Language of document : ECLI:EU:T:2000:135

BESCHLUSS DES GERICHTS (Erste Kammer)

22. Mai 2000 (1)

„Untätigkeitsklage - Bürgerbeauftragter - Unzulässigkeit“

In der Rechtssache T-103/99

Associazione delle cantine sociali venete mit Sitz in Padua (Italien), Prozeßbevollmächtigte: Rechtsanwälte I. Cacciavillani und A. Cimino, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Europäischer Bürgerbeauftragter, vertreten durch G. Grill als Bevollmächtigten, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

und

Europäisches Parlament, vertreten durch H. Krück und A. Caiola als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte,

wegen Feststellung, daß der Bürgerbeauftragte und, soweit erforderlich, das Parlament es rechtswidrig unterlassen haben, einen Mißstand bei der Tätigkeit der Kommission festzustellen,

erläßt

DAS GERICHT ERSTER INSTANZ

DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten B. Vesterdorf sowie der Richter M. Vilaras und N. Forwood,

Kanzler: H. Jung,

folgenden

Beschluß

Rechtlicher Rahmen

1.
    Artikel 138e EG-Vertrag (jetzt Artikel 195 EG) sieht vor:

„(1)    Das Europäische Parlament ernennt einen Bürgerbeauftragten, der befugt ist, Beschwerden von jedem Bürger der Union oder von jeder natürlichen oder juristischen Person mit Wohnort oder satzungsmäßigem Sitz in einem Mitgliedstaat über Mißstände bei der Tätigkeit der Organe oder Institutionen der Gemeinschaft,mit Ausnahme des Gerichtshofs und des Gerichts erster Instanz in Ausübung ihrer Rechtsprechungsbefugnisse, entgegenzunehmen.

Der Bürgerbeauftragte führt im Rahmen seines Auftrags von sich aus oder aufgrund von Beschwerden, die ihm unmittelbar oder über ein Mitglied des Europäischen Parlaments zugehen, Untersuchungen durch, die er für gerechtfertigt hält; dies gilt nicht, wenn die behaupteten Sachverhalte Gegenstand eines Gerichtsverfahrens sind oder waren. Hat der Bürgerbeauftragte einen Mißstand festgestellt, so befaßt er das betreffende Organ, das über eine Frist von drei Monaten verfügt, um ihm seine Stellungnahme zu übermitteln. Der Bürgerbeauftragte legt anschließend dem Europäischen Parlament und dem betreffenden Organ einen Bericht vor. Der Beschwerdeführer wird über das Ergebnis der Untersuchungen unterrichtet.

Der Bürgerbeauftragte legt dem Europäischen Parlament jährlich einen Bericht über die Ergebnisse seiner Untersuchungen vor.

(2)    Der Bürgerbeauftragte wird nach jeder Wahl des Europäischen Parlaments für die Dauer der Wahlperiode ernannt. Wiederernennung ist zulässig.

Der Bürgerbeauftragte kann auf Antrag des Europäischen Parlaments vom Gerichtshof seines Amtes enthoben werden, wenn er die Voraussetzungen für die Ausübung seines Amtes nicht mehr erfüllt oder eine schwere Verfehlung begangen hat.

(3)    Der Bürgerbeauftragte übt sein Amt in völliger Unabhängigkeit aus. Er darf bei der Erfüllung seiner Pflichten von keiner Stelle Anweisungen anfordern oder entgegennehmen. Der Bürgerbeauftragte darf während seiner Amtszeit keine andere entgeltliche oder unentgeltliche Berufstätigkeit ausüben.

(4)    Das Europäische Parlament legt nach Stellungnahme der Kommission und nach mit qualifizierter Mehrheit erteilter Zustimmung des Rates die Regelungen und allgemeinen Bedingungen für die Ausübung der Aufgaben des Bürgerbeauftragten fest.“

2.
    Das Parlament erließ am 9. März 1994 nach Artikel 138e Absatz 4 des Vertrages den Beschluß 94/262/EGKS, EG, Euratom über die Regelungen und allgemeinen Bedingungen für die Ausübung der Aufgaben des Bürgerbeauftragten (ABl. L 113, S. 15).

