Language of document : ECLI:EU:C:2024:510

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 13. Juni 2024(1)

Rechtssache C368/23 [Fautromb](i) 

Haut conseil du commissariat aux comptes

gegen

MO

(Vorabentscheidungsersuchen der Formation restreinte du Haut conseil du commissariat aux comptes [Kleine Formation des Hohen Rates für Abschlussprüfung, Frankreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 267 AEUV – Begriff des einzelstaatlichen Gerichts – Kriterien – Dienstleistungsfreiheit – Richtlinie 2006/43/EG – Art. 22 und 52 – Verordnung (EU) Nr. 537/2014 – Art. 5 Abs. 1 und 2 – Richtlinie 2006/123/EG – Art. 25 – Multidisziplinäre Tätigkeiten – Nationale Regelung, die es Abschlussprüfern untersagt, andere gewerbliche Tätigkeiten auszuüben als Nebentätigkeiten zum Beruf des Wirtschaftsprüfers – Verbindung der Richtlinie 2006/43 und der Verordnung Nr. 537/2014 mit der Richtlinie 2006/123 – Art. 3 der Richtlinie 2006/123 – Verstoß gegen andere Vorschriften des Unionsrechts – Art. 49 und 56 AEUV – Zwingende Gründe des Allgemeininteresses – Verhältnismäßigkeit“






1.        Beim Haut conseil du commissariat aux comptes (Hoher Rat für Abschlussprüfung, Frankreich, im Folgenden: H3C) handelte es sich zum Zeitpunkt des dem Vorabentscheidungsersuchen zugrunde liegenden Sachverhalts(2) um die französische Behörde für die Regulierung des Berufs des Abschlussprüfers.

2.        Die Formation restreinte (Kleine Formation) des H3C hat darüber zu entscheiden, ob sie gegen einen Abschlussprüfer, dem Tätigkeiten vorgeworfen werden, die nach nationalem Recht nicht mit seiner Stellung vereinbar sind, eine Geldbuße verhängt und ihm die Ausübung seines Berufs untersagt.

3.        Vor ihrer Entscheidung hat die Formation restreinte des H3C dem Gerichtshof Fragen vorgelegt, die die Vereinbarkeit der französischen Rechtsvorschriften, die Abschlussprüfern untersagen, andere gewerbliche Tätigkeiten auszuüben als Nebentätigkeiten zum Beruf des Wirtschaftsprüfers, mit dem Unionsrecht betreffen. Zu diesem Zweck ersucht die Formation restreinte des H3C den Gerichtshof um die Auslegung der Richtlinie 2006/123/EG(3), der Richtlinie 2006/43/EG(4) und der Verordnung (EU) Nr. 537/2014(5).

4.        Das Vorabentscheidungsersuchen ist zulässig, wenn der Gerichtshof davon ausgeht, dass die Formation restreinte des H3C gerichtliche Funktionen im Sinne von Art. 267 AEUV ausübt, was nach Ansicht der französischen Regierung nicht der Fall ist. Aus Gründen, die ich später erläutern werde, stimme ich mit der französischen Regierung darin überein, dass der Gerichtshof das Vorabentscheidungsersuchen nicht zulassen sollte.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Richtlinie 2006/123

5.        Art. 3 („Verhältnis zu geltendem Gemeinschaftsrecht“) bestimmt:

„(1)      Widersprechen Bestimmungen dieser Richtlinie einer Bestimmung eines anderen Gemeinschaftsrechtsaktes, der spezifische Aspekte der Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in bestimmten Bereichen oder bestimmten Berufen regelt, so hat die Bestimmung des anderen Gemeinschaftsrechtsaktes Vorrang und findet auf die betreffenden Bereiche oder Berufe Anwendung. …“

6.        Art. 25 („Multidisziplinäre Tätigkeiten“) legt fest:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Dienstleistungserbringer keinen Anforderungen unterworfen werden, die sie verpflichten, ausschließlich eine bestimmte Tätigkeit auszuüben, oder die die gemeinschaftliche oder partnerschaftliche Ausübung unterschiedlicher Tätigkeiten beschränken.

Jedoch können folgende Dienstleistungserbringer solchen Anforderungen unterworfen werden:

a)      Angehörige reglementierter Berufe, soweit dies gerechtfertigt ist, um die Einhaltung der verschiedenen Standesregeln im Hinblick auf die Besonderheiten der jeweiligen Berufe sicherzustellen und soweit dies nötig ist, um ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu gewährleisten;

…“

2.      Richtlinie 2006/43

7.        Art. 22 („Unabhängigkeit und Unparteilichkeit“) enthält Bestimmungen, deren Einhaltung die Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, um zu gewährleisten, dass Abschlussprüfer und Prüfungsgesellschaften von dem geprüften Unternehmen unabhängig sind, keine finanziellen Interessen an diesem Unternehmen oder mit ihm verbundenen Unternehmen haben und Interessenkonflikte untereinander vermeiden.

8.        Art. 52 („Mindestharmonisierung“) lautet:

„Die Mitgliedstaaten, die eine Abschlussprüfung vorschreiben, können, wenn in dieser Richtlinie nicht anders vorgeschrieben, strengere Anforderungen aufstellen.“

3.      Verordnung Nr. 537/2014

9.        Art. 5 („Verbot der Erbringung von Nichtprüfungsleistungen“) bestimmt:

„(1)      Der Abschlussprüfer oder die Prüfungsgesellschaft eines Unternehmens von öffentlichem Interesse und jedes Mitglied eines Netzwerks, dem der Abschlussprüfer bzw. die Prüfungsgesellschaft angehört, darf weder direkt noch indirekt für das geprüfte Unternehmen, dessen Mutterunternehmen oder die von ihm beherrschten Unternehmen in der Union verbotene Nichtprüfungsleistungen innerhalb folgender Zeiträume erbringen:

a)      innerhalb des Zeitraums zwischen dem Beginn des Prüfungszeitraums und der Abgabe des Bestätigungsvermerks und

b)      innerhalb des Geschäftsjahrs, das dem in Buchstabe a genannten Zeitraum unmittelbar vorausgeht, in Bezug auf die in Unterabsatz 2 Buchstabe g genannten Leistungen.

Für die Zwecke dieses Artikels bezeichnet der Ausdruck ‚verbotene Nichtprüfungsleistungen‘:

(2)      Die Mitgliedstaaten können andere als die in Absatz 1 aufgeführten Leistungen verbieten, wenn diese ihrer Ansicht nach eine Gefährdung der Unabhängigkeit darstellen könnten. …

…“

B.      Französisches Recht

1.      Code de commerce (Handelsgesetzbuch)

a)      Regelung des H3C, die in zeitlicher Hinsicht anwendbar ist

10.      Art. L. 821-1 Abs. I legt fest, dass der H3C u. a. die Aufgabe hat, das Verzeichnis der Abschlussprüfer zu führen, Regeln für die Berufsethik der Abschlussprüfer, die interne Qualitätskontrolle und die Berufsausübung zu erlassen, die Einhaltung der entsprechenden Pflichten der Abschlussprüfer zu überwachen und Sanktionen zu verhängen.

11.      Gemäß Art. L. 821-2 Abs. II entscheidet die Formation restreinte des H3C über die Verhängung von Sanktionen.

12.      Nach Art. L. 821-3-1 verfügt der H3C über eine Abteilung, die für Untersuchungen vor der Einleitung von Sanktionsverfahren zuständig ist. Dieser Dienst wird von einem Rapporteur général (Generalberichterstatter) geleitet.

