung in dem für die Prüfung seines Antrags zuständigen Mitgliedstaat bestehen.


21      Wenn die Zuständigkeit der deutschen Behörden nicht auf Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 der Dublin‑III-Verordnung beruht, könnten sie des ungeachtet ihre Zuständigkeit jedenfalls auf Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung stützen. Ich sehe keinen Grund dafür, warum die in dieser Vorschrift verankerte „Ermessensklausel“ nicht auch in einem Szenario wie demjenigen, das dem Urteil in den verbundenen Rechtssachen N. S. u. a. zugrunde lag, angewendet werden könnte: etwa dann, wenn diese Behörden den in Kapitel III dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht folgen möchten, sondern es stattdessen vorziehen, ihr Ermessen auszuüben, um der für die Prüfung des betreffenden Asylantrags zuständige Mitgliedstaat zu werden. Es ist jedoch erwähnenswert, dass in der Verfahrensakte des vorliegenden Falls nicht auf diese Bestimmung Bezug genommen wird.


22      Urteile vom 19. März 2019, Ibrahim u. a. (C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 76), und vom 22. Februar 2022, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Familienverband – bereits gewährter Schutz) (C‑483/20, EU:C:2022:103, Rn. 23).


23      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Familienverband – bereits gewährter Schutz) (C‑483/20, EU:C:2022:103, Rn. 28 und 29).


24      Vgl. in diesem Sinne Urteil in den verbundenen Rechtssachen N. S. u. a. (Rn. 78 bis 80). Vgl. auch Urteile vom 19. März 2019, Ibrahim u. a. (C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 85), und vom 22. Februar 2022, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Familienverband – bereits gewährter Schutz) (C‑483/20, EU:C:2022:103, Rn. 29).


25      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a. (C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 83 bis 94), und Beschluss vom 13. November 2019, Hamed und Omar (C‑540/17 und C‑541/17, EU:C:2019:964, Rn. 34 bis 36).


26      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Familienverband – bereits gewährter Schutz) (C‑483/20, EU:C:2022:103, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).


27      Siehe oben, Nr. 27.


28      Für eine kritische Bewertung der Definition des Begriffs des gegenseitigen Vertrauens, vgl. Xanthopoulou, E., „Mutual trust and rights in EU criminal and asylum law: Three phases of evolution and the uncharted territory beyond blind trust“, Common Market Law Review, Bd. 55, Nr. 2, 2018, S. 489 bis 509.


29      Vgl. Lenaerts, K., „La vie après l’avis: Exploring the principle of mutual (yet not blind) trust“, Common Market Law Review, Bd. 54, Nr. 3, 2017, S. 805 bis 840.


30      Vgl. in diesem Sinne Urteil in den verbundenen Rechtssachen N. S. u. a. (Rn. 106).


31      Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland (CE:ECHR:2011:0121JUD003069609), das sich aus der Befassung mit zwei getrennten Vorwürfen zusammensetzt, die sich sowohl auf die Kenntnis mangelhafter Asylverfahren als auch auf die gegen die EMRK verstoßenden Haft- und Existenzbedingungen beziehen.


32      Hoogenboom, A., „Origin and Meaning of Mutual Recognition as Foundational Principle in the European Integration Process“, Europarättslig Tidskrift, Bd. 17, Nr. 2, 2014, S. 237 bis 265, verfügbar unter https://ssrn.com/abstract=2477453.


33      Im Bereich des Binnenmarkts ist der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung indessen seinem Wesen nach kein Automatismus (vgl. etwa Janssens, C., „The principle of mutual recognition in EU law“, OUP Oxford, 2013, Teil I, Kapitel 2 und 4).


34      Vgl. Mitsilegas, V., „Mutual Recognition of Positive Asylum Decisions in the European Union“, verfügbar unter https://free-group.eu/2015/05/12/mutual-recognition-of-positive-asylum-decisions-in-the-european-union/.


35      Vgl. Art. 78 Abs. 2 Buchst. a und b AEUV.


36      Vgl. entsprechend Art. 67 Abs. 3 und 4 AEUV, der die Anerkennung gewisser gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen betrifft, wobei beide genannten Absätze ausdrücklich auf die gegenseitige Anerkennung Bezug nehmen, sowie Art. 82 Abs. 1 AEUV, der vorsieht, dass „[d]ie justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union … auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen [beruht]“. Vgl. auch Art. 53 Abs. 1 AEUV, der die gegenseitige Anerkennung von Diplomen und Befähigungsnachweisen betrifft. Demgegenüber findet sich in Art. 78 AEUV keine Bezugnahme auf die gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen über die Gewährung internationalen Schutzes.