3.
    Nach Artikel 14 des Beschlusses 94/262 ist der Bürgerbeauftragte ermächtigt, die Durchführungsbestimmungen zu diesem Beschluß zu erlassen.

4.
    Aus dem Jahresbericht des Bürgerbeauftragten für das Jahr 1997 (ABl. 1998, C 380, S. 1) ergibt sich, daß dieser am 16. Oktober 1997 gemäß Artikel 14 desBeschlusses 94/262 Durchführungsbestimmungen erlassen hat, die am 1. Januar 1998 in Kraft getreten sind. Der Wortlaut dieser Bestimmungen wurde in allen Amtssprachen der Union auf der Internetseite des Bürgerbeauftragten veröffentlicht.

5.
    Das Verfahren zur Untersuchung einer beim Bürgerbeauftragten eingereichten Beschwerde richtet sich folglich nach Artikel 138e des Vertrages, nach dem Beschluß 94/262 und nach den Durchführungsbestimmungen zu diesem Beschluß. Aus diesen Texten insgesamt ergibt sich, daß der Bürgerbeauftragte, wenn er einen Mißstand bei der Tätigkeit eines Organs feststellt, soweit wie möglich mit diesem Organ zusammenarbeitet, um eine gütliche Lösung zu finden, die der festgestellten Funktionsstörung abhelfen und den Bürger zufriedenstellen kann. Ist eine solche Lösung gefunden, so schließt der Bürgerbeauftragte die Beschwerdeakte mit einer begründeten „Entscheidung“ und setzt den betroffenen Bürger sowie das betroffene Organ davon in Kenntnis.

6.
    Ist dagegen der Bürgerbeauftragte der Auffassung, daß eine gütliche Lösung nicht möglich ist oder die Suche nach einer solchen sich als nicht erfolgreich erwiesen hat, so schließt er die Beschwerdeakte mit einer begründeten „Entscheidung“, die kritische Bemerkungen enthalten kann, oder er erstellt einen Bericht mit dem Entwurf von Empfehlungen. Insbesondere macht der Bürgerbeauftragte dann solche Bemerkungen, wenn er der Auffassung ist, daß es für das betroffene Organ nicht mehr möglich ist, den festgestellten Mißstand zu beseitigen, und daß dieser keine allgemeinen Auswirkungen hat. Im umgekehrten Fall verfaßt er einen Bericht, der Entwürfe von Empfehlungen an das betroffene Organ enthält (vgl. Artikel 7 Absatz 1 und 8 Absatz 1 der Durchführungsbestimmungen).

7.
    Der Bürgerbeauftragte übermittelt eine Kopie dieses Berichtes und der darin enthaltenen Empfehlungensentwürfe an die betroffenen Parteien. Das betroffene Organ muß binnen drei Monaten dem Bürgerbeauftragten eine ausführliche Stellungnahme übermitteln, in der der Bericht akzeptiert werden kann und gegebenenfalls die zur Umsetzung der Empfehlungen des Berichtes getroffenen Maßnahmen beschrieben werden können. Hält der Bürgerbeauftragte die ausführliche Stellungnahme für nicht zufriedenstellend, so erstellt er einen Sonderbericht über den in Rede stehenden Mißstand für das Parlament, der Empfehlungen enthalten kann. Eine Kopie dieses Berichtes wird auch den betroffenen Parteien übermittelt.

Sachverhalt und Verfahren

8.
    Die Associazione delle cantine sociali venete ist ein Verband italienischen Rechts, in dem Weinbaugesellschaften und -genossenschaften zusammengeschlossen sind und der u. a. den Zweck verfolgt, die Interessen seiner Mitglieder zu fördern und zu wahren.

9.
    Am 3. Juni 1997 reichte die Klägerin beim Bürgerbeauftragten eine Beschwerde ein, nachdem sich die Kommission geweigert hatte, ihr gemäß ihrem Beschluß 94/90/EGKS, EG, Euratom vom 8. Februar 1994 über den Zugang der Öffentlichkeit zu den der Kommission vorliegenden Dokumenten (ABl. L 46, S. 58) Zugang zu einer Reihe von Dokumenten zu gewähren, die Grundlage waren für die Regelung, die für jeden Mitgliedstaat für das Wirtschaftsjahr 1993/94 die Mengen von Tafelwein, die Gegenstand einer obligatorischen Destillation sind, festlegte.

