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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PRIIT PIKAMÄE

vom 26. November 2019(1)

Rechtssache C610/18

AFMB Ltd u. a.

gegen

Raad van bestuur van de Sociale verzekeringsbank

(Vorabentscheidungsersuchen des Centrale Raad van Beroep [Berufungsgericht in Sachen der sozialen Sicherheit und des öffentlichen Dienstes, Niederlande])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Bestimmung des anwendbaren Rechts – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Art. 14 Abs. 2 Buchst. a – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 13 Abs. 1 Buchst. b – Internationale Lastkraftwagenfahrer – Gründung einer Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat – Begriff ‚Arbeitgeber‘ – Begriff ‚Rechtsmissbrauch‘“






1.        Im vorliegenden Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV stellt der Centrale Raad van Beroep (Berufungsgericht in Sachen der sozialen Sicherheit und des öffentlichen Dienstes, Niederlande) dem Gerichtshof drei Fragen zur Auslegung von Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1606/98 des Rates vom 29. Juni 1998(2) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) und von Art. 13 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit(3) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012(4) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004).

2.        Dieses Vorabentscheidungsersuchen findet seinen Ursprung in einem Rechtsstreit zwischen der AFMB Ltd (im Folgenden: AFMB), einer Gesellschaft mit Sitz in Zypern, und mehreren internationalen Lastkraftwagenfahrern einerseits und dem Raad van bestuur van de Sociale verzekeringsbank (Verwaltungsrat der Sozialversicherungsanstalt, Niederlande, im Folgenden: RSVB) andererseits wegen der Entscheidung des RSVB, wonach auf diese Fahrer nicht die sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften Zyperns, sondern der Niederlande anwendbar seien. Diese Verwaltungsentscheidung wird von AFMB angefochten. Diese meint, die Rechtsvorschriften Zyperns seien anwendbar, und beruft sich hierzu auf Arbeitsverträge mit den betreffenden Fahrern, in denen sie ausdrücklich als „Arbeitgeber“ bezeichnet ist, obgleich diese Fahrer gewöhnlich niederländischen Transportunternehmen zur Verfügung stehen, mit denen AFMB Flottenmanagementverträge geschlossen hat.

3.        Die Klärung der streitigen Frage, wer im Ausgangsverfahren als „Arbeitgeber“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 883/2004 anzusehen ist – AFMB oder die niederländischen Unternehmen –, ist von nicht unerheblicher Bedeutung, da sie es ermöglicht, das im Bereich der sozialen Sicherheit anwendbare innerstaatliche Recht zu bestimmen, um den internationalen Lastkraftwagenfahrern das Recht auf Zugang zu den nationalen Sozialversicherungssystemen unabhängig davon zu gewährleisten, dass sie in anderen Mitgliedstaaten als ihrem Herkunftsstaat eingestellt wurden. In diesem Zusammenhang darf man jedoch die Auswirkungen nicht aus den Augen verlieren, die die Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die potenziell niedrigere Sozialkosten vorsehen als die des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitnehmer gewöhnlich wohnhaft ist und arbeitet, auf den Binnenmarkt der Europäischen Union, insbesondere die Verkehrs- und Wettbewerbsfreiheiten, haben kann. Da das Unionsrecht die nationalen Sozialversicherungssysteme beim gegenwärtigen Stand seiner Entwicklung nicht harmonisiert, sondern nur koordiniert(5), können die Unterschiede zwischen diesen Systemen beträchtlich sein. Folglich kann in gewissen Fällen nicht ausgeschlossen werden, dass das, was von einem Mitgliedstaat als an den Sitz des Unternehmens geknüpfter legitimer Wettbewerbsvorteil erachtet wird, von einem anderen Mitgliedstaat als missbräuchliche Ausnutzung der in den Verträgen niedergelegten Grundfreiheiten angesehen wird. Dies sind nur einige Beispiele für die besonders sensiblen Aspekte, die bei der Prüfung der zugrunde liegenden Rechtsfragen zu berücksichtigen sind.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Verordnung Nr. 1408/71

4.        Die Verordnung Nr. 1408/71 wurde am 14. Juni 1971 erlassen und trat am 1. Oktober 1972 in Kraft. Seitdem wurde diese Verordnung mehrfach geändert. Sie gilt gemäß dem Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen)(6) bzw. den bilateralen Abkommen mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft(7) auch für die Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA)(8).

5.        Titel II („Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften“) der Verordnung Nr. 1408/71 umfasst die Art. 13 bis 17.

6.        Art. 13 („Allgemeine Regelung“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:

„(1)      Vorbehaltlich der Artikel 14c und 14f unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften diese sind, bestimmt sich nach diesem Titel.“

7.        Art. 13 Abs. 2 dieser Verordnung sieht vor:

„Soweit nicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen, gilt Folgendes:

a)      Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat;

…“

8.        Art. 14 („Sonderregelung für andere Personen als Seeleute, die eine abhängige Beschäftigung ausüben“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:

„Vom Grundsatz des Artikels 13 Absatz 2 Buchstabe a) gelten folgende Ausnahmen und Besonderheiten:

1. a)      Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats von einem Unternehmen, dem sie gewöhnlich angehört, abhängig beschäftigt wird und die von diesem Unternehmen zur Ausführung einer Arbeit für dessen Rechnung in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats entsandt wird, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit zwölf Monate nicht überschreitet und sie nicht eine andere Person ablöst, für welche die Entsendungszeit abgelaufen ist.

…“

9.        Art. 14 Abs. 2 dieser Verordnung bestimmt:

„Eine Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist, unterliegt den wie folgt bestimmten Rechtsvorschriften:

a)      Eine Person, die als Mitglied des fahrenden oder fliegenden Personals eines Unternehmens beschäftigt wird, das für Rechnung Dritter oder für eigene Rechnung im internationalen Verkehrswesen die Beförderung von Personen oder Gütern im Schienen‑, Straßen‑, Luft- oder Binnenschifffahrtsverkehr durchführt und seinen Sitz im Gebiet [eines] Mitgliedstaats hat, unterliegt den Rechtsvorschriften des letzten Mitgliedstaats mit folgender Einschränkung:

ii)      [E]ine Person, die überwiegend im Gebiet des Mitgliedstaats beschäftigt wird, in dem sie wohnt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates auch dann, wenn das Unternehmen, das sie beschäftigt, dort weder seinen Sitz noch die Zweigstelle oder eine ständige Vertretung hat;

…“

B.      Verordnung Nr. 883/2004

10.      Die Verordnung Nr. 1408/71 wurde durch die Verordnung Nr. 883/2004, die am 29. April 2004 erlassen wurde und am 1. Mai 2010 in Kraft getreten ist, aufgehoben. Sie gilt nach dem EWR-Abkommen(9) bzw. nach den bilateralen Abkommen mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft(10) für die EFTA-Staaten.

11.      Titel II („Bestimmung des anwendbaren Rechts“) der Verordnung Nr. 883/2004 umfasst die Art. 11 bis 16.

12.      Art. 11 („Allgemeine Regelung“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 lautet:

„Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.“

13.      Art. 12 („Sonderregelung“) Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor:

„Eine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines Arbeitgebers, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort eine Arbeit für dessen Rechnung auszuführen, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit vierundzwanzig Monate nicht überschreitet und diese Person nicht eine andere entsandte Person ablöst.“

14.      Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt:

„Eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, unterliegt:

a)      den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt oder

b)      wenn sie im Wohnmitgliedstaat keinen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt,

i)      den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen oder der Arbeitgeber seinen Sitz oder Wohnsitz hat, sofern sie bei einem Unternehmen bzw. einem Arbeitgeber beschäftigt ist, oder

…“

15.      Art. 90 („Aufhebung“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 sieht vor:

„Die Verordnung [Nr. 1408/71] wird mit dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung aufgehoben.

Die Verordnung [Nr. 1408/71] bleibt jedoch in Kraft und behält ihre Rechtswirkung für die Zwecke:

c)      des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum und des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit sowie anderer Abkommen, die auf die Verordnung [Nr. 1408/71] Bezug nehmen, solange diese Abkommen nicht infolge der vorliegenden Verordnung geändert worden sind.“

II.    Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16.      Wie oben erwähnt, ergeht das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen AFMB und mehreren internationalen Lastkraftwagenfahrern, die ihren Wohnsitz in den Niederlanden haben, einerseits und dem RSVB andererseits wegen der Ausstellung von „A1-Bescheinigungen“(11) zwischen dem 2. Oktober 2013 und dem 9. Juli 2014, in denen der RSVB den betreffenden Arbeitnehmern bescheinigte, dass die sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften der Niederlande auf sie anwendbar seien. Die Zeiträume, auf die sich diese Bescheinigungen beziehen, sind von Fall zu Fall unterschiedlich, jedoch beginnt keiner vor dem 1. Oktober 2011, und keiner endet nach dem 26. Mai 2015 (im Folgenden: streitige Zeiträume).

17.      Der RSVB ist der Auffassung, dass die niederländischen Transportunternehmen, die die ihnen für unbestimmte Zeit uneingeschränkt zur Verfügung stehenden Fahrer eingestellt hätten, die gegenüber den Fahrern die tatsächliche Weisungsbefugnis ausübten und die faktisch die Lohnkosten zu tragen hätten, für die Zwecke der Anwendung der Unionsvorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit als „Arbeitgeber“ anzusehen seien.

18.      AFMB widerspricht dieser Bewertung und macht im Wesentlichen geltend, dass sie aufgrund der mit den Fahrern geschlossenen Arbeitsverträge, in denen die Anwendung des zyprischen Rechts ausdrücklich vereinbart sei, als „Arbeitgeber“ anzusehen sei und daher die sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften Zyperns als anwendbar zu betrachten seien.

