SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
ANTHONY COLLINS
vom 8. Juni 2023(1)
Rechtssache C‑178/22
Unbekannt,
Beteiligte:
Procura della Repubblica presso il Tribunale di Bolzano
(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Bolzano [Landesgericht Bozen, Italien])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verarbeitung personenbezogener Daten im Bereich der elektronischen Kommunikation – Vertraulichkeit der Kommunikation – Betreiber elektronischer Kommunikationsdienste – Richtlinie 2002/58/EG – Art 1 Abs. 3 und Art. 15 Abs. 1 – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7, 8,11 und Art. 52 Abs. 1 – Antrag einer Staatsanwaltschaft auf Zugang zu Daten zur Ermittlung und Verfolgung schweren Diebstahls eines Mobiltelefons – Definition einer ‚schweren Straftat‘, die einen schwerwiegenden Eingriff in Grundrechte rechtfertigen kann – Umfang der vorherigen Kontrolle, mit der gewährleistet werden soll, dass die Voraussetzung der Begehung einer schweren Straftat eingehalten wird – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“
I. Einleitung
1. Die Procura della Repubblica presso il Tribunale di Bolzano (Staatsanwaltschaft beim Landesgericht Bozen, Italien) (im Folgenden: Staatsanwaltschaft [Bozen]) beantragt beim Tribunale di Bolzano (Landesgericht Bozen, Italien) die Genehmigung des Zugangs zu den von den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste nach nationalem Recht aufbewahrten Daten, die es u. a. ermöglichen, die Quelle und den Adressaten einer Mobiltelefonkommunikation zurückzuverfolgen und festzustellen.
2. Im Zusammenhang mit diesem Antrag ersucht das Tribunale di Bolzano (Landesgericht Bozen) den Gerichtshof um die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG(2). Diese Bestimmung erlaubt den Mitgliedstaaten, durch Rechtsvorschriften Ausnahmen von der in dieser Richtlinie vorgesehenen Pflicht(3) zur Gewährleistung der Vertraulichkeit der elektronischen Kommunikation einzuführen. Im Urteil Prokuratuur(4) hat der Gerichtshof entschieden, dass der durch Maßnahmen gemäß Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 erlangte Zugang zu Daten, aus denen genaue Schlüsse auf das Privatleben eines Nutzers gezogen werden können, einen schwerwiegenden Eingriff in die in den Art. 7, 8, 11 und in Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Grundrechte und Grundsätze darstellt(5). Ein solcher Zugang darf nicht zum Zweck der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von „Straftaten im Allgemeinen“ bewilligt werden. Er darf nur in Verfahren zur Bekämpfung „schwerer Kriminalität“(6) gewährt werden und muss einer vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsbehörde unterliegen, damit die Einhaltung dieser Voraussetzung gewährleistet ist(7). Das Tribunale di Bolzano (Landesgericht Bozen) bittet den Gerichtshof, zwei Aspekte des Urteils Prokuratuur zu klären: den Begriff der „schweren Kriminalität“ und den Umfang der vorherigen Kontrolle, die einem Gericht gemäß einer nationalen Regelung obliegt, wonach es den Zugang zu den von Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste gespeicherten Daten zu genehmigen hat.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
3. Art. 5 („Vertraulichkeit der Kommunikation“) der Richtlinie 2002/58 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen die Vertraulichkeit der mit öffentlichen Kommunikationsnetzen und öffentlich zugänglichen Kommunikationsdiensten übertragenen Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten durch innerstaatliche Vorschriften sicher. Insbesondere untersagen sie das Mithören, Abhören und Speichern sowie andere Arten des Abfangens oder Überwachens von Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten durch andere Personen als die Nutzer, wenn keine Einwilligung der betroffenen Nutzer vorliegt, es sei denn, dass diese Personen gemäß Artikel 15 Absatz 1 gesetzlich dazu ermächtigt sind. …
…“
4. In Art. 6 („Verkehrsdaten“) der Richtlinie 2002/58 heißt es:
„(1) Verkehrsdaten, die sich auf Teilnehmer und Nutzer beziehen und vom Betreiber eines öffentlichen Kommunikationsnetzes oder eines öffentlich zugänglichen Kommunikationsdienstes verarbeitet und gespeichert werden, sind unbeschadet der Absätze 2, 3 und 5 des vorliegenden Artikels und des Artikels 15 Absatz 1 zu löschen oder zu anonymisieren, sobald sie für die Übertragung einer Nachricht nicht mehr benötigt werden.
…
(5) Die Verarbeitung von Verkehrsdaten gemäß den Absätzen 1, 2, 3 und 4 darf nur durch Personen erfolgen, die auf Weisung der Betreiber öffentlicher Kommunikationsnetze und öffentlich zugänglicher Kommunikationsdienste handeln und die für Gebührenabrechnungen oder Verkehrsabwicklung, Kundenanfragen, Betrugsermittlung, die Vermarktung der elektronischen Kommunikationsdienste oder für die Bereitstellung eines Dienstes mit Zusatznutzen zuständig sind; ferner ist sie auf das für diese Tätigkeiten erforderliche Maß zu beschränken.
