Language of document : ECLI:EU:C:2024:532

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

20. Juni 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Elterliche Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 10 und 11 – Zuständigkeit im Fall des widerrechtlichen Verbringens eines Kindes – Gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes in einem Mitgliedstaat vor dem widerrechtlichen Verbringen – Rückgabeverfahren zwischen einem Drittstaat und einem Mitgliedstaat – Begriff ‚Antrag auf Rückgabe‘ – Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung“

In der Rechtssache C‑35/23 [Greislzel](1)

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main (Deutschland) mit Beschluss vom 16. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Januar 2023, in dem Verfahren


Vater

gegen

Mutter,

Beteiligte:

Kind L,

Rechtsanwältin,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin O. Spineanu-Matei, der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin),

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: N. Mundhenke, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Dezember 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        des Vaters, vertreten durch Rechtsanwältin A. Hamerak und Rechtsanwalt T. von Plehwe,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann, R. Kanitz und J. Simon als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, M. Kozak und S. Żyrek als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Vollrath und W. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Februar 2024

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 10 und 11 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen einem in der Schweiz wohnhaften deutschen Staatsangehörigen, dem Vater des minderjährigen Kindes L, und dessen Mutter über die elterliche Verantwortung für das Kind.

 Rechtlicher Rahmen

 Haager Übereinkommen von 1980

3        Gemäß der Präambel des am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980) ist dieses darauf gerichtet, „das Kind vor den Nachteilen eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens international zu schützen und Verfahren einzuführen, um seine sofortige Rückgabe in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen und den Schutz des Rechts zum persönlichen Umgang mit dem Kind zu gewährleisten“.

4        Art. 6 Abs. 1 des Übereinkommens lautet:

„Jeder Vertragsstaat bestimmt eine zentrale Behörde, welche die ihr durch dieses Übereinkommen übertragenen Aufgaben wahrnimmt.“

5        Art. 8 Abs. 1 des Übereinkommens bestimmt:

„Macht eine Person, Behörde oder sonstige Stelle geltend, ein Kind sei unter Verletzung des Sorgerechts verbracht oder zurückgehalten worden, so kann sie sich entweder an die für den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes zuständige zentrale Behörde oder an die zentrale Behörde eines anderen Vertragsstaats wenden, um mit deren Unterstützung die Rückgabe des Kindes sicherzustellen.“

6        In Art. 12 Abs. 1 des Übereinkommens heißt es:

„Ist ein Kind im Sinn des Artikels 3 widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden und ist bei Eingang des Antrags bei dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde des Vertragsstaats, in dem sich das Kind befindet, eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten verstrichen, so ordnet das zuständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde die sofortige Rückgabe des Kindes an.“

7        Art. 13 des Haager Übereinkommens von 1980 sieht vor:

„Ungeachtet des Artikels 12 ist das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist,

a)      dass die Person, Behörde oder sonstige Stelle, der die Sorge für die Person des Kindes zustand, das Sorgerecht zur Zeit des Verbringens oder Zurückhaltens tatsächlich nicht ausgeübt, dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt hat oder

b)      dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.

…“

8        Art. 34 des Haager Übereinkommens von 1980 bestimmt:

„… [D]ieses Übereinkommen [beschränkt] weder die Anwendung anderer internationaler Übereinkünfte, die zwischen dem Ursprungsstaat und dem ersuchten Staat in Kraft sind, … wenn dadurch die Rückgabe eines widerrechtlich verbrachten oder zurückgehaltenen Kindes erwirkt oder die Durchführung des Rechts zum persönlichen Umgang bezweckt werden soll.“

 Verordnung Nr. 2201/2003

9        In den Erwägungsgründen 12, 17 und 18 der Verordnung Nr. 2201/2003 heißt es:

„(12)      Die in dieser Verordnung für die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet. Die Zuständigkeit sollte vorzugsweise dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten sein außer in bestimmten Fällen, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat oder in denen die Träger der elterlichen Verantwortung etwas anderes vereinbart haben.

(17)      Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes sollte dessen Rückgabe unverzüglich erwirkt werden; zu diesem Zweck sollte das Haager Übereinkommen [von] 1980, das durch die Bestimmungen dieser Verordnung und insbesondere des Artikels 11 ergänzt wird, weiterhin Anwendung finden. Die Gerichte des Mitgliedstaats, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde oder in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird, sollten dessen Rückgabe in besonderen, ordnungsgemäß begründeten Fällen ablehnen können. Jedoch sollte eine solche Entscheidung durch eine spätere Entscheidung des Gerichts des Mitgliedstaats ersetzt werden können, in dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Sollte in dieser Entscheidung die Rückgabe des Kindes angeordnet werden, so sollte die Rückgabe erfolgen, ohne dass es in dem Mitgliedstaat, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde, eines besonderen Verfahrens zur Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidung bedarf.

(18)      Entscheidet das Gericht gemäß Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980, die Rückgabe abzulehnen, so sollte es das zuständige Gericht oder die Zentrale Behörde des Mitgliedstaats, in dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, hiervon unterrichten. Wurde dieses Gericht noch nicht angerufen, so sollte dieses oder die Zentrale Behörde die Parteien entsprechend unterrichten. Diese Verpflichtung sollte die Zentrale Behörde nicht daran hindern, auch die betroffenen Behörden nach nationalem Recht zu unterrichten.“

10      Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung Nr. 2201/2003 sieht vor:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

7.      ‚elterliche Verantwortung‘ die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Elterliche Verantwortung umfasst insbesondere das Sorge- und das Umgangsrecht;

9.      ‚Sorgerecht‘ die Rechte und Pflichten, die mit der Sorge für die Person eines Kindes verbunden sind, insbesondere das Recht auf die Bestimmung des Aufenthaltsortes des Kindes;

11.      ‚widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes‘ das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes, wenn

a)      dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte,

und

b)      das Sorgerecht zum Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, wenn das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte. Von einer gemeinsamen Ausübung des Sorgerechts ist auszugehen, wenn einer der Träger der elterlichen Verantwortung aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes nicht ohne die Zustimmung des anderen Trägers der elterlichen Verantwortung über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen kann.“

11      Die Verordnung Nr. 2201/2003 enthält in ihrem Kapitel II („Zuständigkeit“) unter dem Abschnitt 2 („Elterliche Verantwortung“) die Art. 8 bis 15 der Verordnung.

