Language of document : ECLI:EU:C:2022:965

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

8. Dezember 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren – Art. 8 Abs. 1 – Recht einer beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung – Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf ein faires Verfahren und Verteidigungsrechte – Vernehmung von Belastungszeugen in Abwesenheit der beschuldigten Person und ihres Rechtsanwalts in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens – Unmöglichkeit, Fragen an die Belastungszeugen in der gerichtlichen Phase dieses Verfahrens zu stellen – Nationale Regelung, die es einem Strafgericht erlaubt, seine Entscheidung auf die frühere Aussage dieser Zeugen zu stützen“

In der Rechtssache C‑348/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 3. Juni 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Juni 2021, in dem Strafverfahren gegen

HYA,

IP,

DD,

ZI,

SS,

Beteiligte:

Spetsializirana prokuratura,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter), N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec,

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von IP, vertreten durch H. Georgiev, Advokat,

–        von DD, vertreten durch V. Vasilev, Advokat,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wasmeier und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. Juli 2022

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) sowie von Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen HYA, IP, DD, ZI und SS (im Folgenden zusammen: die fraglichen Angeklagten) wegen Straftaten im Bereich der illegalen Einwanderung.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

3        Art. 6 („Recht auf ein faires Verfahren“) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) sieht vor:

„(1)      Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. …

(3)      Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:

d)      Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;

…“

 Unionsrecht

4        In den Erwägungsgründen 22, 33, 34, 36, 41 und 47 der Richtlinie 2016/343 heißt es:

„(22)      Die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen liegt bei der Strafverfolgungsbehörde; Zweifel sollten dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person zugutekommen. Unbeschadet einer möglichen Befugnis des Gerichts zur Tatsachenfeststellung von Amts wegen, der Unabhängigkeit der Justiz bei der Prüfung der Schuld des Verdächtigen oder der beschuldigten Person und der Anwendung von Tatsachen- oder Rechtsvermutungen bezüglich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person, läge ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung vor, wenn die Beweislast von der Strafverfolgungsbehörde auf die Verteidigung verlagert würde. …

(33)      Das Recht auf ein faires Verfahren ist eines der Grundprinzipien einer demokratischen Gesellschaft. Das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen, in der Verhandlung anwesend zu sein, beruht auf diesem Recht und sollte in der gesamten Union sichergestellt werden.

(34)      Können Verdächtige oder beschuldigte Personen aus Gründen, die sie nicht zu vertreten haben, in der Verhandlung nicht anwesend sein, so sollten sie innerhalb der im nationalen Recht vorgesehenen Frist einen neuen Verhandlungstermin beantragen können.

(36)      Unter bestimmten Umständen sollte es möglich sein, dass eine Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person selbst dann ergeht, wenn die betreffende Person bei der Verhandlung nicht anwesend ist. …

(41)      Das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung kann nur dann wahrgenommen werden, wenn eine oder mehrere Verhandlungen durchgeführt werden. Dies bedeutet, dass das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung nicht wahrgenommen werden kann, wenn die maßgeblichen nationalen Verfahrensvorschriften keine Verhandlung vorsehen. …

(47)      Diese Richtlinie wahrt die in der Charta und der EMRK anerkannten Grundrechte und Grundsätze, darunter das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, das Recht auf Freiheit und Sicherheit sowie auf Achtung des Privat- und Familienlebens, das Recht auf Unversehrtheit, die Rechte des Kindes, das Recht auf Integration von Menschen mit Behinderung, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren, die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte. Berücksichtigt werden sollte insbesondere Artikel 6 [EUV], dem zufolge die Union die Rechte, Freiheiten und Grundsätze anerkennt, die in der Charta niedergelegt sind, und dem zufolge die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind.“

5        Art. 2 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie bestimmt:

„Diese Richtlinie gilt für natürliche Personen, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind. Sie gilt für alle Abschnitte des Strafverfahrens ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat oder eine mutmaßliche Straftat begangen zu haben, bis die Entscheidung über die endgültige Feststellung, ob diese Person die betreffende Straftat begangen hat, Rechtskraft erlangt hat.“

6        Art. 6 („Beweislast“) Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Strafverfolgungsbehörde liegt. Dies gilt unbeschadet einer Verpflichtung des Richters oder des zuständigen Gerichts, sowohl belastende als auch entlastende Beweise zu ermitteln, und unbeschadet des Rechts der Verteidigung, gemäß dem geltenden nationalen Recht Beweismittel vorzulegen.“

7        Art. 8 („Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung“) dieser Richtlinie sieht in seinen Abs. 1 und 2 vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.