19.      Mit mehreren Bescheiden vom Juli 2014 wies der RSVB die im Namen von AFMB gegen die Bescheide vom Oktober 2013 eingelegten Rechtsbehelfe als unbegründet zurück.

20.      Mit Urteil vom 25. März 2016 wies das erstinstanzliche Gericht von Amsterdam (Niederlande) die im Namen von AFMB gegen die vorgenannten Bescheide vom Juli 2014 erhobenen Klagen als unbegründet ab.

21.      Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts, bei dem das gerichtliche Verfahren gegenwärtig anhängig ist, hängt die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits u. a. von der Auslegung der Unionsvorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ab. Das vorlegende Gericht möchte klären, wer in den streitigen Zeiträumen „Arbeitgeber“ der Fahrer war – die in den Niederlanden ansässigen Transportunternehmen oder AFMB – und damit den Mitgliedstaat bestimmen, dessen sozialversicherungsrechtliche Vorschriften anzuwenden sind.

22.      Vor diesem Hintergrund hat der Centrale Raad van Beroep (Berufungsgericht in Sachen der sozialen Sicherheit und des öffentlichen Dienstes) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.a)      Ist Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren der abhängig beschäftigte internationale Lastkraftwagenfahrer als Teil des Fahrpersonals anzusehen ist

i.      des Transportunternehmens, das ihn angeworben hat, dem er faktisch auf unbestimmte Zeit uneingeschränkt zur Verfügung steht, das die tatsächliche Weisungsbefugnis ihm gegenüber ausübt und das faktisch die Lohnkosten zu tragen hat, oder

ii.      des Unternehmens, das formal einen Arbeitsvertrag mit ihm geschlossen hat und das ihm gemäß einer Vereinbarung mit dem unter Ziff. i genannten Transportunternehmen ein Arbeitsentgelt zahlte und insofern Beiträge in dem Mitgliedstaat entrichtete, in dem sich der Sitz dieses Unternehmens befindet, und nicht in dem Mitgliedstaat, in dem sich der Sitz des unter Ziff. i genannten Transportunternehmens befindet, oder

iii.      sowohl des unter Ziff. i als auch des unter Ziff. ii genannten Unternehmens?

1.b)      Ist Art. 13 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen, dass unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren als Arbeitgeber des abhängig beschäftigten internationalen Lastkraftwagenfahrers anzusehen ist

i.      das Transportunternehmen, das den Betroffenen eingestellt hat, dem dieser faktisch auf unbestimmte Zeit uneingeschränkt zur Verfügung steht, das die tatsächliche Weisungsbefugnis gegenüber dem Betroffenen ausübt und das faktisch die Lohnkosten zu tragen hat, oder

ii.      das Unternehmen, das formal einen Arbeitsvertrag mit dem Lastkraftwagenfahrer geschlossen hat und das diesem gemäß einer Vereinbarung mit dem unter Ziff. i genannten Transportunternehmen ein Arbeitsentgelt zahlte und insofern Beiträge in dem Mitgliedstaat entrichtete, in dem sich der Sitz dieses Unternehmens befindet, und nicht in dem Mitgliedstaat, in dem sich der Sitz des unter Ziff. i genannten Transportunternehmens befindet, oder

iii.      sowohl das unter Ziff. i als auch das unter Ziff. ii genannte Unternehmen?

2.      Für den Fall, dass unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren das in Frage 1 Buchst. a Ziff. ii und in Frage 1 Buchst. b Ziff. ii genannte Unternehmen als Arbeitgeber angesehen wird:

Gelten die spezifischen Bedingungen, unter denen sich Arbeitgeber wie Leiharbeitsunternehmen und andere Vermittler auf die in Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 12 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehenen Ausnahmen vom Beschäftigungsstaatsprinzip berufen können, in den Ausgangsverfahren ganz oder teilweise entsprechend für die Zwecke der Anwendung von Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 13 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004?

3.      Für den Fall, dass unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren das in Frage 1 Buchst. a Ziff. ii und Frage 1 Buchst. b Ziff. ii genannte Unternehmen als Arbeitgeber angesehen und Frage 2 verneint wird:

Handelt es sich bei den im vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen wiedergegebenen Tatsachen und Umständen um einen Sachverhalt, der als Missbrauch des Rechts der Union und/oder Missbrauch des Rechts der EFTA anzusehen ist? Falls ja, welche Folge ergibt sich daraus?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

23.      Die Vorlageentscheidung mit Datum vom 20. September 2018 ist am 25. September 2018 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.

24.      Die Parteien der Ausgangsverfahren, die niederländische, die tschechische, die französische, die zyprische, die ungarische und die österreichische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs sowie die Europäische Kommission haben innerhalb der Frist nach Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union schriftliche Erklärungen abgegeben.

25.      In der mündlichen Verhandlung am 17. September 2019 haben die Prozessbevollmächtigten der Parteien der Ausgangsverfahren, der niederländischen, der französischen, der zyprischen und der österreichischen Regierung sowie der Kommission Stellung genommen.

IV.    Rechtliche Würdigung

A.      Vorbemerkungen

1.      Ziele und Funktionsweise der Unionsvorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit

26.      Um die vom vorlegenden Gericht gestellten Vorlagefragen und die Herausforderungen, die sich ihm im Ausgangsverfahren stellen, besser zu verstehen, sind einleitend die Ziele und die Funktionsweise der Unionsvorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Erinnerung zu rufen.

27.      Wie aus den Erwägungsgründen 1 und 45 der Verordnung Nr. 883/2004 – durch die die Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 unter Beibehaltung des Ziels dieser Verordnung modernisiert und vereinfacht wurden – hervorgeht, soll diese eine Koordinierung zwischen den nationalen Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten gewährleisten, um sicherzustellen, dass das Recht auf Freizügigkeit wirksam ausgeübt werden kann, und um so zur Verbesserung des Lebensstandards und der Arbeitsbedingungen der Personen beizutragen, die innerhalb der Union zu- und abwandern(12).

28.      Die Bestimmungen des Titels II („Bestimmung des anwendbaren Rechts“) dieser Verordnungen, darunter die Bestimmungen, die dem Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache zur Auslegung vorgelegt worden sind, stellen ein vollständiges und einheitliches System von Kollisionsnormen dar, wonach die Arbeitnehmer, die innerhalb der Union zu- und abwandern, dem System der sozialen Sicherheit eines einzigen Mitgliedstaats unterliegen sollen, um Kumulierungen der anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften und die Komplikationen, die daraus entstehen können, zu vermeiden, aber auch zu verhindern, dass der sozialversicherungsrechtliche Schutz von Personen, die in den Anwendungsbereich dieser Verordnungen fallen, entfiele, wenn auf sie keine Rechtsvorschriften anwendbar wären(13).

29.      Die Unionsvorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sehen somit objektive Kriterien vor, anhand deren sich die auf einen Arbeitnehmer in einem grenzüberschreitenden Sachverhalt anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften bestimmen lassen. In Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 ist der allgemeine Grundsatz des lex loci laboris niedergelegt, wonach der Arbeitnehmer den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegt, in dem er eine abhängige Beschäftigung ausübt. Dieser allgemeine Grundsatz bezweckt, dass alle Arbeitnehmer, die eine Beschäftigung im selben Land ausüben, denselben sozialversicherungsrechtlichen unterliegen und die gleichen Sozialleistungen beziehen(14). Nur so kann unerwünschten Formen von Lohnkostenwettbewerb und damit einem Druck auf die nationalen Sozialversicherungssysteme entgegengewirkt werden.

30.      Von diesem Grundsatz gibt es jedoch mehrere Ausnahmen für besondere Fälle, die in den folgenden Bestimmungen vorgesehen sind. Insbesondere sieht Art. 13 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 vor, dass eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, den Rechtsvorschriften ihres Wohnmitgliedstaats unterliegt, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt. Übt sie in ihrem Wohnmitgliedstaat keinen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit aus, unterliegt sie dagegen gemäß Art. 13 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen oder der Arbeitgeber seinen Sitz oder Wohnsitz hat, sofern sie bei einem Unternehmen bzw. einem Arbeitgeber beschäftigt ist.

31.      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor(15), dass nach Auffassung des nationalen Gerichts Art. 13 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004 auf das Ausgangsverfahren Anwendung findet, weil die Fahrer ihre Tätigkeit gewöhnlich in zwei oder mehreren Mitgliedstaaten der Union oder der EFTA ausübten. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts arbeiteten die Fahrer teilweise, aber nicht überwiegend in ihrem Wohnstaat, den Niederlanden, und übten dort keinen wesentlichen Teil ihrer zu berücksichtigenden Tätigkeit aus. Folglich könnten die sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften der Niederlande nicht über die in Art. 13 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehene Anknüpfung an den Wohnstaat, sondern ausschließlich über die in Art. 13 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung vorgesehene Anknüpfung an den Sitzstaat des Arbeitgebers für anwendbar erklärt werden. Die Arbeitgebereigenschaft sei für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits von entscheidender Bedeutung, da AFMB ihren Sitz in Zypern habe. Meines Erachtens ist diese Beurteilung nicht in Frage zu stellen, da es Aufgabe des nationalen Richters ist, den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens festzustellen und die einschlägigen Unionsvorschriften darauf anzuwenden.