13.      Gemäß Art. L. 824-4 hat der Vorsitzende des H3C den Generalberichterstatter über alle Tatsachen in Kenntnis zu setzen, die die Einleitung eines Sanktionsverfahrens rechtfertigen könnten. Der Generalberichterstatter kann außerdem ein Verfahren auf der Grundlage von an ihn gerichteten Beschwerden einleiten.

b)      Unvereinbarkeit der Aufgaben der Abschlussprüfer

14.      Art. L. 822-10 in der vor dem Gesetz Nr. 2019-486 vom 22. Mai 2019(6) gültigen Fassung sah vor, dass die Aufgaben des Abschlussprüfers unvereinbar sind:

„1.      mit jeglicher Tätigkeit oder Handlung, die seine Unabhängigkeit beeinträchtigen könnte;

2.      mit jeglicher abhängigen Beschäftigung; ein Abschlussprüfer kann jedoch Unterricht erteilen, der mit der Ausübung seines Berufs in Zusammenhang steht, oder eine entgeltliche Beschäftigung bei einem Abschluss- oder Wirtschaftsprüfer ausüben;

3.      mit jeglicher gewerblichen Tätigkeit, unabhängig davon, ob sie unmittelbar oder über eine zwischengeschaltete Person ausgeübt wird.“

15.      Mit dem Gesetz Nr. 2019-486 wurden zwei Ausnahmen von der dritten der genannten Unvereinbarkeiten eingeführt. Seitdem sind die Aufgaben des Abschlussprüfers vereinbar mit:

–        gewerblichen Nebentätigkeiten zum Beruf des Wirtschaftsprüfers, die unter Wahrung der Standes- und Unabhängigkeitsregeln für Abschlussprüfer und unter den in Art. 22 Abs. 3 der Ordonnance Nr. 45‑2138 vom 19. September 1945(7) vorgesehenen Bedingungen ausgeübt werden; und

–        gewerblichen Nebentätigkeiten, die von einer „multiprofessionellen Berufsausübungsgesellschaft“ unter den in Art. 31‑5 des Gesetzes Nr. 90‑1258(8) vorgesehenen Bedingungen ausgeübt werden.

2.      Ordonnance Nr. 45-2138

16.      Art. 22 bestimmt:

„Die Tätigkeit des Wirtschaftsprüfers ist mit jeglicher Beschäftigung oder Handlung unvereinbar, die geeignet ist, die Unabhängigkeit der sie ausübenden Person zu beeinträchtigen, insbesondere:

der Ausübung jeglicher gewerblichen Tätigkeit oder Vermittlungshandlung, die nicht zur Berufsausübung gehört, es sei denn, sie wird als Nebentätigkeit ausgeübt und ist nicht geeignet, die Berufsausübung oder die Unabhängigkeit der Partner des Wirtschaftsprüfers sowie die Einhaltung der ihrem Status und ihren Standesgrundsätzen immanenten Regeln durch sie zu gefährden …“

II.    Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

17.      MO ist seit 1976 Abschlussprüfer. Außerdem ist er seit 1967 im Berufsregister der Wirtschaftsprüferkammer eingetragen.

18.      MO hält unmittelbar oder über die Aktiengesellschaft Fiducial International mittelbar 99,9 % des Kapitals der französischen Gesellschaft bürgerlichen Rechts Fiducial (Fiducial SC), deren Geschäftsführer er ist. Diese Gesellschaft ist die Muttergesellschaft der 1970 von MO gegründeten multidisziplinären Fiducial-Gruppe(9).

19.      Am 3. Januar 2022 setzte die Vorsitzende des H3C den Generalberichterstatter über eine Reihe von Tatsachen in Kenntnis, die ihrer Ansicht nach darauf hindeuten, dass MO gewerbliche Tätigkeiten ausübe, die mit den Aufgaben eines Abschlussprüfers unvereinbar seien. Am selben Tag leitete der Generalberichterstatter eine Untersuchung wegen Verstoßes durch MO gegen seine Pflichten aus den Abschlussprüfungsvorschriften ein.

20.      Am 13. Oktober 2022 wurde formal ein Sanktionsverfahren gegen MO eingeleitet.

21.      Die Formation restreinte des H3C hat zu entscheiden, ob MO seit dem 3. Januar 2016 gegen Art. L. 822‑10 Nr. 3 des Code de commerce (Handelsgesetzbuch) verstoßen hat. MO soll diesen Verstoß dadurch begangen haben, dass er unmittelbar oder mittelbar über die Gesellschaften Fiducial SC und Fiducial International gewerbliche Tätigkeiten ausgeübt habe, die nicht als Nebentätigkeiten zum Beruf des Wirtschaftsprüfers eingestuft werden könnten und daher mit den Aufgaben des Abschlussprüfers unvereinbar seien(10).

22.      In der Sitzung vom 13. April 2023 beantragte der Generalberichterstatter die Streichung von MO aus dem Verzeichnis der Abschlussprüfer, die Verhängung einer Geldbuße in Höhe von 250 000 Euro und die Anordnung der Veröffentlichung der Entscheidung in einer Wirtschafts- oder Finanzzeitung auf Kosten von MO.

23.      In derselben Sitzung trat der Vertreter von MO der Verhängung einer Sanktion mit dem Argument entgegen, dass Art. L. 822‑10 Nr. 3 des Code de commerce gegen das Unionsrecht, und zwar konkret gegen Art. 25 der Richtlinie 2006/123 verstoße.

24.      Die Formation restreinte des H3C zweifelt, ob das den Abschlussprüfern auferlegte Verbot, eine gewerbliche Tätigkeit auszuüben, mit Art. 25 der Richtlinie 2006/123 in Verbindung mit anderen Vorschriften des Unionsrechts vereinbar ist.

25.      Die Formation restreinte des H3C vertritt im Wesentlichen folgende Auffassung:

–        Das Verbot könne Interessenkonflikten vorbeugen und folglich die Risiken einer Beeinträchtigung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Abschlussprüfer begrenzen.

–        Das Verbot könne unter die den Mitgliedstaaten zustehende Befugnis fallen, strengere Anforderungen als die in der Richtlinie 2006/43 ausdrücklich vorgesehenen vorzuschreiben.

–        Die Ausnahmen von diesem Verbot (wonach von Abschlussprüfern ausgeübte gewerbliche Nebentätigkeiten zum Beruf des Wirtschaftsprüfers oder gewerbliche Nebentätigkeiten, die von einer multiprofessionellen Berufsausübungsgesellschaft ausgeübt werden, zulässig sind) begrenzten den Eingriff in die Freiheit der Abschlussprüfer, ihre Tätigkeiten zu diversifizieren. Gleichzeitig werde jedoch sichergestellt, dass diese zulässigen Tätigkeiten den für Wirtschaftsprüfer oder andere reglementierte Berufe geltenden standesrechtlichen Anforderungen unterlägen(11).

26.      Vor diesem Hintergrund hat der H3C dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist Art. 25 der Richtlinie 2006/123 insbesondere unter Berücksichtigung der Bestimmungen der Richtlinie 2006/43 und der Verordnung Nr. 537/2014 dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die Abschlussprüfern und Prüfungsgesellschaften die Ausübung jeglicher gewerblichen Tätigkeit unabhängig davon verbieten, ob diese unmittelbar oder über eine zwischengeschaltete Person ausgeübt wird?

2.      Wenn ja, gilt dies auch dann, wenn diese Rechtsvorschriften als Ausnahme zum einen die gewerblichen Nebentätigkeiten zum Beruf des Wirtschaftsprüfers, die unter Wahrung der Standes- und Unabhängigkeitsregeln für Abschlussprüfer und unter den in Art. 22 Abs. 3 der Ordonnance Nr. 45‑2138 vorgesehenen Bedingungen ausgeübt werden, und zum anderen die gewerblichen Nebentätigkeiten, die von einer multiprofessionellen Berufsausübungsgesellschaft unter den in Art. 31‑5 des Gesetzes Nr. 90‑1258 vom 31. Dezember 1990 vorgesehenen Bedingungen ausgeübt werden, von diesem Verbot ausschließen?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

27.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 12. Juni 2023 beim Gerichtshof eingegangen.