(2)      Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass eine Verhandlung, die zu einer Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person führen kann, in seiner bzw. ihrer Abwesenheit durchgeführt werden kann, sofern

a)      der Verdächtige oder die beschuldigte Person rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurde oder

b)      der Verdächtige oder die beschuldigte Person, nachdem er bzw. sie über die Verhandlung unterrichtet wurde, von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wird, der entweder von dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person oder vom Staat bestellt wurde.“

 Bulgarisches Recht

 Gesetz über das Ministerium für innere Angelegenheiten

8        Aus Art. 72 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 73 des Zakon za Ministerstvoto na vatreshnite raboti (Gesetz über das Ministerium für innere Angelegenheiten) vom 28. Mai 2014 (DV Nr. 53 vom 27. Juni 2014, S. 2) in seiner auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung leitet sich ab, dass eine Person, die verdächtigt wird, eine Straftat begangen zu haben, für einen Zeitraum von 24 Stunden festgehalten werden darf, bevor sie förmlich beschuldigt wird.

 NPK

9        Gemäß Art. 12 des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, im Folgenden: NPK) ist das Gerichtsverfahren ein kontradiktorisches Verfahren, und die Verteidigung hat dieselben Rechte wie die Strafverfolgungsbehörde.

10      Gemäß Art. 46 Abs. 2 Nr. 1 und Art. 52 NPK wird das Ermittlungsverfahren von den Ermittlungsbehörden unter Aufsicht der Staatsanwaltschaft durchgeführt.

11      Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, wird nach Art. 107 Abs. 1, Art. 139 und Art. 224 NPK ein Zeuge in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens zur Beweiserhebung gewöhnlich vernommen, ohne dass die beschuldigte Person und ihr Rechtsbeistand anwesend sind. Nach Art. 280 Abs. 2 NPK in Verbindung mit Art. 253 NPK wird der Zeuge in der Folge in der gerichtlichen Phase des Verfahrens, in der mündlichen Verhandlung, in Anwesenheit der beschuldigten Person und ihres Rechtsbeistands, die dem Zeugen somit ihre eigenen Fragen stellen können, erneut vernommen.

12      Art. 223 NPK („Vernehmung von Zeugen vor einem Richter“) Abs. 1 und 2 lautet:

„(1)      Besteht die Gefahr, dass der Zeuge wegen einer schweren Krankheit, einer längeren Abwesenheit im Ausland oder aus anderen Gründen, die sein Erscheinen in der Verhandlung unmöglich machen, nicht vor Gericht erscheinen kann, und ist es außerdem erforderlich, einer Zeugenaussage, die für die objektive Wahrheitsfindung von besonderer Bedeutung ist, mehr Gewicht zu verleihen, so wird die Vernehmung vor einem Richter des zuständigen Gerichts erster Instanz oder des Gerichts erster Instanz, in dessen Bezirk die Handlung erfolgt, durchgeführt. Unter diesen Umständen wird die Akte nicht dem Richter vorgelegt.

(2)      Die für das Ermittlungsverfahren zuständige Behörde sorgt dafür, dass der Zeuge anwesend ist und dass der Beschuldigte und sein Verteidiger, sofern vorhanden, an der Vernehmung teilnehmen können.“

13      Art. 281 NPK („Verlesung von Zeugenaussagen“) Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 3 bestimmt:

„(1)      Zeugenaussagen, die in derselben Sache entweder vor einem Richter in der vorgerichtlichen Phase oder vor einem anderen Spruchkörper des Gerichts gemacht wurden, werden [in der mündlichen Verhandlung] verlesen, wenn:

4.      der Zeuge nicht auffindbar ist, um vorgeladen zu werden, oder verstorben ist;

(3)      Unter den Voraussetzungen des Abs. 1 Nrn. 1 bis 6 werden Zeugenaussagen, die vor einer für das Ermittlungsverfahren zuständigen Behörde gemacht wurden, [in der mündlichen Verhandlung] verlesen, wenn der Angeklagte und sein Verteidiger (sofern ein solcher bevollmächtigt oder bestellt war) an der Vernehmung teilgenommen haben. Bei mehreren Angeklagten bedarf die Verlesung der Zeugenaussagen der Einwilligung derjenigen Angeklagten, die zu der Vernehmung nicht geladen waren oder die triftige Gründe für ihr Nichterscheinen angeführt haben und um deren Belastung es in den zu verlesenden Zeugenaussagen geht.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14      Die fraglichen Angeklagten, darunter Grenzpolizeikräfte des Flughafens Sofia (Bulgarien), werden wegen illegaler Einwanderungsdelikte strafrechtlich verfolgt.