37      Vgl. zur Arbeitnehmerfreizügigkeit Art. 45 AEUV, zur Niederlassungsfreiheit Art. 49 AEUV und zur Dienstleistungsfreiheit Art. 56 AEUV. Zu den Freizügigkeitsbestimmungen des Vertrags als für den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung passendste Rechtsgrundlage vgl. Janssens, C., oben angeführt in Fn. 34, S. 29.


38      Vgl. z. B. Urteile vom 4. Dezember 1974, Van Duyn (41/74, EU:C:1974:133), zur Arbeitnehmerfreizügigkeit; vom 21. Juni 1974, Reyners (2/74, EU:C:1974:68), zur Niederlassungsfreiheit; und vom 3. Dezember 1974, van Binsbergen (33/74, EU:C:1974:131), zur Dienstleistungsfreiheit.


39      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Pikamäe in der Rechtssache Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Familienverband – bereits gewährter Schutz) (C‑483/20, EU:C:2021:780, Nr. 42), in denen er argumentiert, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie „eine Form der impliziten Anerkennung dessen dar[stellt], dass der erste Mitgliedstaat die Begründetheit des Antrags auf internationalen Schutz korrekt beurteilt hat“ (Hervorhebung nur hier).


40      Vgl. z. B. Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (C‑391/16, C‑717/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 72).


41      Mit anderen Worten steht meines Erachtens, obwohl geltend gemacht werden könnte, dass Art. 78 Abs. 2 AEUV dem Unionsgesetzgeber vielmehr die Befugnis zur „Umsetzung“ als zur „Schaffung“ eines „einheitlichen Asylstatus“ verleihe und der einheitliche Status dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens inhärent sei, doch angesichts des Wortlauts und der Systematik von Art. 78 Abs. 1 und 2 AEUV außer Frage, dass dies nicht die Absicht der Verfasser des Vertrags war.


42      Vgl. entsprechend Urteil vom 15. Januar 2014, Association de médiation sociale (C‑176/12, EU:C:2014:2, Rn. 45).


43      Vgl. auch den Wortlaut von Art. 3 Abs. 2 AEUV, der u. a. auf „geeignete Maßnahmen“ in Bezug auf das Asyl Bezug nimmt.


44      Kamminga, M., „Extraterritoriality“, in Wolfrum, R. (Hrsg.), The Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Oxford University Press, 2020, verfügbar unter https://opil.ouplaw.com/display/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e1040?print. Vgl. auch Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), Note on the Extraterritorial Effect of the Determination of Refugee Status under the [Geneva] Convention and the 1967 Protocol Relating to the Status of Refugees (Erläuterungen über die extraterritoriale Wirkung der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach dem [Genfer] Abkommen und dem Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1967), EC/SCP/9, 24. August 1978. Von diesem Grundsatz gibt es jedoch Ausnahmen. Vgl. Milanović, M., „From Compromise to Principle: Clarifying the Concept of State Jurisdiction in Human Rights Treaties“, Human Rights Law Review, 2008, Bd. 8, Nr. 3, S. 411 bis 448, verfügbar unter https://doi.org/10.1093/hrlr/ngn021.


45      Vgl. EGMR, Entscheidung vom 5. März 2020, M.N. u. a./Belgien (Nr. 3599/18, CE:ECHR:2020:0505DEC000359918, §§ 98 bis 102), in der es um die Frage ging, ob die Beantragung humanitärer Visa durch eine syrische Familie in der belgischen Botschaft in Beirut (Libanon) die Menschenrechtsverpflichtungen des beklagten Staats auslöste. Die Große Kammer des EGMR erinnerte nicht nur daran, dass die gerichtliche Zuständigkeit eines Staats im Sinne von Art. 1 EMRK „grundsätzlich territorialer Natur“ sei, sondern hob auch seinen Ansatz hervor, wonach jegliche Ausübung extraterritorialer Hoheitsgewalt „generell durch die souveränen Territorialrechte der anderen betroffenen Staaten bestimmt und begrenzt“ werde. Vgl. auch Gammeltoft-Hansen, T., und Tan, N. F., „Adjudicating old questions in refugee law: MN and Others v Belgium and the limits of extraterritorial refoulement“, European Migration Law Blog, 2020, verfügbar unter https://eumigrationlawblog.eu/.


46      Der EGMR hat entschieden, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung nicht automatisch und mechanisch zum Schaden von Grundrechten angewendet werden dürfe (EGMR, Urteil vom 23. Mai 2016, Avotiņš/Lettland, CE:ECHR:2016:0523JUD001750207, §§ 105 bis 127, insbesondere § 116). In seinem zustimmenden Sondervotum zum Urteil vom 9. Juli 2019, Romeo Castaño/Belgien (CE:ECHR:2019:0709JUD000835117), bezieht sich Richter Spano auf die „Mechanismen der gegenseitigen Anerkennung der Europäischen Union“.