28.      MO, die belgische und die französische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Mit Ausnahme der belgischen Regierung haben alle an der mündlichen Verhandlung vom 9. April 2024 teilgenommen.

IV.    Würdigung

A.      Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

29.      Die französische Regierung ist der Ansicht, das Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig, da es sich bei der Formation restreinte des H3C nicht um ein Gericht handele, das nach Art. 267 AEUV befugt sei, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.

30.      Sie stützt ihren Einwand auf das Urteil CityRail(12) und führt im Wesentlichen aus:

–        Beim H3C handele es sich um eine unabhängige Verwaltungsbehörde, und diesem Umstand komme, wie im Urteil CityRail (Rn. 45) hervorgehoben werde, bei der Prüfung, ob seine Entscheidungen Rechtsprechungscharakter hätten, unabhängig von den von der vorlegenden Einrichtung angeführten traditionellen Kriterien(13), eine besondere Bedeutung zu. Der H3C „hat auf die [Kriterien Vaassen-Göbbels] verwiesen, ohne zu prüfen, warum die von ihm zu treffende Entscheidung gerichtlicher Art im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs sei“(14).

–        Im Rahmen des öffentlichen Aufsichtssystems für Abschlussprüfungen halte sich der H3C an die Richtlinie 2006/43, die in Art. 30d vorsehe, dass gegen seine Entscheidungen Rechtsmittel eingelegt werden könnten. In Frankreich liege die Zuständigkeit, in erster und letzter Instanz über Rechtsmittel mit unbeschränkter Nachprüfung gegen Entscheidungen des H3C zu entscheiden, beim Conseil d’État (Staatsrat). Dieser Umstand sei ein Indiz dafür, dass solche Entscheidungen Verwaltungscharakter aufwiesen (Urteil CityRail, Rn. 62).

–        Bei den vom H3C verhängten Sanktionen handele es sich um verwaltungsrechtliche Sanktionen, die definitionsgemäß nicht von Gerichten verhängt würden. Die Formation restreinte des H3C prüfe nicht die Rechtmäßigkeit einer zuvor getroffenen Entscheidung, sondern treffe im Rahmen eines Verwaltungssanktionsverfahrens erstmals eine Entscheidung.

–        Die interne organisatorische Ausgestaltung des H3C entspreche den verfassungsrechtlichen Vorgaben, da Untersuchungs- und Ermittlungsaufgaben einerseits von der Verhängung von Sanktionen andererseits getrennt würden. Sie ergebe sich aus dem Ziel, das Recht auf Verteidigung und den Aufbau des Sanktionsverfahrens als streitiges Verfahren zu gewährleisten. Die Entscheidung, die der H3C am Ende dieses Verfahrens treffe, werde dem H3C selbst „als Einrichtung“ zugerechnet.

31.      Meines Erachtens ist dem Einwand der französischen Regierung zu folgen. Um meinen Standpunkt zu begründen, muss ich zwangsläufig sowohl auf die Erwägungen in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache CityRail(15) als auch auf das Urteil in dieser Rechtssache Bezug nehmen.

1.      Vorabentscheidungsersuchen und unabhängige Aufsichtsbehörden

32.      Der Ansatz der Überprüfung der Kriterien Vaassen-Göbbels wird üblicherweise angewandt, um festzustellen, ob ein Vorabentscheidungsersuchen von einem Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV stammt.

33.      Werden jedoch die Kategorien des Art. 267 AEUV auf unabhängige Regulierungs- und Aufsichtsbehörden angewandt, verlieren die Kriterien Vaassen-Göbbels (insbesondere die Unabhängigkeit der Einrichtung) an Bedeutung. Damit solche Behörden als Gerichte angesehen werden können, reicht es nicht aus, dass diese Kriterien erfüllt sind(16).

34.      Insoweit ist die Prüfung von Bedeutung, ob die unabhängigen Behörden angesichts der besonderen Art ihrer Aufgaben in einem bestimmten Kontext im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt(17).

35.      So hat der Gerichtshof entschieden: „Dieser Prüfung kommt eine besondere Bedeutung im Fall von Verwaltungsbehörden zu, deren Unabhängigkeit eine unmittelbare Folge der sich aus dem Unionsrecht ableitenden Anforderungen ist, das ihnen Befugnisse zur sektorspezifischen Kontrolle und zur Überwachung der Märkte verleiht. Obwohl diese Behörden die … Kriterien … Vaassen-Göbbels [erfüllen können], handelt es sich bei der sektoriellen Kontrolle und Überwachung der Märkte im Wesentlichen um eine Verwaltungstätigkeit …, da sie die Ausübung von Befugnissen umfasst, die mit denen der Gerichte nichts zu tun haben“(18).

36.      In Art. L. 821-1 des Code de commerce wird der H3C als unabhängige öffentliche Behörde definiert. Die französische Regierung weist darauf hin, dass diese Unabhängigkeit eine unmittelbare Folge der unionsrechtlichen Erfordernisse sei(19), und führt aus, dass die Befugnisse des H3C verwaltungsrechtlicher und nicht gerichtlicher Art seien.

2.      Sanktionsfunktionen der unabhängigen Behörden

37.      Art. 32 Abs. 4 der Richtlinie 2006/43 nennt eine lange Reihe von Aufgaben der nationalen Regulierungsbehörden im Bereich der Abschlussprüfung. Dabei handelt es sich um eine Reihe typischer Verwaltungsbefugnisse, die den spezifischen Kontext bilden, in dem sie ihre Aufgaben wahrnehmen(20).

38.      Für den vorliegenden Fall ist die Aufgabe, die ihnen in Kapitel VII („Untersuchungen und Sanktionen“) der Richtlinie 2006/43 zugewiesen wird, von Bedeutung. Art. 30a  gibt den nationalen Behörden die Befugnis, Sanktionen zu verhängen, wobei klargestellt wird, dass es sich um „verwaltungsrechtliche Sanktionen“ handelt, was in Art. 30c bekräftigt wird.

39.      Der H3C verfügt im Bereich der Abschlussprüfung über verwaltungsrechtliche Sanktionsbefugnisse. Zunächst ist dieses Merkmal „ein Indiz dafür, dass [er] keinen Rechtsprechungs‑, sondern Verwaltungscharakter hat“(21).

40.      In der mündlichen Verhandlung ist erörtert worden, ob das Urteil CityRail so auszulegen ist, dass es nur für die Regulierungsaufgaben der unabhängigen Behörden heranzuziehen ist, oder ob es sich auch auf deren Sanktionsfunktionen erstrecken sollte(22). Meines Erachtens gibt es keinen Grund, die Reichweite dieses Urteils einzuschränken, zumal die Zuweisung von Sanktionsbefugnissen an unabhängige Behörden für die Erfüllung ihrer Aufgaben häufig von wesentlicher Bedeutung ist.

3.      Sanktionsverfahren

41.      Weiterhin sprechen als Indizien dafür, dass die fragliche Einrichtung nicht Gerichts‑, sondern Verwaltungsfunktionen ausübt, „die Befugnis zur Einleitung von Verfahren von Amts wegen … sowie die Befugnis, ebenfalls von Amts wegen Sanktionen in ihren Zuständigkeitsbereichen zu verhängen“(23).

42.      Der H3C handelt in Fällen wie dem vorliegenden jedoch von Amts wegen, d. h. ohne vorherige Beschwerde(24), nachdem sein Vorsitzender die Einleitung des Verfahrens angeordnet hat. In der letzten Phase des Sanktionsverfahrens ist zwar nur die kleine Formation beteiligt, jedoch handelt es sich bei dieser Formation immer noch um eines der Gremien, aus denen sich der H3C zusammensetzt. Dem H3C werden, wie die französische Regierung erläutert, die Entscheidungen seiner internen Organe zugerechnet. Er ist also keine Behörde, die in Bezug auf ihre Formation restreinte die Stellung eines Dritten hat oder umgekehrt.