12      Art. 8 („Allgemeine Zuständigkeit“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„(1)      Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

(2)      Absatz 1 findet vorbehaltlich der Artikel 9, 10 und 12 Anwendung.“

13      Art. 10 („Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung“) der Verordnung Nr. 2201/2003 sieht vor:

„Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes bleiben die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so lange zuständig, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat und

a)      jede sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt hat

oder

b)      das Kind sich in diesem anderen Mitgliedstaat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen und sich das Kind in seiner neuen Umgebung eingelebt hat, sofern eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:

i)      Innerhalb eines Jahres, nachdem der Sorgeberechtigte den Aufenthaltsort des Kindes kannte oder hätte kennen müssen, wurde kein Antrag auf Rückgabe des Kindes bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gestellt, in den das Kind verbracht wurde oder in dem es zurückgehalten wird;

ii)      ein von dem Sorgeberechtigten gestellter Antrag auf Rückgabe wurde zurückgezogen, und innerhalb der in Ziffer i) genannten Frist wurde kein neuer Antrag gestellt;

iii)      ein Verfahren vor dem Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde gemäß Artikel 11 Absatz 7 abgeschlossen;

iv)      von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde eine Sorgerechtsentscheidung erlassen, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird.“

14      In Art. 11 („Rückgabe des Kindes“) der Verordnung Nr. 2201/2003 heißt es:

„(1)      Beantragt eine sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des Haager Übereinkommens [von 1980], um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so gelten die Absätze 2 bis 8.

(6)      Hat ein Gericht entschieden, die Rückgabe des Kindes gemäß Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 abzulehnen, so muss es nach dem nationalen Recht dem zuständigen Gericht oder der Zentralen Behörde des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, unverzüglich entweder direkt oder über seine Zentrale Behörde eine Abschrift der gerichtlichen Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, und die entsprechenden Unterlagen, insbesondere eine Niederschrift der Anhörung, übermitteln. Alle genannten Unterlagen müssen dem Gericht binnen einem Monat ab dem Datum der Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, vorgelegt werden.

(7)      Sofern die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht bereits von einer der Parteien befasst wurden, muss das Gericht oder die Zentrale Behörde, das/die die Mitteilung gemäß Absatz 6 erhält, die Parteien hiervon unterrichten und sie einladen, binnen drei Monaten ab Zustellung der Mitteilung Anträge gemäß dem nationalen Recht beim Gericht einzureichen, damit das Gericht die Frage des Sorgerechts prüfen kann.

Unbeschadet der in dieser Verordnung festgelegten Zuständigkeitsregeln schließt das Gericht den Fall ab, wenn innerhalb dieser Frist keine Anträge bei dem Gericht eingegangen sind.

(8)      Ungeachtet einer nach Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ergangenen Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes verweigert wird, ist eine spätere Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird und die von einem nach dieser Verordnung zuständigen Gericht erlassen wird, im Einklang mit Kapitel III Abschnitt 4 vollstreckbar, um die Rückgabe des Kindes sicherzustellen.“

15      Art. 60 („Verhältnis zu bestimmten multilateralen Übereinkommen“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„Im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten hat diese Verordnung vor den nachstehenden Übereinkommen insoweit Vorrang, als diese Bereiche betreffen, die in dieser Verordnung geregelt sind:

e)      Haager Übereinkommen [von 1980].“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

16      L wurde im November 2014 in der Schweiz geboren und besitzt die deutsche und die polnische Staatsangehörigkeit. Ihr Vater, ein deutscher Staatsangehöriger, wohnt seit Juni 2013 berufsbedingt in der Schweiz, während ihre Mutter, eine polnische Staatsangehörige, von Januar 2015 bis April 2016 mit ihrer Tochter in Frankfurt am Main (Deutschland) lebte, der Stadt, in der die Eltern von L geheiratet hatten.

17      Von Januar 2015 bis April 2016 besuchte der Vater regelmäßig die Mutter und L in Deutschland.

18      Im Mai 2015 bewilligte das Schweizer Amt für Migration das Gesuch des Vaters um Familiennachzug. Daraufhin erhielt die Mutter eine befristete Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz, die bis zum 31. Dezember 2019 gültig war.

19      Am 9. April 2016 verzog die Mutter mit L nach Polen. Dabei meldete die Mutter die gesamte Familie in Frankfurt am Main unter Angabe der Anschrift des Vaters in der Schweiz ab. Im Sommer 2016 bewarb sich die Mutter auf Arbeitsstellen in der Schweiz. Seit November 2016 arbeitet sie in Polen.

20      Zunächst fanden Besuche des Vaters bei seiner Ehefrau und seiner Tochter in Polen statt. Ab April 2017 verweigerte die Mutter dem Vater die Ausübung seines Umgangsrechts mit der Tochter. Sie meldete das Kind ohne die Zustimmung des Vaters in einem Kindergarten in Polen an. Im Mai 2017 teilte die Mutter dem Vater mit, dass sie mit der Tochter in Polen bleibe.

21      Am 7. Juli 2017 stellte der Vater über die Schweizer Zentrale Behörde, das Bundesamt für Justiz in Bern, nach dem Haager Übereinkommen von 1980 einen Antrag auf Rückgabe des Kindes in die Schweiz.