10.
    Am 25. Juli 1997 sandte der Bürgerbeauftragte die Beschwerde der Klägerin der Kommission, die am 24. September 1997 eine Stellungnahme abgab.

11.
    Am 2. Dezember 1997 übermittelte die Klägerin dem Bürgerbeauftragten ihre Bemerkungen zu dieser Stellungnahme.

12.
    Am 15. Dezember 1998 forderte die Klägerin den Bürgerbeauftragten gemäß Artikel 175 EG-Vertrag (jetzt Artikel 232 EG) auf, sich zu ihrer Beschwerde zu äußern.

13.
    Da die Klägerin innerhalb der in Artikel 175 des Vertrages vorgesehenen Zweimonatsfrist keine Antwort erhielt, hat sie mit am 27. April 1999 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangener Klageschrift die vorliegende Klage erhoben.

14.
    Das Parlament hat mit am 17. Juni 1999 in das Register der Kanzlei des Gerichts eingetragenem Schriftsatz nach Artikel 114 der Verfahrensordnung eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben.

15.
    Mit Schreiben vom 30. April 1999 unterrichtete der Bürgerbeauftragte die Klägerin über das Ergebnis seiner Untersuchung hinsichtlich ihrer Beschwerde. Er hat mit am 18. Juni 1999 in das Register der Kanzlei des Gerichts eingetragenem besonderen Schriftsatz beantragt, gemäß Artikel 113 der Verfahrensordnung die Hauptsache für erledigt zu erklären.

16.
    Die Klägerin hat am 11. August 1999 ihre Erklärungen zu diesem Antrag sowie zu der vom Parlament erhobenen Einrede der Unzulässigkeit eingereicht.

Anträge der Parteien

17.
    Die Klägerin beantragt,

-    die Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen;

-    über den Antrag auf Erledigungserklärung nach Rechtslage zu entscheiden;

-    festzustellen, daß der Bürgerbeauftragte und, soweit erforderlich, das Parlament es rechtswidrig unterlassen haben, einen Mißstand bei der Tätigkeit der Kommission festzustellen;

-    über die Kosten nach Rechtslage zu entscheiden.

18.
    Das Parlament beantragt,

-    die Klage als offensichtlich unzulässig abzuweisen;

-    über die Kosten gemäß der Verfahrensordnung zu entscheiden.

19.
    Der Bürgerbeauftragte beantragt,

-    die Hauptsache für erledigt zu erklären;

-    über die Kosten in angemessener Weise zu entscheiden.

Zur Einrede der Unzulässigkeit

Vorbringen der Parteien

20.
    Das Parlament trägt vor, die vorliegende Klage sei offensichtlich unzulässig.

21.
    Erstens ergebe sich aus den Bestimmungen des EG-Vertrags, daß der Bürgerbeauftragte kein Gemeinschaftsorgan im Sinne von Artikel 4 EG-Vertrag (jetzt Artikel 7 EG) sei, sondern eine Einrichtung der Europäischen Gemeinschaften, die befugt sei, nach Artikel 138e des Vertrages Beschwerden natürlicher oder juristischer Personen mit Wohnort oder Sitz in der Union über Mißstände bei der Tätigkeit der Organe entgegenzunehmen.

22.
    Aus Artikel 138e des Vertrages gehe nämlich hervor, daß der Bürgerbeauftragte keine Verbindung zu den Gemeinschaftsorganen habe. Außerdem könne nach Artikel 175 des Vertrages eine Untätigkeitsklage lediglich gegenüber dem Parlament, dem Rat und der Kommission erhoben werden. Insoweit weist das Parlament darauf hin, daß nach Artikel 1 Absatz 3 des Beschlusses 94/262 der Bürgerbeauftragte nicht in ein schwebendes Gerichtsverfahren eingreifen oder die Rechtmäßigkeit einer gerichtlichen Entscheidung in Frage stellen dürfe.