15      IP, DD, SS und HYA wurden am Abend des 25. Mai 2017 festgenommen und am folgenden Tag förmlich beschuldigt. ZI wurde am 31. Mai 2017 festgenommen und am selben Tag förmlich beschuldigt. Danach wurden die fraglichen Angeklagten in Untersuchungshaft genommen und erhielten Zugang zu einem Rechtsbeistand.

16      In der Ermittlungsphase des Strafverfahrens wurden mehrere Drittstaatsangehörige, nämlich MM, RB, KH, HN und PR (im Folgenden für alle zusammen: die betroffenen Zeugen), deren illegale Einreise in das bulgarische Hoheitsgebiet durch die fraglichen Angeklagten erleichtert worden sein soll, von den Ermittlungsdiensten der Staatsanwaltschaft vernommen.

17      Ein Teil der Vernehmungen wurde vor einem Richter geführt. So wurden MM und RB am 30. März 2017 bzw. am 12. April 2017, KH am 26. Mai 2017, HN am 30. März 2017 und PR am 30. März 2017 sowie am 12. April 2017 vor einem Richter vernommen.

18      Wegen ihres illegalen Aufenthalts im bulgarischen Hoheitsgebiet wurden gegen die betroffenen Zeugen Verwaltungsverfahren zum Zweck ihrer Abschiebung geführt.

19      In der Ermittlungsphase des Strafverfahrens beantragten SS und DD ausdrücklich, MM Fragen stellen zu dürfen. Die Staatsanwaltschaft gab diesen Anträgen nicht statt.

20      Am 19. Juni 2020 befasste die Spetsializirana prokuratura (Spezialisierte Staatsanwaltschaft, Bulgarien), die davon ausging, dass die Tatvorwürfe gegen die fraglichen Angeklagten stichhaltig waren, den Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) zwecks deren strafrechtlicher Verurteilung.

21      Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, erwiesen sich die Versuche dieses Gerichts, die betroffenen Zeugen zum Zweck ihrer Vernehmung in Anwesenheit der fraglichen Angeklagten und ihrer Verteidigung zu laden, als erfolglos, sei es, weil es nicht möglich war, ihren Wohnsitz zu bestimmen, sei es, weil sie aus dem bulgarischen Hoheitsgebiet abgeschoben worden waren oder dieses freiwillig verlassen hatten. Daher besteht nach Ansicht des vorlegenden Gerichts keine Möglichkeit, die betroffenen Zeugen in der gerichtlichen Phase des Verfahrens persönlich zu vernehmen.

22      In der mündlichen Verhandlung vor dem vorlegenden Gericht am 9. April 2021 beantragte die Staatsanwaltschaft, dass gemäß Art. 281 Abs. 1 NPK die in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens getätigten Aussagen der betroffenen Zeugen verlesen würden, damit diese Aussagen Teil der Beweise seien, auf deren Grundlage dieses Gericht in der Sache entscheiden werde.

23      Das vorlegende Gericht hegt Zweifel, ob die Anwendung dieser nationalen Bestimmung unter den Umständen des vorliegenden Falles mit dem Unionsrecht vereinbar ist, und fragt sich, ob es nicht verpflichtet ist, sie im Ausgangsverfahren unangewendet zu lassen.

24      Die Aussagen der betroffenen Zeugen seien ein entscheidender Faktor für die Beurteilung der Schuld der fraglichen Angeklagten, und sein Urteil hänge weitgehend davon ab, ob und gegebenenfalls inwieweit es sich auf die in diesen Aussagen enthaltenen Informationen stützen könne.

25      Diese nationale Bestimmung solle der Gefahr vorbeugen, dass ein Zeuge in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens nicht vernommen werden könne, indem sie vorsehe, dass er in der Ermittlungsphase dieses Verfahrens vor einem Richter vernommen werden könne. Die Rolle dieses Richters, dem die Akte nicht vorliege, bestehe u. a. darin, die formelle Rechtmäßigkeit der Vernehmung zu gewährleisten. In diesem Fall werde ein Verdächtiger, wenn er bereits förmlich beschuldigt worden sei, über die Vernehmung des Zeugen informiert und erhalte die Möglichkeit, daran teilzunehmen.