43.      Die Entscheidung wird zwar vom Generalberichterstatter vorbereitet. Selbst wenn also für die abschließende Entscheidung nicht derjenige zuständig ist, der das Verfahren bearbeitet, übernimmt jedoch letztlich der H3C alle Funktionen, wenn auch getrennt oder aufgeteilt auf verschiedene Einheiten seiner Organisationsstruktur.

44.      Der Aufbau des Verwaltungsverfahrens in der vorliegenden Rechtssache zeigt, dass es sich streng genommen nicht um einen Rechtsstreit zwischen Parteien, sondern um ein Ermittlungsverfahren gegen MO handelt. Es ist hier nicht die Aufgabe der Formation restreinte des H3C, eine frühere Entscheidung zu überprüfen, sondern in Ausübung ihrer Sanktionsbefugnis erstmalig Stellung zu nehmen und eine Entscheidung zu treffen(25).

45.      Was die Trennung der Ermittlungs- und Entscheidungsfunktionen im Rahmen der Verhängung von Sanktionen betrifft, so ist es nur folgerichtig, dass die Einrichtung, die die Entscheidung zu treffen hat, von der Einrichtung, die für die Ermittlung des Sachverhalts und die Einleitung des Verfahrens zuständig ist, getrennt ist. Die französische Regierung hebt, wie ich bereits dargestellt habe, hervor, dass diese Trennung den verfassungsrechtlichen Anforderungen entspreche(26).

46.      Folglich ist im Ausgangsverfahren die Trennung von Ermittlungs- und Entscheidungsaufgaben kein Indiz für die Ausübung richterlicher Funktionen.

47.      Die Entscheidung, die die Formation restreinte des H3C am Ende des Verfahrens trifft, ist anders als bei gerichtlichen Entscheidungen in keinem Fall rechtskräftig.

48.      In der mündlichen Verhandlung hat die französische Regierung darauf hingewiesen, dass die sanktionierende Einrichtung als Ausnahme von der allgemeinen Regel die erlassene Maßnahme nachträglich aufheben könne und dass es sich dabei um eine Eigenschaft handele, die gerichtlichen Entscheidungen fremd sei(27). Die Verteidigung von MO hat diese Möglichkeit jedoch abgelehnt.

4.      Gerichtliche Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen der unabhängigen Behörde

49.      Der Gerichtshof hat die Tätigkeit von Regulierungsstellen, die nicht die Aufgabe haben, die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung zu prüfen, sondern erstmals zur Beschwerde eines Bürgers Stellung zu nehmen, und deren Entscheidungen mit einem gerichtlichen Rechtsbehelf angefochten werden können, als „Verwaltungs“-tätigkeit eingestuft(28).

50.      Weiterhin hat er festgestellt:

–        Der Umstand, dass die Mitgliedstaaten „die gerichtliche Nachprüfbarkeit von Entscheidungen der Regulierungsstelle [gewährleisten], [ist] ein Indiz dafür …, dass solche Entscheidungen Verwaltungscharakter aufweisen“(29).

–        „Eine solche Beteiligung der Regulierungsstelle an einem Beschwerdeverfahren, in dem ihre eigene Entscheidung in Frage gestellt wird, ist … ein Indiz dafür, dass die Regulierungsstelle beim Erlass dieser Entscheidung im Verhältnis zu den beteiligten Interessen nicht die Eigenschaft eines Dritten … hat“(30).

51.      In ihrem Vorabentscheidungsersuchen übersieht die vorlegende Einrichtung die Bedeutung des Rechtsmittels gegen seine Entscheidungen. Aus den Erklärungen der französischen Regierung geht hingegen hervor, dass im Einklang mit Art. 30d der Richtlinie 2006/43(31) gegen die Entscheidung der Formation restreinte des H3C ein Rechtsmittel beim Conseil d’État (Staatsrat) eingelegt werden kann.

52.      Mit der Entscheidung über diesen Rechtsbehelf, für den er eine umfassende Nachprüfungsbefugnis hat, übt der Conseil d’État (Staatsrat) eine vollständige sachliche und rechtliche Kontrolle über die Entscheidung aus, die durch die von der französischen Regierung als „Verwaltungsorgan“(32) bezeichnete Formation restreinte des H3C getroffen wurde.

53.      Diese Abhängigkeit von einer gerichtlichen Überprüfung führt dazu, dass die Sanktionsentscheidung des H3C „nicht die Merkmale einer Gerichtsentscheidung – insbesondere materielle Rechtskraft – [aufweist]“(33). Vielmehr kann sie zu einem Gerichtsverfahren führen, in dem der H3C die Stellung des Beklagten einnimmt(34). Auch dieser Umstand „ist … ein Indiz dafür, dass die Regulierungsstelle beim Erlass dieser Entscheidung im Verhältnis zu den beteiligten Interessen nicht die Eigenschaft eines Dritten … hat“(35).

54.      Im Rahmen des anschließenden Verfahrens vor dem eigentlichen Gericht (dem Conseil d’État) kann dieses den Gerichtshof anrufen, um seine Fragen zur Auslegung des Unionsrechts vorzulegen, sofern es dies für erforderlich erachtet(36).

55.      Es besteht folglich hinsichtlich dieser Auslegung nicht die Gefahr einer Lücke. Unter dem Gesichtspunkt der einheitlichen Auslegung des Unionsrechts ermöglicht es „die Existenz dieser gerichtlichen Rechtsbehelfe …, die Wirksamkeit des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Mechanismus des Vorabentscheidungsverfahrens … zu gewährleisten“(37).

5.      Zwischenergebnis

56.      Aus der Summe der vorstehend dargelegten Argumente ergibt sich, dass die Formation restreinte des H3C bei der Verhängung einer verwaltungsrechtlichen Sanktion gegen einen Abschlussprüfer keine gerichtlichen Funktionen ausübt. Insoweit ist sie nicht berechtigt, den Mechanismus des Art. 267 AEUV zu nutzen. Ihr Ersuchen um Vorabentscheidung ist somit unzulässig.

57.      Für den Fall, dass der Gerichtshof einen anderen Standpunkt vertritt, werde ich jedoch auf die Beantwortung der Fragen eingehen.

B.      Zur Beantwortung der Fragen

1.      Vorbemerkungen

58.      Die erste Vorlagefrage bezieht sich auf die nationalen Rechtsvorschriften, die Abschlussprüfern und Prüfungsgesellschaften die Ausübung jeglicher gewerblichen Tätigkeit untersagen. Die vorlegende Einrichtung möchte wissen, ob diese Regelung, „insbesondere unter Berücksichtigung der Bestimmungen der Richtlinie 2006/43 und der Verordnung Nr. 537/2014“, die es nicht näher angibt, gegen Art. 25 der Richtlinie 2006/123 verstößt.

59.      Die zweite Frage wird für den Fall gestellt, dass die erste Frage bejaht wird. Für diesen Fall möchte die vorlegende Einrichtung wissen, ob die Antwort anders ausfiele, wenn die nationalen Rechtsvorschriften bestimmte Ausnahmen von der Unvereinbarkeit (gewerbliche Nebentätigkeiten zum Beruf des Wirtschaftsprüfers oder gewerbliche Nebentätigkeiten, die von einer multiprofessionellen Berufsausübungsgesellschaft ausgeübt werden) zulassen.

60.      Zunächst ist die zeitliche Abfolge der nationalen Vorschriften zu klären, da der MO zu Last gelegte Sachverhalt zwischen dem 3. Januar 2016 und dem Tag, an dem das Verfahren gegen ihn eingeleitet wurde, d. h. dem 3. Januar 2022, stattfand. In diesem Zeitraum existierte Nr. 3 des Art. L. 822‑10 des Code de commerce in zwei verschiedenen Fassungen.