23.
    Das Parlament ist der Auffassung, daß der Bürgerbeauftragte keine seiner Einrichtungen sei; er werde zwar von ihm ernannt, doch übe er sein Amt in voller Unabhängigkeit aus. Die fehlende Verbindung zwischen dem Parlament und dem Bürgerbeauftragten werde darüber hinaus auch daraus deutlich, daß der Gerichtshof ihn auf Antrag des Parlaments seines Amtes entheben könne, wenn er die Voraussetzungen für die Ausübung seines Amtes nicht mehr erfülle oder eine schwere Verfehlung begangen habe.

24.
    Das Parlament trägt ferner vor, da die Handlungen des Bürgerbeauftragten keine Handlungen im Sinne von Artikel 173 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 230 EG) darstellten, könne die Klägerin ihm keine Untätigkeit vorwerfen (Beschluß des Gerichts vom 21. Mai 1992 in den Rechtssachen T-169/98 und T-170/98, Schiocchet/Kommission, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht).

25.
    Zweitens genüge die Klageschrift, soweit darin das Parlament nur „soweit erforderlich“ verklagt werde, nicht den Anforderungen des Artikels 44 § 1 Buchstabe b der Verfahrensordnung. Die Grundsätze der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäßen Verwaltung verlangten nämlich, daß der Beklagte klar und unmißverständlich bezeichnet werde.

26.
    Drittens sei die Klage auch insoweit unzulässig, als die Klägerin das Parlament entgegen Artikel 175 des Vertrages nicht zuvor zum Tätigwerden aufgefordert habe. Jedenfalls sei das Parlament offensichtlich nicht befugt, in einem Rechtsstreit über die behauptete Weigerung der Kommission, Zugang zu ihren Dokumenten zu gewähren, als Partei oder Streithelfer aufzutreten. Die Tatsache, daß der Bürgerbeauftragte nach Artikel 3 des Beschlusses 94/262 verpflichtet sei, dem Parlament einen Bericht über einen festgestellten Mißstand bei der Tätigkeit eines Organs vorzulegen, bedeute nicht, daß dieses in die Untersuchungen des Bürgerbeauftragten eingreifen könne. Ein derartiger Bericht werde dem Parlament nur informationshalber zugeleitet, um ihm eine Kontrolle über die Tätigkeiten des Bürgerbeauftragten zu ermöglichen.

27.
    Schließlich bemerkt das Parlament, das Gericht könne entscheiden, daß die Hauptsache erledigt sei, da der Bürgerbeauftragte am 30. April 1999, nach Klageerhebung, zu der Beschwerde der Klägerin Stellung genommen habe.

28.
    Der Bürgerbeauftragte trägt vor, das Schreiben vom 30. April 1999 an die Klägerin, das diese über das Ergebnis seiner Untersuchung unterrichtet habe, habe die von ihr behauptete Untätigkeit beendet. Daher habe sich die Klage unabhängig von der Tatsache, daß seine Handlungen keinen zwingenden Charakter hätten, erledigt.

29.
    Die Klägerin bestreitet zwar die Begründetheit der vom Parlament erhobenen Einrede der Unzulässigkeit, stellt aber die Entscheidung über den Erledigungsantrag der Beklagten in das Ermessen des Gerichts.

30.
    Was insbesondere die Rechtsnatur des Bürgerbeauftragten angeht, so bestreitet die Klägerin, daß dieser als „Einrichtung“ des Parlaments qualifiziert werden könne.

31.
    Sie bemerkt dazu, daß der Status des Bürgerbeauftragten im Fünften Teil Titel I Kapitel 1 des Vertrages über die Organe und insbesondere im Abschnitt 1 über das Parlament beschrieben sei.

