Language of document : ECLI:EU:T:2010:525

Verbundene Rechtssachen T‑231/06 und T‑237/06

Königreich der Niederlande und

Nederlandse Omroep Stichting (NOS)

gegen

Europäische Kommission

„Staatliche Beihilfen – Öffentlich-rechtlicher Rundfunk – Maßnahmen der niederländischen Behörden – Entscheidung, mit der die Beihilfen für mit dem Gemeinsamen Markt teilweise vereinbar und teilweise unvereinbar erklärt wurden – Neue oder bestehende Beihilfe – Begriff der staatlichen Beihilfe – Begriff des Unternehmens – Überhöhte Bezuschussung der Kosten des öffentlich-rechtlichen Auftrags – Verhältnismäßigkeit – Begründungspflicht – Verteidigungsrechte“

Leitsätze des Urteils

1.      Staatliche Beihilfen – Entscheidung der Kommission, ein förmliches Prüfverfahren über eine vorläufig als neue Beihilfe eingestufte staatliche Maßnahme einzuleiten – Begründungspflicht – Umfang

(Art. 88 Abs. 2 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 6)

2.      Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Entscheidung, das förmliche Prüfverfahren nach Art. 88 Abs. 2 EG einzuleiten – Wandlung des Standpunkts der Kommission am Ende des Verfahrens

(Art. 88 Abs. 2 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 7)

3.      Wettbewerb – Gemeinschaftsvorschriften – Unternehmen – Begriff – Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit – Begriff – Gemeinwohlverpflichtungen – Keine Auswirkung – Tätigkeiten, die mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse zusammenhängen –Nichteinbeziehung

(Art. 87 Abs. 1 EG)

4.      Staatliche Beihilfen – Beeinträchtigung des Wettbewerbs – Betriebsbeihilfen – Finanzierung eines Unternehmens, das einen öffentlich-rechtlichen Auftrag auf einem dem Wettbewerb offenstehenden Markt ausübt

(Art. 87 Abs. 1 EG, 86 EG und 88 EG)

5.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Maßnahmen zum Ausgleich der Kosten der von einem Unternehmen übernommenen Gemeinwohlaufgaben

(Art. 86 Abs. 2 EG und 87 Abs. 1 EG)

6.      Staatliche Beihilfen – Bestehende Beihilfen – Maßnahmen zum Ausgleich der Kosten der von einem Unternehmen übernommenen Gemeinwohlaufgaben – Entscheidung 2005/842 – Tragweite

(Art. 86 Abs. 2 EG; Entscheidung 2005/842 der Kommission)

7.      Staatliche Beihilfen – Bestehende und neue Beihilfen – Maßnahme zur Änderung einer bestehenden Beihilferegelung – Qualifizierung als neue Beihilfen – Kriterien

(Art. 88 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 1)

8.      Wettbewerb – Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind – Definition der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse – Ermessen der Mitgliedstaaten

(Art. 86 Abs. 2 EG; Mitteilungen der Kommission 2001/C 17/04, Nr. 22, und 2001/C 320/04, Nr. 36)

1.      Wenn die Kommission beschließt, das förmliche Prüfverfahren einzuleiten, kann der Einleitungsbeschluss nach Art. 6 der Verordnung Nr. 659/1999 über die Anwendung von Art. 88 EG auf eine Zusammenfassung der wesentlichen Sach‑ und Rechtsfragen, eine vorläufige Würdigung des Beihilfecharakters der fraglichen staatlichen Maßnahme und Ausführungen über die Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt beschränkt werden. Nach diesem Artikel muss somit der Einleitungsbeschluss die Betroffenen in die Lage versetzen, sich in wirksamer Weise am förmlichen Prüfverfahren zu beteiligen, in dem sie ihre Argumente geltend machen können. Hierfür genügt es, dass die Beteiligten erfahren, welche Überlegungen die Kommission zu der vorläufigen Ansicht veranlasst haben, dass die in Rede stehende Maßnahme eine neue, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare Beihilfe darstellen könnte.

(vgl. Randnrn. 37-38)

2.      Aus Art. 7 der Verordnung Nr. 659/1999 über die Anwendung von Art. 88 EG geht hervor, dass die Beurteilung durch die Kommission am Ende dieses Verfahrens anders ausfallen kann, denn sie kann abschließend entscheiden, dass die Maßnahme keine Beihilfe darstellt oder dass die Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit ausgeräumt sind. Folglich kann die abschließende Entscheidung in gewissem Maße vom Einleitungsbeschluss abweichen, ohne dass dies zur Rechtswidrigkeit der abschließenden Entscheidung führt.

(vgl. Randnr. 50)

3.      Der Begriff des Unternehmens umfasst im Wettbewerbsrecht jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung. Eine wirtschaftliche Tätigkeit ist jede Tätigkeit, die darin besteht, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten.

Der Umstand, dass eine Einheit mit bestimmten im Allgemeininteresse liegenden Aufgaben betraut ist, kann nicht daran hindern, die fraglichen Tätigkeiten als wirtschaftliche Tätigkeiten anzusehen. Hingegen haben Tätigkeiten, die in Ausübung hoheitlicher Befugnisse erfolgen, keinen wirtschaftlichen Charakter, der die Anwendung der Wettbewerbsregeln des Vertrags rechtfertigen würde.

Um festzustellen, ob die Tätigkeiten einer Einheit Tätigkeiten eines Unternehmens im Sinne des Vertrags sind, ist daher zu untersuchen, welcher Art diese Tätigkeiten sind.