26      Wie es hier der Fall gewesen sei, werde diese nationale Regelung jedoch in der Praxis umgangen. Es genüge nämlich, dass in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens die Vernehmung des Zeugen vor einem Richter innerhalb der 24‑Stunden-Frist zwischen der Festnahme des Verdächtigen und seiner förmlichen Beschuldigung durchgeführt werde, damit weder der Verdächtige, da er noch nicht förmlich beschuldigt worden sei, noch sein Rechtsbeistand berechtigt sei, daran teilzunehmen.

27      Unter diesen Umständen hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist mit Art. 8 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit deren Erwägungsgründen 33 und 34 sowie mit Art. 47 Abs. 2 der Charta ein nationales Gesetz vereinbar, wonach das Recht des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung gewahrt ist und die Staatsanwaltschaft ihrer Pflicht, die Schuld des Angeklagten nachzuweisen, ordnungsgemäß nachkommt, wenn in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens die Aussagen von Zeugen, die aus objektiven Gründen nicht vernommen werden können, aus der vorgerichtlichen Phase des Verfahrens eingeführt werden, wobei diese Zeugen nur von der Strafverfolgungsbehörde und ohne die Mitwirkung der Verteidigung, jedoch vor einem Richter vernommen wurden und die Strafverfolgungsbehörde bereits in der vorgerichtlichen Phase die Mitwirkung der Verteidigung bei dieser Vernehmung hätte ermöglichen können, dies aber unterlassen hat?

28      Mit Schreiben vom 5. August 2022 teilte der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) dem Gerichtshof mit, dass infolge einer am 27. Juli 2022 in Kraft getretenen Gesetzesänderung der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) aufgelöst worden ist und dass bestimmte Strafsachen, die bei diesem Gericht anhängig waren, einschließlich der im Ausgangsverfahren, ab diesem Zeitpunkt an den Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) verwiesen worden sind.

 Zur Vorlagefrage

29      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Charta, soweit sie Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Wie aus den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) hervorgeht, entspricht Art. 48 Abs. 2 der Charta, wonach jeder angeklagten Person die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet wird, dem Art. 6 Abs. 3 EMRK. Folglich ist die Vorlagefrage auch anhand von Art. 48 Abs. 2 der Charta zu prüfen.

30      Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie der Anwendung einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es einem nationalen Gericht erlaubt, seine Entscheidung über die Schuld oder Unschuld der beschuldigten Person im Fall der Unmöglichkeit der Vernehmung eines Belastungszeugen in der gerichtlichen Phase eines Strafverfahrens auf die Aussage dieses Zeugen zu stützen, die er bei einer Vernehmung vor einem Richter in der Ermittlungsphase dieses Verfahrens, aber ohne Beteiligung der beschuldigten Person oder ihres Rechtsbeistands getätigt hat.

31      Was erstens Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 anbelangt, so stellen die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung sicher, dass die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Strafverfolgungsbehörde liegt.

32      Es stimmt zwar, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343, der die Verteilung der Beweislast regelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. November 2019, Spetsializirana prokuratura, C‑653/19 PPU, EU:C:2019:1024, Rn. 31), der Verlagerung der Beweislast von der Strafverfolgungsbehörde auf die Verteidigung entgegensteht, wie sich aus dem 22. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt. Wie der Generalanwalt in Nr. 61 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, schreibt dieser Art. 6 Abs. 1 jedoch weder vor, auf welche Weise die Schuld einer beschuldigten Person durch die Strafverfolgungsbehörde nachzuweisen ist, noch, auf welche Weise diese Person in Ausübung ihrer Verteidigungsrechte in der Lage sein muss, die von der Strafverfolgungsbehörde in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens vorgelegten Beweise zu widerlegen.

33      Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 auf eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende keine Anwendung findet.

34      Was zweitens Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 anbelangt, so stellen die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.

35      Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2016/343 nach ihrem Art. 2 für natürliche Personen gilt, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind. Sie bezieht sich auf alle Abschnitte des Strafverfahrens ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat oder eine mutmaßliche Straftat begangen zu haben, bis die Entscheidung über die endgültige Feststellung, ob diese Person die betreffende Straftat begangen hat, Rechtskraft erlangt hat.