32.      Da die Frage, ob Art. 13 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004 Anwendung findet, für den Ausgangsrechtsstreit von zentraler Bedeutung ist, ist diese Bestimmung näher zu prüfen. Sie sieht als Anknüpfungspunkt für die Bestimmung des anwendbaren nationalen Rechts den Sitz des Arbeitgebers vor. In diesem Zusammenhang stelle ich fest, dass der Gesetzgeber den Wortlaut des alten Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 nicht übernommen hat, der eine besondere Bestimmung für fahrendes Personal eines Unternehmens, das für Rechnung Dritter im internationalen Verkehrswesen die Beförderung von Personen oder Gütern im Straßenverkehr durchführt, enthielt und ebenfalls die Anwendung der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats vorsah, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hatte. Trotz dieses Unterschieds im Wortlaut bezwecken die beiden Bestimmungen genau dasselbe(16). Es scheint nämlich, dass der Gesetzgeber lediglich den detaillierteren Wortlaut der früher geltenden Bestimmung, die den speziellen Fall des internationalen Straßentransports im Blick hatte, zugunsten einer allgemeiner formulierten Bestimmung aufgegeben hat. Die neue Bestimmung ist nunmehr ausreichend weit gefasst, um nicht nur den internationalen Straßenverkehr, sondern auch andere abhängige Beschäftigungen, die in zwei oder mehreren Mitgliedstaaten ausgeübt werden, einzuschließen. Das vorlegende Gericht scheint sich dessen bewusst gewesen zu sein und hat seine erste Vorlagefrage deshalb in Bezug auf beide Bestimmungen formuliert. Folglich kann der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens in den Anwendungsbereich beider Bestimmungen fallen. Daher scheint es mir grundsätzlich möglich, Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 13 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004 gemeinsam auszulegen.

2.      Örtliche und zeitliche Anwendbarkeit der Verordnungen Nr. 1408/71 und Nr. 883/2004 auf den vorliegenden Fall

33.      Ungeachtet ihres identischen gesetzgeberischen Zwecks ist es erforderlich, die Frage der örtlichen und zeitlichen Anwendung dieser beiden Verordnungen zu prüfen, da einige Mitgliedstaaten, die Erklärungen abgegeben haben, Zweifel an der Zulässigkeit von Buchst. a der ersten Vorlagefrage geäußert haben, der die Auslegung der Verordnung Nr. 1408/71 betrifft.

34.      Wie in der Schilderung des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens dargestellt, ist festzustellen, dass erstens AFMB am 10. Mai 2011 gegründet wurde, und sich zweitens die streitigen Zeiträume, die die berufliche Tätigkeit der Fahrer umfassten, vom 1. Oktober 2011 bis zum 26. Mai 2015 erstreckten. Mit anderen Worten geschah all dies nach dem 1. Mai 2010, dem Datum des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 883/2004 in der Union. Daher scheint sich auf den ersten Blick eine ausschließliche Anwendung dieser Verordnung auf den Ausgangsrechtsstreit zu gebieten.

35.      Ich meine jedoch, dass die Auslegung der Verordnung Nr. 883/2004, die vorzunehmen ist, auch nützlich sein könnte, um für ein besseres Verständnis der Verordnung Nr. 1408/71 zu sorgen, zumal diese in den EFTA-Staaten noch für eine gewisse Zeit in Kraft war(17), wo die Fahrer in den streitigen Zeiträumen ebenfalls tätig gewesen sein dürften. Die gemeinsame Auslegung der Bestimmungen dieser beiden Verordnungen durch den Gerichtshof könnte eine nützliche Orientierung für andere ähnliche Fälle bieten, die in den Anwendungsbereich einer dieser Verordnungen fallen, und damit deren einheitliche Anwendung in der Union und den EFTA-Staaten gewährleisten(18). Vor diesem Hintergrund ist Buchst. a der ersten Vorlagefrage, wo der Gerichtshof ersucht wird, sich auch zur Auslegung der Verordnung Nr. 1408/71 zu äußern, als zulässig anzusehen.

36.      In Anbetracht der obigen Erwägungen wird sich meine Prüfung insbesondere den Bestimmungen der Verordnung Nr. 883/2004 widmen, wobei ich auch auf die entsprechenden Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 eingehen werde, wenn mir dies erforderlich erscheint. Die folgenden Ausführungen gelten für die einander entsprechenden Bestimmungen dieser beiden Verordnungen(19).

B.      Zur ersten Vorlagefrage

1.      Notwendigkeit, Kriterien für die Bestimmung des anwendbaren nationalen Rechts zu entwickeln

37.      Mit der ersten Vorlagefrage – die aus den oben genannten Gründen hinsichtlich der Aspekte, die beide Verordnungen betreffen, auf die sie sich bezieht, gemeinsam zu beantworten ist – möchte das vorlegende Gericht wissen, wer „Arbeitgeber“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004(20) eines im internationalen Straßentransport beschäftigten Lastkraftwagenfahrers ist, wenn dieser einem Transportunternehmen uneingeschränkt zur Verfügung steht, das faktisch die Lohnkosten zu tragen hat und das die tatsächliche Weisungsbefugnis ihm gegenüber ausübt, der seinen Arbeitsvertrag aber mit einem anderen Unternehmen geschlossen hat, das gemäß einer Vereinbarung mit dem Transportunternehmen das Arbeitsentgelt zahlt.

38.      Der Begriff „Arbeitgeber“ ist durch das Unionsrecht nicht definiert. Die Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit verweisen zur Ermittlung des Sinns und der Bedeutung dieses Begriffs auch nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes in einer solchen Situation, dass der betreffende Begriff in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss(21), die unter Berücksichtigung des Kontexts, in dem dieser Begriff verwendet wird, und des mit den Koordinierungsverordnungen verfolgten Ziels zu suchen ist(22).

39.      Eine autonome Auslegung erscheint mir umso wichtiger zu sein, als der Begriff „Arbeitgeber“ der Anknüpfungspunkt für die Kollisionsnorm ist, mit der bezweckt wird, die sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften eines einzigen Mitgliedstaats als anwendbares Recht zu bestimmen. Dieser Zweck wird offenkundig nicht erreicht, wenn Unterschiede zwischen den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zu unterschiedlichen rechtlichen Regelungen führen.

40.      Das vorlegende Gericht fragt sich, ob ausschließlich auf den Arbeitsvertrag, auf mehrere objektive Kriterien oder eine Kombination dieser beiden Optionen abzustellen ist, um zu bestimmen, wer unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren „Arbeitgeber“ ist. Ausschließlich auf das Bestehen vertraglicher Beziehungen abzustellen, bedeutete meines Erachtens, eine übermäßig formalistische Position zu vertreten. Es gibt gute Gründe, einen derartigen Ansatz zurückzuweisen, insbesondere die Gefahr, dass der durch die Koordinierungsverordnungen gewährte Schutz durch künstliche rechtliche Konstruktionen umgangen wird. Es erscheint somit sinnvoller, einen Ansatz zu wählen, der der Realität der Arbeitnehmer im Binnenmarkt und der Komplexität der heutigen Arbeitsverhältnisse angemessen Rechnung trägt. Die Vielfalt der privatrechtlichen Konstruktionen, die zwischen dem Empfänger und dem Anbieter einer Dienstleistung in Betracht kommen, der seinerseits die Dienstleistung selbst erbringen, sich eines Unterauftragnehmers oder eines entsandten Arbeitnehmers oder anderer Mittel bedienen kann, um seine vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen, erfordert eine flexiblere Betrachtungsweise bei der Prüfung. Daher halte ich die Ermittlung des Arbeitgebers anhand einer Prüfung aller relevanten Umstände des Einzelfalls und unter Heranziehung objektiver Kriterien für den am besten geeigneten Ansatz. Damit dürfte vermieden werden, dass die Grundfreiheiten des Binnenmarkts für eine Umgehung instrumentalisiert werden oder dazu beitragen.

2.      Analyse der Rechtsprechung des Gerichtshofs

41.      Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur sozialen Sicherheit, Arbeitsverhältnissen und dem internationalen Privatrecht scheint mir zahlreiche Orientierungspunkte für einen differenzierten Ansatz zu bieten. In den folgenden Erwägungen werde ich versuchen, einige sachdienliche Kriterien für die genannte Einzelfallprüfung herauszuarbeiten.

a)      Merkmale eines Arbeitsverhältnisses

42.      Hervorzuheben ist, dass die Rechtsprechung der Rolle des „Arbeitnehmers“ mehr Aufmerksamkeit gewidmet zu haben scheint als der des „Arbeitgebers“. Man findet in der Rechtsprechung nämlich relativ wenige Anhaltspunkte dafür, was die Rolle des Arbeitgebers kennzeichnet. Natürlich liegt es auf der Hand, dass die Rechte und Pflichten eines Arbeitnehmers nicht analysiert werden können, ohne die des Arbeitgebers zu berücksichtigen, da die beiden letztlich durch ein Arbeitsverhältnis verbunden sind.

43.      Um die Rolle des „Arbeitgebers“ zu klären, ist folglich zunächst die in der Rechtsprechung zu findende allgemeine Definition des Arbeitsverhältnisses heranzuziehen. Nach ständiger Rechtsprechung besteht das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses darin, dass eine Person während einer bestimmten Zeit für eine andere nach deren Weisung Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält(23). Somit sind die Kriterien zu ermitteln, die der Gerichtshof entwickelt hat, um das Bestehen eines Unterordnungsverhältnisses zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber festzustellen, das in den drei oben genannten Bereichen des Unionsrechts ein Arbeitsverhältnis kennzeichnet.

b)      Kriterien aus der Rechtsprechung zur sozialen Sicherheit

44.      Der Rechtsprechung zur sozialen Sicherheit ist zu entnehmen, dass es nicht nur auf die vertraglichen Beziehungen, sondern auch auf die tatsächliche Arbeitssituation des Arbeitnehmers ankommt. Zur Feststellung des Unterordnungsverhältnisses, das ein Arbeitsverhältnis kennzeichnet, werden sämtliche relevanten objektiven Umstände des Falles berücksichtigt.

