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BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

15. Februar 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 5 Buchst. a und b – Gegen einen Drittstaatsangehörigen ergangene Rückkehrentscheidung – Minderjähriger Drittstaatsangehöriger, der im Fall einer Rückkehr von seinen Eltern getrennt würde – Kindeswohl – Recht auf Achtung des Familienlebens“

In der Rechtssache C‑484/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 8. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Juli 2022, in dem Verfahren

Bundesrepublik Deutschland

gegen

GS, vertreten durch seine Eltern,

Beteiligte:

Vertreterin des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan (Berichterstatter) sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Bundesrepublik Deutschland und GS, einem durch seine Eltern vertretenen minderjährigen Kind, u. a. wegen der vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland, im Folgenden: Bundesamt) gegen dieses Kind erlassenen Abschiebungsandrohung.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) bestimmt in Art. 7 („Achtung des Privat- und Familienlebens“):

„Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.“

4        In Art. 24 („Rechte des Kindes“) der Charta heißt es:

„…

(2)      Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.

(3)      Jedes Kind hat Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen.“

 Richtlinie 2008/115

5        Gemäß Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 findet diese „Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige“.

6        Nach Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

„1.      ‚Drittstaatsangehörige‘: alle Personen, die nicht Unionsbürger im Sinne von Artikel [9 EUV] sind und die nicht das Gemeinschaftsrecht auf freien Personenverkehr nach Artikel 2 Absatz 5 [der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1)] genießen;

2.      ‚illegaler Aufenthalt‘: die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats;

3.      ‚Rückkehr‘: die Rückreise von Drittstaatsangehörigen – in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung – in

–        deren Herkunftsland oder

–        ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder

–        ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird;

4.      ‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird;

5.      ‚Abschiebung‘: die Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung, d. h. die tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedsstaat;

8.      ‚freiwillige Ausreise‘: die Erfüllung der Rückkehrverpflichtung innerhalb der dafür in der Rückkehrentscheidung festgesetzten Frist;

…“

7        Art. 5 („Grundsatz der Nichtzurückweisung, Wohl des Kindes, familiäre Bindungen und Gesundheitszustand“) der Richtlinie lautet:

„Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise:

a)      das Wohl des Kindes,

b)      die familiären Bindungen,

c)      den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen,

und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“

 Deutsches Recht

 Aufenthaltsgesetz

8        Das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2004 I, S. 1950) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (BGBl. 2017 I, S. 2780) (im Folgenden: Aufenthaltsgesetz oder AufenthG) bestimmt in § 59 („Androhung der Abschiebung“):

„(1)      Die Abschiebung ist unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen. …

(2)      In der Androhung soll der Staat bezeichnet werden, in den der Ausländer abgeschoben werden soll, und der Ausländer darauf hingewiesen werden, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf oder der zu seiner Übernahme verpflichtet ist.

(3)      Dem Erlass der Androhung steht das Vorliegen von Abschiebungsverboten und Gründen für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nicht entgegen. …

(4)      Nach dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Abschiebungsandrohung bleiben für weitere Entscheidungen der Ausländerbehörde über die Abschiebung oder die Aussetzung der Abschiebung Umstände unberücksichtigt, die einer Abschiebung in den in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Staat entgegenstehen und die vor dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Abschiebungsandrohung eingetreten sind; sonstige von dem Ausländer geltend gemachte Umstände, die der Abschiebung oder der Abschiebung in diesen Staat entgegenstehen, können unberücksichtigt bleiben. Die Vorschriften, nach denen der Ausländer die im Satz 1 bezeichneten Umstände gerichtlich im Wege der Klage oder im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach der Verwaltungsgerichtsordnung geltend machen kann, bleiben unberührt.“

9        § 60a („Vorübergehende Aussetzung der Abschiebung [Duldung]“) AufenthG sieht in seinen Abs. 2 bis 5 vor:

„(2)      Die Abschiebung eines Ausländers ist auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. …

(3)      Die Ausreisepflicht eines Ausländers, dessen Abschiebung ausgesetzt ist, bleibt unberührt.

