Language of document : ECLI:EU:C:2024:505

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

13. Juni 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Telekommunikationssektor – Verarbeitung personenbezogener Daten und Schutz der Privatsphäre – Richtlinie 2002/58/EG – Art. 15 Abs. 1 – Einschränkung der Vertraulichkeit der elektronischen Kommunikation – Gerichtliche Entscheidung, mit der das Mithören, Abhören und Speichern von Telefongesprächen von Personen, die einer schweren vorsätzlichen Straftat verdächtigt werden, genehmigt werden – Nationale Regelung, nach der eine solche Entscheidung selbst eine ausdrückliche schriftliche Begründung enthalten muss, unabhängig davon, ob ein begründeter Antrag der Strafverfolgungsbehörden vorliegt – Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Begründungspflicht“

In der Rechtssache C‑229/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 12. April 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 12. April 2023, in dem Strafverfahren gegen

HYA,

IP,

DD,

ZI,

SS,

Beteiligte:

Sofiyska gradska prokuratura,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten Z. Csehi, des Präsidenten der Fünften Kammer E. Regan (Berichterstatter) und des Richters I. Jarukaitis,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Irland, vertreten durch M. Browne, Chief State Solicitor, A. Burke und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von A. Thuillier, BL,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Georgieva, H. Kranenborg, P.‑J. Loewenthal und F. Wilman als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) (ABl. 2002, L 201, S. 37) sowie von Art. 47 Abs. 2, Art. 52 Abs. 1 und Art. 53 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen HYA, IP, DD, ZI und SS wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Der elfte Erwägungsgrund der Richtlinie 2002/58 lautet:

„Wie die Richtlinie 95/46/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31)], gilt auch die vorliegende Richtlinie nicht für Fragen des Schutzes der Grundrechte und Grundfreiheiten in Bereichen, die nicht unter das Gemeinschaftsrecht fallen. Deshalb hat sie keine Auswirkungen auf das bestehende Gleichgewicht zwischen dem Recht des Einzelnen auf Privatsphäre und der Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Maßnahmen nach Artikel 15 Absatz 1 dieser Richtlinie zu ergreifen, die für den Schutz der öffentlichen Sicherheit, für die Landesverteidigung, für die Sicherheit des Staates (einschließlich des wirtschaftlichen Wohls des Staates, soweit die Tätigkeiten die Sicherheit des Staates berühren) und für die Durchsetzung strafrechtlicher Bestimmungen erforderlich sind. Folglich betrifft diese Richtlinie nicht die Möglichkeit der Mitgliedstaaten zum rechtmäßigen Abfangen elektronischer Nachrichten oder zum Ergreifen anderer Maßnahmen, sofern dies erforderlich ist, um einen dieser Zwecke zu erreichen, und sofern dies im Einklang mit der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten [(im Folgenden: EMRK)] in ihrer Auslegung durch die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erfolgt. Diese Maßnahmen müssen sowohl geeignet sein als auch in einem strikt angemessenen Verhältnis zum intendierten Zweck stehen und ferner innerhalb einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein sowie angemessenen Garantien gemäß der [EMRK] entsprechen.“

4        Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten stellen die Vertraulichkeit der mit öffentlichen Kommunikationsnetzen und öffentlich zugänglichen Kommunikationsdiensten übertragenen Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten durch innerstaatliche Vorschriften sicher. Insbesondere untersagen sie das Mithören, Abhören und Speichern sowie andere Arten des Abfangens oder Überwachens von Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten durch andere Personen als die Nutzer, wenn keine Einwilligung der betroffenen Nutzer vorliegt, es sei denn, dass diese Personen gemäß Artikel 15 Absatz 1 gesetzlich dazu ermächtigt sind. Diese Bestimmung steht – unbeschadet des Grundsatzes der Vertraulichkeit – der für die Weiterleitung einer Nachricht erforderlichen technischen Speicherung nicht entgegen.“