–        Vom 3. Januar 2016 bis zum Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 2019‑486 war es Abschlussprüfern absolut untersagt, unmittelbar oder über eine zwischengeschaltete Person eine gewerbliche Tätigkeit auszuüben.

–        Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 2019-486 ist dieses Verbot eingeschränkt, und es gelten die beiden bereits von mir dargestellten Ausnahmen(38).

61.      Die einzelnen Fragen beziehen sich jeweils auf die entsprechenden, in diesen Teilzeiträumen anwendbaren Gesetzesfassungen.

62.      Aus einem anderen Blickwinkel und in Bezug auf die zweite Frage ist nicht klar, warum die Ausnahmeregelung für „gewerbliche … Nebentätigkeiten, die von einer multiprofessionellen Berufsausübungsgesellschaft unter den in Art. 31‑5 des Gesetzes Nr. 90‑1258 … vorgesehenen Bedingungen ausgeübt werden“, in die Debatte eingebracht wird. Ich bin ebenso wie die französische Regierung(39) der Auffassung, dass diese Ausnahme im vorliegenden Fall und angesichts des MO zu Last gelegten Sachverhalts nicht von Bedeutung ist.

63.      Es geht vorliegend nicht darum, ob eine Prüfungsgesellschaft Angehörige anderer Berufsgruppen integrieren und gleichzeitig andere Tätigkeiten als die der Abschlussprüfung ausüben kann(40). Im vorliegenden Rechtsstreit geht es ausschließlich um die Frage, ob ein Abschlussprüfer, bei dem es sich um eine natürliche Person handelt, über Gesellschaften, deren Kapital er hält bzw. an denen er beteiligt ist, andere gewerbliche Tätigkeiten ausüben darf.

64.      Ich werde mich daher bei der zweiten Frage auf die Ausnahme der „gewerblichen Nebentätigkeiten zum Beruf des Wirtschaftsprüfers, die unter Wahrung der Standes- und Unabhängigkeitsregeln für Abschlussprüfer und unter den in Art. 22 Abs. 3 der Ordonnance Nr. 45‑2138 vorgesehenen Bedingungen ausgeübt werden“, konzentrieren.

2.      Anwendbare Vorschriften des Unionsrechts

65.      Die Fragen der vorlegenden Einrichtung beziehen sich auf die Auslegung von Art. 25 der Richtlinie 2006/123 im Licht der Richtlinie 2006/43 (die die Tätigkeit von Abschlussprüfern in der Union regelt) und der Verordnung Nr. 537/2014 (die nur für Abschlussprüfungen bei Unternehmen von öffentlichem Interesse gilt)(41).

66.      Gemäß Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2006/123(42) hat, wenn Bestimmungen dieser Richtlinie einer Bestimmung der Richtlinie 2006/43 oder der Verordnung Nr. 537/2014 widersprechen, die Bestimmung dieses anderen Gemeinschaftsrechtsakts Vorrang, d. h., die lex specialis hat Vorrang vor der lex generalis.

67.      Art. 25 der Richtlinie 2006/123, der multidisziplinäre Tätigkeiten regelt, enthält einen allgemeinen Grundsatz, der durch eine Reihe von Ausnahmen abgeschwächt wird:

–        Der allgemeine Grundsatz (Abs. 1 Unterabs. 1) besagt: „[D]ie Dienstleistungserbringer [werden] keinen Anforderungen unterworfen …, die sie verpflichten, ausschließlich eine bestimmte Tätigkeit auszuüben“, und auch keinen Anforderungen, „die die gemeinschaftliche oder partnerschaftliche Ausübung unterschiedlicher Tätigkeiten beschränken“.

–        Die im vorliegenden Fall einschlägige Ausnahme (Abs. 1 Unterabs. 2) betrifft die reglementierten Berufe, zu denen die Abschlussprüfer gehören. Ihre Berufsausübung richtet sich nicht nach dem allgemeinen Grundsatz, d. h., ihnen steht es nicht frei, multidisziplinäre Tätigkeiten auszuüben, wenn a) dies gerechtfertigt ist, um die Einhaltung der verschiedenen Standesregeln im Hinblick auf die Besonderheiten der jeweiligen Berufe sicherzustellen, und b) dies nötig ist, um die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit derjenigen zu gewährleisten, die den Beruf ausüben(43).

68.      Was die Richtlinie 2006/43 (insbesondere nach ihrer Reform durch die Richtlinie 2014/56) und die Verordnung Nr. 537/2014 anbetrifft, so zielen beide Instrumente darauf ab, sicherzustellen, dass die Abschlussprüfer strenge ethische Standards, insbesondere in Bezug auf ihre Integrität, ihre Unabhängigkeit und ihre Unparteilichkeit, einhalten(44). Ziel der Richtlinie 2014/56 war es, „durch eine weitere Harmonisierung insbesondere die Unabhängigkeit der Abschlussprüfer bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu stärken“(45).

69.      Art. 52 der Richtlinie 2006/43 lautet: „Die Mitgliedstaaten, die eine Abschlussprüfung vorschreiben, können, wenn in dieser Richtlinie nicht anders vorgeschrieben, strengere Anforderungen aufstellen.“ Ebenso können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 537/2014 Abschlussprüfern von Unternehmen von öffentlichem Interesse andere Nichtprüfungsleistungen (für das geprüfte Unternehmen) verbieten, wenn diese ihrer Auffassung nach eine Gefährdung der Unabhängigkeit darstellen könnten.

70.      Die Schnittmenge des Art. 25 der Richtlinie 2006/123 mit Art. 22 („Unabhängigkeit und Unparteilichkeit“) der Richtlinie 2006/43 und Art. 5 („Verbot der Erbringung von Nichtprüfungsleistungen“) der Verordnung Nr. 537/2014 besteht in der Gewährleistung der Unabhängigkeit des Berufsstands der Abschlussprüfer, zu deren Wahrung Unvereinbarkeiten und Verbote festgelegt werden.

71.      Ebenso wie die Kommission(46) bin ich der Ansicht, dass im vorliegenden Fall keine Kollision zwischen der Anwendung der einen oder anderen Bestimmung des Unionsrechts vorliegt, bei der die Richtlinie 2006/123 aufgrund des in ihrem Art. 3 Abs. 1 festgeschriebenen Lex-specialis-Grundsatzes verdrängt wird. Es handelt sich vielmehr um eine komplementäre Beziehung.

72.      Es stellt sich somit die Frage, ob die französischen Rechtsvorschriften, soweit sie Abschlussprüfern die Ausübung gewerblicher Tätigkeiten untersagen, mit der in Art. 25 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2006/123 vorgesehenen Ausnahmeregelung und mit den Bestimmungen, die durch die Richtlinie 2006/43 und die Verordnung Nr. 537/2014 zur Gewährleistung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Angehörigen dieser Berufsgruppe eingeführt wurden, vereinbar sind.

3.      Gemeinsame Antwort auf die beiden Vorlagefragen

73.      Art. 52 der Richtlinie 2006/43 und Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 537/2014 geben den Mitgliedstaaten die Befugnis, die Grenzen aus Art. 22 der Richtlinie 2006/43 und Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 537/2014 zu überschreiten.

74.      Die Mitgliedstaaten können somit den Abschlussprüfern strengere Beschränkungen auferlegen. Dies ist in den französischen Rechtsvorschriften der Fall.

75.      Diese Befugnis unterliegt jedoch Bedingungen. Die Mitgliedstaaten haben die Bestimmungen des AEUV über die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr einzuhalten, die in den Art. 49 bzw. 56 AEUV festgeschrieben sind(47).

76.      Nach ihren Erwägungsgründen 2 und 5 ist es gerade Ziel der Richtlinie 2006/123, die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs zwischen Mitgliedstaaten zu beseitigen. Soweit diese Ziele, auf denen die mit der Richtlinie 2006/123 eingeführte Regelung beruht, mit denen der Art. 49 und 56 AEUV übereinstimmen, ist ein Rückgriff auf das Primärrecht nicht erforderlich, und die Bestimmungen dieser Richtlinie sind ausreichend.