22      Mit Beschluss vom 8. Dezember 2017 wies der Sąd Rejonowy dla Krakowa-Nowej Huty w Krakowie (Rayongericht für Krakau-Nowa Huta in Krakau, Polen) den Antrag mit der Begründung zurück, der Vater habe eine zeitlich unbestimmte Zustimmung zum Umzug der Mutter und der Tochter nach Polen erteilt. Das Gericht ging zudem davon aus, dass bei einer Rückgabe eine schwerwiegende Gefährdung des Kindeswohls im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Buchst. b des Haager Übereinkommens von 1980 bestehe, da der Vater die einmalige Anwendung von Gewalt gegenüber der Mutter eingeräumt habe.

23      Die gegen diese Entscheidung gerichtete Berufung des Vaters wurde mit Beschluss des Sąd Okręgowy w Krakowie (Regionalgericht Krakau, Polen) vom 17. April 2018 zurückgewiesen.

24      Am 27. September 2017 leitete die Mutter in Polen ein Scheidungsverfahren ein. Im Oktober 2017 meldete sie L bei der Stadtverwaltung X in der Schweiz ab.

25      Mit Beschluss vom 5. Juni 2018 sprach der Sąd Okręgowy w Krakowie (Regionalgericht Krakau) der Mutter vorläufig die elterliche Sorge für L zu und regelte die Unterhaltsverpflichtung des Vaters. Das vorlegende Gericht führt aus, dass der Vater im Jahr 2022 in Polen Umgang mit dem Kind auf Grundlage einer dort getroffenen gerichtlichen Regelung wahrgenommen habe.

26      Einen am 29. Juni 2018 beim Bundesamt für Justiz in Bonn (Deutschland) eingereichten Antrag auf Rückgabe des Kindes auf Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 verfolgte der Vater nicht weiter.

27      Mit einem am 12. Juli 2018 beim Amtsgericht Frankfurt am Main (Deutschland) eingereichten Antrag begehrte der Vater die alleinige elterliche Sorge für das Kind, das Aufenthaltsbestimmungsrecht sowie die Rückgabe des Kindes zu ihm in die Schweiz ab Wirksamkeit des Beschlusses.

28      Er machte geltend, die Kindeseltern hätten 2015 vereinbart, mit L künftig in der Schweiz zu leben. Im April 2016 habe die Mutter beschlossen, für eine vorübergehende Zeit zu ihren Eltern nach Polen zu ziehen. Der Vater habe dem zugestimmt, sofern sich der Aufenthalt auf zwei oder drei Jahre beschränke. Es sei vereinbart worden, dass das Kind spätestens ab November 2017 einen Kindergarten in der Schweiz besuche.

29      Die Mutter trat dem Antrag entgegen. Sie machte geltend, der Vater habe die Zustimmung zum Umzug nach Polen erteilt und dort an der Erstellung des polnischen Reisepasses mitgewirkt. Hingegen habe es eine Vereinbarung über einen zeitlich begrenzten Umzug nach Polen ebenso wenig gegeben wie ein Einvernehmen über einen Umzug in die Schweiz.

30      Mit Beschluss vom 3. Juni 2019 wies das Amtsgericht Frankfurt am Main den Antrag des Vaters auf Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge mit der Begründung zurück, dass es für eine Entscheidung über den Antrag international nicht zuständig sei.

31      Der Vater legte gegen diesen Beschluss Beschwerde zum Oberlandesgericht Frankfurt am Main (Deutschland) ein, mit der er geltend machte, eine internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ergebe sich aus Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2201/2003 in Verbindung mit Art. 11 Abs. 7 sowie Art. 10 der Verordnung.

32      Hierzu weist das vorlegende Gericht erstens darauf hin, dass L zu dem Zeitpunkt, zu dem der Vater den Antrag im ersten Rechtszug gestellt habe, d. h. am 12. Juli 2018, ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Polen gehabt habe, so dass eine Zuständigkeit der deutschen Gerichte nicht auf Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 gestützt werden könne.

33      Zweitens geht das vorlegende Gericht hinsichtlich einer Zuständigkeit der deutschen Gerichte, die sich nach Auffassung des Vaters aus den Art. 10 und 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 ergebe, davon aus, dass diese Artikel zusammen auszulegen seien, und verweist darauf, dass sie nur für die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten gälten. Die sich aus Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 ergebenden Anforderungen für die Durchführung von Verfahren nach dem Haager Übereinkommen von 1980 gelangten in dem auf Antrag des Vaters vom 7. Juli 2017 über das Bundesamt für Justiz in Bern eingeleiteten Rückgabeverfahren, das auf die Rückgabe des Kindes in die Schweiz gerichtet gewesen sei, nicht zur Anwendung, da die Schweizerische Eidgenossenschaft nicht an die Verordnung Nr. 2201/2003 gebunden sei.

34      Folglich habe das polnische Gericht nach Ablehnung des Rückgabeantrags auch keine Veranlassung gehabt, nach Art. 11 Abs. 6 und 7 der Verordnung vorzugehen und die Gerichte bzw. die Zentrale Behörde in Deutschland über die Entscheidung, die Rückgabe des Kindes abzulehnen, zu unterrichten. Außerdem könne der zweite Rückgabeantrag, den der Vater beim Bundesamt der Justiz in Bonn kurz vor Stellung des dem vorliegenden Verfahren zugrunde liegenden Antrags auf alleinige elterliche Sorge eingereicht habe, die fortdauernde Zuständigkeit nach Art. 10 der Verordnung nicht begründen, da der Vater diesen Rückgabeantrag nicht weiterverfolgt habe.

35      Drittens seien, falls Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 in der vorliegenden Rechtssache Anwendung finden sollte, die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung, der ein Fortbestehen der Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats vorsehe, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe, dem Grunde nach nicht gegeben. Obgleich der Vater geltend gemacht habe, das Kind sei im Mai 2017 widerrechtlich nach Polen verbracht worden, sei sein Antrag auf das Sorgerecht nämlich erst am 12. Juli 2018 gestellt worden, so dass die in Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung vorgesehene Jahresfrist nicht eingehalten worden sei. Die Frist könnte nur dann gewahrt worden sein, wenn für ihren Beginn auf den Zeitpunkt abzustellen wäre, ab dem das Kind nach dem Vortrag seines Vaters einen Kindergarten in der Schweiz hätte besuchen sollen, d. h. auf November 2017.