5        Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten können Rechtsvorschriften erlassen, die die Rechte und Pflichten gemäß Artikel 5, Artikel 6, Artikel 8 Absätze 1, 2, 3 und 4 sowie Artikel 9 dieser Richtlinie beschränken, sofern eine solche Beschränkung gemäß Artikel 13 Absatz 1 der Richtlinie [95/46] für die nationale Sicherheit, (d. h. die Sicherheit des Staates), die Landesverteidigung, die öffentliche Sicherheit sowie die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten oder des unzulässigen Gebrauchs von elektronischen Kommunikationssystemen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, angemessen und verhältnismäßig ist. Zu diesem Zweck können die Mitgliedstaaten unter anderem durch Rechtsvorschriften vorsehen, dass Daten aus den in diesem Absatz aufgeführten Gründen während einer begrenzten Zeit aufbewahrt werden. Alle in diesem Absatz genannten Maßnahmen müssen den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts einschließlich den in Artikel 6 Absätze 1 und 2 [EUV] niedergelegten Grundsätzen entsprechen.“

 Bulgarisches Recht

6        Nach Art. 121 Abs. 4 der bulgarischen Verfassung „[sind] gerichtliche Entscheidungen … zu begründen“.

7        Nach Art. 34 des Nakazatelno protsesualen kodeks (Strafprozessordnung) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: NPK) „[muss jede] Entscheidung des Gerichts … eine Begründung … enthalten …“.

8        Nach Art. 105 Abs. 2 NPK sind „Beweise, die nicht nach den in diesem Gesetz festgelegten Regeln und Verfahren erhoben oder erstellt werden, unzulässig“.

9        In Art. 173 Abs. 1 NPK heißt es:

„Um im vorgerichtlichen Verfahren besondere Ermittlungsmethoden anwenden zu können, muss der leitende Staatsanwalt dem Gericht einen schriftlich begründeten Antrag vorlegen. …“

10      Art. 174 Abs. 3 und 4 NPK in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung sieht vor:

„(3)      Eine Genehmigung für die Anwendung besonderer Ermittlungsmethoden in Verfahren, die in die Zuständigkeit des Spetsializiran nakazatelen sad [(Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien)] fallen, wird im Voraus von dessen Präsidenten erteilt. …

(4)      Die in den Abs. 1 bis 3 genannte Behörde entscheidet durch mit Gründen versehenen schriftlichen Beschluss. …“

11      Art. 14 Abs. 1 des Zakon za spetsialnite razuznavatelni sredstva (Gesetz über besondere Ermittlungsmethoden) (DV Nr. 95 vom 21. Oktober 1997, S. 2) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZSRS) bestimmt:

„Der Einsatz besonderer Ermittlungsmethoden erfordert einen begründeten schriftlichen Antrag …“

12      Art. 15 Abs. 1 ZSRS in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung sieht vor:

„… [Die] Präsidenten … des Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) [genehmigen] die Anwendung besonderer Ermittlungsmethoden schriftlich … und [geben] dabei die Gründe für ihre Entscheidungen an.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

13      Zwischen dem 10. April und dem 23. Mai 2017 stellte die Spetsializirana prokuratura (Spezialisierte Staatsanwaltschaft, Bulgarien) beim Präsidenten des Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) sieben Anträge auf Erteilung einer Genehmigung zur Anwendung besonderer Ermittlungsmethoden, um die Telefongespräche von IP, DD, ZI und SS – vier Personen, die schwerer Straftaten verdächtigt wurden – mitzuhören und abzuhören bzw. zu überwachen und zurückzuverfolgen.

14      In jedem dieser Anträge auf Telefonüberwachung wurden eingehend, detailliert und mit Begründung der Gegenstand des Antrags, der Name und die Telefonnummer der betroffenen Person, der Zusammenhang zwischen dieser Nummer und dieser Person, die bislang gesammelten Beweise sowie die mutmaßliche Rolle der betroffenen Person bei den Straftaten geschildert. Die Notwendigkeit, die beantragten Telefonüberwachungen durchzuführen, um Beweise für die den Ermittlungsgegenstand bildende kriminelle Tätigkeit zu erheben, sowie die Gründe und Umstände, die die fehlende Möglichkeit einer Beschaffung dieser Informationen mit anderen Mitteln belegten, wurden ebenfalls konkret dargelegt.

15      Der Präsident des Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) gab sämtlichen Anträgen noch am Einreichungstag statt und erließ dementsprechend sieben Entscheidungen zur Genehmigung der Telefonüberwachung. Laut diesem Gericht entsprechen diese Genehmigungen einer Textvorlage, die alle möglichen Fälle einer Genehmigung abdecken soll, ohne dass auf die tatsächlichen und rechtlichen Umstände Bezug genommen wurde, mit Ausnahme des Zeitraums, für den die Anwendung der besonderen Ermittlungsmethoden genehmigt wurde. Auf der Grundlage dieser Genehmigungen wurden einige der von IP, DD, ZI und SS geführten Gespräche aufgezeichnet und gespeichert.