36      Zum anderen ergibt sich aus Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit deren Erwägungsgründen 36 und 41, dass eine beschuldigte Person aufgrund ihres Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in der Lage sein muss, persönlich zu den Terminen zu erscheinen, die im Rahmen der sie betreffenden Verhandlung stattfinden.

37      Wie der Generalanwalt in Nr. 38 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, fragt sich das vorlegende Gericht nach dem Inhalt und den Modalitäten der Ausübung des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung während der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens. Denn es trifft zwar zu, dass die Berücksichtigung der Aussage eines Belastungszeugen, der in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens in Abwesenheit einer beschuldigten Person und ihres Rechtsbeistands vernommen wurde, ohne dass Letztere die Möglichkeit hatten, diesem Zeugen in der gerichtlichen Phase dieses Verfahrens Fragen zu stellen oder stellen zu lassen, bei der Entscheidung über die Schuld oder Unschuld der beschuldigten Person dieser nicht die Möglichkeit nimmt, in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens persönlich zu den mündlichen Verhandlungsterminen im Rahmen der sie betreffenden Verhandlung zu erscheinen. In einem solchen Fall beschränkt sich die Rolle der beschuldigten Person jedoch darauf, bei der Verlesung des Inhalts der Aussagen dieses Zeugen, wie sie im Protokoll einer Vernehmung festgehalten sind, an der sie in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens nicht teilnehmen konnte, passiv anwesend zu sein.

38      Unter diesen Umständen ist in einem ersten Schritt festzustellen, ob das in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 verankerte Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung neben dem Recht, persönlich zu den Terminen zu erscheinen, die im Rahmen der eine beschuldigte Person betreffenden Verhandlung stattfinden, dieser Person auch das Recht verleiht, in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens Belastungszeugen Fragen zu stellen oder stellen zu lassen.

39      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2016/343 nach ihrem 47. Erwägungsgrund die in der Charta und in der EMRK anerkannten Grundrechte und Grundsätze, darunter das Recht auf ein faires Verfahren, die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte, wahrt.

40      Wie aus dem 33. Erwägungsgrund dieser Richtlinie hervorgeht, beruht das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen, in der Verhandlung anwesend zu sein, auf dem Recht auf ein faires Verfahren, das in Art. 6 EMRK verankert ist, dem, wie es in den Erläuterungen zur Charta heißt, Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie Art. 48 der Charta entsprechen. Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung dieser Bestimmungen ein Schutzniveau gewährleistet, welches das in Art. 6 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierte Schutzniveau nicht verletzt (Urteil vom 15. September 2022, DD [Wiederholte Vernehmung eines Zeugen], C‑347/21, EU:C:2022:692, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Hierzu ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass das Erscheinen einer beschuldigten Person von entscheidender Bedeutung im Interesse eines fairen Strafverfahrens ist, wobei die Verpflichtung, dieser Person das Recht zu garantieren, im Gerichtssaal anwesend zu sein, insoweit eines der wesentlichen Merkmale von Art. 6 EMRK ist (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 18. Oktober 2006, Hermi/Italien, CE:ECHR:2006:1018JUD001811402, § 58).

42      Insbesondere hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass in Anbetracht der Verteidigungsrechte, die u. a. durch Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK garantiert werden, die Möglichkeit der beschuldigten Person, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, das Recht dieser Person impliziert, sich tatsächlich an der sie betreffenden Verhandlung zu beteiligen (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 5. Oktober 2006, Marcello Viola/Italien, CE:ECHR:2006:1005JUD004510604, §§ 52 und 53, sowie EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2011, Al-Khawaja und Tahery/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2011:1215JUD002676605, § 142), wobei das Recht einer solchen Person, Belastungszeugen im Sinne dieser Bestimmung zu vernehmen oder vernehmen zu lassen, einen spezifischen Aspekt des in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten Rechts auf ein faires Verfahren darstellt (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 19. Februar 2013, Gani/Spanien, CE:ECHR:2013:0219JUD006180008, § 36).

43      Außerdem hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit einer beschuldigten Person, den Zeugen im Beisein des Richters gegenüberzutreten, der letztendlich über Schuld oder Unschuld dieser Person entscheidet, einen der wichtigen Aspekte eines fairen Strafverfahrens darstellt, wobei die Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen eine komplexe Aufgabe darstellt, die normalerweise nicht über die bloße Verlesung des Inhalts seiner Aussagen, wie sie in den Protokollen der Vernehmungen enthalten sind, erfüllt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Gambino und Hyka, C‑38/18, EU:C:2019:628, Rn. 42 und 43).