…“
5. Art. 9 („Andere Standortdaten als Verkehrsdaten“) der Richtlinie 2002/58 sieht vor:
„(1) Können andere Standortdaten als Verkehrsdaten in Bezug auf die Nutzer oder Teilnehmer von öffentlichen Kommunikationsnetzen oder öffentlich zugänglichen Kommunikationsdiensten verarbeitet werden, so dürfen diese Daten nur im zur Bereitstellung von Diensten mit Zusatznutzen erforderlichen Maß und innerhalb des dafür erforderlichen Zeitraums verarbeitet werden, wenn sie anonymisiert wurden oder wenn die Nutzer oder Teilnehmer ihre Einwilligung gegeben haben. Der Diensteanbieter muss den Nutzern oder Teilnehmern vor Einholung ihrer Einwilligung mitteilen, welche Arten anderer Standortdaten als Verkehrsdaten verarbeitet werden, für welche Zwecke und wie lange das geschieht, und ob die Daten zum Zwecke der Bereitstellung des Dienstes mit Zusatznutzen an einen Dritten weitergegeben werden. Die Nutzer oder Teilnehmer können ihre Einwilligung zur Verarbeitung anderer Standortdaten als Verkehrsdaten jederzeit zurückziehen.
…“
6. Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 lautet:
„Die Mitgliedstaaten können Rechtsvorschriften erlassen, die die Rechte und Pflichten gemäß Artikel 5, Artikel 6, Artikel 8 Absätze 1, 2, 3 und 4 sowie Artikel 9 dieser Richtlinie beschränken, sofern eine solche Beschränkung gemäß Artikel 13 Absatz 1 der Richtlinie 95/46/EG(8) für die nationale Sicherheit (d. h. die Sicherheit des Staates), die Landesverteidigung, die öffentliche Sicherheit sowie die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten oder des unzulässigen Gebrauchs von elektronischen Kommunikationssystemen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, angemessen und verhältnismäßig ist. Zu diesem Zweck können die Mitgliedstaaten unter anderem durch Rechtsvorschriften vorsehen, dass Daten aus den in diesem Absatz aufgeführten Gründen während einer begrenzten Zeit aufbewahrt werden. Alle in diesem Absatz genannten Maßnahmen müssen den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts einschließlich den in Artikel 6 Absätze 1 und 2 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegten Grundsätzen entsprechen.“
B. Nationales Recht
7. Art. 132 Abs. 3 des Decreto Legislativo 30 giugno 2003, n. 196 – Codice in materia di protezione dei dati personali (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 196 zur Einführung eines Gesetzbuchs zum Schutz personenbezogener Daten)(9) in der kürzlich durch Art. 1 des Decreto-legge 30 settembre 2021 n. 132 – Misure urgenti in materia di giustizia e di difesa, nonché proroghe in tema di referendum, assegno temporaneo e IRAP, convertito con modificazioni nella legge 23 novembre 2021 n. 178 (Gesetzesdekret Nr. 132 vom 30. September 2021(10), mit Änderungen in das Gesetz Nr. 178 vom 23. November 2021 umgewandelt)(11), geänderten Fassung (im Folgenden: Art. 132 Abs. 3 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 196/2003) sieht vor:
„(3) Bestehen innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Aufbewahrungsfrist[, d. h. 24 Monate ab dem Zeitpunkt der Kommunikation,] hinreichende Anhaltspunkte für Straftaten, für die das Gesetz eine lebenslange Freiheitsstrafe oder eine Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren vorsieht, die gemäß Art. 4 des Codice di procedura penale [(Strafprozessordnung)] bestimmt wird, oder für Straftaten der Bedrohung, Belästigung oder Störung von Personen per Telefon und handelt es sich um eine ernsthafte Bedrohung, Belästigung oder Störung, so werden die Daten, wenn sie für die Aufklärung des Sachverhalts von Bedeutung sind, auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder auf Ersuchen des Verteidigers des Angeklagten, des Beschuldigten, der verletzten Person oder anderer privater Beteiligter erhoben, nachdem der Richter durch mit Gründen versehenen Beschluss die Genehmigung hierzu erteilt hat.
…
(3-quarter) Die unter Verstoß gegen die Bestimmungen der Abs. 3 und 3-bis erlangten Daten dürfen nicht verwendet werden.“
8. Art. 4 („Vorschriften zur Bestimmung der Zuständigkeit“) der Strafprozessordnung lautet:
„Zur Bestimmung der Zuständigkeit ist die gesetzlich für jede vollendete oder versuchte Straftat festgelegte Strafe zu berücksichtigen. Nicht zu berücksichtigen ist, ob es sich um eine fortgesetzte Tat oder einen Wiederholungsfall handelt und unter welchen Umständen die Straftat begangen wird, es sei denn, es handelt sich um erschwerende Umstände, für die das Gesetz eine andere Strafe als die Regelstrafe vorsieht, und Umstände mit besonderen Wirkungen.“
9. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts kann die Staatsanwaltschaft die Straftat des schweren Diebstahls von Amts wegen verfolgen(12). Art. 625 des Codice penale (Strafgesetzbuch) sieht für schweren Diebstahl eine Strafe mit besonderer Wirkung vor, nämlich eine Freiheitsstrafe von zwei bis sechs Jahren und eine Geldstrafe von 927 Euro bis 1 500 Euro. Nach Art. 624 des Strafgesetzbuchs ist einfacher Diebstahl, der auf Antrag des Geschädigten verfolgt werden kann, mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis drei Jahren und einer Geldstrafe von 154 Euro bis 516 Euro bedroht.
III. Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
10. Die Staatsanwaltschaft (Bozen) ermittelte in zwei Strafsachen gegen Unbekannt wegen schweren Diebstahls eines Mobiltelefons gemäß den Art. 624 und 625 des Strafgesetzbuchs(13). Um die Täter feststellen zu können, beantragte sie beim vorlegenden Gericht nach Art. 132 Abs. 3 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 196/2003 „… die Genehmigung, bei allen Telefongesellschaften alle in deren Besitz befindliche Daten zu erheben zwecks Tracking und Ortung (insbesondere Nutzungen und eventuell IMEI‑Codes des angerufenen/des anrufenden Anschlusses, besuchte/aufgerufene Websites, Uhrzeit und Dauer des Anrufs/der Verbindung und Angabe der Funkzellen und/oder betreffenden Mobilfunkmasten, Nutzungen und IMEI des Senders/Empfängers von SMS oder MMS und, wenn möglich, allgemeine Angaben zu den entsprechenden Anschlussinhabern) der ein- und ausgegangenen Telefongespräche/Kommunikationen und durchgeführten Verbindungen, auch im Roaming, auch wenn es sich um Anrufe handelt, die nicht berechnet wurden (Klingelzeichen), vom Zeitpunkt des Diebstahls bis zum Zeitpunkt der Antragstellung“.
11. Das vorlegende Gericht bezweifelt, dass Art. 132 Abs. 3 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 196/2003 mit Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 in der Auslegung durch das Urteil Prokuratuur vereinbar ist. Es weist darauf hin, dass die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) am 7. September 2021(14) entschieden habe, dass das Urteil Prokuratuur von den nationalen Gerichten nicht unmittelbar angewandt werden könne, da diese bei der Feststellung, welche Straftaten „ernste Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit oder eine schwere Kriminalität“ darstellten, über einen Beurteilungsspielraum verfügten. Im Anschluss an das Urteil der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) habe der italienische Gesetzgeber das Gesetzesdekret Nr. 132 vom 30. September 2021 verabschiedet, in dessen Art. 132 Abs. 3 er als schwere Straftaten, für welche die Telefonverbindungsdaten erhoben werden dürften, u. a. solche einstufe, die „mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren …“ bedroht seien.
12. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts umfasst der in Art. 132 Abs. 3 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 196/2003 für die Einstufung schwerer Kriminalität vorgesehene Strafrahmen auch Straftaten mit begrenzter sozialschädlicher Wirkung, die nur auf Antrag des Betroffenen verfolgt werden könnten(15). Diese Vorschrift gestatte also die Erhebung von Telefonverbindungsdaten auch beim Diebstahl eines Gegenstands von geringem Wert, wie etwa eines Mobiltelefons oder eines Fahrrads. Der in Art. 132 Abs. 3 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 196/2003 festgelegte Strafrahmen verletze daher den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta, der immer eine Abwägung zwischen der Schwere der untersuchten Straftat und einer etwaigen Einschränkung der Ausübung eines Grundrechts verlange. Die Verfolgung derartiger Straftaten rechtfertige keine Einschränkung der Grundrechte auf Achtung des Privatlebens, auf Schutz personenbezogener Daten sowie auf Meinungs- und Informationsfreiheit(16).
13. Die italienischen Gerichte hätten nur ein sehr begrenztes Ermessen, um die Genehmigung für die Erhebung von Telefonverbindungsdaten abzulehnen, da sie bei Vorliegen „hinreichende[r] Anhaltspunkte für eine Straftat“ erteilt werden müsse, wenn sie „für die Aufklärung der Straftat von Bedeutung“ sei. Die Gerichte seien insbesondere nicht befugt, die Schwere der untersuchten Straftat zu bewerten. Diese Bewertung habe der Gesetzgeber vorgenommen, als er allgemein und ohne Differenzierung zwischen den verschiedenen Arten von Straftaten festgelegt habe, dass der Zugang zu Telefonverbindungsdaten u. a. für die Ermittlung aller Straftaten zu gestatten sei, die mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht seien.
14. Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Bolzano (Landesgericht Bozen) beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Steht Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 einer nationalen Regelung entgegen, die wie Art. 132 Abs. 3 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 196/2003 Folgendes vorsieht:
„Bestehen innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Aufbewahrungsfrist ausreichende Anhaltspunkte für Straftaten, für die das Gesetz eine lebenslange Freiheitsstrafe oder eine Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren vorsieht, die gemäß Art. 4 der Strafprozessordnung bestimmt wird, oder für Straftaten der Bedrohung, Belästigung oder Störung von Personen per Telefon und handelt es sich um eine ernsthafte Bedrohung, Belästigung oder Störung, so werden die Daten, falls sie für die Aufklärung des Sachverhalts von Bedeutung sind, auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder auf Ersuchen des Verteidigers des Angeklagten, des Beschuldigten, der verletzten Person oder anderer privater Beteiligter erhoben, nachdem der Richter durch mit Gründen versehenen Beschluss die Genehmigung hierzu erteilt hat“?