36      Das vorlegende Gericht weist allerdings darauf hin, dass der insoweit vom Vater im Rahmen des vorliegenden Verfahrens dargestellte Sachverhalt von demjenigen abweiche, den er in dem nach dem Haager Übereinkommen von 1980 geführten Verfahren vorgebracht habe. Damit stelle sich die Frage, ob der Vater mit weiterem Vortrag zum genauen Zeitpunkt des widerrechtlichen Verbringens präkludiert sei und ob die in den nach dem Übereinkommen geführten Verfahren anwendbaren Beweislastregeln auf das vorliegende Verfahren übertragbar seien. Das vorlegende Gericht neigt der Auffassung zu, dass es durch die Entscheidung über den Rückgabeantrag nach dem Übereinkommen nicht gebunden sei und dass es die Widersprüche in der Sachverhaltsdarstellung des Vaters zu würdigen habe.

37      Viertens weist das vorlegende Gericht schließlich darauf hin, dass die Regelungen in Art. 11 Abs. 6 bis 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 im Fall der Ablehnung der Rückgabe des Kindes nach Art. 13 des Haager Übereinkommens von 1980 die Einleitung eines Sorgerechtsverfahrens vor den Gerichten des Mitgliedstaats forcierten, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe. Entgegen der Auffassung des Vaters setze die Anwendung von Art. 11 der Verordnung jedoch zwingend die Durchführung eines Verfahrens nach dem Haager Übereinkommen von 1980 zwischen zwei an die Verordnung Nr. 2201/2003 gebundenen Mitgliedstaaten voraus, was hier nicht der Fall sei.

38      Unter diesen Umständen hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Inwieweit ist der Regelungsmechanismus in Art. 10 und Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 beschränkt auf Verfahren im Verhältnis von EU-Mitgliedstaaten zueinander?

Konkret:

1.      Gelangt Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 zur Anwendung mit der Folge einer fortdauernden Zuständigkeit der Gerichte im bisherigen Aufenthaltsstaat, wenn das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor dem Verbringen in einem EU-Mitgliedstaat (Deutschland) hatte und das Rückführungsverfahren nach dem Haager Übereinkommen von 1980 zwischen einem EU-Mitgliedstaat (Polen) und einem Drittstaat (Schweiz) geführt und in diesem Verfahren die Rückführung des Kindes abgelehnt wurde?

Soweit Frage 1 bejaht wird:

2.      Welche Anforderungen sind im Rahmen von Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 an die Darlegung der fortdauernden Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes zu stellen?

3.      Gelangt Art. 11 Abs. 6 bis 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 auch bei Durchführung eines Rückführungsverfahrens nach dem Haager Übereinkommen von 1980 im Verhältnis zwischen einem Drittstaat und einem EU-Mitgliedstaat als Zufluchtsstaat zur Anwendung, soweit das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor dem Verbringen in einem anderen EU-Mitgliedstaat hatte?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

39      Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteil vom 30. Januar 2024, Direktor na Glavna direktsia „Natsionalna politsia“ pri MVR – Sofia, C‑118/22, EU:C:2024:97, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40      Im vorliegenden Fall beruht die erste Frage darauf, dass die Anwendung von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 nach Ansicht des vorlegenden Gerichts unter der Bedingung steht, dass ein nach dem Haager Übereinkommen von 1980 eingeleitetes Verfahren zur Rückgabe des Kindes zwischen zwei Mitgliedstaaten durchgeführt wird, und zwar in der Form, dass dieses Verfahren durch die Bestimmungen von Art. 11 der Verordnung ergänzt wird. Da der Vater aber vor dem Rechtsstreit in der vorliegenden Rechtssache über die Zentrale Behörde der Schweizerischen Eidgenossenschaft – eines Drittstaats, der unstreitig nicht durch die Verordnung Nr. 2201/2003 gebunden ist – ein Verfahren auf Rückgabe des Kindes eingeleitet hatte, ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass im Ausgangsverfahren die Bestimmungen von Art. 11 der Verordnung nicht anwendbar seien und folglich auch nicht die von Art. 10 der Verordnung.

41      Unter diesen Umständen hegt das vorlegende Gericht Zweifel, ob eine Zuständigkeit der deutschen Gerichte als der Gerichte desjenigen Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, fortbesteht.

42      Daraus ergibt sich, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass diese Bestimmung allein deshalb ihre Anwendbarkeit verliert, weil die Zentrale Behörde eines Drittstaats eingeschaltet wurde, um ein Verfahren zur Rückgabe eines Kindes nach dem Haager Übereinkommen von 1980 durchzuführen, und dieses Verfahren gescheitert ist.

43      Die polnische Regierung macht, ohne die Zulässigkeit dieser Frage anzuzweifeln, geltend, dass Art. 10 der Verordnung auf den Ausgangsrechtsstreit nicht anwendbar sei, da ein polnisches Gericht den Antrag des Vaters von L, gemäß dem Haager Übereinkommen von 1980 die Rückgabe seines Kindes anzuordnen, mit der Feststellung zurückgewiesen habe, dass es kein widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten des Kindes gegeben habe.

44      Insoweit genügt die Feststellung, dass die Entscheidung eines Mitgliedstaats, mit der ein Antrag auf Rückgabe nach dem Haager Übereinkommen von 1980 abgelehnt wird, es – wie durch Art. 11 Abs. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 bestätigt wird – nicht ausschließt, dass ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats auf der Grundlage von Art. 10 der Verordnung seine Zuständigkeit bejahen kann.