(vgl. Randnrn. 92-95)

4.      Beihilfen, mit denen ein Unternehmen von Kosten befreit werden soll, die es normalerweise im Rahmen seines laufenden Betriebs oder seiner üblichen Tätigkeiten hätte tragen müssen, verfälschen grundsätzlich die Wettbewerbsbedingungen.

Dass ein Unternehmen einen öffentlich-rechtlichen Auftrag hat und seine Funktionen nach Rechtsvorschriften ausübt, die diesen Auftrag regeln, kann die Gefahr einer Wettbewerbsverzerrung im Vergleich zu anderen Unternehmen nicht als solches ausschließen, es sei denn, den Art. 86 EG und 88 EG würde jede praktische Wirksamkeit genommen. Der betreffende Mitgliedstaat kann nämlich für den öffentlich-rechtlichen Auftrag eine überhöhte Bezuschussung gewähren, die als solche, sobald sie vorliegt, die Gefahr einer Wettbewerbsverzerrung auf einem dem Wettbewerb offen stehenden Markt mit sich bringt.

(vgl. Randnrn. 119-120)

5.      Aus dem eindeutigen Wortlaut des Urteils vom 24. Juli 2003, Altmark (C‑280/00), ergibt sich, dass die vier genannten Voraussetzungen einzig und allein die Qualifizierung der fraglichen Maßnahme als staatliche Beihilfe und genauer gesagt die Feststellung eines vorhandenen Vorteils ermöglichen sollen.

Eine staatliche Maßnahme, die einer oder mehreren dieser Voraussetzungen nicht entspricht, ist als staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG anzusehen.

(vgl. Randnrn. 145-146)

6.      Gegenstand der Entscheidung 2005/842 über die Anwendung von Artikel 86 Absatz 2 EG auf staatliche Beihilfen, die bestimmten mit der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betrauten Unternehmen als Ausgleich gewährt werden, ist nach ihrem Art. 1, zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen diese staatlichen Beihilfen als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar angesehen und demzufolge von der in Art. 88 Abs. 3 EG verankerten Notifizierungspflicht freigestellt werden können.

Daraus ergibt sich, dass die Entscheidung 2005/842 keineswegs die Voraussetzungen definiert, die der für die Erbringung einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse gewährte Ausgleich, insbesondere in Bezug auf den wirtschaftlichen Vorteil, erfüllen muss, um der Einstufung als staatliche Beihilfe zu entgehen, sondern im Gegenteil für Maßnahmen gilt, die bereits als staatliche Beihilfe einstuft wurden und deren Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt festzustellen ist. Darüber hinaus verweist die Entscheidung 2005/842 ausdrücklich auf die vom Gerichtshof im Urteil vom 24. Juli 2003, Altmark (C‑280/00), entwickelten Kriterien für die Feststellung im vorhergehenden Stadium, ob eine staatliche Beihilfe in diesem Bereich vorliegt.

Die Kommission hat daher für die Feststellung, ob die betreffenden Zahlungen eine staatliche Beihilfe darstellen, zunächst zu prüfen, ob die vom Gerichtshof im Urteil Altmark entwickelten Kriterien erfüllt sind, und sodann, nachdem sie zu dem Ergebnis gekommen ist, dass eine staatliche Beihilfe vorliegt, deren Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt zu prüfen.

(vgl. Randnrn. 153-155)

7.      Aus Art. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 über die Anwendung von Art. 88 EG geht hervor, dass die Einstufung als bestehende Beihilfe für alle Beihilfen gilt, die vor Inkrafttreten des Vertrags in dem entsprechenden Mitgliedstaat bestanden haben, und für alle von der Kommission oder vom Rat genehmigten Beihilfen und dass Änderungen bestehender Beihilfen als neue Beihilfen anzusehen sind.

Nach diesem eindeutigen Wortlaut ist nicht jede „geänderte bestehende Beihilfe“ als neue Beihilfe anzusehen, sondern nur die Änderung als solche kann als neue Beihilfe eingestuft werden. Daher wird die ursprüngliche Regelung durch die Änderung nur dann in eine neue Beihilferegelung umgewandelt, wenn die Änderung sie in ihrem Kern betrifft. Um eine derartige wesentliche Änderung kann es sich jedoch nicht handeln, wenn sich das neue Element eindeutig von der ursprünglichen Regelung trennen lässt.

Maßstab für die Einstufung einer Beihilfe als neue oder umgestaltete Beihilfe sind die Bestimmungen, in denen sie vorgesehen ist, sowie die dort vorgesehenen Modalitäten und Beschränkungen.

(vgl. Randnrn. 176-177, 180)

8.      Die Mitgliedstaaten verfügen bei der Festlegung dessen, was sie als Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse ansehen, über ein weites Ermessen. Daher kann die Bestimmung dieser Dienstleistungen durch einen Mitgliedstaat von der Kommission nur bei offenkundigen Fehlern in Frage gestellt werden.

Was die Definition des öffentlich-rechtlichen Sendeauftrags für Rundfunkanstalten anbelangt, ist es zwar richtig, dass die Kommission weder darüber zu entscheiden hat, ob ein Programm als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse angeboten wird, noch Art und Qualität eines bestimmten Produkts in Frage zu stellen hat, dass sie aber als Hüterin des Vertrags im Fall eines offensichtlichen Fehlers eingreifen kann.

(vgl. Randnrn. 223-224)