IV. Verfahren vor dem Gerichtshof
15. Die tschechische und die estnische Regierung, Irland, die französische, die italienische, die zyprische, die ungarische, die niederländische, die österreichische und die polnische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.
16. Diese Verfahrensbeteiligten und die Staatsanwaltschaft (Bozen) haben in der Sitzung vom 21. März 2023 mündliche Ausführungen gemacht und Fragen des Gerichtshofs beantwortet.
V. Rechtliche Würdigung
A. Zulässigkeit
17. Die italienische Regierung und Irland halten das Ersuchen um Vorabentscheidung für teilweise unzulässig. Ausweislich der Sachverhaltsdarstellung in der Vorlageentscheidung beziehe sich der Antrag auf Datenzugang auf Ermittlungen wegen schweren Diebstahls von Mobiltelefonen. Die Staatsanwaltschaft könne, wie Irland hervorhebt, diese Straftat von Amts wegen verfolgen. Diese Befugnis sei Ausdruck der Vorstellung, dass die Art und die Wirkungen der Straftat die Gesellschaft im Allgemeinen berührten. Das Vorabentscheidungsersuchen sei daher insofern hypothetisch, als es sich auch auf Straftaten beziehe, die nur auf Antrag des Betroffenen verfolgt werden könnten. Das vorlegende Gericht verweise, wie die italienische Regierung bemerkt, auf mehrere Straftaten, die mit den bei ihm anhängigen Strafsachen nichts zu tun hätten. Die italienische Regierung und die Kommission tragen vor, entgegen dem im Vorabentscheidungsersuchen enthaltenen Hinweis auf „eine Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren“ sehe Art. 625 des Strafgesetzbuchs für schweren Diebstahl eine Freiheitsstrafe von zwei bis sechs Jahren vor. Die Kommission schlägt daher dem Gerichtshof vor, die Frage umzuformulieren. Auch die französische Regierung spricht sich für eine Umformulierung aus. Während der Gerichtshof Bestimmungen des Unionsrechts auslegen dürfe, sei er nicht befugt, sich zur Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht zu äußern.
18. Mit seiner Frage bittet das vorlegende Gericht den Gerichtshof ausdrücklich, über die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht zu entscheiden. Dies hindert an sich nicht daran, dem vorlegenden Gericht eine Auslegung des Unionsrechts, hier von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58, zu unterbreiten, anhand deren es entscheiden kann, ob eine nationale Regelung, die Gegenstand des bei ihm anhängigen Verfahrens ist, mit dieser Bestimmung in Einklang steht(17).
19. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass die Staatsanwaltschaft (Bozen) den Zugang zu den Daten u. a. zur Ermittlung und Verfolgung von zwei Fällen des schweren Diebstahls eines Mobiltelefons nach Art. 625 des Strafgesetzbuchs beantragt hat. Deshalb sind die in diesem Ersuchen enthaltenen Hinweise auf andere Straftatbestände, wie etwa Art. 624 des Strafgesetzbuchs (einfacher Diebstahl)(18), für die Entscheidung über die beim vorlegenden Gericht anhängigen Anträge unerheblich(19). Soweit die Vorlagefrage den Antrag der Staatsanwaltschaft (Bozen) auf Datenzugriff zur Aufklärung etwaiger Straftaten des schweren Diebstahls betrifft, ist sie nicht hypothetisch. Ich werde mich daher bei der Prüfung der Anwendung von Art. 132 Abs. 3 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 196/2003 auf den vom vorlegenden Gericht geschilderten Sachverhalt – einen schweren Diebstahl von Mobiltelefonen – beschränken.
B. Beantwortung der Vorlagefrage
1. Vorbemerkungen
20. Das vorliegende Ersuchen geht auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft (Bozen) auf Zugang zu den von den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste aufbewahrten Daten zurück. Sie betrifft weder die Speicherung dieser Daten an sich noch deren Rechtmäßigkeit u. a. nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58(20). Bei den Daten handelt es sich u. a. um detaillierte Angaben zu den mit den gestohlenen Mobiltelefonen getätigten ein- und ausgehenden Nachrichten(21) sowie um Standortdaten(22). Obwohl die Daten nicht den Inhalt der Nachricht abdecken, lassen sie genaue Schlüsse auf das Privatleben der Personen zu, deren Daten betroffen sind; der Zugang zu diesen Daten stellt offensichtlich einen „schwerwiegenden“ Eingriff in deren Grundrechte dar(23). Der mit dem Zugang zu solchen Daten verbundene Eingriff kann durch das in Art. 15 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2002/58 genannte Ziel(24) der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung „schwerer Straftaten“, nicht aber von Straftaten im Allgemeinen, gerechtfertigt sein. Bei der Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 stellt der Gerichtshof einen Zusammenhang zwischen der Schwere des Eingriffs in die Grundrechte einer Person und der Schwere der untersuchten Straftat her(25).
