Language of document : ECLI:EU:C:2017:484

Rechtssache C621/15

N. W u. a.

gegen

Sanofi Pasteur MSD SNC u. a.

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation [Frankreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 85/374/EWG – Haftung für fehlerhafte Produkte – Art. 4 – Arzneimittelhersteller – Impfstoff gegen Hepatitis B – Multiple Sklerose – Beweise für einen Fehler des Impfstoffs und für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Fehler und dem erlittenen Schaden – Beweislast – Art und Weise der Beweisführung – Fehlen eines wissenschaftlichen Konsenses – Der Würdigung des Tatsachengerichts überlassene ernsthafte, klare und übereinstimmende Indizien – Zulässigkeit – Voraussetzungen“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 21. Juni 2017

1.        Rechtsangleichung – Haftung für fehlerhafte Produkte – Richtlinie 85/374 – Haftungsklage gegen Arzneimittelhersteller wegen des Fehlers eines Impfstoffs – Beweise für einen Fehler des Impfstoffs und für den ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem Fehler und dem Auftreten der Krankheit – Art und Weise der Beweisführung – Nationale Beweisregelung, die es ungeachtet des Fehlens eines wissenschaftlichen Konsenses zulässt, auf der Grundlage ernsthafter, klarer und übereinstimmender Indizien, die der Würdigung des Tatsachengerichts überlassen sind, auf das Vorliegen eines Fehlers des Impfstoffs sowie auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem Fehler und der Krankheit zu schließen – Zulässigkeit – Voraussetzungen

(Richtlinie 85/374 des Rates, Art. 4)

2.        Rechtsangleichung – Haftung für fehlerhafte Produkte – Richtlinie 85/374 – Haftungsklage gegen Arzneimittelhersteller wegen des Fehlers eines Impfstoffs – Beweise für einen Fehler des Impfstoffs und für den ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem Fehler und dem Auftreten der Krankheit – Beweislast und Art und Weise der Beweisführung – Auf Vermutungen beruhende nationale Beweisregelung, die es ungeachtet des Fehlens eines wissenschaftlichen Konsenses zulässt, dass das Vorliegen eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Fehler des Impfstoffs und dem Auftreten der Krankheit stets als bewiesen angesehen wird, wenn bestimmte im Voraus festgelegte tatsächliche Indizien für eine Ursächlichkeit vorliegen – Unzulässigkeit

(Richtlinie 85/374 des Rates, Art. 4)

1.      Art. 4 der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Beweisregelung wie der des Ausgangsverfahrens nicht entgegensteht, wonach das Tatsachengericht, wenn es wegen des behaupteten Fehlers eines Impfstoffs mit einer Haftungsklage gegen dessen Hersteller befasst ist, in Ausübung seiner Befugnis zur Beweiswürdigung annehmen kann, dass trotz der Feststellung, dass ein Zusammenhang zwischen der Verabreichung des betreffenden Impfstoffs und dem Auftreten der Krankheit, an der der Geschädigte leidet, in der medizinischen Forschung weder nachgewiesen noch widerlegt ist, bestimmte vom Kläger geltend gemachte Tatsachen ernsthafte, klare und übereinstimmende Indizien darstellen, die den Schluss auf das Vorliegen eines Fehlers des Impfstoffs sowie auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem Fehler und der Krankheit zulassen. Die nationalen Gerichte haben gleichwohl dafür Sorge zu tragen, dass die von ihnen vorgenommene konkrete Anwendung dieser Beweisregelung weder zur Missachtung der mit Art. 4 eingeführten Beweislast noch zu einer Beeinträchtigung der Wirksamkeit der mit der Richtlinie eingeführten Haftungsregelung führt.

Daher ist es zum einen Sache der nationalen Gerichte, dafür Sorge zu tragen, dass die vorgelegten Indizien tatsächlich hinreichend ernsthaft, klar und übereinstimmend sind, um die Schlussfolgerung zuzulassen, dass das Vorliegen eines Fehlers des Produkts trotz der vom Hersteller zu seiner Verteidigung vorgebrachten Beweismittel und Argumente die plausibelste Erklärung für das Eintreten des Schadens ist, so dass vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, dass der Fehler und der ursächliche Zusammenhang gegeben sind.

Zum anderen ist von Bedeutung, dass die Gerichte gewährleisten, dass der Grundsatz unberührt bleibt, wonach es Sache des Geschädigten ist, durch alle nach nationalem Recht allgemein zulässigen Beweismittel und – wie im vorliegenden Fall – insbesondere durch das Vorbringen ernsthafter, klarer und übereinstimmender Indizien einen Fehler des Impfstoffs und einen ursächlichen Zusammenhang zu beweisen. Hierfür ist erforderlich, dass das Gericht sicherstellt, dass es seine eigene freie Würdigung bezüglich der Frage, ob der Beweis rechtlich hinreichend erbracht worden ist oder nicht, erst dann vornimmt, wenn es sich, nachdem es von sämtlichen von den Parteien vorgelegten Beweismitteln und den von ihnen ausgetauschten Argumenten Kenntnis genommen hatte, in der Lage sieht, angesichts der Gesamtheit der für den bei ihm anhängigen Fall maßgeblichen Umstände zu einer endgültigen Überzeugung zu gelangen (vgl. entsprechend Urteil vom 9. November 1983, San Giorgio, 199/82, EU:C:1983:318, Rn. 14).