44      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass das in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 verankerte Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung in der Weise gewährleistet werden muss, dass es in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens in einer Art und Weise ausgeübt werden kann, die den Erfordernissen eines fairen Verfahrens entspricht. Dieses Recht beschränkt sich somit nicht darauf, die bloße Anwesenheit der beschuldigten Person bei den mündlichen Verhandlungen zu gewährleisten, die im Rahmen des sie betreffenden Verfahrens stattfinden, sondern verlangt, dass diese Person in die Lage versetzt werden muss, sich tatsächlich daran zu beteiligen und zu diesem Zweck die Verteidigungsrechte auszuüben, zu denen das Recht gehört, in dieser gerichtlichen Phase den Belastungszeugen Fragen zu stellen oder stellen zu lassen.

45      Wie der Generalanwalt in Nr. 43 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, hätte nämlich eine engere Auslegung von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 in dem Sinne, dass sich das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung darauf beschränke, sicherzustellen, dass die beschuldigte Person bei den mündlichen Verhandlungsterminen, die im Rahmen des sie betreffenden Verfahrens stattfinden, anwesend sein könne, zur Folge, dass dem Grundrecht auf ein faires Verfahren sein Wesensgehalt genommen würde.

46      Unter diesen Umständen ist in einem zweiten Schritt zu klären, ob Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 2 der Charta einen Strafrichter daran hindert, eine nationale Regelung anzuwenden, nach der dieser Richter, wenn ein Zeuge aus objektiven Gründen nicht an der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens teilnehmen kann, die Aussage, die dieser Zeuge vor einem Richter im Ermittlungsverfahren getätigt hat, verlesen lassen kann, um sie bei der Entscheidung über die Schuld oder Unschuld der beschuldigten Person heranzuziehen, auch wenn Letztere im Zeitpunkt der Vernehmung dieses Zeugen nicht förmlich beschuldigt war und weder sie noch ihr Rechtsbeistand sich daran beteiligen durften.

47      Die Anwendung einer solchen nationalen Regelung vermag das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung, wie es in Rn. 44 des vorliegenden Urteils definiert ist, zu beeinträchtigen.

48      Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, anhand der vom Gerichtshof gegebenen Auslegungshinweise zu beurteilen, ob die Anwendung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung mit den genannten Bestimmungen des Unionsrechts vereinbar ist.

49      Art. 267 AEUV gibt dem Gerichtshof nämlich nicht die Befugnis, die Vorschriften des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, sondern nur die, sich zur Auslegung der Verträge und der Handlungen der Unionsorgane zu äußern. Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof aber im Rahmen der durch diesen Artikel begründeten Zusammenarbeit zwischen den Gerichten das Unionsrecht unter Berücksichtigung der Akten auslegen, soweit dies dem nationalen Gericht bei der Beurteilung der Wirkungen einer unionsrechtlichen Bestimmung dienlich sein könnte (Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 96 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50      Insoweit ist daran zu erinnern, dass nach Art. 52 Abs. 1 der Charta Einschränkungen der Ausübung der darin anerkannten Rechte und Freiheiten vorgenommen werden dürfen, sofern sie gesetzlich vorgesehen sind und den Wesensgehalt dieser Rechte achten, und dass unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Einschränkungen nur vorgenommen werden dürfen, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

51      Was als Erstes das Erfordernis betrifft, dass jede Einschränkung der Ausübung der Grundrechte gesetzlich vorgesehen sein muss, so impliziert dieses, dass die Möglichkeit, die Aussagen abwesender Zeugen zu berücksichtigen, in dem einschlägigen nationalen rechtlichen Rahmen vorgesehen sein muss. Vorbehaltlich der insoweit dem vorlegenden Gericht obliegenden Würdigung scheint dies im Ausgangsrechtsstreit der Fall zu sein.

52      Was als Zweites die Achtung des Wesensgehalts der Grundrechte der beschuldigten Person betrifft, ist davon auszugehen, dass dieser Wesensgehalt geachtet wird, sofern Aussagen abwesender Zeugen nur unter begrenzten Umständen aus berechtigten Gründen und unter Wahrung der Fairness des Strafverfahrens als Ganzes betrachtet berücksichtigt werden können.