2. Befugnis der Mitgliedstaaten, zu bestimmen, was unter einer „schweren Straftat“ zu verstehen ist
21. Die Richtlinie 2002/58 regelt die Tätigkeiten der Betreiber elektronischer Kommunikationsdienste bei der Verarbeitung personenbezogener Daten(26). Gemäß Art. 1 Abs. 3 sind staatliche Tätigkeiten in bestimmten Bereichen wie der öffentlichen Sicherheit, der Landesverteidigung und der Sicherheit des Staates sowie im strafrechtlichen Bereich ausdrücklich vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2002/58 ausgenommen. Die Tätigkeiten, auf die Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 Bezug nimmt, überschneiden sich im Wesentlichen mit denen, die in Art. 1 Abs. 3 dieser Richtlinie beschrieben sind, und umfassen staatliche Tätigkeiten im Bereich des Strafrechts, die ausdrücklich vom Geltungsbereich dieser Richtlinie ausgeschlossen sind(27). Es besteht somit ein eindeutiger Zusammenhang zwischen den staatlichen Tätigkeiten, die gemäß Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 2002/58 von deren Geltungsbereich ausgeschlossen sind, und den Rechtsvorschriften, die die Mitgliedstaaten nach Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie erlassen dürfen(28).
22. Ungeachtet dieses eindeutigen Zusammenhangs hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 beschriebenen nationalen Rechtsvorschriften in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen, da diese Bestimmung die Mitgliedstaaten ausdrücklich zum Erlass solcher Vorschriften ermächtigt. Aus dieser Rechtsprechung folgt, dass sich der Begriff „Tätigkeiten“, einschließlich der „Tätigkeiten des Staates im strafrechtlichen Bereich“ im Sinne von Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 2002/58, nicht auf die in Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Rechtsvorschriften erstreckt(29).
23. Weder in Art. 2 der Richtlinie 2002/58, der eine Reihe von Begriffsbestimmungen für die Zwecke der Anwendung dieser Richtlinie enthält, noch in einer anderen Bestimmung der Richtlinie 2002/58, auch nicht in Art. 15 Abs. 1, wird der Begriff „Straftaten“ definiert. Die Richtlinie 2002/58 enthält auch keine Aufzählung von „Straftaten“(30). Ebenso wenig findet sich in der Rechtsprechung zur Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 eine Definition dieses Begriffs(31).
24. Obwohl es an derartigen Begriffsbestimmungen fehlt, sieht die Richtlinie 2002/58 nicht vor, dass jeder Mitgliedstaat „Straftaten“ nach Maßgabe seines nationalen Rechts definiert(32). Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes, dass eine Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss. Im Rahmen der Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 kann der Begriff „Straftaten“ zumindest grundsätzlich als autonomer Begriff des Unionsrechts angesehen werden, der im Hoheitsgebiet sämtlicher Mitgliedstaaten einheitlich auszulegen ist(33).
25. Die zehn Mitgliedstaaten, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, und die Kommission sind jedoch übereinstimmend der Ansicht, es sei Sache jedes Mitgliedstaats, den Begriff „Straftaten“, einschließlich schwerer Straftaten, auf den Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 verweise, in seinem nationalen Recht zu definieren.
26. Diesem Vorbringen schließe ich mich aus den folgenden Gründen an.
27. Erstens hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es im Zusammenhang mit Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 Sache der Mitgliedstaaten ist, ihre wesentlichen Sicherheitsinteressen festzulegen und die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um ihre innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten(34). Der Gerichtshof scheint also, auch wenn er dies nicht ausdrücklich festgestellt hat, der Auffassung zu sein, dass der Begriff „nationale Sicherheit“ in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58, obwohl er nicht definiert ist und es auch an einem ausdrücklichen Verweis auf das Recht der Mitgliedstaaten fehlt, kein autonomer Begriff des Unionsrechts ist(35). Ich sehe keinen Grund, warum dies nicht auch für die Befugnis der Mitgliedstaaten gelten sollte, „Straftaten“ oder „schwere Straftaten“ im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 zu definieren. Die Begriffe „Straftaten“, „öffentliche Sicherheit“ und „nationale Sicherheit“ in dieser Bestimmung können als ein zusammengehöriges Ganzes (noscitur a sociis) angesehen werden, denn es war offenbar der Wille des Unionsgesetzgebers, dass sie alle in gleicher Weise behandelt werden sollten, auch in Bezug auf die Methode ihrer Definition(36).
28. Zweitens verpflichtet Art. 4 Abs. 2 EUV die Union zur Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten, die in deren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommt. Auch in der Präambel der Charta wird bekräftigt, dass die Union zwar zur Erhaltung und zur Entwicklung gemeinsamer Werte beiträgt, dabei aber u. a. die Vielfalt der Kulturen und Traditionen der Völker Europas achtet. Die Definition von Straftaten und Strafen(37) spiegelt nationale Befindlichkeiten und Traditionen wider, die sich nicht nur von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat, sondern auch im Laufe der Zeit und im Zuge des gesellschaftlichen Wandels erheblich voneinander unterscheiden(38).
29. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten bei der Festlegung von Straftatbeständen und Strafen eine Vielzahl verschiedener Faktoren in unterschiedlichem Maße berücksichtigen. Die Bewertung der „Schwere“ einer bestimmten Straftat durch einen Mitgliedstaat schlägt sich häufig, wenn nicht ausnahmslos, in der Schwere der Strafe nieder, mit der er die Begehung dieser Straftat bedroht. In der Dauer einer Freiheitsstrafe kann eine Analyse mehrerer Faktoren zum Ausdruck kommen, wie etwa die vermutete immanente „Schwere“ einer Straftat sowie ihre relative „Schwere“ im Vergleich zu anderen Straftaten. Es wurden keine Gründe dafür angeführt, warum die Mitgliedstaaten von dieser Befugnis keinen Gebrauch machen sollten oder warum überhaupt für die Definition von „Straftaten“, „schweren Straftaten“ oder „Straftaten im Allgemeinen“ im vorliegenden speziellen Kontext etwas anderes gelten sollte.
30. Die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich des Strafrechts lässt die Zuständigkeit der Union unberührt, in gewissen Fällen z. B. Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen im Hinblick auf besonders schwere Kriminalität zu erlassen, die aufgrund der Art oder der Auswirkungen dieser Straftaten oder aufgrund einer besonderen Notwendigkeit, sie auf einer gemeinsamen Grundlage zu bekämpfen, eine grenzüberschreitende Dimension haben(39). Der Unionsgesetzgeber hat jedoch keine Vorschriften zur Definition von Straftaten im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 erlassen(40). Wie bereits dargelegt(41), ergibt sich nämlich aus Art. 1 Abs. 3 dieser Richtlinie, dass der Unionsgesetzgeber mit deren Erlass keine Zuständigkeit im strafrechtlichen Bereich wahrnehmen wollte.
31. Diese beiden Gründe erklären hinreichend, warum die Mitgliedstaaten, obwohl die nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 erlassenen nationalen Rechtsvorschriften zur Ermittlung und Verfolgung von Straftaten in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen, weiterhin für die Definition von „Straftaten“, einschließlich „schwerer Straftaten“, und die Festlegung von Strafen für die Begehung solcher Taten zuständig sind(42).
3. Prüfungsmaßstab in Bezug auf die Ausübung der in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 vorgesehenen Möglichkeit, vom Grundsatz der Vertraulichkeit abzuweichen
32. Der Gerichtshof hat betont, dass die Möglichkeit, u. a. von dem in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 vorgesehenen Grundsatz der Vertraulichkeit abzuweichen(43), eng auszulegen ist, damit sie nicht zur allgemeinen Regel und der Grundsatz nicht dadurch ausgehöhlt wird(44). Bei der Wahrnehmung dieser Möglichkeit müssen daher unter anderem die Grundsätze der Äquivalenz(45) und der Effektivität beachtet werden(46). Dabei ist auch den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, einschließlich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit(47), sowie den Art. 7, 8 und 11(48) nebst Art. 52 Abs. 1 der Charta zu genügen(49). Das Ziel der Bekämpfung schwerer Straftaten muss stets mit der Wahrung der hiervon betroffenen Grundrechte in Einklang gebracht werden. Die in den Art. 7, 8 und 11 der Charta verankerten Rechte können keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen; ihre Ausübung muss im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden(50). Art. 52 Abs. 1 der Charta lässt daher Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte zu, sofern sie gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt der Rechte achten, unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erforderlich sind und den von der Europäischen Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Nationale Rechtsvorschriften, die aufgrund von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 erlassen werden, müssen also tatsächlich strikt einem der in dieser Bestimmung genannten Zweck dienen. Sie müssen sich auf objektive Kriterien stützen, rechtsverbindlich sein sowie klare und präzise Regeln aufstellen, aus denen hervorgeht, unter welchen materiell- und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen die Betreiber elektronischer Kommunikationsdienste den zuständigen nationalen Behörden Zugang zu den Daten zu gewähren haben(51).
33. Damit in der Praxis die vollständige Einhaltung dieser Voraussetzungen gewährleistet ist, muss der Zugang der zuständigen nationalen Behörden zu gespeicherten Daten grundsätzlich(52) einer vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle unterworfen werden(53), nachdem diese Behörden einen mit Gründen versehenen Antrag gestellt und die betroffenen Personen davon in Kenntnis gesetzt haben(54). Nach ständiger Rechtsprechung muss das Gericht oder die unabhängige Verwaltungsstelle bei der Durchführung dieser vorherigen Kontrolle die verschiedenen einander gegenüberstehenden Interessen und Rechte miteinander in Einklang bringen, um für einen gerechten Ausgleich zwischen den Erfordernissen der Ermittlungen und der gebotenen Wahrung der Grundrechte auf Achtung der Privatsphäre und auf Schutz der personenbezogenen Daten der Betroffenen zu sorgen(55).
34. Im vorliegenden Fall regelt Art. 132 Abs. 3 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 196/2003 die Voraussetzungen, unter denen ein nationales Gericht den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste aufgeben muss, der Staatsanwaltschaft auf deren Antrag Zugang zu Daten zu gewähren. Es steht fest(56), dass dieser Art. 132 Abs. 3 in klaren und präzisen Worten festlegt, unter welchen Umständen und Voraussetzungen ein nationales Gericht die Betreiber elektronischer Kommunikationsdienste anweisen kann, einen solchen Zugang zu gewähren. Das vorlegende Gericht ist jedoch der Ansicht, die Sanktion einer „Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren“ sei zu weit gefasst, da sie auch wenig sozialschädliche Straftaten wie einfachen Diebstahl erfasse.