45      Ausgehend von dieser Klarstellung ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 die allgemeine Zuständigkeit für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, den Gerichten des Mitgliedstaats zugewiesen ist, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Denn wegen ihrer räumlichen Nähe sind diese Gerichte im Allgemeinen am besten in der Lage, die zum Wohl des Kindes zu erlassenden Maßnahmen zu beurteilen (Urteil vom 14. Juli 2022, CC [Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in einen Drittstaat], C‑572/21, EU:C:2022:562, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46      Diese allgemeine Zuständigkeit gilt allerdings gemäß Art. 8 Abs. 2 der Verordnung „vorbehaltlich der Artikel 9, 10 und 12“ der Verordnung.

47      Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 sieht vor, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so lange zuständig bleiben, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat.

48      Die Übertragung der Zuständigkeit auf die Gerichte dieses anderen Mitgliedstaats steht unter der in Art. 10 Buchst. a der Verordnung vorgesehenen Bedingung, dass eine sorgeberechtigte Person dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt hat, oder aber unter den in Art. 10 Buchst. b der Verordnung vorgesehenen Bedingungen. Nach diesem Buchst. b ist erforderlich, dass das Kind sich erstens in diesem Mitgliedstaat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen, dass sich das Kind zweitens in seiner neuen Umgebung eingelebt hat und dass drittens eine der in den Ziff. i bis iv dieser Bestimmung festgelegten vier übrigen Bedingungen erfüllt ist. Die dort in Ziff. i aufgestellte Bedingung sieht vor, dass innerhalb eines Jahres, nachdem der Sorgeberechtigte den Aufenthaltsort des Kindes kannte oder hätte kennen müssen, „kein Antrag auf Rückgabe des Kindes bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gestellt [wurde], in den das Kind verbracht wurde oder in dem es zurückgehalten wird“.

49      Gemäß Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 gelten dessen Abs. 2 bis 8, wenn eine sorgeberechtigte Person bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 beantragt, um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

50      Aus dem Wortlaut dieses Art. 11 ergibt sich eindeutig, dass diese Bestimmung nur dann Anwendung findet, wenn zwischen Mitgliedstaaten ein Verfahren auf Rückgabe eines widerrechtlich verbrachten oder zurückgehaltenen Kindes nach dem Haager Übereinkommen von 1980 eingeleitet wurde.

51      Jedoch vermag nichts im Wortlaut oder der Systematik von Art. 10 der Verordnung oder in den mit ihm verfolgten Zielen die Annahme zu stützen, dass die in eben diesem Art. 10 vorgesehene besondere Zuständigkeitsregelung – die darin besteht, dass die Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, grundsätzlich fortdauert – aus dem Grund unanwendbar wird, dass erfolglos ein Rückgabeverfahren nach dem Haager Übereinkommen von 1980 zwischen Zentralen Behörden oder Gerichten eines Drittstaats und eines Mitgliedstaats eingeleitet wurde.

52      Es ist nämlich erstens darauf zu verweisen, dass die in Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehene Zuständigkeitsregelung auf dem „widerrechtliche[n] Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes“ beruht, worunter gemäß Art. 2 Nr. 11 der Verordnung das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes unter Verletzung eines Sorgerechts, das sich aus einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aus einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats ergibt, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, zu verstehen ist, unter dem Vorbehalt, dass das Sorgerecht zum Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, wenn das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. August 2021, A, C‑262/21 PPU, EU:C:2021:640, Rn. 44).

53      Diese Definition des widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens eines Kindes beschränkt sich somit darauf, an eine Verletzung des Sorgerechts zulasten desjenigen anzuknüpfen, der nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor diesem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, Träger der elterlichen Verantwortung war. Sie hängt daher nicht von der – notwendigerweise späteren und potenziellen – Einleitung durch den Sorgeberechtigten eines auf das Haager Übereinkommen von 1980 gestützten Verfahrens auf Rückgabe des Kindes ab.

54      Eine solche Auslegung wird durch das von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 verfolgte Ziel bestätigt, das darin besteht, der Person, die das Kind widerrechtlich verbringt oder zurückhält, einen prozessualen Vorteil zu versagen, der sich daraus ergäbe, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, ihre Zuständigkeit automatisch und lediglich aus dem Grund verlören, dass das Kind nunmehr seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat bei dieser Person hätte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 2023, TT [Widerrechtliches Verbringen des Kindes], C‑87/22, EU:C:2023:571, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55      Zweitens wird in Art. 10 Buchst. b der Verordnung, obgleich er für die Beendigung der Zuständigkeit der Gerichte des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes darauf abstellt, dass kein Antrag auf Rückgabe bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gestellt wurde, in den das Kind verbracht wurde oder in dem es zurückgehalten wird, weder ausgeführt, dass ein solcher Antrag nach dem Haager Übereinkommen von 1980 gestellt werden muss, noch wird eine Stellung des Antrags über die Zentrale Behörde eines Drittstaats ausgeschlossen.

56      Dagegen würde die Prämisse, von der das vorlegende Gericht ausgeht, darauf hinauslaufen, den Träger der elterlichen Verantwortung, dessen Sorgerecht im Sinne von Art. 2 Nr. 11 der Verordnung verletzt wurde, dazu zu verpflichten, sich auf die Bestimmungen des Haager Übereinkommens von 1980 zu berufen, um die Rückgabe des betroffenen Kindes zu beantragen.

57      Zum einen ist aber darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmungen gemäß Art. 60 der Verordnung Nr. 2201/2003 gegenüber den Bestimmungen der Verordnung in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten in den durch diese Verordnung geregelten Bereichen keinen Vorrang haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 2023, TT [Widerrechtliches Verbringen des Kindes], C‑87/22, EU:C:2023:571, Rn. 58).