(4)      Über die Aussetzung der Abschiebung ist dem Ausländer eine Bescheinigung auszustellen.

(5)      Die Aussetzung der Abschiebung erlischt mit der Ausreise des Ausländers. …“

 Asylgesetz

10      § 34 Asylgesetz (BGBl. 2008 I, S. 1798) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (BGBl. 2013 I, S. 3474) bestimmt:

„(1)      Das Bundesamt erlässt nach den §§ 59 und 60 Absatz 10 des Aufenthaltsgesetzes eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn

1.      der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird,

2.      dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird,

2a.      dem Ausländer kein subsidiärer Schutz gewährt wird,

3.      die Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen oder die Abschiebung ungeachtet des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Absatz 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes ausnahmsweise zulässig ist und

4.      der Ausländer keinen Aufenthaltstitel besitzt.

Eine Anhörung des Ausländers vor Erlass der Abschiebungsandrohung ist nicht erforderlich. Im Übrigen bleibt die Ausländerbehörde für Entscheidungen nach § 59 Absatz 1 Satz 4 und Absatz 6 des Aufenthaltsgesetzes zuständig.

(2)      Die Abschiebungsandrohung soll mit der Entscheidung über den Asylantrag verbunden werden. …“

 Verwaltungsgerichtsordnung

11      § 123 der Verwaltungsgerichtsordnung in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung regelt allgemein, dass die Gerichte auf Antrag und unabhängig von einer Klageerhebung eine einstweilige Anordnung treffen können.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

12      Der im Dezember 2018 in Deutschland geborene Kläger des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Kläger) ist wie seine Eltern und Geschwister Staatsangehöriger der Bundesrepublik Nigeria.

13      Mit Entscheidungen von März 2017 und März 2018 stellte das Bundesamt zugunsten des Vaters und einer 2014 geborenen Schwester des Klägers ein Verbot der Abschiebung nach Nigeria fest. Insoweit seien die nach dem nationalen Recht für ein Abschiebungsverbot in Bezug auf Nigeria geltenden Voraussetzungen erfüllt, weil es dem Vater des Klägers im Falle einer Abschiebung in dieses Land nicht möglich sein werde, seine gegenüber seinen eigenen Eltern, seiner Frau und seinen Kindern bestehenden Unterhaltspflichten zu erfüllen. Mit Bescheiden von Februar und April 2018 wurden dem Vater und der Schwester des Klägers von der zuständigen Behörde gemäß den für Abschiebungsverbote geltenden nationalen Regelungen eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen erteilt.

14      Die Asylanträge der Mutter und einer 2016 geborenen weiteren Schwester des Klägers wurden dagegen als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Ihr Aufenthalt in Deutschland wird seither geduldet.

15      Mit Bescheid vom 13. Juni 2019 lehnte das Bundesamt zum einen den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Anerkennung als Asylberechtigter bzw. auf Zuerkennung subsidiären Schutzes ab und drohte ihm zum anderen die Abschiebung nach Nigeria an, wobei ihm für die freiwillige Ausreise eine Frist von 30 Tagen gesetzt wurde (im Folgenden: Abschiebungsandrohung).

16      Das mit einer Klage gegen diesen Bescheid befasste Verwaltungsgericht wies mit einem Urteil vom 7. Juni 2021 die meisten Klageanträge zurück. Die Abschiebungsandrohung gegen den Kläger hob es dagegen mit der Begründung auf, dass seine Ausweisung wegen des zugunsten des Vaters und eine der Schwestern des Klägers bestehenden Abschiebungsverbots nicht mit dem sowohl im Grundgesetz als auch in Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verankerten Recht auf Familienleben vereinbar sei, da dem Kläger eine Trennung von seinem Vater nicht zuzumuten sei.

17      Die Bundesrepublik Deutschland legte gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts, soweit damit die Abschiebungsandrohung aufgehoben wird, beim Bundesverwaltungsgericht, dem vorlegenden Gericht, eine auf Rechtsfragen beschränkte Sprungrevision ein.