45.      Nach ständiger Rechtsprechung hängt die Anwendung der Kollisionsnormen der Koordinierungsverordnungen ausschließlich von der objektiven Lage ab, in der sich der Arbeitnehmer befindet, wie sie sich anhand der relevanten Angaben in den Akten darstellt(24). Insbesondere hat der Gerichtshof in der Rechtssache, in der das Urteil vom 4. Oktober 2012, Format(25), ergangen ist, erläutert, wie vorzugehen ist, um das im Bereich der sozialen Sicherheit anwendbare nationale Recht in dem Fall zu bestimmen, dass der Arbeitnehmer in zwei oder mehreren Mitgliedstaaten gearbeitet hat. In dieser Rechtssache hat der Gerichtshof geurteilt, dass „neben dem Wortlaut der Vertragsunterlagen“ auch Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind, „wie die praktische Durchführung von Arbeitsverträgen zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer in der Vergangenheit, die Umstände beim Abschluss dieser Verträge und ganz allgemein die Merkmale und Modalitäten der von dem betreffenden Unternehmen ausgeübten Tätigkeiten …, sofern diese Gesichtspunkte Aufschluss über das tatsächliche Wesen der betreffenden Arbeit geben können“. Zudem obliegt es der nationalen Behörde, die diese Prüfung durchzuführen hat, „[ihre Feststellungen] ungeachtet des Wortlauts der Vertragsunterlagen auf die tatsächliche Situation des Arbeitnehmers zu stützen“(26).

46.      Die Rechtssache, in der das Urteil vom 17. Dezember 1970, Manpower(27), ergangen ist und die Entsendung von Arbeitnehmern durch ein Zeitarbeitsunternehmen betraf, scheint mir im vorliegenden Zusammenhang von besonderer Relevanz zu sein, da der Gerichtshof darin sachdienliche Kriterien festgelegt hat. Diesem Urteil lässt sich entnehmen, dass als „Arbeitgeber“ im Sinne der Koordinierungsverordnungen die Vertragspartei angesehen werden kann, die dafür verantwortlich ist, den Arbeitnehmer einzustellen, ihm Gehalt zu zahlen sowie ihn zu sanktionieren und zu entlassen(28). Dies belegt, dass der Gerichtshof die tatsächliche Arbeitssituation berücksichtigt und nicht lediglich auf den Arbeitsvertrag abstellt.

c)      Kriterien aus der Rechtsprechung zu Arbeitsverhältnissen

47.      Eine Analyse der Rechtsprechung zu Arbeitsverhältnissen lässt ebenfalls den Schluss zu, dass die Bestimmung des Arbeitgebers anhand sämtlicher objektiver relevanter Umstände des Falles vorzunehmen ist. Aus diesem Blickwinkel ist die Partei, mit der der Arbeitnehmer formal einen Arbeitsvertrag geschlossen hat, nicht unbedingt der „Arbeitgeber“.

48.      In seinem Urteil Danosa(29), das die Auslegung der Richtlinie 92/85/EWG(30) betraf, hat der Gerichtshof zum einen das oben(31) bereits genannte wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses, nämlich das Unterordnungsverhältnis, in dessen Rahmen der Arbeitnehmer einer Kontrolle unterliegt(32), in Erinnerung gerufen und zum anderen ausgeführt, dass „die rechtliche Einstufung im nationalen Recht und die Form dieses Verhältnisses ebenso wie Art der Rechtsbeziehung zwischen diesen beiden Personen [insoweit] nicht von Bedeutung [sind]“(33).

49.      Zu nennen ist auch das Urteil Albron Catering(34) zur Auslegung der Richtlinie 2001/23/EG(35), in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass Arbeitgeber auch das Unternehmen sein kann, bei dem die Arbeitnehmer tatsächlich beschäftigt sind, und zwar „auch bei Fehlen vertraglicher Beziehungen zu diesen Arbeitnehmern“(36).

50.      Was schließlich das Unterordnungsverhältnis betrifft, dass jedes Arbeitsverhältnis kennzeichnet, ist das Urteil Haralambidis(37) anzuführen, in dem es darum ging, ob der Präsident einer Hafenbehörde „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 45 Abs. 1 AEUV ist. Der Gerichtshof hat dies bejaht, da der italienische Minister für Infrastruktur und Verkehr über Ermessens- und Kontrollbefugnisse und gegebenenfalls auch Sanktionsbefugnisse gegenüber diesem Präsidenten verfügt(38). Zur rechtlichen Natur der Beziehung zwischen diesen beiden Personen hat der Gerichtshof auf seine ständige Rechtsprechung hingewiesen, wonach „die – privatrechtliche oder öffentlich-rechtliche – Art des Beschäftigungsverhältnisses … unerheblich [ist]“(39).

d)      Kriterien aus der Rechtsprechung zum internationalen Privatrecht

51.      Auch im Rahmen der Auslegung der Kollisionsnormen im Bereich des Privatrechts hat der Gerichtshof eine Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls befürwortet. Nach dieser Rechtsprechung hat der nationale Richter zur konkreten Bestimmung des Orts, an dem der Arbeitnehmer seine Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber erfüllt, ein Bündel von Indizien heranzuziehen.

52.      In seinem Urteil Voogsgeerd(40), das zur Auslegung der Bestimmungen des Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, aufgelegt zur Unterzeichnung am 19. Juni 1980 in Rom (im Folgenden: Übereinkommen von Rom)(41), ergangen ist, hat der Gerichtshof entschieden, dass der nationale Richter bei der Beurteilung, ob ein Unternehmen tatsächlich die Arbeitgebereigenschaft besitzt, „alle objektiven Umstände zu berücksichtigen [hat], die belegen, dass die tatsächliche Lage nicht mit der sich aus dem Vertragstext ergebenden Lage übereinstimmt“(42).

53.      In seinem Urteil Koelzsch(43), das ebenfalls die Auslegung der Bestimmungen des genannten Übereinkommens betraf und in dem es wie im vorliegenden Fall um die Beschäftigung im Transportsektor ging, hat der Gerichtshof ausgeführt, dass das nationale Gericht sämtlichen Gesichtspunkten Rechnung tragen muss, die die Tätigkeit des Arbeitnehmers kennzeichnen, insbesondere „in welchem Staat sich der Ort befindet, von dem aus der Arbeitnehmer seine Transportfahrten durchführt, Anweisungen zu diesen Fahrten erhält und seine Arbeit organisiert und an dem sich die Arbeitsmittel befinden“(44). Das nationale Gericht „muss auch prüfen, an welche Orte die Waren hauptsächlich transportiert werden, wo sie entladen werden und wohin der Arbeitnehmer nach seinen Fahrten zurückkehrt“(45).

54.      Ebenfalls von Bedeutung für die Bestimmung des Ortes, an dem der Arbeitnehmer seine Verpflichtungen gegenüber dem Arbeitgeber erfüllt, ist das Urteil vom 14. September 2017, Nogueira u. a.(46), das die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen(47) im Bereich der Beförderung von Passagieren im Luftverkehr zum Gegenstand hatte. In diesem Urteil bestätigte der Gerichtshof die oben genannten Indizien, die auf Arbeitsverhältnisse im Transportsektor Anwendung finden und von den nationalen Gerichten zu berücksichtigen sind(48). Nach Auffassung des Gerichtshofs kann mit dieser indiziengestützten Methode „der Realität der Rechtsbeziehungen besser Rechnung getragen werden, da alle die Tätigkeit des Arbeitnehmers kennzeichnenden Aspekte zu berücksichtigen sind“(49). In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof davor gewarnt, dass der Anknüpfungspunkt für die Anwendung des Unionsrechts „zur Verwirklichung von Umgehungsstrategien missbraucht wird oder dazu beiträgt“(50).

55.      In jüngerer Zeit, im Urteil vom 11. April 2019, Bosworth und Hurley(51), hatte der Gerichtshof das Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen(52), insbesondere den Begriff „Arbeitnehmer“ auszulegen. Der Gerichtshof wies zunächst auf das jedem Arbeitsverhältnis zugrunde liegende Unterordnungsverhältnis sowie die Erforderlichkeit hin, ein solches Verhältnis in jedem Einzelfall anhand sämtlicher Gesichtspunkte und Umstände, die die Beziehungen zwischen Parteien kennzeichnen, festzustellen, und urteilte sodann, dass „das Fehlen eines förmlichen Vertrags dem Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses … im Sinne der [einschlägigen] Bestimmungen [des genannten Übereinkommens] … nicht entgegensteht“(53).

3.      Anwendung der oben genannten Kriterien auf die Umstände des Ausgangsverfahrens

56.      Nachdem eine Reihe von sachdienlichen Kriterien ermittelt worden ist, anhand deren sich die Arbeitgebereigenschaft in einem Arbeitsverhältnis bestimmen lässt, sind diese Kriterien in einem zweiten Schritt auf die Umstände der Ausgangsverfahren anzuwenden. Auch wenn es Aufgabe des vorlegenden Gerichts ist, die erforderlichen Sachverhaltsfeststellungen vorzunehmen und gegebenenfalls Art. 13 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004(54) auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anzuwenden, hat gleichwohl der Gerichtshof die Aufgabe, anhand der Sach- und Rechtslage, wie sie das vorlegende Gericht dargestellt hat, das Unionsrecht auszulegen, um diesem Gericht sachdienliche Hinweise für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu geben(55).

57.      Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass die Vertragsbeziehung, nach der AFMB formal betrachtet Arbeitgeber der Fahrer wäre, lediglich einen Anhaltspunkt liefert. Daher erscheint es berechtigt, die Arbeitgebereigenschaft, auf die sich AFMB beruft – zumindest in Bezug auf die Vorschriften zur Koordinierung im Bereich der sozialen Sicherheit – in Frage zu stellen, wenn sie nicht die Realität des Arbeitsverhältnisses widerspiegelt. Dies ist im Folgenden anhand des den Akten zu entnehmenden Sachverhalts zu prüfen.