32.
    Sie verweist außerdem darauf, daß das Parlament den Bürgerbeauftragten für die Dauer der Wahlperiode ernenne und ermächtigt sei, die Regelungen und allgemeinen Bedingungen für die Ausübung der Aufgaben des Bürgerbeauftragten festzulegen und beim Gerichtshof zu beantragen, ihn seines Amtes zu entheben. Sie erklärt, daß der Bürgerbeauftragte, dessen Sitz der des Parlaments sei, diesem jedes Jahr einen Bericht und in konkreten Fällen eines Mißstands bei der Tätigkeit eines Organs einen besonderen Bericht vorlegen müsse. Schließlich sei der Haushaltsplan des Bürgerbeauftragten in der Anlage des Einzelplans I (Parlament) des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Gemeinschaften enthalten (vgl. Artikel 12, 13 und 16 des Beschlusses 94/262).

33.
    Die Klägerin trägt vor, selbst unter einem funktionalen Gesichtspunkt sei die Tätigkeit des Bürgerbeauftragten mit der des Parlaments koordiniert und ergänze sie (Fall der Zusammenarbeit mit dem Petitionsausschuß des Parlaments). Darüber hinaus sei das Parlament gegenüber dem Bürgerbeauftragten bei der Überprüfung seines Jahresberichts weisungsbefugt.

34.
    Daraus ergebe sich, daß, da der Bürgerbeauftragte eine Einrichtung des Parlaments sei, die Klage in Wirklichkeit die Untätigkeit des Parlaments betreffe, so daß sie den Zulässigkeitsanforderungen des Artikels 175 des Vertrages entspreche.

35.
    Selbst wenn der Bürgerbeauftragte keine Einrichtung des Parlaments sei, so müsse doch im Rahmen einer evolutiven Auslegung der einschlägigen Bestimmungen eine Untätigkeitsklage gegen den Bürgerbeauftragten für zulässig erklärt werden, um seiner außergerichtlichen Funktion nicht jede Wirkung zu nehmen (Urteil des Gerichtshofes vom 23. April 1986 in der Rechtssache 294/83, Les Verts/Parlament, Slg. 1986, 1357).

36.
    Insoweit bezieht sich die Klägerin auf Artikel 138e des Vertrages sowie auf den Beschluß 94/262, aus denen sich ergebe, daß der Bürgerbeauftragte praktisch die Pflicht und nicht das Recht habe, tätig zu werden, um die Fälle eines Mißstands in der Verwaltung zu lösen. Außerdem folge aus dem Beschluß 94/90, daß die ablehnende Entscheidung der Kommission über einen Antrag auf Zugang zu ihren Dokumenten ordnungsgemäß zu begründen sei und dem Betroffenen die möglichen Rechtsbehelfe, also Klageerhebung und Beschwerde beim Bürgerbeauftragten nach den Artikeln 173 und 138e des Vertrages, angeben müsse. Wenn aber der Bürgerbeauftragte nicht verpflichtet wäre, nach Einreichung einer Beschwerde über die Ablehnung des Zugangs zu Dokumenten durch die Kommission, tätig zu werden, wäre seine Rolle sinnlos.

37.
    Zu der Frage, ob die Handlungen des Bürgerbeauftragten verbindliche Rechtswirkungen erzeugen, führt die Klägerin aus, daß diese Handlungen nicht mit bloßen „Stellungnahmen“ oder „Empfehlungen“ verglichen werden könnten. Die Intervention des Bürgerbeauftragten solle nämlich eine Form der „außergerichtlichen Rechtspflege“ gewährleisten, die sie deutlich von den traditionellen „nicht zwingenden“ Interventionen der Gemeinschaftsorganeunterscheide. So sei im Fall des Zugangs zu Dokumenten (vgl. oben, Randnr. 36) die beim Bürgerbeauftragten eingereichte Beschwerde eine Form des „administrativen Rechtsbehelfs“ zur Lösung der Konflikte zwischen dem Bürger und dem betroffenen Organ. Insoweit beruft sich die Klägerin auf das Schreiben des Bürgerbeauftragten vom 30. April 1999, in dem dieser ausführe, daß die kritischen Bemerkungen gegenüber der Kommission implizierten, daß diese ihren Zweitantrag noch einmal prüfen und ihr Zugang zu den gewünschten Dokumenten gewähren müsse, sofern nicht eine der im Beschluß 94/90 aufgezählten Ausnahmen anwendbar sei.