Im vorliegenden Fall scheinen Beweismittel wie diejenigen, die im Rahmen des Ausgangsverfahrens vorgebracht wurden und mit der zeitlichen Nähe zwischen der Verabreichung eines Impfstoffs und dem Auftreten einer Krankheit sowie dem Fehlen von einschlägigen Vorerkrankungen des Betroffenen und seiner Familie im Zusammenhang stehen, ebenso wie das Vorliegen einer bedeutenden Anzahl von erfassten Fällen, in denen diese Krankheit nach solchen Verabreichungen aufgetreten ist, a priori Indizien darzustellen, die zusammengenommen ein nationales Gericht gegebenenfalls zur Annahme veranlassen können, dass ein Geschädigter seiner Beweislast nach Art. 4 der Richtlinie 85/374 Genüge getan hat. Dies könnte insbesondere dann der Fall sein, wenn die genannten Indizien das Gericht zur Annahme bewegen, dass die Verabreichung des Impfstoffs die plausibelste Erklärung für das Auftreten der Krankheit darstellt und dass dieser Impfstoff daher nicht die Sicherheit im Sinne von Art. 6 dieser Richtlinie bietet, die man unter Berücksichtigung aller Umstände insofern zu erwarten berechtigt ist, als er zu einem anormalen und besonders schweren Schaden für den Patienten führt, der im Hinblick auf ein derartiges Produkt und seine Funktion zu Recht ein hohes Maß an Sicherheit erwarten darf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. März 2015, Boston Scientific Medizintechnik, C‑503/13 und C‑504/13, EU:C:2015:148, Rn. 39).

(vgl. Rn. 37, 38, 41, 43, Tenor 1)

2.      Art. 4 der Richtlinie 85/374 ist dahin auszulegen, dass er einer auf Vermutungen beruhenden Beweisregelung entgegensteht, wonach dann, wenn in der medizinischen Forschung ein Zusammenhang zwischen der Verabreichung des Impfstoffs und dem Auftreten der Krankheit, an der der Geschädigte leidet, weder nachgewiesen noch widerlegt ist, ein Ursachenzusammenhang zwischen dem Fehler, der einem Impfstoff zugeschrieben wird, und dem Schaden, den der Geschädigte erlitten hat, stets als bewiesen anzusehen wäre, wenn bestimmte im Voraus festgelegte tatsächliche Indizien für eine Ursächlichkeit vorliegen.

Indem das vorlegende Gericht zum einen nämlich in seiner Frage ausführt, dass, wenn bestimmte, auf diese Weise im Voraus ermittelte Tatsachen einmal dargetan seien, das Vorliegen eines ursächlichen Zusammenhangs „stets als bewiesen anzusehen“ sei, möchte es offenbar auf eine unwiderlegbare Vermutung Bezug nehmen. Diese Art von Vermutung hätte jedoch zur Folge, dass, obwohl die auf diese Weise im Voraus ermittelten Tatsachen möglicherweise nicht geeignet sind, das Vorliegen eines solchen ursächlichen Zusammenhangs mit Gewissheit darzutun, dem Hersteller in einem solchen Fall die Möglichkeit zur Geltendmachung von tatsächlichen Anhaltspunkten oder von – beispielsweise wissenschaftlichen – Argumenten, um zu versuchen, diese Vermutung zu widerlegen, genommen wäre und dem Gericht jede Möglichkeit zur Würdigung der Tatsachen im Licht dieser Beweismittel oder Argumente entzogen wäre. Durch ihren Automatismus würde eine solche Situation nicht nur den in Art. 4 der Richtlinie 85/374 genannten Grundsatz beeinträchtigen, wonach die Beweislast für den Fehler und den ursächlichen Zusammenhang beim Geschädigten liegt, sondern liefe überdies Gefahr, die Wirksamkeit selbst der mit dieser Richtlinie eingeführten Haftungsregelung zu unterlaufen. Dem Gericht würde nämlich das Vorliegen einer der drei Voraussetzungen für die Haftung des Herstellers gemäß dieser Richtlinie vorgegeben, ohne dass es die Möglichkeit hätte, zu prüfen, ob sich nach den anderen ihm vorgelegten Gesichtspunkten für die Beurteilung in dem bei ihm anhängigen Einzelfall möglicherweise eine gegenteilige Schlussfolgerung aufdrängt.

Zum anderen würde es, selbst wenn die vom vorlegenden Gericht erwogene Vermutung widerlegbar wäre, dabei bleiben, dass, wenn die vom Gesetzgeber oder vom obersten nationalen Gericht auf diese Weise im Voraus identifizierten Tatsachen bewiesen würden, das Vorliegen eines ursächlichen Zusammenhangs automatisch vermutet würde, so dass der Hersteller, noch bevor das Tatsachengericht von den Gesichtspunkten für die Würdigung, über die der Hersteller verfügt, und von seinen Argumenten Kenntnis erlangt hätte, verpflichtet sein könnte, diese Vermutung zu widerlegen, um der Klage erfolgreich entgegenzutreten. Wie jedoch bereits in Rn. 36 des vorliegenden Urteils ausgeführt, würde diese Situation dazu führen, dass die in Art. 4 der Richtlinie 85/374 vorgesehene Beweislast missachtet würde.

(vgl. Rn. 53-55, Tenor 2)