58.      Wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat(56), waren die Betroffenen sowohl vor als auch nach den streitigen Zeiträumen als Fahrer im internationalen Straßentransport abhängig beschäftigt und fuhren ausschließlich Lastkraftwagen auf Rechnung und Risiko von Transportunternehmen, die in den Niederlanden ansässig waren. Während der streitigen Zeiträume standen sie faktisch auf unbestimmte Zeit uneingeschränkt diesen Transportunternehmen zur Verfügung, bei denen die meisten von ihnen vor den streitigen Zeiträumen abhängig beschäftigt gewesen waren.

59.      Wie das vorlegende Gericht ausführt(57), hatte sich nach der formalen Beteiligung von AFMB im Oktober 2011 an dem Verhältnis zwischen den Arbeitnehmern und ihren ursprünglichen, in den Niederlanden ansässigen Arbeitgebern im täglichen Betrieb nichts oder nur wenig geändert. Letztere entschieden faktisch weiterhin über die Einstellung, die wesentlichen Arbeitsbedingungen, die Tätigkeiten und die Entlassungen von Arbeitnehmern. Es scheint, dass AFMB die Fahrer nicht selbst einstellte, sondern die in den Niederlanden ansässigen Transportunternehmen vielmehr ihre Arbeitnehmer unter die Leitung von AFMB stellten. Außerdem verweist das vorlegende Gericht(58) als Beispiel für die Kontrollbefugnis, die die in den Niederlanden ansässigen Transportunternehmen über die wesentlichen Arbeitsbedingung hatten, auf die Praxis von AFMB, die Fahrer, die diese Unternehmen nicht mehr in Anspruch nahmen, umgehend zu entlassen.

60.      Zu den Gehaltskosten ist festzustellen, dass zwar AFMB Gehalt unmittelbar an die Fahrer zahlte, dieses aber offenbar von den in den Niederlanden ansässigen Unternehmen finanziert wurde, die nach den Informationen, die das vorlegende Gericht mitgeteilt hat(59), gemäß Vereinbarungen, die sie mit AFMB geschlossen hatten, bestimmte Beträge an diese zu leisten hatten. Selbst wenn AFMB nicht als reine „Briefkastenfirma“ anzusehen ist, könnte sie jedoch als eine Art Gehaltsabrechnungsstelle, nicht aber als tatsächlicher Arbeitgeber angesehen werden. In seiner Schilderung des Sachverhalts(60) geht das vorlegende Gericht so weit, davon auszugehen, dass AFMB „nahezu nur auf dem Papier“ Arbeitgeber war. Diese Angaben und der Wortlaut der ersten Vorlagefrage lassen die Annahme zu, dass die Weisungs- und Kontrollbefugnis gegenüber den Fahrern bei den in den Niederlanden ansässigen Unternehmen lag.

61.      Nach den obigen Ausführungen und ohne der tatsächlichen Würdigung, die das vorlegende Gericht vorzunehmen hat, vorzugreifen, bin ich der Auffassung, dass nur die in den Niederlanden ansässigen Transportunternehmen als „Arbeitgeber“ der in den Ausgangsverfahren betroffenen Fahrer im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004 anzusehen sind.

62.      Daraus folgt, dass auf einen Sachverhalt wie den der Ausgangsverfahren die sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften des Staates anwendbar sind, in dem das Transportunternehmen ansässig ist, das den Betreffenden eingestellt hat, dem der Betreffende tatsächlich auf unbestimmte Zeit uneingeschränkt zur Verfügung steht, das eine tatsächliche Weisungsbefugnis gegenüber dem Betreffenden ausübt und das faktisch die Gehaltskosten zu tragen hat, d. h. im vorliegenden Fall der Niederlande.

4.      Antwort auf die erste Vorlagefrage

63.      Im Licht dieser Erwägungen ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 13 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass unter Umständen wie denen der Ausgangsrechtsstreitigkeiten als Arbeitgeber von Lastkraftwagenfahrern im internationalen Straßentransport das Transportunternehmen anzusehen ist, das den Betreffenden eingestellt hat, dem der Betreffende tatsächlich auf unbestimmte Zeit uneingeschränkt zur Verfügung steht, das eine tatsächliche Weisungsbefugnis gegenüber dem Betreffenden ausübt und das faktisch die Gehaltskosten zu tragen hat, vorbehaltlich der tatsächlichen Überprüfungen, die das vorlegende Gericht vorzunehmen hat.

C.      Zur zweiten Vorlagefrage

64.      Mit der zweiten, hilfsweise gestellten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob, falls AFMB als „Arbeitgeber“ anzusehen ist, die spezifischen Bedingungen im Fall der Entsendung von Arbeitnehmern für die Zwecke der Anwendung von Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 12 der Verordnung Nr. 883/2004 in den Ausgangsrechtsstreitigkeiten ganz oder teilweise entsprechend gelten. Der Verweis auf eine mögliche Analogie erklärt sich dadurch, dass zwischen den Parteien der Ausgangsverfahren nicht streitig ist, dass diese Bestimmungen in den Ausgangsrechtsstreitigkeiten keine Anwendung finden.

65.      Da vorgeschlagen wird, die erste Frage dahin zu beantworten, dass nur die in den Niederlanden ansässigen Unternehmen als „Arbeitgeber“ anzusehen sind, erübrigt sich die Beantwortung der zweiten Frage. Für den Fall, dass der Gerichtshof zu einem anderen Ergebnis gelangt, ist diese Frage meines Erachtens aus den im Folgenden dargelegten Gründen zu verneinen.

66.      Wie im Rahmen meiner Prüfung der ersten Frage werde ich mich auf die Auslegung von Art. 12 der Verordnung Nr. 883/2004 konzentrieren, da dieser – trotz der geringfügigen Unterschiede im Wortlaut – im Wesentlichen die gleiche Bestimmung enthält wie Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71(61).

67.      Nach meiner Ansicht kann Art. 12 der Verordnung Nr. 883/2004 keine Anwendung finden, weil es in den Ausgangsverfahren nicht um eine „Entsendung“ im eigentlichen Sinne geht, sondern vielmehr darum, dass AFMB den in den Niederlanden ansässigen Unternehmen Arbeitnehmer auf unbestimmte Zeit „zur Verfügung stellt“.

68.      Dass insoweit klar zu unterscheiden ist, wird aus der Auslegung des Begriffs „Entsendung“ durch die Rechtsprechung deutlich. In seinem Urteil FTS(62) hat der Gerichtshof entschieden, dass die nach den oben genannten Bestimmungen vorgesehenen Ausnahmen vom Grundsatz des Beschäftigungsstaats bei Beteiligung eines Zeitarbeitsunternehmens nur Anwendung finden können, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind. Die erste Voraussetzung, die die erforderliche Bindung zwischen dem Unternehmen, das den Arbeitnehmer in einen anderen Mitgliedstaat als den Staat seiner Betriebsstätte entsendet, und dem entsandten Arbeitnehmer betrifft, verlangt, dass zwischen dem Unternehmen und dem Arbeitnehmer während der Dauer seiner Entsendung eine arbeitsrechtliche Bindung erhalten bleibt. Die zweite Voraussetzung, die die Bindung des Unternehmens an den Mitgliedstaat, in dem es seine Betriebsstätte hat, betrifft, verlangt, dass das Unternehmen in diesem Mitgliedstaat gewöhnlich eine nennenswerte Geschäftstätigkeit ausübt(63).

69.      Für die Feststellung, ob eine solche arbeitsrechtliche Bindung besteht, kommt es nach der Rechtsprechung(64) darauf an, ob sich aus den gesamten Umständen ergibt, dass der Arbeitnehmer Zeitarbeitsunternehmen untersteht. Diese Voraussetzung beinhaltet zwangsläufig, dass das Zeitarbeitsunternehmen gegenüber dem Arbeitnehmer über Weisungs- und Kontroll- sowie gegebenenfalls Sanktionsbefugnisse verfügen muss. Mit anderen Worten muss das Zeitarbeitsunternehmen die Befugnisse ausüben, die typischerweise dem „Arbeitgeber“ vorbehalten sind. Wie aber bereits im Rahmen der Beantwortung der ersten Frage festgestellt, oblag diese Rolle in den Ausgangsverfahren den in den Niederlanden ansässigen Transportunternehmen(65). Zudem geht aus den Akten hervor, dass sich die Verbindung zwischen den Fahrern und AFMB im Wesentlichen auf die Zahlung des Gehalts und die Leistung der Sozialbeiträge an die zyprische Behörde beschränkte. Im Übrigen hat AFMB diese Informationen in ihren Erklärungen nicht widerlegt. Folglich scheint mir die erste Voraussetzung im vorliegenden Fall nicht erfüllt zu sein.