58      Zum anderen wurde die Ansicht, dass eine Verpflichtung bestehe, sich auf die Bestimmungen des Haager Übereinkommens von 1980 zu berufen, um bei einer internationalen Entführung die Rückgabe eines Kindes zu beantragen, vom Gerichtshof bereits im Urteil vom 19. September 2018, C. E. und N. E. (C‑325/18 PPU und C‑375/18 PPU, EU:C:2018:739, Rn. 49 und 51), zurückgewiesen. Wie sich aus Art. 34 des Übereinkommens ergibt, kann ein Rückgabeverfahren nämlich auf andere vertragliche, insbesondere bilaterale Regelungen oder Bestimmungen gestützt werden. Insoweit hat der Gerichtshof in Rn. 53 dieses Urteils ferner ausgeführt, dass der Träger der elterlichen Verantwortung nach den Vorschriften von Kapitel III der Verordnung Nr. 2201/2003 die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung bezüglich der elterlichen Sorge und der Rückgabe von Kindern, die von einem gemäß Kapitel II Abschnitt 2 dieser Verordnung zuständigen Gericht erlassen wurde, auch dann beantragen kann, wenn er keinen auf das Haager Übereinkommen von 1980 gestützten Antrag auf Rückgabe gestellt hat.

59      Der bloße Umstand, dass der Elternteil, dessen Sorgerecht verletzt wurde, über die Zentrale Behörde eines Drittstaats erfolglos ein auf die Rückgabe des widerrechtlich verbrachten oder zurückgehaltenen Kindes gerichtetes Verfahren nach dem Haager Übereinkommen von 1980 eingeleitet hat, das später an die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats abgegeben wurde, ist daher für die Anwendung der in Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehenen Zuständigkeitsregelung auf eine solche Situation ohne Belang.

60      Drittens ist das Urteil vom 24. März 2021, MCP (C‑603/20 PPU, EU:C:2021:231), mit dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass Art. 10 dieser Verordnung auf eine Situation, in der ein Kind zum Zeitpunkt der Stellung eines die elterliche Verantwortung betreffenden Antrags infolge einer Entführung in einen Drittstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Staat erlangt hat, nicht anwendbar ist, entgegen der Auffassung des vorlegenden Gerichts für die vorstehende Auslegung nicht einschlägig. Im Ausgangsverfahren steht nämlich fest, dass das mutmaßlich widerrechtliche Verbringen zwischen zwei Mitgliedstaaten stattgefunden hat, eine Situation, die sehr wohl in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fällt.

61      Schließlich kann viertens entgegen dem Vorbringen der deutschen Regierung mangels einer Regelung in der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht davon ausgegangen werden, dass die Anwendung der in Art. 10 der Verordnung vorgesehenen Zuständigkeitsregel im Bereich der elterlichen Verantwortung von der Anwendung von Verfahrensvorschriften wie den in Art. 11 Abs. 6 und 7 der Verordnung bezeichneten abhinge, deren wesentliches Ziel darin besteht, die Übermittlung von Informationen über eine nach Art. 13 des Haager Übereinkommens von 1980 erlassene Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes abgelehnt wird, zu regeln, die dem zuständigen Gericht des Mitgliedstaats mitzuteilen sind, in dem das Kind unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, sowie die Modalitäten für die Mitteilung dieser Informationen festzulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Januar 2015, RG, C‑498/14 PPU, EU:C:2015:3, Rn. 46).

62      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass diese Bestimmung nicht allein deshalb ihre Anwendbarkeit verliert, weil die Zentrale Behörde eines Drittstaats eingeschaltet wurde, um ein Verfahren zur Rückgabe eines Kindes nach dem Haager Übereinkommen von 1980 durchzuführen, und dieses Verfahren gescheitert ist.

 Zur zweiten Frage

63      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht allgemein wissen, welche Voraussetzungen für die Feststellung erfüllt sein müssen, dass die Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, fortbesteht.

64      Aus der Begründung und dem im Vorlagebeschluss dargestellten Sachverhalt ergibt sich, dass diese Frage konkret auf zwei Gesichtspunkte abzielt, die insbesondere den in Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung genannten Begriff „Antrag auf Rückgabe“ betreffen. Das vorlegende Gericht geht zum einen davon aus, dass der durch den Vater von L am 7. Juli 2017 gestellte Rückgabeantrag keinen „Antrag auf Rückgabe“ im Sinne von Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung darstellt, da er auf die Rückgabe des Kindes in einen Drittstaat, nämlich die Schweizerische Eidgenossenschaft, gerichtet gewesen sei. Zum anderen kann nach Ansicht des vorlegenden Gerichts der vom Vater am 12. Juli 2018 gestellte Sorgerechtsantrag einem „Antrag auf Rückgabe“ im Sinne dieses Art. 10 Buchst. b Ziff. i nicht gleichgestellt werden. Der Antrag wäre allerdings gemäß der in dieser Bestimmung festgesetzten Jahresfrist gestellt worden, soweit der Fristbeginn mit demjenigen zusammenfiele, der im Rahmen des am 7. Juli 2017 gestellten Rückgabeantrags in Anbetracht der Ansprüche des Vaters anwendbar gewesen sei. In diesem Zusammenhang wirft das vorlegende Gericht auch die Frage auf, ob für den Träger des Sorgerechts die Möglichkeit besteht, gegenüber dem im Rahmen des Verfahrens vorgebrachten Sachverhalt neue Tatsachen einzuführen, und welche Beweislastregeln insoweit gelten.

65      Unter Berücksichtigung dieser Ausführungen und in Anbetracht der in Rn. 39 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist die zweite Frage dahin umzuformulieren, dass das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass ein auf Rückgabe des Kindes in einen anderen Staat als den Mitgliedstaat, in dem das Kind unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, gerichteter Antrag oder ein vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats gestellter Antrag auf das Sorgerecht für das Kind unter den Begriff „Antrag auf Rückgabe“ im Sinne dieser Bestimmung fällt. Für den Fall, dass die Frage bejaht wird, möchte das vorlegende Gericht zum einen wissen, ob der Träger des Sorgerechts für den Nachweis, dass er einen Antrag auf Rückgabe innerhalb der in dieser Bestimmung festgesetzten Frist gestellt hat, die Möglichkeit hat, im Verhältnis zu den während des nach dem Haager Übereinkommen von 1980 geführten Verfahrens vorgebrachten Tatsachen neue Tatsachen einzuführen, und zum anderen, ob die Beweislastregeln die gleichen wie diejenigen sind, die im Rahmen dieses Verfahrens gelten.