18      Zur Begründung ihrer Sprungrevision führt die Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen aus, dass die der Abschiebung einer Person entgegenstehenden Gründe in Bezug auf das Wohl des Kindes und die Achtung der familiären Bindungen im Sinne von Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115 grundsätzlich nicht in dem Verfahren betreffend die Abschiebungsandrohung, für das das Bundesamt zuständig sei, zu berücksichtigen seien. Solche Gründe dürften nur im Rahmen eines gesonderten, nachfolgenden, den Vollzug der Abschiebung betreffenden Verfahrens berücksichtigt werden, für das andere Stellen, nämlich die regionalen Ausländerbehörden, zuständig seien.

19      Unter diesen Umständen hat das Bundesverwaltungsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen, dass er der Rechtmäßigkeit einer gegen einen minderjährigen Drittstaatsangehörigen erlassenen Rückkehrentscheidung, die zusammen mit der Ablehnung von dessen Antrag auf internationalen Schutz ergeht und diesem eine Ausreisefrist von 30 Tagen ab Bestandskraft setzt, ausnahmslos entgegensteht, wenn aus rechtlichen Gründen auf unabsehbare Zeit kein Elternteil in ein in Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie 2008/115 bezeichnetes Land rückgeführt werden kann und damit auch dem Minderjährigen das Verlassen des Mitgliedstaats wegen seiner schutzwürdigen familiären Bindungen (Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta sowie Art. 8 EMRK) nicht zugemutet werden kann, oder genügt es, dass das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen im Sinne des Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115 auf der Grundlage einer nationalen gesetzlichen Regelung nach Erlass der Rückkehrentscheidung durch eine Aussetzung der Abschiebung zu berücksichtigen sind?

 Zur Vorlagefrage

20      Wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, kann der Gerichtshof gemäß Art. 99 seiner Verfahrensordnung auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.

21      Diese Bestimmung ist im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens anzuwenden.

22      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, oder dahin, dass es genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken.

23      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115 im Hinblick auf seinen Zweck, im Rahmen des mit der Richtlinie eingeführten Rückkehrverfahrens die Wahrung mehrerer Grundrechte – u. a. die in Art. 24 der Charta verankerten Grundrechte des Kindes – zu gewährleisten, nicht eng ausgelegt werden darf (Urteil vom 11. März 2021, Belgischer Staat [Rückkehr des Elternteils eines Minderjährigen], C‑112/20, EU:C:2021:197, Rn. 35).

24      Nach Art. 5 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 und Art. 24 Abs. 2 der Charta ist das Wohl des Kindes in allen Stadien des Verfahrens zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Januar 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Rückkehr eines unbegleiteten Minderjährigen], C‑441/19, EU:C:2021:9, Rn. 54), während gemäß Art. 5 Buchst. b der Richtlinie die Mitgliedstaaten auch die familiären Bindungen angemessen berücksichtigen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. März 2021, Belgischer Staat [Rückkehr des Elternteils eines Minderjährigen], C‑112/20, EU:C:2021:197, Rn. 41).

25      Art. 5 der Richtlinie 2008/115 verwehrt es somit einem Mitgliedstaat, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, ohne die relevanten Aspekte des Familienlebens des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, die er geltend macht, um den Erlass einer solchen Entscheidung zu verhindern (Urteil vom 8. Mai 2018, K. A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 104).

26      Konkret muss der betreffende Mitgliedstaat vor dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen eine umfassende und eingehende Beurteilung der Situation des Minderjährigen vornehmen und dabei das Wohl des Kindes gebührend berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Januar 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Rückkehr eines unbegleiteten Minderjährigen], C‑441/19, EU:C:2021:9, Rn. 60).

27      Folglich steht Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115 einer nationalen Rechtsprechung entgegen, nach der die Verpflichtung, beim Erlass einer Abschiebungsandrohung das Wohl des Kindes und dessen familiären Bindungen zu berücksichtigen, als erfüllt gilt, solange die Abschiebung nicht vollzogen wird.

28      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, und es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken.

 Kosten

29      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger

ist dahin auszulegen, dass

er verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, und es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Deutsch.