53      Eine solche Beurteilung steht im Einklang mit der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, aus der hervorgeht, dass die Verwendung von Zeugenaussagen, die in der strafrechtlichen Ermittlungsphase des Strafverfahrens eingeholt wurden, als Beweis für sich genommen nicht mit Art. 6 Abs. 1 und 3 Buchst. d EMRK unvereinbar ist, vorbehaltlich der Wahrung der Verteidigungsrechte, die im Allgemeinen verlangen, dem Angeklagten eine angemessene und ausreichende Möglichkeit zu geben, die Belastungszeugenaussagen zu bestreiten und den Zeugen entweder zum Zeitpunkt der Aussagen oder in einem späteren Stadium dazu Fragen zu stellen (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2015, Schatschaschwili/Deutschland, CE:ECHR:2015:1215JUD000915410, § 105 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54      Als Drittes verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass Einschränkungen, die insbesondere durch Unionsrechtsakte an in der Charta verankerten Rechten und Freiheiten vorgenommen werden können, nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der verfolgten legitimen Ziele oder des Erfordernisses des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55      Um die Wahrung dieses Grundsatzes zu überprüfen, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob ein wichtiger Grund vorliegt, der das Nichterscheinen des Zeugen rechtfertigt, und ob es, soweit dessen Aussage die einzige oder entscheidende Grundlage für eine etwaige Verurteilung der beschuldigten Person bilden könnte, Kompensationen, insbesondere solide Verfahrensgarantien, gibt, die hinreichen, um die Schwierigkeiten auszugleichen, die dieser Person und ihrem Rechtsbeistand durch die Berücksichtigung dieser Aussage entstanden sind, und um die Fairness des Strafverfahrens als Ganzes zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2011, Al-Khawaja und Tahery/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2011:1215JUD002676605, § 152, EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2015, Schatschaschwili/Deutschland, CE:ECHR:2015:1215JUD000915410, § 107, und EGMR, Urteil vom 7. Juni 2018, Dimitrov und Momin/Bulgarien, CE:ECHR:2018:0607JUD003513208, § 52).

56      Insoweit ist es zunächst Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die Abwesenheit eines Belastungszeugen in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens durch einen wichtigen Grund wie Tod, Gesundheitszustand, Furcht vor einer Aussage oder Unauffindbarkeit gerechtfertigt ist, wobei es im letztgenannten Fall verpflichtet ist, alle Anstrengungen zu unternehmen, die man vernünftigerweise erwarten kann, um das Erscheinen dieses Zeugen sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2015, Schatschaschwili/Deutschland, CE:ECHR:2015:1215JUD000915410, §§ 119 bis 121 und die dort angeführte Rechtsprechung).

57      Sodann ist davon auszugehen, dass die Aussage eines in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens abwesenden Zeugen, wenn sie in dieser Phase als Beweis zugelassen, aber vor dieser Phase eingeholt wurde, die einzige Grundlage für die Verurteilung der beschuldigten Person wäre, wenn dieser Zeugenbeweis das einzige Belastungsmaterial gegen sie wäre. Diese Grundlage wäre als entscheidend anzusehen, wenn dieser Zeugenbeweis so wichtig wäre, dass er den Ausschlag für die Entscheidung über die Sache zu geben vermag, wobei die Beurteilung der Maßgeblichkeit dieser Aussage, wenn die Aussage des abwesenden Zeugen durch andere Beweise untermauert werden kann, von der Beweiskraft dieser anderen Beweise abhängt; je größer diese Beweiskraft ist, umso weniger kann die Aussage des abwesenden Zeugen als entscheidend angesehen werden (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2015, Schatschaschwili/Deutschland, CE:ECHR:2015:1215JUD000915410, § 123 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58      Was schließlich das Bestehen von Kompensationen angeht, so müssen diese eine zutreffende und faire Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer nicht geprüften Zeugenaussage ermöglichen und betreffen insbesondere die Art und Weise, in der das urteilende Gericht die nicht überprüfte Aussage des abwesenden Zeugen würdigt, die Vorlage übereinstimmender Beweise in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens und deren Beweiskraft sowie die Verfahrensmaßnahmen zum Ausgleich der Tatsache, dass der Zeuge in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens nicht unmittelbar ins Kreuzverhör genommen werden konnte (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2015, Schatschaschwili/Deutschland, CE:ECHR:2015:1215JUD000915410, §§ 125 bis 131 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie EGMR, Urteil vom 7. Juni 2018, Dimitrov und Momin/Bulgarien, CE:ECHR:2018:0607JUD003513208, § 53). Was den letztgenannten Aspekt betrifft, kann eine Verfahrensgarantie, die geeignet ist, die Schwierigkeiten auszugleichen, die der Verteidigung durch die Abwesenheit des Zeugen in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens entstehen, darin bestehen, dass dieser Person oder ihrem Rechtsbeistand Gelegenheit gegeben wurde, einen Zeugen in der Ermittlungsphase dieses Verfahrens zu befragen (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 10. Februar 2022, Al Alo/Slowakei, CE:ECHR:2022:0210JUD003208419, § 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