66      Was erstens die Frage betrifft, ob, wie u. a. die Kommission vorträgt, ein Antrag auf Rückgabe in einen anderen Staat – darunter auch in einen Drittstaat – als denjenigen Mitgliedstaat, in dem das Kind unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, unter Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 fällt, ist festzustellen, dass in der Verordnung nicht näher ausgeführt wird, was unter einem „Antrag auf Rückgabe“ zu verstehen ist.

67      Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 2023, TT [Widerrechtliches Verbringen des Kindes], C‑87/22, EU:C:2023:571, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68      Insoweit gibt zunächst der Wortlaut von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 nichts her, was den Schluss zuließe, dass mit dem Ausdruck „Antrag auf Rückgabe“ ein anderer Antrag bezeichnet würde als derjenige, mit dem eine Person begehrt, dass ein Kind in den Mitgliedstaat zurückkehrt, in dem es unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

69      Sodann ist zum Zusammenhang von Art. 10 der Verordnung darauf hinzuweisen, dass dieser Artikel im Verhältnis zur allgemeinen Regelung in Art. 8 Abs. 1 der Verordnung eine besondere Zuständigkeit vorsieht. So werden in diesem Art. 10 die Umstände aufgeführt, unter denen die Zuständigkeit zugunsten der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, fortbesteht oder – im Gegenteil – auf den Mitgliedstaat übergeht, in dem das Kind infolge des widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens einen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat.

70      Es ist damit folgerichtig und entspricht der Systematik der mit der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehenen Zuständigkeitsregeln im Bereich der elterlichen Verantwortung, dass zum einen der in Art. 10 der Verordnung genannte „Antrag auf Rückgabe“ an die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats zu richten ist, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde und in dem es sich physisch aufhält, und dass zum anderen eben dieser Antrag darauf gerichtet ist, dass das Kind in den Mitgliedstaat zurückkehrt, in dem es unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und dessen Gerichte, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, wegen ihrer räumlichen Nähe im Allgemeinen am besten in der Lage sind, die zum Wohl des Kindes zu erlassenden Maßnahmen zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 2023, TT [Widerrechtliches Verbringen des Kindes], C‑87/22, EU:C:2023:571, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ein Antrag, der darauf gerichtet ist, dass das Kind in einen anderen Staat – noch dazu in einen Drittstaat – verbracht wird, in dessen Hoheitsgebiet es vor dem widerrechtlichen Verbringen keinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, widerspricht allerdings diesem Gedanken.

71      Diese Auslegung wird schließlich durch das Ziel der Verordnung Nr. 2201/2003 gestützt. Diese soll nämlich darauf hinwirken, dass von Kindesentführungen zwischen Staaten Abstand genommen wird und dass, wenn es zu einer Entführung kommt, die sofortige Rückgabe des Kindes in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts erwirkt wird (Urteil vom 19. September 2018, C. E. und N. E., C‑325/18 PPU und C‑375/18 PPU, EU:C:2018:739, Rn. 47).

72      Zur Auslegung von Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 hat der Gerichtshof außerdem bereits entschieden, dass eines der Ziele dieser Bestimmung in der Wiederherstellung des status quo ante besteht, d. h. der Situation vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten des Kindes (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Februar 2023, Rzecznik Praw Dziecka u. a. [Aussetzung der Rückgabeentscheidung], C‑638/22 PPU, EU:C:2023:103, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).

73      Die mit Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 begründete Zuständigkeit ist zwar, wie in den Rn. 51 bis 62 des vorliegenden Urteils ausgeführt wurde, nicht davon abhängig, dass nach dem Haager Übereinkommen von 1980 ein Rückgabeverfahren – in der durch die Bestimmungen von Art. 11 der Verordnung ergänzten Form – eingeleitet wurde. Dies ändert allerdings nichts daran, dass die Wiederherstellung des status quo ante notwendigerweise ein gemeinsames Ziel der Anträge auf Rückgabe gemäß den Art. 10 und 11 der Verordnung darstellt.

74      Folglich würden all diese Ziele gefährdet, wenn ein „Antrag auf Rückgabe“ als ein Antrag zu verstehen wäre, das Kind in einen Staat zu verbringen, in dessen Hoheitsgebiet es unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten keinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juni 2017, OL, C‑111/17 PPU, EU:C:2017:436, Rn. 38).

75      Diese Auslegung wird durch das Haager Übereinkommen von 1980 bestätigt. Es trifft zwar zu, dass Art. 8 Abs. 1 des Übereinkommens, wie die Kommission geltend macht, dem Träger des Sorgerechts die Möglichkeit eröffnet, einen Antrag auf Rückgabe über die Zentrale Behörde einer jeden Vertragspartei zu stellen. Ausweislich der Präambel zum Übereinkommen ist dieses jedoch darauf gerichtet, das Kind vor den Nachteilen eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens international zu schützen und Verfahren einzuführen, um seine sofortige Rückgabe in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Februar 2023, Rzecznik Praw Dziecka u. a. [Aussetzung der Rückgabeentscheidung], C‑638/22 PPU, EU:C:2023:103, Rn. 64).