16      Am 19. Juni 2020 erhob die Spezialisierte Staatsanwaltschaft gegen diese vier Personen sowie eine fünfte Person, HYA, Anklage wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, deren der Bereicherung dienendes Ziel es gewesen sei, Drittstaatsangehörige über die bulgarischen Grenzen einzuschleusen, ihnen bei der illegalen Einreise nach Bulgarien behilflich zu sein und im Zusammenhang mit diesen Aktivitäten Bestechungsgelder anzunehmen oder zu zahlen.

17      Das ursprünglich mit der Sache befasste Gericht, der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht), war der Ansicht, dass der Inhalt der aufgezeichneten Gespräche von unmittelbarer Bedeutung für die Feststellung der Begründetheit der Anklagevorwürfe gegen IP, DD, ZI und SS sei und dass es zunächst die Ordnungsgemäßheit des Verfahrens zu überprüfen habe, das zu den Genehmigungen der Telefonüberwachung geführt habe.

18      In diesem Rahmen entschied das genannte Gericht mit Beschluss vom 3. Juni 2021, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, um ihn mit seiner ersten Frage zu fragen, ob mit Art. 15 Abs. 1 letzter Satz in Verbindung mit dem elften Erwägungsgrund der Richtlinie 2002/58 eine nationale Praxis vereinbar ist, wonach die Pflicht zur Begründung der gerichtlichen Entscheidung, mit der auf einen mit Gründen versehenen Antrag der Strafverfolgungsbehörden hin die Anwendung besonderer Ermittlungsmethoden genehmigt wird, erfüllt ist, wenn diese Entscheidung, die nach einer Textvorlage und ohne individualisierte Begründung abgefasst ist, sich auf den Hinweis beschränkt, dass die Anforderungen der in ihr angeführten Regelung erfüllt seien.

19      Im Urteil vom 16. Februar 2023, HYA u. a. (Begründung von Genehmigungen zur Telefonüberwachung) (C‑349/21, im Folgenden: Urteil HYA u. a. I, EU:C:2023:102), hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer solchen nationalen Praxis nicht entgegensteht, sofern die genauen Gründe, aus denen der zuständige Richter zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die gesetzlichen Anforderungen unter den tatsächlichen und rechtlichen Umständen des konkreten Falls erfüllt seien, sich leicht und eindeutig erschließen, wenn die Entscheidung und der Antrag auf Genehmigung nebeneinander gelesen werden, wobei dieser Antrag nach erteilter Genehmigung der Person zugänglich gemacht werden muss, in Bezug auf die die Anwendung besonderer Ermittlungsmethoden genehmigt wurde.

20      Unter diesen Umständen hat der Gerichtshof in Rn. 66 des genannten Urteils entschieden, dass die zweite Frage, mit der für den Fall der Verneinung der ersten Frage gefragt wurde, ob es gegen das Unionsrecht verstoße, wenn das nationale Gesetz dahin ausgelegt werde, dass die infolge einer solchen Genehmigung erlangten Informationen zum Nachweis des Anklagevorwurfs verwendet würden, nicht zu beantworten war.

21      Infolge einer am 27. Juli 2022 in Kraft getretenen Gesetzesänderung wurden bestimmte Strafsachen, die beim Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) anhängig waren, der aufgelöst wurde, an den Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia), das vorlegende Gericht in der vorliegenden Rechtssache, verwiesen. Dieses gibt in seinem Vorabentscheidungsersuchen an, dass es bei der Anwendung des Urteils HYA u. a. I auf gewisse Schwierigkeiten stoße.

22      Es weist darauf hin, dass der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht in den Rn. 56 bis 61 dieses Urteils aufgegeben habe, zu prüfen, ob die Begründung der Genehmigung der Anwendung besonderer Ermittlungsmethoden zugänglich und nachvollziehbar sei, wozu es den Antrag und die gerichtliche Genehmigung nebeneinander lesen solle.