59      Im vorliegenden Fall ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Unmöglichkeit, einen Zeugen im Hinblick auf seine Ladung in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens ausfindig zu machen, grundsätzlich einen wichtigen Grund im Sinne der in Rn. 56 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung darstellt, insbesondere wenn dieser Zeuge nicht mehr im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats wohnt und die Versuche, ihn insbesondere über Interpol ausfindig zu machen, erfolglos geblieben sind.

60      Zweitens hat das vorlegende Gericht zu prüfen, ob seine Entscheidung im Fall der Verurteilung der fraglichen Angeklagten ausschließlich oder entscheidend im Sinne der in Rn. 57 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung auf die von den betroffenen Zeugen in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens getätigten Aussagen gestützt werden könnte.

61      Drittens ist es Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob im vorliegenden Fall im Sinne der in Rn. 58 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung hinreichende Kompensationen vorliegen, um die Schwierigkeiten auszugleichen, die den fraglichen Angeklagten und ihrer Verteidigung dadurch entstanden sind, dass möglicherweise die von den betroffenen Zeugen in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens getätigten Aussagen als Beweise berücksichtigt werden, insbesondere die Möglichkeit der fraglichen Angeklagten und ihrer Verteidigung, den betroffenen Zeugen in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens Fragen zu stellen, und das Bestehen eines Rechtsbehelfs gegen eine etwaige antragsablehnende Entscheidung.

62      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Anwendung einer nationalen Regelung entgegensteht, die es einem nationalen Gericht erlaubt, im Fall der Unmöglichkeit der Vernehmung eines Belastungszeugen in der gerichtlichen Phase eines Strafverfahrens seine Entscheidung über die Schuld oder Unschuld der beschuldigten Person auf die Aussage dieses Zeugen zu stützen, die bei einer Vernehmung vor einem Richter in der Ermittlungsphase dieses Verfahrens, aber ohne Beteiligung der beschuldigten Person oder ihres Rechtsbeistands eingeholt wurde, es sei denn, es liegt ein wichtiger Grund vor, der das Nichterscheinen des Zeugen in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens rechtfertigt, die Aussage dieses Zeugen bildet nicht die einzige und entscheidende Grundlage für die Verurteilung der beschuldigten Person und es bestehen hinreichende Kompensationen, um die Schwierigkeiten auszugleichen, die dieser Person und ihrem Rechtsbeistand aufgrund der Berücksichtigung dieser Aussage entstehen.

 Kosten

63      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

ist dahin auszulegen, dass

er der Anwendung einer nationalen Regelung entgegensteht, die es einem nationalen Gericht erlaubt, im Fall der Unmöglichkeit der Vernehmung eines Belastungszeugen in der gerichtlichen Phase eines Strafverfahrens seine Entscheidung über die Schuld oder Unschuld der beschuldigten Person auf die Aussage dieses Zeugen zu stützen, die bei einer Vernehmung vor einem Richter im Lauf der Ermittlungsphase dieses Verfahrens, aber ohne Beteiligung der beschuldigten Person oder ihres Rechtsbeistands eingeholt wurde, es sei denn, es liegt ein wichtiger Grund vor, der das Nichterscheinen des Zeugen in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens rechtfertigt, die Aussage dieses Zeugen bildet nicht die einzige und entscheidende Grundlage für die Verurteilung der beschuldigten Person und es bestehen hinreichende Kompensationen, um die Schwierigkeiten auszugleichen, die dieser Person und ihrem Rechtsbeistand aufgrund der Berücksichtigung dieser Aussage entstehen.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Bulgarisch.