77.      Zwar liegen im vorliegenden Fall keine grenzüberschreitenden Bezüge vor, jedoch könnten die durch die streitige Regelung auferlegten Voraussetzungen in Bezug auf die Niederlassung oder die Erbringung von Dienstleistungen in Frankreich durch Abschlussprüfer aus anderen Mitgliedstaaten eine abschreckende Wirkung entfalten(48). Eine Vorschrift eines Mitgliedstaats, die Abschlussprüfern jede andere gewerbliche Tätigkeit untersagt, ist an sich geeignet, die Freizügigkeit von Abschlussprüfern aus anderen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen(49).

78.      Beschränkungen der Grundfreiheiten können als gerechtfertigt angesehen werden, wenn sie auf zwingenden Gründen des Allgemeininteresses beruhen und, falls dies der Fall ist, nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der verfolgten Ziele erforderlich ist(50).

79.      Auf eine solche Rechtfertigung und Erforderlichkeit bezieht sich Art. 25 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2006/123, wonach die Mitgliedstaaten befugt sind, Angehörige reglementierter Berufe Anforderungen zu unterwerfen, die die Ausübung multidisziplinärer Tätigkeiten beschränken. Art. 52 der Richtlinie 2006/43 und Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 537/2014 enthalten zwar nicht denselben Wortlaut, jedoch ist implizit davon auszugehen, dass Art. 25 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2006/123 ihnen zugrunde liegt.

a)      Inhalt der Beschränkung

80.      Zunächst ist der Umfang der Beschränkung zu bestimmen. Die Auslegung der nationalen Rechtsvorschriften ist nicht Sache des Gerichtshofs, jedoch geht aus der Vorlageentscheidung und den Erklärungen der Parteien hervor, dass das Verbot der Ausübung jeglicher gewerblichen Tätigkeit nahezu absolut gilt.

81.      Zwar sind für Abschlussprüfer nach der Verabschiedung des Gesetzes Nr. 2019‑486 Nebentätigkeiten zum Beruf des Wirtschaftsprüfers(51) (unter bestimmten Bedingungen)(52) und gewerbliche Nebentätigkeiten, die von einer „multiprofessionellen Berufsausübungsgesellschaft“ unter den in Art. 31‑5 des Gesetzes Nr. 90‑1258 vorgesehenen Bedingungen ausgeübt werden, zulässig. Diese Ausnahmen sind jedoch sehr begrenzt und können nicht über die fast allumfassende Tragweite des Verbots hinwegtäuschen.

b)      Rechtfertigung der Beschränkung

82.      Nach Auffassung der französischen Regierung hat die obligatorische Unabhängigkeit der Abschlussprüfer, die mit einer Aufgabe von allgemeinem Interesse betraut seien, zur Folge, dass ihr Beruf mit der Ausübung gewerblicher Tätigkeiten unvereinbar sei. Die Beschränkung der Ausübung dieser Tätigkeiten sei aus folgenden Gründen gerechtfertigt:

–        Die nationale Regelung solle verhindern, dass der Abschlussprüfer zu einem gewöhnlichen Akteur in der Wirtschaftswelt werde. Die Verflechtung verschiedener Sektoren (Banken, Wirtschaft oder Finanzen) führe zu potenziellen Interferenzen, die Verdacht erregen könnten. Das Verbot, mehrere Tätigkeiten auszuüben, gewährleiste gegenüber einem objektiven, vernünftigen und informierten Dritten, dass der Abschlussprüfer kein gewöhnlicher Wirtschaftsteilnehmer sei, der unmittelbar oder mittelbar mit den geprüften Unternehmen interagieren könne.

–        Die Unvereinbarkeit ließe sich außerdem mit der besonderen Verpflichtung zur beruflichen Eignung begründen, der der Abschlussprüfer unterliege. Die Ausübung einer anderen gewerblichen Tätigkeit als der des Abschlussprüfers könne sein Engagement und seine berufliche Eignung beeinträchtigen.

–        Sowohl die Unionsvorschriften als auch die nationalen Rechtsvorschriften gewährten der Berufsgruppe das Monopol für die Tätigkeit der Abschlussprüfung, bei der es sich um eine reglementierte und im Interesse der Allgemeinheit liegende Tätigkeit handele. Es dürfe von den Abschlussprüfern erwartet werden, dass sie diese besondere Aufgabe effektiv ausübten.

83.      Die französische Regierung legt folglich den Schwerpunkt auf das Monopol der Abschlussprüfer, was mit dem Außenverhältnis ihrer Unabhängigkeit in Verbindung steht: Die Öffentlichkeit soll Abschlussprüfer als vertrauenswürdigen, vom normalen Wirtschaftsleben losgelösten Berufsstand wahrnehmen.

84.      Meines Erachtens erklären die von der französischen Regierung angeführten Gründe des Allgemeininteresses, warum Abschlussprüfer bei der Ausübung ihrer gewerblichen Tätigkeiten, bei denen es sich nicht um die eigentliche Abschlussprüfung handelt, bestimmten Beschränkungen unterworfen sind. Eine Gefährdung der Unabhängigkeit von Abschlussprüfern (oder Prüfungsgesellschaften oder Mitglieder ihrer Netzwerke) besteht jedoch gerade dann, wenn bestimmte Nichtprüfungsleistungen für die geprüften Unternehmen erbracht werden(53).

85.      Es ist äußerst zweifelhaft, dass von der gleichen Gefahr für die Unabhängigkeit auszugehen ist, wenn Abschlussprüfer Nichtprüfungsleistungen für die Öffentlichkeit im Allgemeinen erbringen(54), und damit bestände das Problem nicht so sehr in der abstrakten Rechtfertigung der restriktiven Regelung, sondern im konkreten Inhalt der auferlegten Verbote, die über das hinausgehen könnten, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist.

c)      Verhältnismäßigkeit

86.      Nach Ansicht der französischen Regierung ist die streitige Regelung verhältnismäßig: Die Abschlussprüfer seien nicht verpflichtet, ausschließlich diese spezifische Tätigkeit auszuüben, da ihnen auch die Tätigkeit eines Wirtschaftsprüfers offenstehe, auf die sich die beiden durch das Gesetz Nr. 2019‑486 eingeführten Ausnahmen bezögen(55).

87.      Abschließend macht die französische Regierung geltend, dass andere, weniger einschneidende Maßnahmen nicht den gleichen Zweck erfüllen könnten. Dies gelte für die Einführung einer Vorabgenehmigung, die Erstellung einer Liste untersagter Tätigkeiten oder einen verbindlichen Mechanismus für die Veröffentlichung ihrer Bestätigungsvermerke. Keine dieser Maßnahmen entspreche der Notwendigkeit, dass die Dritten die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers wahrnähmen.

88.      Die Kommission hingegen vertritt den Standpunkt, das Verbot sei im Hinblick auf sein Ziel unverhältnismäßig. Diesem Ziel dienten bereits andere französische Rechtsvorschriften, auf die die vorlegende Einrichtung Bezug nehme(56), und es werde nicht klar dargelegt, warum diese Vorschriften durch das Verbot ergänzt werden sollten. Insbesondere untersage Art. L. 822‑10 Nr. 1 des Code de commerce jegliche Tätigkeit, die die Unabhängigkeit eines Abschlussprüfers beeinträchtigen könne.

89.      Es ist Sache der vorlegenden Einrichtung (sofern ihre Befugnis zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen anerkannt wird), die Verhältnismäßigkeit der streitigen Regelung zu beurteilen. Der Gerichtshof kann ihr jedoch einige Hinweise geben, wie ich sie im Folgenden vertreten werde.