23      Zwar sei im vorliegenden Fall der gesamte Antrag zu den Akten genommen worden und der Verteidigung zugänglich. Außerdem habe der Antrag den nach nationalem Recht erforderlichen Inhalt. Würden die in dem Antrag und in der gerichtlichen Genehmigung enthaltenen Begründungen nebeneinander gelesen, ließen sich folglich die Gründe für die gerichtliche Entscheidung, mit der das Mithören, Abhören und Speichern von Kommunikation ohne Einwilligung der Nutzer genehmigt werde, leicht und eindeutig nachvollziehen.

24      Das vom Gerichtshof im Urteil HYA u. a. I entwickelte Begründungsmodell, wonach, wenn die Genehmigung nach einer Textvorlage ohne individualisierte Begründung abgefasst sei, im Wesentlichen die Genehmigung und der Antrag nebeneinander zu lesen seien, um daraus die genauen Gründe für die Erteilung der Genehmigung abzuleiten, sei im nationalen Recht angesichts der darin vorgesehenen Anforderungen an Verfahren zum Erlass von gerichtlichen Entscheidungen, mit denen das Mithören, Abhören und Speichern von Kommunikation ohne Einwilligung der Nutzer genehmigt werde, jedoch nicht anwendbar. Art. 14 Abs. 1 ZSRS und Art. 173 Abs. 1 NPK sähen nämlich vor, dass der entsprechende Antrag der Strafverfolgungsbehörden schriftlich gestellt werden und begründet sein müsse. Ebenso verlangten Art. 15 Abs. 1 ZSRS und Art. 174 Abs. 4 NPK, dass die auf einen solchen Antrag hin erteilte gerichtliche Genehmigung selbst schriftlich erteilt und mit Gründen versehen sein müsse.

25      Folglich liege ein Widerspruch zwischen dem nationalen Recht und dem Unionsrecht in Bezug auf die Qualität der Begründung der gerichtlichen Genehmigung vor. Denn das nationale Recht verlange, dass die gerichtliche Genehmigung selbst eine ausdrückliche schriftliche Begründung enthalte, während nach dem Unionsrecht eine standardisierte gerichtliche Genehmigung ausreichend sei, wenn sie aufgrund eines mit ausführlichen Gründen versehenen Antrags erlassen worden sei, zu dem das Gericht und die Verteidigung Zugang hätten, so dass die Gründe für die ergangene Entscheidung nachvollziehbar seien, wenn die gerichtliche Genehmigung und der Antrag nebeneinander gelesen würden.

26      Da eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts nicht möglich sei, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das nationale Recht nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts zugunsten des Begründungsmodells, das der Gerichtshof im Urteil HYA u. a. I entwickelt habe, unangewendet zu bleiben hat, obwohl dieses Urteil im Widerspruch nicht nur zur früheren Rechtsprechung des Gerichtshofs, wie sie sich insbesondere aus dem Urteil vom 2. März 2021, Prokuratuur (Voraussetzungen für den Zugang zu Daten über die elektronische Kommunikation) (C‑746/18, EU:C:2021:152), ergebe, sondern auch zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wie sie sich aus dem Urteil vom 11. Januar 2022, Ekimdzhiev u. a./Bulgarien (CE:ECHR:2022:0111JUD007007812), ergebe, zu stehen scheine.

27      Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass das vom Gerichtshof im Urteil HYA u. a. I entwickelte Begründungsmodell auf einer Auslegung von Art. 47 Abs. 2 der Charta beruhe.

28      Es sei jedoch zweifelhaft, ob dieses Begründungsmodell den Anforderungen genüge, die sich erstens aus dem elften Erwägungsgrund der Richtlinie 2002/58, wonach die Anwendung der Maßnahmen nach Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie mit der EMRK und ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Einklang stehen müsse, zweitens aus Art. 52 der Charta, wonach jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte gesetzlich vorgesehen sein, den Wesensgehalt dieser Rechte achten und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren müsse, drittens aus Art. 53 der Charta, wonach keine ihrer Bestimmungen als eine Einschränkung eines durch die EMRK oder die Verfassung eines Mitgliedstaats anerkannten Rechts auszulegen sei, und viertens aus dem Äquivalenzgrundsatz ergäben, wonach eine Rechtslage, die das Unionsrecht betreffe, durch das nationale Recht und die nationale Rechtsprechung nicht ungünstiger geregelt werden dürfe als eine gleichartige Rechtslage, die ausschließlich einen innerstaatlichen Sachverhalt betreffe.

