Rechtssache C‑438/16 P
Europäische Kommission
gegen
Französische Republik und IFP Énergies nouvelles
„Rechtsmittel – Staatliche Beihilfe – Von Frankreich durchgeführte Beihilferegelung – Unbeschränkte staatliche Garantie, die dem Institut Français du Pétrole (IFP) durch die Verleihung des Status eines ‚Établissement public à caractère industriel et commercial‘ (öffentlicher Wirtschaftsbetrieb, EPIC) gewährt wird – Beschluss, mit dem festgestellt wird, dass diese Maßnahme teilweise keine staatliche Beihilfe darstelle und teilweise, vorbehaltlich der Erfüllung bestimmter Bedingungen, mit dem Binnenmarkt vereinbar sei – Begriff ‚Beihilferegelung‘ – Vermutung des Bestehens eines Vorteils – Beweislast und Beweismaß“
Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 19. September 2018
1. Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Prüfung einer Beihilferegelung in ihrer Gesamtheit – Zulässigkeit
(Art. 107 Abs. 3 AEUV und 108 AEUV)
2. Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Beihilferegelung – Begriff – Umwandlung eines Unternehmens in ein „Établissement public à caractère industriel et commercial“ (öffentlicher Wirtschaftsbetrieb) – Ausschluss – Einstufung als Einzelbeihilfe
(Art. 108 AEUV; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 1 Buchst. d und e)
3. Staatliche Beihilfen – Begriff – Beurteilungskriterien – Kumulative Voraussetzungen
(Art. 107 Abs. 1 AEUV)
4. Staatliche Beihilfen – Begriff – Gewährung eines Vorteils für die Begünstigten – Staatliche Garantie zu Gunsten eines Unternehmens, das nicht den gewöhnlichen Sanierungs- und Abwicklungsverfahren unterliegt – Nachweis des Vorliegens eines Vorteils mittels der Vermutung einer Verbesserung der finanziellen Position des Unternehmens – Widerlegung der Vermutung
(Art. 107 Abs. 1 AEUV)
5. Staatliche Beihilfen – Begriff – Gewährung eines Vorteils für die Begünstigten – Staatliche Garantie zu Gunsten eines Unternehmens, das nicht den gewöhnlichen Sanierungs- und Abwicklungsverfahren unterliegt – Nachweispflicht der Kommission hinsichtlich des Vorliegens eines Vorteils – Beurteilung unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Aspekte – Vorteil, der sich in den Beziehungen zwischen dem durch die genannte Garantie begünstigten Unternehmen und seinen Lieferanten und Kunden ergibt – Voraussetzungen
(Art. 107 Abs. 1 AEUV)
1. Siehe Text der Entscheidung.
(vgl. Rn. 63)
2. Eine Maßnahme, die sich darauf beschränkt, einer bestimmten juristischen Person eine nach nationalem Recht mit dem Status als „Établissement public à caractère industriel et commercial“ (öffentlicher Wirtschaftsbetrieb, EPIC) implizit verbundene unbeschränkte staatliche Garantie zu gewähren, stellt keine Beihilferegelung im Sinne von Art. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 AEUV dar. Eine solche Maßnahme enthält nämlich keinerlei Regelung im Sinne von Art. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 659/1999, auf deren Grundlage Beihilfen gewährt werden könnten. Sofern die Umwandlung des fraglichen Akteurs in ein EPIC als „staatliche Beihilfe“ eingestuft werden kann, stellt sie eine einzelne anmeldungspflichtige Zuwendung aufgrund einer Beihilferegelung dar, also eine Einzelbeihilfe im Sinne von Art. 1 Buchst. e der genannten Verordnung.
(vgl. Rn. 66, 70)