90.      Erstens teile ich nicht den Standpunkt der französischen Regierung zur Auslegung von Art. 25 Abs. 1 der Richtlinie 2006/123, was das Adverb ausschließlich anbetrifft. Nach meiner Auffassung, die mit der der Kommission übereinstimmt, besteht auch dann die Pflicht, „ausschließlich eine bestimmte Tätigkeit auszuüben“, wenn eine nationale Regelung zulässt, dass zu dieser Tätigkeit eine andere, geringfügige Nebentätigkeit hinzugefügt wird, und die gleichzeitige Ausübung aller anderen gewerblichen Tätigkeiten untersagt, wie es in der vorliegenden Rechtssache der Fall ist. Würde dem Ansatz der französischen Regierung gefolgt werden, könnte ein Mitgliedstaat durch minimale Zugeständnisse leicht die durch die Regelung verfolgten Ziele umgehen.

91.      Zweitens beruht aus demselben Blickwinkel die fast vollständige Untersagung der Ausübung gewerblicher Tätigkeiten durch Abschlussprüfer (ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die beiden zulässigen Ausnahmen einen sehr begrenzten Umfang haben) auf „einer Umkehrung der von Art. 25 der Richtlinie 2006/123 vorgegebenen Logik“(57). Wenn nach dieser Vorschrift die freie Ausübung von multidisziplinären Tätigkeiten für Dienstleistungserbringer die Regel sein soll, folgt die französische Regelung für Abschlussprüfer genau dem gegenteiligen Grundsatz.

92.      Drittens wird, wie die Kommission hervorhebt, die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers bereits durch andere französische Rechtsvorschriften gewährleistet, ganz zu schweigen davon, dass die Standesregeln für diesen Beruf ebenfalls Regelungen zur Verhinderung von Interessenkonflikten enthalten.

93.      Viertens reichen die beiden Ausnahmen, die bestimmte gewerbliche Nebentätigkeiten zulassen, nicht aus, um die Verhältnismäßigkeit des allgemeinen Verbots zu belegen. Ich weise darauf hin, dass „Art. 25 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2006/123 nicht die Möglichkeit vorsieht, die gemeinschaftliche Ausübung eines reglementierten Berufs und einer anderen Tätigkeit davon abhängig zu machen, dass die andere Tätigkeit untergeordneten Charakter hat“(58).

94.      Fünftens könnte der französische Gesetzgeber in einem Katalog oder einer Liste wie der aus Art. 5 der Verordnung Nr. 537/2014 die Nichtprüfungsleistungen aufführen, die Abschlussprüfern konkret mit dem Ziel untersagt werden, ihre Unabhängigkeit bzw. das Bild dieser Unabhängigkeit in den Augen der Öffentlichkeit zu gewährleisten. Entgegen dem Vorbringen der französischen Regierung führt dieser Ansatz zu einem weniger belastenden Ergebnis als das durch die streitige Regelung eingeführte (quasi) generelle Verbot und erfüllt ebenso den Zweck, die Unabhängigkeit der Abschlussprüfer zu wahren.

95.      Sollte eine solche Lösung gewählt werden, müsste der Gesetzgeber begründen: a) warum eine Liste, die nach der Verordnung Nr. 537/2014 nur für Abschlussprüfer von Unternehmen von öffentlichem Interesse gilt, auch auf die Abschlussprüfung von Unternehmen, die nicht hierzu zählen, ausgeweitet wird, und b) warum eine Liste, die nur für bestimmte, für das geprüfte Unternehmen erbrachte Nichtprüfungsleistungen gilt, auf andere gewerbliche Tätigkeiten ausgeweitet wird, die der Abschlussprüfer für von ihm nicht geprüfte Personen oder Unternehmen erbringen kann.

96.      Das allgemeine Verbot gewerblicher Nichtprüfungsleistungen erscheint somit auf den ersten Blick unverhältnismäßig streng und über das Ziel hinauszugehen, die Unabhängigkeit und Objektivität der Abschlussprüfer zu gewährleisten. Insoweit verstößt es gegen Art. 25 Abs. 1 der Richtlinie 2006/123, Art. 52 der Richtlinie 2006/43 und Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 537/2014.

V.      Ergebnis

97.      Unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig zu erklären.

Hilfsweise schlage ich vor, auf die Vorlagefragen wie folgt zu antworten:

Art. 25 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt in Verbindung mit den Art. 22 und 52 der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Mai 2006 über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen sowie mit Art. 5 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) Nr. 537/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über spezifische Anforderungen an die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse

ist dahin auszulegen, dass

er grundsätzlich einer nationalen Regelung entgegensteht, die es Abschlussprüfern untersagt, selbst oder über eine zwischengeschaltete Person andere gewerbliche Tätigkeiten auszuüben als Nebentätigkeiten zum Beruf des Wirtschaftsprüfers. Es ist Sache der vorlegenden Einrichtung zu prüfen, ob diese Regelung auf Gründen des Allgemeininteresses beruht, die das Verbot rechtfertigen, und ob das Verbot erforderlich ist, um die Unabhängigkeit und Objektivität der Abschlussprüfer zu wahren.


1      Originalsprache: Spanisch.


i      Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.


2      Er wurde zum 1. Januar 2024 gemäß der Ordonnance nº 2023‑1142 du 6 décembre 2023 relative à la publication et à la certification d’informations en matière de durabilité et aux obligations environnementales, sociales et de gouvernement d’entreprise des sociétés commerciales (Gesetzesvertretende Verordnung Nr. 2023‑1142 vom 6. Dezember 2023 über die Veröffentlichung und Zertifizierung von Informationen zur Nachhaltigkeit und zu den Umwelt‑, Sozial- und Unternehmensführungsverpflichtungen von Handelsgesellschaften) (JORF n° 0283 du 7 décembre 2023, texte n° 19) durch die Haute autorité de l’audit (Abschlussprüfungsbehörde, Frankreich) ersetzt.


3      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. 2006, L 376, S. 36).


4      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Mai 2006 über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen, zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 84/253/EWG des Rates (ABl. 2006, L 157, S. 87) in der durch die Richtlinie 2014/56/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 (ABl. 2014, L 158, S. 196) geänderten Fassung.


5      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über spezifische Anforderungen an die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse und zur Aufhebung des Beschlusses 2005/909/EG der Kommission (ABl. 2014, L 158, S. 77).


6      Loi nº 2019-486 du 22 mai 2019 relative à la croissance et la transformation des entreprises (Gesetz Nr. 2019‑486 vom 22. Mai 2019 über das Wachstum und die Umwandlung von Unternehmen) (JORF n° 0119 du 23 mai 2019, texte n° 2). Im Folgenden: Gesetz Nr. 2019‑486.


7      Ordonnance n° 45-2138 du 19 septembre 1945 portant institution de l’ordre des experts-comptables et réglementant le titre et la profession d’expert-comptable (Gesetzesvertretende Verordnung Nr. 45‑2138 vom 19. September 1945 zur Errichtung der Wirtschaftsprüferkammer und zur Regelung des Titels und des Berufs des Wirtschaftsprüfers) (JORF n° 0222 du 21 septembre 1945, S. 5938). Im Folgenden: Ordonnance Nr. 45‑2138.


8      Loi n° 90-1258 du 31 décembre 1990 relative à l’exercice sous forme de sociétés des professions libérales soumises à un statut législatif ou réglementaire ou dont le titre est protégé et aux sociétés de participations financières de professions libérales (Gesetz Nr. 90‑1258 vom 31. Dezember 1990 über die Ausübung – in Form von Gesellschaften – von freien Berufen, die durch Gesetz oder Verordnung geregelt sind oder deren Titel geschützt ist, und über Finanzbeteiligungsgesellschaften für freie Berufe, im Folgenden: Gesetz Nr. 90‑1258) (JORF n° 0004 du 15 janvier 1991, S. 216). Art. 31‑5 des Gesetzes, der zum Abschnitt über multiprofessionelle Gesellschaften, die für die gemeinsame Ausübung bestimmter freier Berufe gegründet wurden, gehört, legt fest, dass „die Gesellschaft als Nebentätigkeit jegliche gewerbliche Tätigkeit ausüben kann, deren Ausübung nicht durch Gesetz oder Dekret für mindestens einen der den Gesellschaftszweck bildenden Berufe verboten ist“.