35. Obwohl Art. 132 Abs. 3 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 196/2003 potenziell ein breites Spektrum von Straftaten abdeckt, liegen dem Gerichtshof im vorliegenden Verfahren keine Anhaltspunkte vor, dass wegen der großen Zahl der erfassten Straftaten der Zugang zu Daten hiernach eher die Regel als die Ausnahme wäre(57). Der in dieser Bestimmung vorgesehene Strafrahmen einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren erscheint nicht als zu niedrig(58). Zum Vergleich: Art. 3 Nr. 9 der Richtlinie 2016/681(59) definiert „schwere Kriminalität“ als „die in Anhang II aufgeführten strafbaren Handlungen, die nach dem nationalen Recht eines Mitgliedstaats mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht sind“(60). Der Gerichtshof hat allerdings entschieden, dass – da sich Art. 3 Abs. 9 der Richtlinie 2016/681 nicht auf die jeweilige Mindeststrafe, sondern auf die jeweilige Höchststrafe bezieht – nicht auszuschließen ist, dass die betreffenden „Daten Gegenstand einer Verarbeitung zur Bekämpfung strafbarer Handlungen sein können, die, obwohl sie das in dieser Bestimmung vorgesehene Kriterium in Bezug auf den Schweregrad erfüllen, angesichts der Besonderheiten des nationalen Strafrechtssystems nicht zur schweren Kriminalität gehören, sondern zur gewöhnlichen Kriminalität(61).
36. Die in Art. 132 Abs. 3 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 196/2003 vorgesehene Strafe von drei Jahren bezieht sich auf die jeweilige Höchststrafe und könnte somit auch für Straftaten wie einfachen Diebstahl gelten(62). Es ist daher zu untersuchen, wie diese Bestimmung in der Praxis angewandt wird. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheint Art. 132 Abs. 3 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 196/2003 je nach Art der untersuchten Straftaten zwei unterschiedliche Prüfungsmaßstäbe für die vorherige Kontrolle durch ein nationales Gericht vorzugeben.
37. Im Rahmen des ersten dieser Prüfungsmaßstäbe sind die nationalen Gerichte verpflichtet(63), der Staatsanwaltschaft den Zugriff auf die von den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste gespeicherten Daten zu gestatten, wenn diese Daten für die Zwecke der Aufklärung des Sachverhalts relevant sind und ausreichende Anhaltspunkte für die Begehung einer Straftat der Bedrohung und Belästigung oder Störung von Personen per Telefon vorliegen, sofern die Bedrohung oder die Störung schwerwiegend ist. Das nationale Gericht muss daher im Einzelfall die Schwere der fraglichen Straftat beurteilen und prüfen, ob deren Untersuchung und Verfolgung eine Einschränkung der in den Art. 7, 8 und 11 der Charta verankerten allgemeinen Rechte sowie der in den Art. 5, 6 und 9 der Richtlinie 2002/58 vorgesehenen besonderen Rechte rechtfertigt. Anhand dieses Maßstabs kann im Einzelfall konkret beurteilt werden, ob der Eingriff in diese Rechte gemessen an dem im öffentlichen Interesse liegenden Ziel der Verbrechensbekämpfung verhältnismäßig ist.
38. Demgegenüber sind die nationalen Gerichte im Rahmen des – für unser Verfahren einschlägigen – zweiten dieser Prüfungsmaßstäbe verpflichtet(64), der Staatsanwaltschaft den Zugriff auf die von den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste gespeicherten Daten zu gestatten, wenn diese Daten für die Zwecke der Aufklärung des Sachverhalts relevant sind und ausreichende Anhaltspunkte für die Begehung einer Straftat vorliegen, die u. a. mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht ist. In diesem Fall beschränkt sich die Aufgabe des nationalen Gerichts auf die Prüfung, ob diese objektiven Voraussetzungen erfüllt sind, ohne dass es irgendeine Möglichkeit hätte, im Einzelfall die jeweiligen Interessen konkret einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen(65). Die Kontrolle, die das nationale Gericht gemäß Art. 132 Abs. 3 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 196/2003 ausübt, hat somit keinen realen Bezug zu den spezifischen Umständen des Einzelfalls, mit dem es befasst ist.
39. Wenngleich die nationalen Gerichte nicht befugt sein mögen, die gesetzliche Begriffsbestimmung von Straftaten oder deren Einstufung hinsichtlich des Schweregrades zu kontrollieren(66), müssen sie doch im Einzelfall prüfen dürfen, ob es verhältnismäßig ist, wenn aufgrund von Rechtsvorschriften gemäß Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 Zugang zu sensiblen Daten gewährt wird, die genaue Schlüsse auf das Privatleben eines Nutzers zulassen, was einen gravierenden Eingriff in die in den Art. 7, 8 und 11 sowie in Art. 52 Abs. 1 der Charta verankerten Grundrechte darstellt.