70.      Zur zweiten Voraussetzung ist zunächst, wie von mehreren Verfahrensbeteiligten geltend gemacht, festzustellen, dass sie in Art. 13 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 883/2004(66) nicht vorgesehen ist. Der in dieser Bestimmung vorgesehene Anknüpfungspunkt ist schlicht und einfach der Ort, an dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat. In Anbetracht dessen halte ich es für problematisch, trotz des eindeutigen Wortlauts dieser Bestimmungen im Wege der Auslegung eine zusätzliche Voraussetzung einzuführen, die verlangt, dass „das Unternehmen in [dem] Mitgliedstaat [seiner Betriebsstätte] gewöhnlich eine nennenswerte Geschäftstätigkeit ausübt“. Es sollte nicht vergessen werden, dass die fragliche Voraussetzung von der Rechtsprechung ursprünglich in Bezug auf eine anderslautende Bestimmung eingeführt wurde, nämlich Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71(67), der Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 in der aktuellen Fassung entspricht. Sie auf eine andere Bestimmung anzuwenden, ohne deren Besonderheit zu berücksichtigen, bedeutete, die Grenzen des Anwendungsbereichs der Bestimmung in Art. 13 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 883/2004 zu missachten. Hinzu kommt, dass der Rat einen Vorschlag, die Verordnung in diesem Sinne zu ändern, kürzlich abgelehnt hat, wie die Kommission in ihren Erklärungen ausgeführt hat(68). Unabhängig von den Zweifeln, die die praktische Umsetzung dieses Ansatzes aufwirft, stelle ich fest, dass sich das vorlegende Gericht selbst schwertut, die vorgeschlagene Voraussetzung der „wesentlichen Tätigkeit“ anzuwenden, da Informationen hierzu fehlen. Aus der Vorlageentscheidung geht nämlich hervor, dass es den Aktenstücken nicht zu entnehmen vermag, ob AFMB diese Voraussetzung erfüllt(69). Daher erschließt sich mir nicht, wie dieser Ansatz für die Entscheidung der vorliegenden Ausgangsverfahren sachdienlich sein könnte.

71.      Aus den vorstehend ausgeführten Gründen schlage ich vor, die zweite Vorlagefrage zu verneinen.

D.      Zur dritten Vorlagefrage

1.      Der Begriff „Rechtsmissbrauch“ nach der Rechtsprechung

72.      Mit der dritten, äußerst hilfsweise gestellten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Umstände wie die der Ausgangsverfahren – falls AFMB als „Arbeitgeber“ angesehen wird und die spezifischen Bedingungen der Entsendung von Arbeitnehmern keine Anwendung finden – als Missbrauch des Rechts der Union anzusehen sind(70).

73.      Angesichts der vorgeschlagenen Antworten auf die erste und die zweite Frage werde ich auf die dritte Frage nur der Vollständigkeit halber für den Fall eingehen, dass der Gerichtshof zu anderen Antworten auf die ersten beiden Fragen gelangt.

74.      Nach ständiger Rechtsprechung ist eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt(71). Das Gleiche gilt für die Rechtsakte der Union, die in das EWR-Abkommen(72) und in die bilateralen Abkommen mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft integriert wurden. Die Feststellung eines missbräuchlichen Verhaltens verlangt das Vorliegen eines objektiven und eines subjektiven Tatbestandsmerkmals(73). Was zum einen das objektive Tatbestandsmerkmal betrifft, muss sich aus einer Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergeben, dass trotz formaler Einhaltung der von der Unionsregelung vorgesehenen Bedingungen das Ziel dieser Regelung nicht erreicht wurde(74). Zum anderen erfordert eine solche Feststellung ein subjektives Tatbestandsmerkmal: Es muss aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sein, dass wesentlicher Zweck der fraglichen Handlungen die Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils ist(75). In der Tat ist das Verbot des Rechtsmissbrauchs nicht einschlägig, wenn für die fraglichen Handlungen eine andere Begründung als die bloße Erlangung eines Vorteils in Betracht kommt.

2.      Anwendung der in der Rechtsprechung aufgestellten Kriterien auf den vorliegenden Fall

75.      Die Vorlageentscheidung(76) impliziert eine kritische Betrachtung der von AFMB und ihren Vertragspartnern, den außerhalb Zyperns ansässigen Transportunternehmen, errichteten rechtlichen Konstruktion. Konkreter hegt das vorlegende Gericht Zweifel daran, dass eine rechtliche Konstruktion mit dem Unionsrecht vereinbar ist, die es einer Gesellschaft erlaubt, einen bestimmten Sitz im Wesentlichen zu dem Zweck zu wählen, dass ihre Angestellten von Rechts wegen den sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften eines Mitgliedstaats der Union oder der EFTA unterliegen, in dem vergleichsweise niedrige Sozialbeiträge erhoben werden.

76.      Vor der Beantwortung der Vorlagefrage ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof nicht selbst darüber entscheiden kann, ob ein Verhalten als missbräuchlich anzusehen ist. Es ist Sache des nationalen Gerichts, gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts festzustellen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen eines missbräuchlichen Verhaltens im Ausgangsverfahren erfüllt sind(77). Der Gerichtshof kann im Vorabentscheidungsverfahren jedoch Klarstellungen vornehmen, um dem nationalen Gericht eine Richtschnur für die Anwendung des Unionsrechts zu geben(78).

a)      Prüfung des objektiven Tatbestandsmerkmals

77.      Nach eingehender Prüfung des Sachverhalts scheinen mir in Bezug auf das objektive Tatbestandsmerkmal die Voraussetzungen für die Arbeitgebereigenschaft von AFMB für die Zwecke der Anwendung von Art. 13 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 883/2004 in den Ausgangsverfahren nur auf einer formalen Ebene erfüllt zu sein. Wie oben ausgeführt(79), erlangte AFMB diese Eigenschaft nur durch eine ausgeklügelte Konstruktion des Privatrechts, wohingegen ihre Vertragspartner die tatsächliche Kontrolle gegenüber den Arbeitnehmern ausübten, was normalerweise unter die Befugnisse des Arbeitgebers im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses fällt(80). Hinzu kommt, dass sich AFMB auf die Grundfreiheiten des Binnenmarkts berufen konnte, um sich in Zypern niederzulassen und von dort aus Dienstleistungen – der Abwicklung von Gehältern und Sozialbeiträgen – an in den Niederlanden ansässige Unternehmen zu erbringen. Aufgrund aller dieser Faktoren gelang es AFMB, sich bei den im Bereich der sozialen Sicherheit zuständigen Behörden offiziell als „Arbeitgeber“ darzustellen und in einigen Mitgliedstaaten offenbar als solcher anerkannt zu werden(81).

78.      Nach meiner Auffassung würde Art. 13 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 883/2004 fehlerhaft angewandt, wenn die zuständigen nationalen Behörden AFMB als „Arbeitgeber“ anerkennen und infolgedessen auf der Grundlage der in den Akten der Ausgangsverfahren enthaltenen Informationen A1-Bescheinigungen ausstellen, da dies dazu führte, dass auf die Fahrer nicht die sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften der Niederlande, sondern Zyperns angewandt werden, obwohl die tatsächlichen Arbeitgeber in den Niederlanden ansässig sind(82). Ein solches Ergebnis liefe dem gesetzgeberischen Ziel zuwider, das den Kollisionsnormen zugrunde liegt, nämlich, den nationalen Behörden zu ermöglichen, ohne Weiteres, d. h. anhand objektiver, klarer und vorbestimmter Kriterien, den tatsächlichen Arbeitgeber sowie den Ort seines Gesellschaftssitzes oder seiner Betriebsstätte festzustellen und damit letztlich das im Einzelfall anwendbare System der sozialen Sicherheit zu ermitteln. Im Übrigen kann ungeachtet der Tatsache, dass die Kollisionsnormen relativ einfach sind, die Abweichung zwischen der scheinbaren und der tatsächlichen Situation im vorliegenden Fall zur Verwirrung bei den zuständigen nationalen Behörden führen und ist daher als geeignet anzusehen, das reibungslose Funktionieren des vom Unionsgesetzgeber eingerichteten Mechanismus der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit zu beeinträchtigen.

b)      Prüfung des subjektiven Tatbestandsmerkmals

79.      Was das subjektive Tatbestandsmerkmal betrifft, hat der Gerichtshof entschieden, dass zum Beweis für das Vorliegen dieses zweiten Tatbestandsmerkmals, das auf die Absicht der Handelnden abstellt, u. a. der rein künstliche Charakter der fraglichen Handlungen berücksichtigt werden kann(83). Das subjektive Tatbestandsmerkmal dürfte sich im vorliegenden Fall aus der offenkundigen Absicht von AFMB und ihren Vertragspartnern ergeben, die sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften der Niederlande zu umgehen, um ihre wirtschaftliche Tätigkeit zu optimieren(84). Wie oben erwähnt(85), waren die meisten der betreffenden Fahrer als Arbeitnehmer in den Niederlanden ansässig, bevor sie von AFMB eingestellt wurden. Die formale Anstellung bei AFMB scheint den Zweck gehabt zu haben, sie der Anwendung der niederländischen Rechtsvorschriften zu entziehen, die normalerweise gemäß Art. 13 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 883/2004 anwendbar gewesen wären.

80.      Wie der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung hervorgehoben hat(86), sind die Kollisionsnormen der Koordinierungsverordnungen für die Mitgliedstaaten zwingend. Es kann nicht zugelassen werden, dass die Sozialversicherten, die vom Geltungsbereich dieser Normen erfasst werden, deren Wirkungen aushebeln können, indem es ihnen freisteht, sich ihnen zu entziehen. Der zwingende Charakter dieser Normen gewährleistet das reibungslose Funktionieren des eingeführten Koordinierungsmechanismus. Daher erscheint es unerlässlich, dass auch andere Akteure, u. a. die Arbeitgeber, die in der Regel verpflichtet sind, Sozialbeiträge abzuführen, sie befolgen.

81.      Vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Würdigung scheint die Umsetzung dieser rechtlichen Konstruktion zu einer Verschlechterung des Sozialversicherungsschutzes der Fahrer geführt zu haben, während die früheren Arbeitgeber daraus offenbar Vorteile bei den Gehaltskosten gezogen haben. Genau das scheint der Zweck von AFMB gewesen zu sein, wenn man die verschiedenen, vom vorlegenden Gericht angeführten(87) Aussagen ihrer Geschäftsleitung, die auf ihrer Website veröffentlicht wurden, berücksichtigt, in denen sich die Geschäftsleitung dieser Vorteile rühmt, nämlich Gehaltskosten eingespart und gleichzeitig eine tatsächliche Kontrolle über die Fahrer behalten zu haben.