47      Protokoll (Nr. 24) über die Gewährung von Asyl für Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. 2016, C 202, S. 204).


48      Vgl. insbesondere Urteil vom 17. April 2018, Egenberger (C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).


49      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts de la Tour in der Rechtssache Generalstaatsanwaltschaft Hamm (Ersuchen um Auslieferung eines Flüchtlings in die Türkei) (C‑352/22, EU:C:2023:794, Nr. 65).


50      In der mündlichen Verhandlung in der vorliegenden Rechtssache hat die italienische Regierung auf das Urteil vom 1. August 2022, Bundesrepublik Deutschland (Außerhalb des Aufnahmestaats geborenes Kind von Flüchtlingen) (C‑720/20, EU:C:2022:603, Rn. 42), verwiesen, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass vom „eindeutigen Wortlaut“ einer Bestimmung der Dublin‑III-Verordnung „nicht abgewichen werden [kann]“, um das Ziel zu wahren, Sekundärmigration während des Asylverfahrens in der Europäischen Union zu verhindern. Dieser Regierung zufolge kann diese Bewertung dahin ausgelegt werden, dass vom „allgemeinen Rechtsgrundsatz“ der gegenseitigen Anerkennung nicht zum Zweck der Verfolgung des Ziels der Verhinderung von Sekundärmigration abgewichen werden könne. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass die italienische Regierung für die gegenseitige Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht auf einen „eindeutigen Wortlaut“ einer Bestimmung des Primär- oder Sekundärrechts der Union verwiesen hat, sondern vielmehr auf Art. 78 Abs. 2 Buchst. a AEUV, insbesondere auf die Formulierung, die „den Erlass von Maßnahmen zur Umsetzung eines einheitlichen Status durch den Unionsgesetzgeber“ erlaubt.


51      Vgl. Urteil vom 1. August 2022, Bundesrepublik Deutschland (Außerhalb des Aufnahmestaats geborenes Kind von Flüchtlingen) (C‑720/20, EU:C:2022:603, Rn. 33).


52      Vgl. auch Urteile vom 26. Juli 2017, A.S. (C‑490/16, EU:C:2017:585), und vom 26. Juli 2017, Jafari (C‑646/16, EU:C:2017:586), in denen der Gerichtshof die Argumente der Generalanwältin Sharpston für eine Nichtanwendung der Dublin‑III-Verordnung unter den außergewöhnlichen Umständen der Flüchtlingskrise von 2015 zurückwies.


53      Art. 1 der Dublin‑III-Verordnung.


54      Vgl. z. B. Art. 18 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung.


55      Mitsilegas, V., „Humanizing solidarity in European refugee law: The promise of mutual recognition“, Maastricht Journal of European and Comparative Law, Bd. 24, Nr. 5, 2017, S. 721 bis 739.


56      Vavoula, N., „Information Sharing in the Dublin System: Remedies for Asylum Seekers In-Between Gaps in Judicial Protection and Interstate Trust“, German Law Journal, Bd. 22(3), 2021, S. 381 bis 415.


57      Mitsilegas, V., „Humanizing solidarity in European refugee law: The promise of mutual recognition“, oben angeführt in Fn. 55.


58      Vgl. u. a. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Dienste der Bürger, KOM(2009) 262 endg., S. 30 bis 31.


59      Vgl. siebter Erwägungsgrund der Dublin‑III-Verordnung.


60      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, A (C‑404/17, EU:C:2018:588, Rn. 30) sowie Schlussanträge des Generalanwalts Hogan in der Rechtssache Addis (C‑517/17, EU:C:2020:225, Nr. 74).


61      Siehe oben, Nrn. 37 bis 39.


62      Siehe oben, Nr. 58.


63      Beschluss vom 13. November 2019, Hamed und Omar (C‑540/17 und C‑541/17, EU:C:2019:964, Rn. 42) (Hervorhebung nur hier).


64      Vgl. Erwägungsgründe 5, 6 und 9 der Qualifikationsrichtlinie. Nach ihrem Art. 1 legt diese Richtlinie Normen fest, die erstens die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, zweitens einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen, die Anspruch auf subsidiären Schutz haben, sowie drittens den Inhalt des zu gewährenden Schutzes betreffen.


65      Unter Bezugnahme auf die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere fügt der dritte Erwägungsgrund der Qualifikationsrichtlinie hinzu, dass der Unionsgesetzgeber beabsichtigte, sicherzustellen, dass sich das europäische Asylsystem, zu dessen Ausgestaltung diese Richtlinie beiträgt, auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung des Genfer Abkommens stützt. Darüber hinaus verweisen einige Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie auf Bestimmungen dieses Abkommens (vgl. Art. 9 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 Buchst. a, Art. 14 Abs. 6 und Art. 25 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie) oder übernehmen ihren Inhalt (vgl. u. a. Art. 2 Buchst. d, Art. 11, Art. 12 Abs. 2 und Art. 21 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie).