29      Es stelle sich daher die Frage, ob diese Bestimmungen und Grundsätze des Unionsrechts der Nichtanwendung nationaler Rechtsvorschriften entgegenstünden, die ausdrücklich die Begründung gerichtlicher Entscheidungen verlangten und das vom Gerichtshof im Urteil HYA u. a. I entwickelte Begründungsmodell nicht zuließen.

30      Im Übrigen fragt sich das vorlegende Gericht, ob für den Fall, dass diese erste Frage bejaht wird, das Unionsrecht auch einer nationalen Rechtsvorschrift wie Art. 105 Abs. 2 NPK, wonach aufgezeichnete Kommunikation wegen fehlender Begründung der gerichtlichen Genehmigungen von den Beweismitteln auszuschließen ist, entgegensteht, wenn diese gerichtlichen Genehmigungen nach dem Unionsrecht keiner eigenen Begründung bedürfen, sofern die Anträge hinreichend begründet sind. In diesem Fall gäbe es gemäß Art. 47 Abs. 2 der Charta kein Hindernis für die Verwertung der Telefongespräche als Beweise. Andernfalls wären die Telefongespräche nach Art. 105 Abs. 2 NPK, mangels eigener Begründung der Genehmigungen unter Verstoß gegen das nationale Recht, als Beweise auszuschließen, es sei denn, der Gerichtshof wäre der Auffassung, dass das Unionsrecht einer Auslegung dieser Bestimmung nicht entgegensteht, wonach die aufgrund einer nicht begründeten gerichtlichen Genehmigung erhobenen Beweise verwertet werden dürfen, wenn die Rechtmäßigkeit dieser Genehmigung zu einem späteren Zeitpunkt von einem Gericht unter Wahrung der Verteidigungsrechte des Angeklagten festgestellt wird.

31      Unter diesen Umständen hat der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta in der Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union im Urteil HYA u. a. I und im Licht des elften Erwägungsgrundes der Richtlinie 2002/58, von Art. 52 Abs. 1 und Art. 53 der Charta sowie des Äquivalenzgrundsatzes dahin auszulegen, dass er ein nationales Gericht verpflichtet:

–        nationale Rechtsvorschriften (Art. 121 Abs. 4 der Verfassung, Art. 174 Abs. 4 NPK und Art. 15 Abs. 2 ZSRS) sowie die Auslegung von Art. 8 Abs. 2 EMRK durch den EGMR (im Urteil vom 11. Januar 2022, Ekimdzhiev u. a./Bulgarien [CE:ECHR:2022:0111JUD007007812]), nach denen die ausdrückliche Angabe von schriftlichen Gründen in der gerichtlichen Genehmigung (zum Mithören, Abhören und Speichern von Telekommunikation ohne die Einwilligung der Nutzer) erforderlich ist, und zwar ungeachtet des Vorliegens eines begründeten Antrags, auf dessen Grundlage die Genehmigung erteilt wurde, unangewendet zu lassen, wobei der Grund für die Nichtanwendung darin liegt, dass sich, wenn man den Antrag und die Genehmigung nebeneinander liest, feststellen lässt, 1) aus welchen genauen Gründen das Gericht unter den tatsächlichen und rechtlichen Umständen des konkreten Falls zu der Auffassung gelangt ist, dass die gesetzlichen Anforderungen erfüllt seien, und 2) in Bezug auf welche Person und welches Kommunikationsmittel die gerichtliche Genehmigung erteilt wurde;

–        im Rahmen der Prüfung, ob die verfahrensgegenständliche Telekommunikation als Beweis auszuschließen ist, eine nationale Rechtsvorschrift (Art. 105 Abs. 2 NPK) unangewendet zu lassen oder unionsrechtskonform in ihrem Teil auszulegen, der die Einhaltung der nationalen Verfahrensvorschriften (vorliegend Art. 174 Abs. 4 NPK und Art. 15 Abs. 2 ZSRS) verlangt, und stattdessen die vom Gerichtshof im Urteil HYA u. a. I festgelegte Regel anzuwenden?

 Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens und zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

32      Die Kommission macht geltend, dass das Vorabentscheidungsersuchen unzulässig sei. Es sei nämlich auf eine Entscheidung des Gerichtshofs über die Frage gerichtet, ob mit dem bulgarischen Recht die nationale Gerichtspraxis, um die es im Urteil HYA u. a. I gegangen sei, vereinbar sei, bei der gerichtliche Entscheidungen, mit denen auf einen ausführlichen mit Gründen versehenen Antrag der Strafverfolgungsbehörden hin die Anwendung besonderer Ermittlungsmethoden, wie Telefonüberwachung, genehmigt werde, nach einer Textvorlage abgefasst würden, die keine individualisierte Begründung enthalte, sondern sich – abgesehen von der Angabe der Gültigkeitsdauer der Genehmigung – auf den Hinweis beschränke, dass die in den Entscheidungen angegebenen gesetzlichen Anforderungen erfüllt seien. Für eine solche Frage, die die Auslegung des nationalen Rechts betreffe, sei der Gerichtshof jedoch nicht zuständig.

33      Hierzu ist festzustellen, dass aus dem Vorabentscheidungsersuchen, das im Rahmen des Ausgangsverfahren vorgelegt worden ist, das auch dem Urteil HYA u. a. I zugrunde lag, zwar hervorgeht, dass diese nationale Gerichtspraxis nach Ansicht des vorlegenden Gerichts, an das diese Rechtssache verwiesen wurde, gegen mehrere Bestimmungen des nationalen Rechts, insbesondere Art. 121 Abs. 4 der bulgarischen Verfassung, verstößt, nach denen jede gerichtliche Entscheidung, mit der ohne Einwilligung der Nutzer das Mithören, Abhören und Speichern von Kommunikation genehmigt werde, selbst eine ausdrückliche schriftliche Begründung enthalten müsse, unabhängig davon, ob ein mit Gründen versehener Antrag der Strafverfolgungsbehörden vorliege.

34      Das vorlegende Gericht befürwortet also offenbar eine Auslegung des nationalen Rechts, die, wie aus den Rn. 47 bis 52 des Urteils HYA u. a. I hervorgeht, von der Auslegung des nationalen Gerichts abweicht, das ursprünglich mit der genannten Rechtssache befasst war und dessen Vorlagebeschluss zu dem Urteil HYA u. a. I geführt hat.

35      Nach ständiger Rechtsprechung ist der Gerichtshof jedoch nicht befugt, das innerstaatliche Recht eines Mitgliedstaats auszulegen (Urteil vom 26. Januar 2021, Hessischer Rundfunk, C‑422/19 und C‑423/19, EU:C:2021:63, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36      Allerdings möchte das vorlegende Gericht mit diesem neuen Vorabentscheidungsersuchen nicht feststellen lassen, ob diese nationale Gerichtspraxis mit den Bestimmungen des nationalen Rechts vereinbar ist, sondern, ob das Unionsrecht nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die eine solche Praxis verbieten, indem sie verlangen, dass jede gerichtliche Entscheidung, die das Mithören, Abhören und Speichern von Kommunikation ohne Einwilligung der Nutzer zulässt, unabhängig davon, ob ein begründeter Antrag der Strafverfolgungsbehörden vorliegt, selbst eine ausdrückliche schriftliche Begründung enthält. Für eine solche Frage, die die Auslegung des Unionsrechts betrifft, ist der Gerichtshof zuständig.

37      Daher ist das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen zu beantworten.

 Zur Vorlagefrage

38      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, nach denen eine gerichtliche Entscheidung, mit der das Mithören, Abhören und Speichern von Kommunikation ohne Einwilligung der betroffenen Nutzer genehmigt wird, unabhängig davon, ob ein begründeter Antrag der Strafverfolgungsbehörden vorliegt, selbst eine ausdrückliche schriftliche Begründung enthalten muss. Für den Fall, dass dies zu bejahen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die genannte Bestimmung der Richtlinie 2002/58 einer nationalen Rechtsvorschrift entgegensteht, die verlangt, dass die aufgezeichneten Gespräche in Ermangelung einer Begründung der gerichtlichen Genehmigung als Beweis ausgeschlossen werden, obwohl sich die Gründe für die Genehmigung leicht und eindeutig nachvollziehen ließen, wenn der Antrag und die Genehmigung nebeneinander gelesen würden.