40. Folglich dürfen die gemäß Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 erlassenen Vorschriften nur dann Zugang zu sensiblen Daten gestatten, wenn i) die betreffende Straftat den vom nationalen Gesetzgeber im Voraus festgelegten Schweregrad erreicht und ii) ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsbehörde im Anschluss an eine Einzelfallprüfung oder ‑kontrolle feststellt, dass der mit der Gewährung des Zugangs verbundene Eingriff in die Grundrechte jeweils in einem angemessenen Verhältnis zu dem im öffentlichen Interesse liegenden Ziel der Verbrechensbekämpfung steht. In manchen Fällen darf der Zugang zu solchen Daten aber auch dann nicht gewährt werden, wenn die Straftat den im nationalen Recht vorgesehenen Grad an Schwere erreicht.
41. Die Straftat des schweren Diebstahls, um die es sich im vorliegenden Fall handelt, gilt nach nationalem Recht als „schwer“, weil sie u. a. mit einer Freiheitsstrafe von zwei bis sechs Jahren bedroht ist und somit dem Schweregrad gemäß Art. 132 Abs. 3 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 196/2003 entspricht(67). Bei der Anwendung von Vorschriften, die nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 erlassen wurden, sind die italienischen Gerichte offenbar nicht befugt, die Einstufung des schweren Diebstahls als „schwere Straftat“ im Sinne des nationalen Rechts in Frage zu stellen. Wird der im nationalen Recht festgelegte Strafrahmen nicht erreicht, darf das vorlegende Gericht daher keinen Zugang zu den gewünschten Daten gewähren(68).
42. Wird der vom nationalen Gesetzgeber festgelegte Strafrahmen erreicht, muss das vorlegende Gericht nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Falles prüfen, ob der mit der Erleichterung des Zugangs zu sensiblen Daten verbundene Eingriff in die Grundrechte in einem angemessenen Verhältnis zu dem im öffentlichen Interesse liegenden Ziel der Bekämpfung dieser Straftat steht. Das vorlegende Gericht muss insoweit alle relevanten Rechte und Interessen berücksichtigen und abwägen, wozu u. a. die Beeinträchtigung der durch Art. 17 der Charta geschützten Eigentumsrechte der Opfer sowie der Umstand gehören, dass Mobiltelefone hochsensible Informationen über das private und berufliche Leben sowie die finanziellen Verhältnisse ihrer Besitzer enthalten können(69). Der Zugang zu den betreffenden Daten kann das einzige wirksame Mittel sein, um die fraglichen Straftaten zu ermitteln und zu verfolgen und um sicherzustellen, dass die noch unbekannten Täter nicht straffrei ausgehen. Auch die Rechte Dritter(70) sind zu berücksichtigen.
43. Was die Rechte Dritter anbelangt, so ergibt sich(71) aus den Akten des vorlegenden Gerichts, dass die Staatsanwaltschaft (Bozen) Zugang zu den Kommunikationsdaten der gestohlenen Mobiltelefone ab dem 29. Oktober 2021 für den ersten, am 27. Oktober 2021 begangenen Diebstahl(72) und ab dem 20. November 2021 für den zweiten, an diesem Tag begangenen Diebstahl(73) beantragt hat. Diese Zeitangaben zeigen, dass die Anträge auf Datenzugang nur in sehr geringem Maß die namentlich durch die Art. 7, 8 und 11 der Charta garantierten Rechte der Opfer beeinträchtigen(74). Die italienische Regierung hat in ihren schriftlichen Erklärungen zudem darauf hingewiesen, dass das nationale Verfahren ausschließlich zur Identifizierung des/der Täter(s) der fraglichen Diebstähle geeignete Daten betreffe. Für den Fall, dass Anrufe an Dritte oder von Dritten, die nichts mit dem Diebstahl zu tun hätten, identifiziert würden, erfolge die Vernichtung dieser Daten gemäß Art. 269 der Strafprozessordnung(75). Schließlich sieht Art. 132 Abs. 3-quater des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 196/2003 vor, dass unter Verstoß gegen Abs. 3 oder Abs. 3-bis erlangte Daten nicht verwendet werden dürfen(76).
VI. Ergebnis
44. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Frage des Tribunale di Bolzano (Landesgericht Bozen, Italien) wie folgt zu beantworten:
Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) in der durch die Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 geänderten Fassung und die Art. 7, 8, und 11 sowie Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, wonach ein Gericht verpflichtet ist, der Staatsanwaltschaft Zugang zu den von den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste rechtmäßig gespeicherten Daten zu gestatten, aus denen genaue Schlüsse auf das Privatleben eines Nutzers gezogen werden können, sofern diese Daten für die Zwecke der Aufklärung des Sachverhalts relevant sind und hinreichende Anhaltspunkte für die Begehung einer schweren Straftat im Sinne des nationalen Rechts vorliegen, die mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht ist. Vor der Gewährung des Zugangs muss das nationale Gericht im Einzelfall konkret prüfen, ob der mit der Gewährung dieses Zugangs verbundene Eingriff in die Grundrechte in Anbetracht u. a. der Schwere der spezifischen Straftat und des jeweiligen Sachverhalts verhältnismäßig ist.