3. Siehe Text der Entscheidung.
(vgl. Rn. 108, 109)
4. Es obliegt der Kommission, den Beweis für das Vorliegen einer staatlichen Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV zu erbringen. Insbesondere hat sie das Verfahren zur Prüfung der fraglichen Maßnahmen sorgfältig und unvoreingenommen zu führen, damit sie bei Erlass einer endgültigen Entscheidung, in der das Vorliegen und gegebenenfalls die Unvereinbarkeit oder Rechtswidrigkeit der Beihilfe festgestellt wird, über möglichst vollständige und verlässliche Informationen verfügt. Allerdings kann sich die Kommission im Rahmen dieser Prüfung auf die widerlegliche Vermutung berufen, dass eine implizite unbeschränkte Staatsbürgschaft für ein Unternehmen, das den Status eines „Établissement public à caractère industriel et commercial“ (öffentlicher Wirtschaftsbetrieb, EPIC) innehat und nicht den gewöhnlichen Sanierungs- und Abwicklungsverfahren unterliegt, eine Verbesserung seiner finanziellen Position durch eine Verminderung der in der Regel von ihm zu tragenden Belastungen zur Folge hat. Daher genügt es im Rahmen eines bestehende Beihilfen betreffenden Verfahrens zum Nachweis des Vorteils, den eine solche Bürgschaft dem begünstigten Unternehmen verschafft, dass die Kommission das Bestehen der Bürgschaft selbst nachweist; die tatsächlichen Auswirkungen der Bürgschaft, die ab dem Zeitpunkt ihrer Gewährung erzeugt werden, brauchen nicht nachgewiesen zu werden.
Diese Vermutung ist zwar nur eine einfache, d. h. widerlegliche, Vermutung, kann aber nur widerlegt werden, soweit nachgewiesen wird, dass das betroffene EPIC unter Berücksichtigung des wirtschaftlichen und rechtlichen Kontexts, in dem die mit seinem Status einhergehende Garantie steht, in der Vergangenheit keinerlei tatsächlichen wirtschaftlichen Vorteil aus dieser Garantie gezogen hat und aller Voraussicht nach auch in der Zukunft keinen solchen Vorteil erlangen wird. Der bloße Umstand, dass der Begünstigte einer solchen Garantie in der Vergangenheit keinen tatsächlichen wirtschaftlichen Vorteil aus seinem Status als EPIC gezogen hat, genügt für sich genommen nicht, um die Vermutung des Bestehens eines Vorteils zu widerlegen.
(vgl. Rn. 110, 111, 117, 118)
5. Was die widerlegliche Vermutung anbelangt, die die Kommission bei ihrer Prüfung, ob eine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV vorliegt, heranziehen kann, nämlich die Vermutung eines Vorteils, der sich aus der mit dem Status eines „Établissement public à caractère industriel et commercial“ (öffentlicher Wirtschaftsbetrieb, EPIC) einhergehenden Garantie ergibt, so ist die Geltung dieser Vermutung bislang zwar nur in Bezug auf die etwaigen Beziehungen eines EPIC zu Kredit- und Finanzinstituten ausdrücklich anerkannt worden. Daraus folgt jedoch nicht, dass diese Vermutung prinzipiell nicht für andere Beziehungen des EPIC, etwa zu seinen Lieferanten und Kunden, gelten kann.
Dies bedeutet allerdings nicht, dass die genannte Vermutung automatisch auf die Beziehungen eines EPIC zu seinen Lieferanten und Kunden erweitert werden kann, ohne dass vorab zu prüfen wäre, ob der Vorteil, den das EPIC daraus ziehen kann, angesichts des Verhaltens dieser Akteure dem Vorteil ähnelt, den es aus seinen Beziehungen zu Kredit- und Finanzinstituten zieht. Die widerlegliche Vermutung eines Vorteils, der sich aus der mit dem Status eines EPIC einhergehenden Garantie ergibt, beruht nämlich auf der Annahme, dass das betreffende EPIC dank der mit seinem Status einhergehenden Garantie günstigere finanzielle Konditionen erlangt oder erlangen könnte, als sie auf den Finanzmärkten üblich sind. Deshalb ist die Geltung dieser Vermutung für die Beziehungen des EPIC zu Lieferanten und Kunden nur insoweit gerechtfertigt, als auf den maßgebenden Märkten solche günstigeren Konditionen auch in diesen Beziehungen anzutreffen sind.
Wenn sich die Kommission auf diese Vermutung berufen will, muss sie daher den wirtschaftlichen und rechtlichen Kontext untersuchen, in dem der von den fraglichen Beziehungen betroffene Markt steht. Insbesondere muss sie prüfen, ob das Verhalten der Akteure auf dem betroffenen Markt es rechtfertigt, von einem ähnlichen Vorteil wie dem in den Beziehungen des EPIC zu den Kredit- und Finanzinstituten bestehenden auszugehen.
(vgl. Rn. 139, 149-151)