82.      Daher neige ich ausgehend von den verfügbaren Informationen zu dem Schluss, dass ein Rechtsmissbrauch vorliegt.

83.      Stellt das vorlegende Gericht fest, dass die beiden Tatbestandsmerkmale eines Rechtsmissbrauchs erfüllt sind, hat es daraus die Konsequenzen zu ziehen und die Anwendung von Art. 13 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung (EG) Nr. 883/2004(88) auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten zu versagen. AFMB kann sich somit nicht auf ihre angebliche Arbeitgebereigenschaft berufen, um beim RSVB zu beantragen, die zyprischen Rechtsvorschriften für auf die betreffenden Fahrer anwendbar zu erklären(89).

3.      Antwort auf die dritte Vorlagefrage

84.      Nach alledem ist auf die dritte Vorlagefrage zu antworten, dass es sich bei den in der Vorlageentscheidung geschilderten Tatsachen und Umständen um einen Sachverhalt handelt, der als Rechtsmissbrauch anzusehen ist. Folglich kann sich AFMB nicht auf Art. 13 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004 berufen, um einen Anknüpfungspunkt an die sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften Zyperns darzutun.

V.      Ergebnis

85.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Centrale Raad van Beroep (Berufungsgericht in Sachen der sozialen Sicherheit und des öffentlichen Dienstes, Niederlande) wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1606/98 des Rates vom 29. Juni 1998 geänderten Fassung und Art. 13 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass unter Umständen wie denen der Ausgangsrechtsstreitigkeiten als Arbeitgeber von Lastkraftwagenfahrern im internationalen Straßentransport das Transportunternehmen anzusehen ist, das den Betreffenden eingestellt hat, dem der Betreffende tatsächlich auf unbestimmte Zeit uneingeschränkt zur Verfügung steht, das eine tatsächliche Weisungsbefugnis gegenüber dem Betreffenden ausübt und das faktisch die Gehaltskosten zu tragen hat, vorbehaltlich der tatsächlichen Überprüfungen, die das vorlegende Gericht vorzunehmen hat.

2.      Die spezifischen Bedingungen, unter denen sich Arbeitgeber wie Leiharbeitsunternehmen und andere Vermittler auf die in Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 12 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehenen Ausnahmen vom Beschäftigungsstaatsprinzip berufen können, gelten nicht entsprechend für die Zwecke der Anwendung von Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 13 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004.

3.      Bei den in der Vorlageentscheidung geschilderten Tatsachen und Umständen handelt es sich um einen Sachverhalt, der als Rechtsmissbrauch anzusehen ist. Folglich kann sich AFMB weder auf Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 noch auf Art. 13 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004 berufen, um einen Anknüpfungspunkt an die sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften Zyperns darzutun.


1      Originalsprache: Französisch.


2      ABl. 1998, L 209, S. 1.


3      ABl. 2004, L 166, S. 1.


4      ABl. 2012, L 149, S. 4.


5      Urteil vom 14. Oktober 2010, van Delft u. a. (C‑345/09, EU:C:2010:610, Rn. 84).


6      Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (ABl. 1994, L 1, S. 3). Die Verordnung Nr. 1408/71 war zum Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Abkommens dessen Bestandteil und trat mit diesem Abkommen am 1. Januar 1994 in Kraft.


7      Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit (ABl. 2002, L 114, S. 6).


8      Der Einfachheit halber bezeichnet „Mitgliedstaat“ in diesen Schlussanträgen neben den Mitgliedstaaten der Union die EFTA-Staaten und die Schweizerische Eidgenossenschaft.


9      Die Verordnung Nr. 883/2004 wurde durch den Beschluss des Gemeinsamen EWR-Ausschusses Nr. 76/2011 vom 1. Juli 2011 zur Änderung von Anhang VI (Soziale Sicherheit) und von Protokoll 37 zum EWR-Abkommen (ABl. 2011, L 262, S. 33) in das EWR-Abkommen integriert. Sie gilt für Island, Liechtenstein und Norwegen seit dem 1. Juni 2012.


10      Die Verordnung Nr. 883/2004 wurde durch den Beschluss Nr. 1/2012 des Gemischten Ausschusses, eingesetzt im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit, vom 31. März 2012 zur Ersetzung des Anhangs II dieses Abkommens über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2012, L 103, S. 51) in das Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit integriert. Sie gilt für die Schweizerische Eidgenossenschaft seit dem 1. April 2012.


11      Die „A1-Bescheinigung“ ist ein von der zuständigen Stelle eines Mitgliedstaats gemäß der Verordnung Nr. 883/2004 ausgestelltes Dokument (früher, unter der Geltung der Verordnung Nr. 1408/71: „E101-Bescheinigung“), das bescheinigt, dass ein Arbeitnehmer, der innerhalb der Union zu- und abwandert, dem Sozialversicherungssystem dieses Mitgliedstaats angeschlossen ist. Sie dient dem Nachweis der Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen in einem anderen Mitgliedstaat der Union, z. B. bei entsandten Arbeitnehmern oder Personen, die gleichzeitig in mehreren Mitgliedstaaten arbeiten.


12      Urteil vom 13. Juli 2017, Szoja (C‑89/16, EU:C:2017:538, Rn. 34).


13      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2006, Piatkowski (C‑493/04, EU:C:2006:167, Rn. 21).


14      Urteil vom 6. September 2018, Alpenrind u. a. (C‑527/16, EU:C:2018:669, Rn. 97 und 98).


15      Vgl. Abschnitt 7.1.3 der Vorlageentscheidung.


16      Wie Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Chain (C‑189/14, EU:C:2015:345, Nr. 25) ausgeführt hat, hat der Wortlaut von Art. 13 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004 keine grundlegenden Änderungen erfahren.


17      Bis zum 31. Mai 2012 in Island, Liechtenstein und Norwegen und bis zum 31. März 2012 in der Schweiz.


18      Hinsichtlich Island, Liechtenstein und Norwegen gilt, wie der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung ausgeführt hat, die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Auslegung des EWR-Abkommens im Rahmen von Art. 267 AEUV nur in Bezug auf die Union, während für Entscheidungen über die Auslegung des EWR-Abkommens in den EFTA-Staaten gemäß Art. 108 Abs. 2 des EWR-Abkommens und Art. 34 des EFTA-Überwachungsabkommens der EFTA-Gerichtshof zuständig ist (vgl. Urteil vom 15. Juni 1999, Andersson und Wåkerås-Andersson, C‑321/97, EU:C:1999:307, Rn. 28 und 29). Ungeachtet dieser Aufteilung der gerichtlichen Zuständigkeit, die die institutionelle Struktur der „beiden Säulen“ des EWR – Union und EFTA – widerspiegelt, wurde ein gerichtlicher Dialog eingerichtet, was zu einer Homogenität in der Auslegung und Anwendung der gemeinsamen Rechtsakte beiträgt (vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak in der Rechtssache Marques Almeida, C‑300/10, EU:C:2012:414, Fn. 25). Hinsichtlich der Schweiz besteht ebenfalls ein institutioneller Parallelismus in dem Sinne, dass die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Auslegung der bilateralen Abkommen im Rahmen von Art. 267 AEUV nur in Bezug auf die Union gilt, während die Gerichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft – in letzter Instanz das Bundesgericht – für diese zuständig bleiben (vgl. Urteil vom 6. Oktober 2011, Graf und Engel, C‑506/10, EU:C:2011:643). Gleichwohl berücksichtigt das Bundesgericht insbesondere im Bereich der Freizügigkeit die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs. Somit kann nicht ausgeschlossen werden, dass der EFTA-Gerichtshof und die schweizerischen Gerichte in Zukunft veranlasst sein werden, die aus der vorliegenden Rechtssache hervorgehende Rechtsprechung des Gerichtshofs auf die Verordnungen zur Koordinierung im Bereich des Sozialrechts, die in das EWR-Abkommen und das bilaterale Abkommen über die Freizügigkeit integriert sind, anzuwenden.


19      Vgl. zur Praxis des Gerichtshofs, Vorlagefragen in Abhängigkeit von der zeitlichen Anwendbarkeit des Unionsrechts umzuformulieren, um dem nationalen Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, Urteile vom 14. September 2017, Delgado Mendes (C‑503/16, EU:C:2017:681, Rn. 31 und 32), und vom 25. Oktober 2018, Roche Lietuva (C‑413/17, EU:C:2018:865, Rn. 17 bis 20).


20      Bestimmung, die für die Zwecke der rechtlichen Würdigung Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 entspricht.


21      Vgl. unter vielen Beispielen Urteil vom 18. Oktober 2016, Nikiforidis (C‑135/15, EU:C:2016:774, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).


22      Vgl. Urteil vom 6. September 2018, Alpenrind u. a. (C‑527/16, EU:C:2018:669, Rn. 88 bis 98).


23      Urteil vom 4. Dezember 2014, FNV Kunsten Informatie en Media (C‑413/13, EU:C:2014:2411, Rn. 34).


24      Vgl. Urteil vom 14. Oktober 2010, van Delft u. a. (C‑345/09, EU:C:2010:2010, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 16. Mai 2013, Wencel (C‑589/10, EU:C:2013:303, Rn. 52).


25      C‑115/11, EU:C:2012:606.


26      Urteil vom 4. Oktober 2012, Format Urządzenia i Montaże Przemysłowe (C‑115/11, EU:C:2012:606, Rn. 45 und 46).


27      35/70, EU:C:1970:120.


