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Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Najwyższy (Polen), eingereicht am 19. Oktober 2022

(Rechtssache C-658/22)

Verfahrenssprache: Polnisch

Vorlegendes Gericht

Sąd Najwyższy

Vorlagefragen

Sind Art. 2, Art. 6 Abs. 1 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 des Vertrags über die Europäischen Union (EUV) in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) und Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) dahin auszulegen, dass ein letztinstanzliches Gericht eines Mitgliedstaats (Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht]), dessen Spruchkörper Personen angehören, die unter folgenden Verstößen gegen die Grundregeln des Rechts des Mitgliedstaats über die Ernennung von Richtern des Sąd Najwyższy zu Richtern ernannt wurden, kein unabhängiges, unparteiisches, zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ist, das dem Einzelnen in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet:

a) Ausschreibung freier Richterstellen beim Sąd Najwyższy durch den Präsidenten der Republik Polen ohne vorherige Gegenzeichnung durch den Präsidenten des Ministerrats,

b) Durchführung eines Vorverfahrens bezüglich der Ernennung unter Missachtung der Grundsätze der Transparenz und des fairen Verfahrens durch ein nationales Organ (Krajowa Rada Sądownictwa [im Folgenden: Landesjustizrat]), das unter Berücksichtigung der Umstände seiner Konstituierung im richterlichen Teil und seiner Arbeitsweise nicht den Anforderungen an ein Verfassungsorgan entspricht, das mit der Wahrung der Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter betraut ist,

c) Aushändigung von Urkunden über die Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy durch den Präsidenten der Republik Polen, obwohl die Entschließung des Landesjustizrats, die den Vorschlag zur Ernennung in das Richteramt umfasste, zuvor beim zuständigen nationalen Gericht (Naczelny Sąd Administracyjny [Oberstes Verwaltungsgericht]) angefochten wurde, der Naczelny Sąd Administracyjny den Vollzug dieser Entschließung in Übereinstimmung mit dem nationalen Recht aussetzte und das Berufungsverfahren noch nicht abgeschlossen war, nach dessen Durchführung der Naczelny Sąd Administracyjny die angefochtene Entschließung des Landesjustizrats wegen Rechtswidrigkeit rechtskräftig aufhob und sie endgültig aus der Rechtsordnung entfernte, wodurch dem Akt der Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy die nach Art. 179 der Verfassung der Republik Polen erforderliche Grundlage in Form eines Vorschlags des Landesjustizrats zur Ernennung in das Richteramt entzogen wurde?

Sind Art. 2, Art. 6 Abs. 1 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta und Art. 267 AEUV dahin auszulegen, dass sie der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften wie Art. 29 §§ 2 und 3, Art. 26 § 3 und Art. 72 §§ 1, 2 und 3 der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (konsolidierte Fassung: Dz. U. 2021, Pos. 154) entgegenstehen, soweit diese es unter Androhung einer Disziplinarstrafe in Form der Entfernung aus dem Amt verbieten, dass der Sąd Najwyższy die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder die sich aus dieser Ernennung ergebende Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung feststellt oder beurteilt und auf diese Gründe gestützte Anträge auf Ausschluss eines Richters inhaltlich beurteilt, unter der Annahme, dass dieses Verbot wegen der Achtung der verfassungsrechtlichen Identität der Mitgliedstaaten durch die Union gerechtfertigt sei?

Sind Art. 2 und Art. 4 Abs. 2 und 3 in Verbindung mit Art. 19 EUV und Art. 267 AEUV dahin auszulegen, dass ein Urteil eines Verfassungsgerichts eines Mitgliedstaats (Trybunał Konstytucyjny [Verfassungsgerichtshof]), mit dem eine Entscheidung eines letztinstanzlichen nationalen Gerichts (Sąd Najwyższy) für unvereinbar mit der Verfassung der Republik Polen erklärt wird, kein Hindernis für die Beurteilung der Unabhängigkeit eines Gerichts und für die Prüfung der Frage darstellen kann, ob ein Gericht im Sinne des Unionsrechts durch Gesetz errichtet worden ist, wobei im Übrigen zu berücksichtigen ist, dass die Entscheidung des Sąd Najwyższy auf die Durchführung eines Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union gerichtet war, [dass] die Bestimmungen der Verfassung der Republik Polen und die geltenden Gesetze (nationale Rechtsvorschriften) dem Verfassungsgericht (Trybunał Konstytucyjny) nicht die Zuständigkeit verleihen, gerichtliche Entscheidungen zu überprüfen, einschließlich der Beschlüsse zur Lösung von Diskrepanzen bei der Auslegung von Rechtsvorschriften, die gemäß Art. 83 der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (konsolidierte Fassung: Dz. U. 2021, Pos. 154) ergehen, und zudem, dass das Trybunał Konstytucyjny aufgrund seiner derzeitigen Zusammensetzung kein auf Gesetz beruhendes Gericht im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Dz. U. 1993, Nr. 61, Nr. 284, mit Änderungen) ist?

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