76      Aus einer grammatikalischen, systematischen und teleologischen Auslegung von Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 ergibt sich somit, dass der Ausdruck „Antrag auf Rückgabe“ im Sinne dieser Bestimmung einen Antrag bezeichnet, mit dem eine Person erreichen möchte, dass ein Kind in den Mitgliedstaat zurückkehrt, in dem es unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

77      Umgekehrt stellt ein Antrag, der darauf gerichtet ist, dass das Kind zu einem Elternteil in einen Drittstaat zieht, in dem es unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen keinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, keinen „Antrag auf Rückgabe“ im Sinne von Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung dar.

78      Zweitens kann ein Antrag auf Sorgerecht bei den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht als Äquivalent zu einem Antrag auf Rückgabe im Sinne von Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 betrachtet werden.

79      Art. 10 Buchst. b der Verordnung lässt sich nämlich, wie der Generalanwalt im Wesentlichen in Nr. 61 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, entnehmen, dass der Antrag auf Rückgabe eines Kindes und der Antrag auf das Sorgerecht für ein Kind nicht gegeneinander austauschbar sind, da sie unterschiedliche Funktionen haben. Zum einen ist ein Antrag auf Rückgabe – im Gegensatz zu einem Antrag auf Sorgerecht, der eine eingehende materielle Prüfung des Rechtsstreits im Bereich der elterlichen Verantwortung erfordert – seinem Wesen nach ein Eilverfahren, da er, wie im 17. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 ausgeführt, die unverzügliche Rückgabe des Kindes sicherstellen soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Februar 2023, Rzecznik Praw Dziecka u. a. [Aussetzung der Rückgabeentscheidung], C‑638/22 PPU, EU:C:2023:103, Rn. 68 und 70). Zum anderen hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine Entscheidung darüber, ob das Kind zurückzugeben ist oder nicht, die Frage der Sorge für das Kind nicht regelt, wobei die Tatsache, dass keine Möglichkeit zur Inanspruchnahme eines Rückgabeverfahrens besteht, die Befugnis des Elternteils, dessen Sorgerecht verletzt wurde, unberührt lässt, seine Rechte in einem Verfahren zur materiellen Prüfung der elterlichen Verantwortung vor den nach der Verordnung Nr. 2201/2003 hierfür zuständigen Gerichten geltend zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juni 2017, OL, C‑111/17 PPU, EU:C:2017:436, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

80      Da weder ein Antrag auf Rückgabe eines Kindes in einen Staat, in dessen Hoheitsgebiet das Kind unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten keinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, noch ein Sorgerechtsantrag für dieses Kind als ein „Antrag auf Rückgabe“ im Sinne von Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 angesehen werden können, kann eine Prüfung der im letzten Satz von Rn. 65 des vorliegenden Urteils angeführten Fragen unterbleiben.

81      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass weder ein auf Rückgabe des Kindes in einen anderen Staat als den Mitgliedstaat, in dem das Kind unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, gerichteter Antrag noch ein vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats gestellter Antrag auf das Sorgerecht für das Kind unter den Begriff „Antrag auf Rückgabe“ im Sinne dieser Bestimmung fällt.

 Zur dritten Frage

82      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 11 Abs. 6 bis 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass diese Bestimmung bei der Durchführung eines Verfahrens zur Rückgabe eines Kindes nach dem Haager Übereinkommen von 1980 zwischen einem Drittstaat und einem Mitgliedstaat Anwendung findet, in dessen Hoheitsgebiet sich das Kind nach einem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten befindet, soweit das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor dem Verbringen in einem anderen Mitgliedstaat hatte.

83      Wie in Rn. 50 des vorliegenden Urteils ausgeführt wurde, ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 11 der Verordnung, dass dieser nur in Verbindung mit den Bestimmungen des Haagers Übereinkommens von 1980 in den Beziehungen zwischen Mitgliedstaaten Anwendung findet.

84      Folglich finden die in Art. 11 Abs. 6 und 7 der Verordnung vorgesehenen Informations- und Mitteilungspflichten sowie die Vollstreckbarkeit der Entscheidung nach Art. 11 Abs. 8 der Verordnung, wie die deutsche und die polnische Regierung und auch die Kommission geltend machen, im Rahmen eines Verfahrens auf Rückgabe des Kindes, das zwischen der Zentralen Behörde eines Drittstaats und den Behörden des Mitgliedstaats durchgeführt wurde, in dem sich das Kind nach einem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten befindet, keine Anwendung.

85      In Anbetracht dieser Erwägungen ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 11 Abs. 6 bis 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass er bei der Durchführung eines Verfahrens zur Rückgabe eines Kindes nach dem Haager Übereinkommen von 1980 zwischen einem Drittstaat und einem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich das Kind nach einem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten befindet, keine Anwendung findet.

 Kosten

86      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000

ist dahin auszulegen, dass

diese Bestimmung nicht allein deshalb ihre Anwendbarkeit verliert, weil die Zentrale Behörde eines Drittstaats eingeschaltet wurde, um ein Verfahren zur Rückgabe eines Kindes nach dem am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung durchzuführen, und dieses Verfahren gescheitert ist.

2.      Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003

ist dahin auszulegen, dass

weder ein auf Rückgabe des Kindes in einen anderen Staat als den Mitgliedstaat, in dem das Kind unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, gerichteter Antrag noch ein vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats gestellter Antrag auf das Sorgerecht für das Kind unter den Begriff „Antrag auf Rückgabe“ im Sinne dieser Bestimmung fällt.

3.      Art. 11 Abs. 6 bis 8 der Verordnung Nr. 2201/2003

ist dahin auszulegen, dass

er bei der Durchführung eines Verfahrens zur Rückgabe eines Kindes nach dem am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung zwischen einem Drittstaat und einem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich das Kind nach einem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten befindet, keine Anwendung findet.

Lycourgos

Spineanu-Matei

Bonichot

Rodin

 

Rossi

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 20. Juni 2024.

Der Kanzler

 

Der Kammerpräsident

A. Calot Escobar

 

C. Lycourgos


*      Verfahrenssprache: Deutsch.


1      Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.