28      Urteil vom 17. Dezember 1970, Manpower (35/70, EU:C:1970:120, Rn. 17 und 18).


29      Urteil vom 11. November 2010, Danosa (C‑232/09, EU:C:2010:674).


30      Richtlinie des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (zehnte Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG) (ABl. 1992, L 348, S. 1).


31      Vgl. Nr. 43 der vorliegenden Schlussanträge.


32      Urteil vom 11. November 2010, Danosa (C‑232/09, EU:C:2010:674, Rn. 46 und 47).


33      Urteil vom 11. November 2010, Danosa (C‑232/09, EU:C:2010:674, Rn. 39 und 40).


34      Urteil vom 21. Oktober 2010, Albron Catering (C‑242/09, EU:C:2010:625).


35      Richtlinie des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (ABl. 2001, L 82, S. 16).


36      Urteil vom 21. Oktober 2010, Albron Catering (C‑242/09, EU:C:2010:625, Rn. 21 und 31).


37      Urteil vom 10. September 2014, Haralambidis (C‑270/13, EU:C:2014:2185).


38      Urteil vom 10. September 2014, Haralambidis (C‑270/13, EU:C:2014:2185, Rn. 30).


39      Urteil vom 10. September 2014, Haralambidis (C‑270/13, EU:C:2014:2185, Rn. 40).


40      Urteil vom 15. Dezember 2011, Voogsgeerd (C‑384/10, EU:C:2011:842).


41      ABl. 1980, L 266, S. 1.


42      Urteil vom 15. Dezember 2011, Voogsgeerd (C‑384/10, EU:C:2011:842, Rn. 62).


43      Urteil vom 15. März 2011, Koelzsch (C‑29/10, EU:C:2011:151).


44      Urteil vom 15. März 2011, Koelzsch (C‑29/10, EU:C:2011:151, Rn. 49).


45      Urteil vom 15. März 2011, Koelzsch (C‑29/10, EU:C:2011:151, Rn. 49).


46      C‑168/16 und C‑169/16, EU:C:2017:688.


47      ABl. 2001, L 12, S. 1.


48      Urteil vom 14. September 2017, Nogueira u. a. (C‑168/16 und C‑169/16, EU:C:2017:688, Rn. 59 und 60).


49      Urteil vom 14. September 2017, Nogueira u. a. (C‑168/16 und C‑169/16, EU:C:2017:688, Rn. 62).


50      Urteil vom 14. September 2017, Nogueira u. a. (C‑168/16 und C‑169/16, EU:C:2017:688, Rn. 62).


51      C‑603/17, EU:C:2019:310.


52      Übereinkommen, unterzeichnet in Lugano am 30. Oktober 2007, dessen Abschluss durch den Beschluss 2009/430/EG des Rates vom 27. November 2008 (ABl. 2009, L 147, S. 1) im Namen der Gemeinschaft genehmigt wurde.


53      Urteil vom 11. April 2019, Bosworth und Hurley (C‑603/17, EU:C:2019:310, Rn. 27).


54      Oder Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71, je nach örtlicher und zeitlicher Anwendung der Vorschriften zur Koordinierung im Bereich des Sozialrechts.


55      Urteil vom 9. November 2006, Chateignier (C‑346/05, EU:C:2006:711, Rn. 22).


56      Vgl. Abschnitt 5.2.2 der Vorlageentscheidung.


57      Vgl. Abschnitt 5.2.6 der Vorlageentscheidung.


58      Vgl. Abschnitt 5.2.6 der Vorlageentscheidung.


59      Vgl. Abschnitt 5.2.3 der Vorlageentscheidung.


60      Vgl. Abschnitt 7.1.5 der Vorlageentscheidung.


61      Vgl. Nr. 36 der vorliegenden Schlussanträge.


62      Urteil vom 10. Februar 2000, FTS (C‑202/97, EU:C:2000:75).


63      Urteile vom 10. Februar 2000, FTS (C‑202/97, EU:C:2000:75, Rn. 21 bis 24), und vom 6. Februar 2018, Altun u. a. (C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 34).


64      Urteil vom 10. Februar 2000, FTS (C‑202/97, EU:C:2000:75, Rn. 24).


65      Vgl. Nr. 61 der vorliegenden Schlussanträge.


66      Und auch nicht in Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71, der entsprechenden Bestimmung.


67      Urteil vom 10. Februar 2000, FTS (C‑202/97, EU:C:2000:75, Rn. 40).


68      Im Jahr 2016 schlug die Kommission in ihrem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (Dokument COM[2016] 815) vor, den bestehenden Abs. 5a des Art. 14 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 durch folgenden Absatz zu ersetzen: „(5a) Für die Zwecke der Anwendung des Titels II der Grundverordnung beziehen sich die Worte ‚Sitz oder Wohnsitz‘ auf den satzungsmäßigen Sitz oder die Niederlassung, an dem/der die wesentlichen Entscheidungen des Unternehmens getroffen und die Handlungen zu dessen zentraler Verwaltung vorgenommen werden, vorausgesetzt das Unternehmen übt eine wesentliche Tätigkeit in diesem Mitgliedstaat aus“. Hervorhebung nur hier. Der Ministerrat hat jedoch die Einführung des Kriteriums „wesentliche Tätigkeit“ abgelehnt.


69      Vgl. Abschnitt 7.2.5 der Vorlageentscheidung.


70      Das vorlegende Gericht nennt in seiner Frage das „Recht der EFTA“. Wahrscheinlich meint es jedoch das Recht des EWR sowie das Assoziierungsabkommen mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Diese Frage ist daher umzuformulieren.


71      Vgl. Urteile vom 21. Februar 2006, Halifax u. a. (C‑255/02, EU:C:2006:121, Rn. 68), und vom 28. Juli 2016, Kratzer (C‑423/15, EU:C:2016:604, Rn. 37).


72      Vgl. Urteile des EFTA-Gerichtshofs vom 13. September 2017, Yara International ASA (E‑15/16, EFTA Court Report 2017, 434, Rn. 49), aus dem hervorgeht, dass das Verbot des Rechtsmissbrauchs ein „wesentliches Merkmal des Rechts des EWR“ darstellt, und vom 3. Oktober 2012, Arcade Drilling (E‑15/11, EFTA Court Report 2012, 676, Rn. 88 und 89), in dem sich der EFTA-Gerichtshof auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs stützt.


73      Vgl. Urteil vom 28. Juli 2016, Kratzer (C‑423/15, EU:C:2016:604, Rn. 38).


74      Vgl. Urteil vom 28. Juli 2016, Kratzer (C‑423/15, EU:C:2016:604, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).


75      Vgl. Urteil vom 28. Juli 2016, Kratzer (C‑423/15, EU:C:2016:604, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).


76      Vgl. Abschnitt 7.3 der Vorlageentscheidung.


77      Vgl. Urteil vom 28. Juli 2016, Kratzer (C‑423/15, EU:C:2016:604, Rn. 41 und 42 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


78      Vgl. Urteile vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 34), und vom 22. November 2017, Cussens u. a. (C‑251/16, EU:C:2017:881, Rn. 59).


79      Vgl. Nrn. 57 bis 61 der vorliegenden Schlussanträge.


80      Vgl. in diesem Zusammenhang Urteil vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 50), wo der Gerichtshof missbräuchliche Praktiken ablehnt und als Beispiel den Abschluss von Verträgen anführt, die eine rein künstliche Gestaltung darstellen, durch die die Identität des Erbringers einer Dienstleistung verschleiert wird.


81      Nach den Angaben von AFMB sahen etwa die Mitgliedstaaten Belgien, Deutschland, Spanien, Polen und Rumänien AFMB als Arbeitgeber an und erachteten ausgehend vom Gesellschaftssitz von AFMB die sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften Zyperns als auf ihre jeweiligen Einwohner anwendbar.


82      Wie der Gerichtshof im Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a. (C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 51), ausgeführt hat, besteht das objektive Element in der Nichterfüllung der Voraussetzungen für den Erhalt und die Geltendmachung einer Bescheinigung E 101.


83      Vgl. Urteil vom 28. Juli 2016, Kratzer (C‑423/15, EU:C:2016:604, Rn. 41 und 42 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


84      Vgl. Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a. (C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 52), wonach das subjektive Tatbestandsmerkmal normalerweise erfüllt ist, wenn der Betreffende die Absicht hat, die Voraussetzungen für die Ausstellung einer Bescheinigung E 101 zu umgehen, um den damit verbundenen Vorteil zu erlangen.


85      Vgl. Nr. 58 der vorliegenden Schlussanträge.


86      Vgl. Urteile vom 14. Oktober 2010, van Delft u. a. (C‑345/09, EU:C:2010:610), und vom 13. Juli 2017, Szoja (C‑89/16, EU:C:2017:538, Rn. 42).


87      Vgl. Abschnitt 5.2.9 der Vorlageentscheidung.


88      Das Gleiche gilt für Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71, je nach örtlicher und zeitlicher Anwendung der Vorschriften zur Koordinierung im Bereich des Sozialrechts.


89      Diese Konsequenz ergibt sich meines Erachtens aus den Erwägungen des Generalanwalts Poiares Maduro in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Halifax u. a. (C‑255/02, EU:C:2005:200, Nrn. 68, 71 und 97), wonach es verboten ist, sich auf eine Rechtsvorschrift, die einen Anspruch begründet, zu berufen, um widerrechtliche und mit dem Zweck dieser Vorschrift offensichtlich unvereinbare Vorteile zu erlangen. Praktisch bedeutet das, dass die fragliche Rechtsvorschrift entgegen ihrem Wortlaut dahin auszulegen ist, dass sie ein solches Recht tatsächlich nicht gewährt.