39      Vorab ist festzustellen, dass sich das vorlegende Gericht vergewissert hat, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahmen in den Geltungsbereich der Richtlinie 2002/58 fallen. Denn infolge der Aufforderung des Gerichtshofs in Rn. 38 des Urteils HYA u. a. I, zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren angewandten besonderen Ermittlungsmethoden bewirkten, dass den betroffenen Betreibern von elektronischen Kommunikationsdiensten Verarbeitungspflichten auferlegt wurden, hat das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen angegeben, dass dies der Fall sei und die betroffenen Betreiber rechtlich damit betraut seien, Daten abzufangen und an die Polizeibehörden zu übermitteln.

40      Zur Vorlagefrage ist zunächst festzustellen, dass sie, wie sich aus den Rn. 24 bis 29 des vorliegenden Urteils ergibt, auf der Prämisse beruht, dass sich aus dem Urteil HYA u. a. I ergebe, dass das Unionsrecht, insbesondere Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta, von den bulgarischen Gerichten verlange, die in diesem Urteil geprüfte nationale gerichtliche Praxis anzuwenden, so dass sie die Bestimmungen des nationalen Rechts, die unter Missachtung des Begründungsmodells, das der Gerichtshof in diesem Urteil entwickelt habe, verlangten, dass jede gerichtliche Entscheidung, die das Mithören, Abhören und Speichern von Kommunikation ohne Einwilligung der betroffenen Nutzer erlaube, selbst eine ausdrückliche schriftliche Begründung enthalte, als mit dem Unionsrecht unvereinbar unangewendet lassen müssten.

41      Diese Prämisse ist jedoch unzutreffend.

42      Der Gerichtshof hat nämlich im Rahmen der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Unionsgerichten und den nationalen Gerichten in Bezug auf den tatsächlichen und rechtlichen Kontext, in den sich die Vorlagefragen einfügen, von den Feststellungen in der Vorlageentscheidung auszugehen, so dass die Prüfung eines Vorabentscheidungsersuchens in Ansehung der vom vorlegenden Gericht vorgenommenen Auslegung des nationalen Rechts erfolgen muss (vgl. insbesondere Urteil vom 8. Juni 2023, Prestige and Limousine, C‑50/21, EU:C:2023:448, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Im Einklang mit dieser Rechtsprechung hat sich der Gerichtshof im Urteil HYA u. a. I zur Vereinbarkeit der vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) in seinem Vorabentscheidungsersuchen beschriebenen nationalen Gerichtspraxis mit dem Unionsrecht geäußert. So hat der Gerichtshof, wie bereits in Rn. 19 des vorliegenden Urteils ausgeführt, im Urteil HYA u. a. I für Recht erkannt, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 in Verbindung mit Art. 47 Unterabs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer solchen nationalen Gerichtspraxis nicht entgegensteht, sofern die genauen Gründe, aus denen der zuständige Richter zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die gesetzlichen Anforderungen unter den tatsächlichen und rechtlichen Umständen des konkreten Falls erfüllt seien, sich leicht und eindeutig erschließen, wenn die Entscheidung und der Antrag auf Genehmigung nebeneinander gelesen werden, wobei dieser Antrag nach erteilter Genehmigung der Person zugänglich gemacht werden muss, in Bezug auf die die Anwendung besonderer Ermittlungsmethoden genehmigt wurde.

44      Dieses Urteil kann hingegen keineswegs dahin ausgelegt werden, dass damit ein Begründungsmodell entwickelt worden wäre, das den bulgarischen Behörden eine solche Praxis auferlegen würde, indem sie verpflichtet würden, die Bestimmungen des nationalen Rechts, nach denen eine gerichtliche Entscheidung, mit der die Anwendung besonderer Ermittlungsmethoden, wie das Mithören, Abhören und Speichern von Kommunikation genehmigt wird, selbst eine ausdrückliche schriftliche Begründung enthalten muss, unangewendet zu lassen, weil sie mit dem Unionsrecht unvereinbar seien.

45      Ganz im Gegenteil ergibt sich aus den Gründen des Urteils HYA u. a. I, dass das Unionsrecht solchen Bestimmungen des nationalen Rechts in keiner Weise entgegensteht.

46      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 der Grundsatz der Vertraulichkeit der mit öffentlichen Kommunikationsnetzen und öffentlich zugänglichen Kommunikationsdiensten übertragenen Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten verankert ist. Dieser Grundsatz spiegelt sich darin wider, dass das Mithören, Abhören und Speichern sowie andere Arten des Abfangens oder Überwachens von Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten untersagt sind, wenn keine Einwilligung der betroffenen Nutzer vorliegt, mit Ausnahme der in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie genannten Fälle (Urteil HYA u. a. I, Rn. 40).