38.
    Auch wenn die Handlungen des Bürgerbeauftragten keine zwingende Wirkung hätten, so ergebe sich doch aus der Rechtsprechung, daß sich eine Untätigkeitsklage auch auf die Unterlassung des betroffenen Organs, entsprechende Handlungen vorzunehmen, beziehen könne, wenn diese eine notwendige Voraussetzung für die Vornahme anderer, zwingender Handlungen seien (Urteil des Gerichtshofes vom 13. Juli 1971 in der Rechtssache 8/71, Deutscher Komponistenverband/Kommission, Slg. 1971, 705). Soweit die Kommission, wie im vorliegenden Fall, im Anschluß an eine Entscheidung des Bürgerbeauftragten, in der ein Mißstand festgestellt werde, gehalten sei, einen Antrag auf Zugang zu ihren Dokumenten zu überprüfen, stelle die Unterlassung des Bürgerbeauftragten, eine solche „Entscheidung“ zu erlassen, eine Untätigkeit im Sinne von Artikel 175 des Vertrages dar, da diese Entscheidung eine notwendige Voraussetzung gemäß der vorgenannten Rechtsprechung sei.

39.
    Jedenfalls stelle der Ausschluß der Möglichkeit, eine Untätigkeitsklage gegen den Bürgerbeauftragten zu erheben, eine Rechtsverweigerung dar.

40.
    Schließlich bemerkt die Klägerin zum Vorbringen des Parlaments, es sei nicht zu einem Tätigwerden aufgefordert worden, daß dies einer Grundlage entbehre, da der Bürgerbeauftragte aus den bereits genannten Gründen als Einrichtung des Parlaments anzusehen sei.

Würdigung durch das Gericht

41.
    Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß, wenn im Rahmen einer Untätigkeitsklage die Handlung, deren Unterlassung Gegenstand des Rechtsstreits ist, nach Klageerhebung, jedoch vor Urteilsverkündung vorgenommen wird, die Klage gegenstandslos geworden ist, so daß sich die Hauptsache erledigt hat (Urteil des Gerichts vom 10. Juli 1997 in der Rechtssache T-212/95, Oficemen/Kommission, Slg. 1997, II-1161). Damit jedoch im vorliegenden Fall das Gericht die Erledigung erklären und über die Kosten entscheiden kann, müssen zuvor die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der auf Artikel 175 des Vertrages gestützten Klage vorliegen. Daher ist die vom Parlament erhobene Unzulässigkeitseinrede zu prüfen.

42.
    Nach Artikel 114 § 1 der Verfahrensordnung kann das Gericht auf Antrag einer Partei vorab über die Unzulässigkeit entscheiden. Nach § 3 dieses Artikels wird über den Antrag mündlich verhandelt, sofern das Gericht nichts anderes bestimmt. Im vorliegenden Fall hält das Gericht die sich aus den Akten ergebenden Angaben für ausreichend, um über den Antrag ohne Eröffnung der mündlichen Verhandlung entscheiden zu können.

43.
    Nach Artikel 175 Absatz 3 des Vertrages kann jede „natürliche oder juristische Person ... nach Maßgabe der Absätze 1 und 2 vor dem ... [Gericht] Beschwerde darüber führen, daß ein Organ der Gemeinschaft es unterlassen hat, einen anderen Akt als eine Empfehlung oder eine Stellungnahme an sie zu richten“.

44.
    Nach Artikel 4 des Vertrages werden die der Gemeinschaft zugewiesenen Aufgaben durch das Europäische Parlament, den Rat, die Kommission, den Gerichtshof und den Rechnungshof wahrgenommen. Jedes dieser Organe handelt nach Maßgabe der ihm im EG-Vertrag zugewiesenen Befugnisse. Darüber hinaus werden nach dem Vertrag eine Europäische Zentralbank (Artikel 4a EG-Vertrag [jetzt Artikel 8 EG]) sowie eine Europäische Investitionsbank (Artikel 4b EG-Vertrag [jetzt Artikel 9 EG]) errichtet, die ebenfalls nach Maßgabe der Befugnisse handeln, die ihnen im Vertrag und in den ihm beigefügten Satzungen zugewiesen werden.