66      Vgl. zwölfter Erwägungsgrund der Qualifikationsrichtlinie.


67      Vgl. Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 89 und die dort angeführte Rechtsprechung).


68      Vgl. Art. 22 bis 30 der Qualifikationsrichtlinie.


69      Vgl. auch Art. 28 des Genfer Abkommens, wonach die Flüchtlingseigenschaft von anderen Vertragsstaaten anerkannt werden sollte.


70      Vgl. Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44) in der durch die Richtlinie 2011/51/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2011 (ABl. 2011, L 132, S. 1) geänderten Fassung.


71      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Februar 2021, M u. a. (Überstellung in einen Mitgliedstaat) (C‑673/19, EU:C:2021:127, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).


72      Darüber hinaus hat der Gerichtshof festgestellt, dass der zweite Mitgliedstaat im Hinblick auf die Richtlinie 2003/109 überprüfen sollte, ob der betreffende Drittstaatsangehörige die Voraussetzungen für den Erhalt oder die Verlängerung eines Aufenthaltstitels erfüllt. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn der Drittstaatsangehörige über einen in einem anderen Mitgliedstaat gültigen Aufenthaltstitel verfügt, weil dieser ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juni 2023, Stadt Frankfurt am Main und Stadt Offenbach am Main [Verlängerung eines Aufenthaltstitels im zweiten Mitgliedstaat] (C‑829/21 und C‑129/22, EU:C:2023:525). Diese Richtlinie verlangt daher zwar, dass der zweite Mitgliedstaat den Bestand eines im ersten Mitgliedstaat ausgestellten Aufenthaltstitels anerkennt, jedoch ist es Sache des zweiten Mitgliedstaats, zu prüfen, ob die betroffene Person die materiellen Voraussetzungen für die Ausstellung eines Aufenthaltstitels erfüllt. Mit anderen Worten darf der zweite Mitgliedstaat für den Aufenthalt Bedingungen einschließlich der Erfüllung von Integrationsanforderungen stellen.


73      Siehe oben, Nr. 68.


74      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96).


75      Darüber hinaus sind Anträge auf internationalen Schutz gemäß Art. 4 Abs. 3 Buchst. a bis c der Qualifikationsrichtlinie individuell zu prüfen, wobei alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der „neuen“ Entscheidung relevant sind, die Angaben und Unterlagen, die Verfolgung oder ernsthaften Schaden belegen, sowie die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers zu berücksichtigen sind.


76      Urteil vom 15. April 2021, État belge (Nach der Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände) (C‑194/19, EU:C:2021:270, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). Diese Fragestellung ist jedoch nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens und ist in diesem Rahmen daher nicht erörtert worden.


77      Vgl. z. B. Urteil vom 8. Mai 2014, N. (C‑604/12, EU:C:2014:302, Rn. 49 und 50), in dem der Gerichtshof den Grundsatz der guten Verwaltung auf ein Verfahren über die Zuerkennung des subsidiären Schutzes angewendet hat.


78      Vgl. Art. 34 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung.


79      Siehe oben, Nr. 43, zur Unterscheidung zwischen einem Vertrauensverlust im Hinblick auf die Lebensverhältnisse oder aber im Hinblick auf Asylverfahren.


80      Vgl. Art. 20 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung, der dieses Erfordernis stützt. Vgl. auch UNHCR, „Improving the quality of decision-making“, Refugee Status Determination, 2016, S. 5, EC/67/SC/CRP.


81      Art 31 Abs. 3 der Verfahrensrichtlinie stellt klar, dass „[wenn] ein Antrag gemäß dem Verfahren nach Maßgabe der [Dublin‑III-Verordnung] zu behandeln [ist], … die Sechsmonatsfrist [beginnt], sobald der für die Prüfung zuständige Mitgliedstaat gemäß jener Verordnung bestimmt ist, sich der Antragsteller im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befindet und er von der zuständigen Behörde betreut wird.“ Im vorliegenden Fall erfordert diese Vorschrift, dass Deutschland den Antrag von Frau QY innerhalb von sechs Monaten nach der Bestimmung Deutschlands als für die Prüfung ihres Antrags zuständigen Mitgliedstaat bearbeitet.


82      Kann der Informationsaustausch nicht innerhalb der festgelegten Frist von fünf Wochen erfolgen, kann der zweite Mitgliedstaat unabhängig über den Antrag entscheiden.


83      Es sei auf die in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerte Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit verwiesen.