47      So sieht diese Bestimmung vor, dass die Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften erlassen können, die die Rechte und Pflichten gemäß Art. 5 dieser Richtlinie beschränken, insbesondere, sofern eine solche Beschränkung für die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, angemessen und verhältnismäßig ist. Weiter heißt es in dieser Bestimmung, dass alle diese Rechtsvorschriften den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts einschließlich den in der Charta niedergelegten Rechten, Freiheiten und Grundsätzen entsprechen müssen (Urteil HYA u. a. I, Rn. 41).

48      Rechtsvorschriften, die den Zugang der zuständigen Behörden zu den in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 genannten Daten regeln, dürfen sich dabei nicht darauf beschränken, dass der Zugang dem mit diesen Rechtsvorschriften verfolgten Zweck zu entsprechen hat, sondern müssen auch die materiellen und prozeduralen Voraussetzungen für diese Verarbeitung vorsehen (Urteil HYA u. a. I, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49      Wie sich aus Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 ergibt, der auf Art. 6 Abs. 1 und 2 EUV Bezug nimmt, müssen solche Rechtsvorschriften und Voraussetzungen unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, zu denen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehört, und der durch die Charta garantierten Grundrechte festgelegt werden (Urteil HYA u. a. I, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50      Insbesondere müssen die oben in Rn. 48 genannten prozeduralen Voraussetzungen unter Beachtung des Rechts auf ein faires Verfahren festgelegt werden, das in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankert ist, der, wie sich aus den Erläuterungen zu diesem Artikel ergibt, Art. 6 Abs. 1 EMRK entspricht. Dieses Recht verlangt, dass jede gerichtliche Entscheidung mit Gründen zu versehen ist (Urteil HYA u. a. I, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51      Sieht eine nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 erlassene Rechtsvorschrift vor, dass der in Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie verankerte Grundsatz der Vertraulichkeit der elektronischen Kommunikation durch gerichtliche Entscheidungen eingeschränkt werden kann, so verpflichtet Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta daher die Mitgliedstaaten, vorzusehen, dass solche Entscheidungen mit Gründen zu versehen sind (Urteil HYA u. a. I, Rn. 45).

52      Das durch Art. 47 der Charta garantierte Recht auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle verlangt nämlich, dass der Betroffene Kenntnis von den Gründen für eine ihm gegenüber ergangene Entscheidung erlangen kann, entweder durch die Lektüre dieser Entscheidung oder durch eine Mitteilung dieser Gründe, um es ihm zu ermöglichen, seine Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen zu verteidigen und in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob er eine gerichtliche Kontrolle bei einem für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung zuständigen Gericht beantragt (Urteil HYA u. a. I, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

53      Daraus folgt, dass eine nationale Regelung, nach der jede gerichtliche Entscheidung, die das Mithören, Abhören und Speichern von Kommunikation ohne Einwilligung der betroffenen Nutzer genehmigt, selbst eine ausdrückliche schriftliche Begründung enthalten muss, zwangsläufig den sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen an die Begründung genügt. Die nationalen Gerichte sind daher keineswegs verpflichtet, eine solche Regelung unangewendet zu lassen.

54      Somit ist auf den ersten Teil der Frage zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, nach denen eine gerichtliche Entscheidung, mit der das Mithören, Abhören und Speichern von Kommunikation ohne Einwilligung der betroffenen Nutzer genehmigt wird, unabhängig davon, ob ein begründeter Antrag der Strafverfolgungsbehörden vorliegt, selbst eine ausdrückliche schriftliche Begründung enthalten muss.

55      In Anbetracht der Antwort auf den ersten Teil der Frage ist deren zweiter Teil nicht zu beantworten.

 Kosten

56      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

ist dahin auszulegen, dass

er nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, nach denen eine gerichtliche Entscheidung, mit der das Mithören, Abhören und Speichern von Kommunikation ohne Einwilligung der betroffenen Nutzer genehmigt wird, unabhängig davon, ob ein begründeter Antrag der Strafverfolgungsbehörden vorliegt, selbst eine ausdrückliche schriftliche Begründung enthalten muss.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Bulgarisch.