45.
    Nach Artikel 11 Absatz 4 des Beschlusses 94/262 schließlich ist „[der Bürgerbeauftragte in] Angelegenheiten seines Personals ... den Organen im Sinne des Artikels 1 des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften gleichgestellt“.

46.
    Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, daß der Bürgerbeauftragte kein Gemeinschaftsorgan im Sinne von Artikel 175 des Vertrages ist, so daß die Klage, soweit sie sich auf seine Untätigkeit bezieht, für unzulässig zu erklären ist.

47.
    Was die Frage angeht, ob die Klage gleichwohl zulässig ist, soweit sie sich gegen das Parlament richtet, so ist darauf hinzuweisen, daß, selbst wenn für die Zwecke der vorliegenden Klage der Bürgerbeauftragte tatsächlich als Einrichtung des Parlaments angesehen würde, die Untätigkeitsklage einer natürlichen oder juristischen Person doch nur dann zulässig ist, wenn das betreffende Organ es unterlassen hat, an sie einen anderen Rechtsakt als eine Empfehlung oder Stellungnahme zu richten oder einen Rechtsakt zu erlassen, der sie unmittelbar und individuell betroffen hätte (Urteil des Gerichtshofes vom 26. November 1996 in der Rechtssache C-68/95, T. Port, Slg. 1996, I-6065, Randnr. 59).

48.
    Aus der Prüfung des Artikels 138e des Vertrages, des Beschlusses 94/262 sowie der Durchführungsbestimmungen zu diesem Beschluß ergibt sich, daß der Bürgerbeauftragte, wenn er einen Mißstand bei der Tätigkeit eines Organs feststellt, dem Parlament einen Bericht zu übermitteln hat, in dem er, falls er das für angebracht hält, Empfehlungen geben kann. Der Beschwerdeführer wirdlediglich „von dem Bürgerbeauftragten“ über das Ergebnis der Untersuchungen und die Stellungnahme des betroffenen Organs unterrichtet (vgl. Artikel 138e Absatz 1 Unterabsatz 2 des Vertrages und Artikel 3 Absatz 7 des Beschlusses 94/262).

49.
    Die Untätigkeitsklage wäre also nur zulässig, wenn der genannte Bericht gegenüber der Klägerin eine anfechtbare Handlung darstellen würde, die sie im Sinne von Artikel 173 Absatz 4 des Vertrages unmittelbar und individuell betrifft.

50.
    Soweit sich dieser dem Parlament übermittelte Bericht darauf beschränkt, einen Mißstand bei der Tätigkeit eines Organs festzustellen und gegebenenfalls Empfehlungen zu formulieren, erzeugt er naturgemäß keine Rechtswirkung gegenüber Dritten im Sinne von Artikel 173 des Vertrages und bindet auch nicht das Parlament, das im Rahmen der Ausübung seiner ihm durch den Vertrag zugewiesenen Befugnisse frei darüber entscheiden kann, wie es auf den Bericht reagiert. Das gleiche gilt erst recht für den jährlichen Bericht, den der Bürgerbeauftragte dem Parlament am Ende jeder jährlichen Sitzungsperiode vorlegen muß und der sich auf sämtliche Ergebnisse seiner Untersuchungen bezieht (vgl. Artikel 138e Absatz 1 Unterabsatz 2 des Vertrages und Artikel 3 Absatz 8 des Beschlusses 94/262).

51.
    Daher ist die von der Klägerin erhobene Klage als unzulässig abzuweisen, da die einzige Handlung, mit der ihren Forderungen hätte entsprochen werden können, darin bestanden hätte, daß gemäß Artikel 138e des Vertrages ein an das Parlament gerichteter Bericht über die Feststellung eines Mißstands bei der Tätigkeit der Kommission erstellt worden wäre und dieser Bericht weder seiner Form noch seiner Natur nach als eine im Wege der Nichtigkeitsklage anfechtbare Handlung hätte qualifiziert werden können (Beschlüsse des Gerichts vom 26. November 1996 in der Rechtssache T-167/95, Kuchlenz-Winter/Rat, Slg. 1996, II-1607, Randnrn. 20 und 21, und vom 3. Juli 1997 in der Rechtssache T-201/96, Smanor und Ségaud/Kommission, Slg. 1997, II-1081, Randnr. 25).

52.
    Diese Schlußfolgerung wird nicht durch das Argument der Klägerin entkräftet, wonach sich aus dem Verhaltenskodex für den Zugang zu Kommissions- und Ratsdokumenten ergebe, daß die Stellungnahme des Bürgerbeauftragten eine notwendige Voraussetzung dafür sei, daß die Kommission ihre Entscheidung über die Verweigerung des Zugangs zu ihren Dokumenten überprüfen könne. Wie bereits festgestellt, erzeugt der Bericht, den der Bürgerbeauftragte dem Parlament übermitteln muß, wenn er einen Mißstand bei der Tätigkeit eines Organs feststellt, auch wenn er eventuell die Haltung der Kommission bezüglich des Antrags der Klägerin auf Zugang zu den Dokumenten zu beeinflussen vermag, keine zwingenden Rechtswirkungen in dem Sinne, daß die Kommission verpflichtet wäre, die Schlußfolgerungen dieses Berichtes anzuerkennen und den gegebenenfalls darin enthaltenen Empfehlungen zu folgen. Eine derartige Verpflichtung wird derKommission im übrigen durch keine Bestimmung der anwendbaren Regelung auferlegt.

53.
    Schließlich kann die Tatsache, daß der Verhaltenskodex für den Zugang zu Kommissionsdokumenten im Anhang des Beschlusses 94/90 sowohl die Nichtigkeitsklage als auch die Beschwerde beim Bürgerbeauftragten als „mögliche Rechtsmittel“ qualifiziert, mangels einer ausdrücklichen Bestimmung im Vertrag nicht dazu führen, daß der Status des Bürgerbeauftragten, wie er in Artikel 138e des Vertrages beschrieben ist, abgeändert wird und die Wirkungen der Einlegung einer Beschwerde beim Bürgerbeauftragten mit denen der Erhebung einer Nichtigkeitsklage gleichgesetzt werden. Zwar sieht nämlich Artikel 176 EG-Vertrag (jetzt Artikel 233 EG) vor, daß das Organ, dem das für nichtig erklärte Handeln zur Last fällt oder dessen Untätigkeit für vertragswidrig erklärt worden ist, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofes ergebenden Maßnahmen zu ergreifen hat; doch bestimmt Artikel 138e des Vertrages lediglich, daß der Bürgerbeauftragte, wenn er einen Mißstand bei der Tätigkeit eines Organs feststellt, dem Parlament hierüber einen Bericht übermittelt.

54.
    Aus dem Vorstehenden folgt, daß das Vorbringen der Klägerin, wonach die Unmöglichkeit, eine Untätigkeitsklage gegen den Bürgerbeauftragten zu erheben, einer Rechtsverweigerung gleichkomme, sowohl hinsichtlich des Status des Bürgerbeauftragten als auch des Umfangs und der Art seiner Befugnisse, wie sie in Artikel 138e des Vertrages vorgesehen sind, auf fehlerhaften Prämissen beruht und daher zurückzuweisen ist.

55.
    Nach alldem ist die Klage für unzulässig zu erklären.

Kosten

56.
    Gemäß Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. In der vorliegenden Rechtssache hat das Parlament beantragt, über die Kosten gemäß den Bestimmungen der Verfahrensordnung zu entscheiden. Dieser Antrag kann nicht als Antrag auf Verurteilung der Klägerin zur Tragung der Kosten betrachtet werden (Urteil des Gerichtshofes vom 31. März 1992 in der Rechtssache C-255/90 P, Burban/Parlament, Slg. 1992, I-2253, Randnr. 26). Jede Partei hat daher ihre eigenen Kosten zu tragen.

Aus diesen Gründen

hat

DAS GERICHT (Erste Kammer)

beschlossen:

1.    Die Klage wird als unzulässig abgewiesen.

2.    Jede Partei trägt ihre eigenen Kosten.

Luxemburg, den 22. Mai 2000

Der Kanzler

Der Präsident

H. Jung

B. Vesterdorf


1: Verfahrenssprache: Italienisch.