9      Nach der Vorlageentscheidung (Rn. 3 bis 7) bietet die Fiducial-Gruppe über ihre Tochtergesellschaften ein breites Spektrum an Leistungen an: i) über die Gesellschaft Société fiduciaire nationale de révision comptable (Fidaudit) die Tätigkeit der Abschlussprüfung, ii) über die Gesellschaft Société fiduciaire nationale d’expertise comptable (Fidexpertise) die Tätigkeit der Wirtschaftsprüfung, iii) über die Gesellschaft Fiducial Security Services im Bereich der Sicherheit, iv) über die Gesellschaft Fiducial Office Solutions im Bereich des Verkaufs von Bürobedarf und Büromöbeln, v) über die Gesellschaft Fiducial Informatique im Bereich der Erbringung von IT‑Dienstleistungen, vi) über die Gesellschaft Fiducial Real Estate auf dem Immobilienmarkt und im Bereich der Verwaltung von Immobilien‑Investmentgesellschaften, vii) über die Gesellschaft Banque Fiducial im Bereich des Bankwesens und viii) über die Gesellschaft Fiducial Medias den Betrieb eines landesweiten Radiosenders und regionaler Medien.


10      Rn. 11 der Vorlageentscheidung. Es handelt sich dabei um Tätigkeiten im Bereich der Sicherheit, den Verkauf von Bürobedarf und Büromöbeln, die Immobilienvermittlung und die Verwaltung von Immobilien‑Investmentgesellschaften, Tätigkeiten im Bereich des Bankwesens sowie Tätigkeiten im Medienbereich. Die Erbringung von IT‑Dienstleistungen durch die Gesellschaft Fiducial Informatique wird nicht als Verstoß angesehen, da sie als implizite Nebentätigkeit zu der durch die Gesellschaft Fidexpertise ausgeübten Tätigkeit der Wirtschaftsprüfung zähle.


11      Es handelt sich um die im Art. 31-3 des Gesetzes Nr. 90‑1258 vorgesehenen Berufe.


12      Urteil vom 3. Mai 2022 (C‑453/20, EU:C:2022:341, im Folgenden: Urteil CityRail). Dieses Urteil folgt dem restriktiven Ansatz des Urteils vom 21. Januar 2020, Banco de Santander (C‑274/14, EU:C:2020:17), sowie des Urteils vom 16. September 2020, Anesco u. a. (C‑462/19, EU:C:2020:715, im Folgenden: Urteil Anesco u. a.), das eine unabhängige Regulierungs- und Aufsichtsbehörde für mehrere Wirtschaftssektoren betrifft.


13      Kriterien aus dem Urteil vom 30. Juni 1966, Vaassen-Göbbels (61/65, EU:C:1966:39) (im Folgenden: Kriterien Vaassen-Göbbels).


14      Schriftliche Erklärungen der französischen Regierung, Rn. 35.


15      C‑453/20, EU:C:2021:1018.


16      Urteil CityRail, Rn. 46: „[E]ine nationale Einrichtung [kann], obwohl ihre gesetzliche Grundlage, ihr ständiger Charakter, das streitige Verfahren, die Anwendung von Rechtsnormen durch sie und ihre Unabhängigkeit außer Zweifel stehen, den Gerichtshof nur dann um Vorabentscheidung ersuchen …, wenn sie im Rahmen der bei ihr anhängigen Rechtssache gerichtliche Funktionen ausübt.“


17      Beschluss vom 14. November 2013, MF 7 (C‑49/13, EU:C:2013:767, Rn. 16): „Insbesondere kann eine nationale Einrichtung nicht als ‚Gericht‛ im Sinne von Art. 267 AEUV qualifiziert werden, soweit sie in Ausübung außergerichtlicher Funktionen – z. B. Funktionen administrativer Art – entscheidet.“


18      Urteil CityRail, Rn. 45.


19      Rn. 34 ihrer schriftlichen Erklärungen, in der Art. 32 der Richtlinie 2006/43 zitiert wird.


20      Urteil CityRail, Rn. 63.


21      Urteil Anesco u. a., Rn. 44.


22      Die Kommission, die sich nicht zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens geäußert, sondern lediglich Argumente dafür und dagegen vorgetragen hat, hat darauf hingewiesen, dass der Gerichtshof in Fällen, in denen es um die Verhängung von Sanktionen gegen Angehörige bestimmter Berufsgruppen gegangen sei, die gerichtliche Funktion der vorlegenden Gerichte anerkannt habe. Meiner Ansicht nach kann diese Rechtsprechung nicht auf den vorliegenden Fall übertragen werden, in dem eine öffentliche Einrichtung wie der H3C (und keine Berufskammer) eine verwaltungsrechtliche Sanktion verhängt.


23      Urteil CityRail, Rn. 48. Dass die Einrichtung von Amts wegen handeln kann, „[spricht] dafür, dass diese nicht als ,Gericht‘ qualifiziert werden kann, sondern die Merkmale eines Verwaltungsorgans aufweist“ (Beschluss vom 14. November 2013, MF 7, C‑49/13, EU:C:2013:767, Rn. 18, und Urteil Anesco u. a., Rn. 44).


24      Siehe Nrn. 19 und 20 der vorliegenden Schlussanträge. Aus der Schilderung des Sachverhalts geht hervor, dass keine Beschwerde erfolgte, sondern dass der Vorsitzende des H3C die Untersuchungen von Amts wegen einleitete. Der Generalberichterstatter leitete das Verfahren ein, und die Formation restreinte des H3C ist für die Entscheidung zuständig. Alle Beteiligten gehören somit ein und demselben H3C an.


25      Die Formation restreinte betont, dass sie bei der Verhängung von Sanktionen bestimmte Verfahrensgarantien gewährleistet. Um zu bestimmen, ob die von ihr ausgeübte Funktion gerichtlicher Art ist oder nicht, sind allerdings Kriterien, die sich auf die Zusammensetzung der Einrichtung, die Garantie der Unparteilichkeit oder die Beteiligungsrechte des Betroffenen beziehen, außer Acht zu lassen. Diese Kriterien gelten nämlich auch für die Ausübung der Sanktionsbefugnisse einer Verwaltungsbehörde.


26      Rn. 58 ihrer schriftlichen Erklärungen, in denen sie das Urteil des Conseil d’État (Staatsrat) vom 15. Oktober 2021, Société Mazars e. a, 451835 (FR:CE:2021:451835.20211015), zitiert.


27      Zur Unterstützung ihres Standpunkts beruft sich die französische Regierung auf Art. L. 243‑4 des Code des relations entre le public et l’administration (Gesetzbuch über die Beziehungen zwischen der Öffentlichkeit und der Verwaltung), wonach „eine von der Verwaltung beschlossene Sanktionsmaßnahme jederzeit widerrufen werden kann“.


28      Urteil CityRail, Rn. 51, und die dort zahlreich zitierte Rechtsprechung. Ich hebe die Textstelle hervor, um zu betonen, dass dies erst recht der Fall ist, wenn die Einleitung des Verfahrens, das zu der ersten Entscheidung führt, ohne vorherige Beschwerde erfolgt ist.


29      Urteil CityRail, Rn. 62.


30      Urteil CityRail, Rn. 69.


31      Nach Art. 30e der Richtlinie 2006/43 hat die betroffene Person das Recht, gegen eine sie betreffende Entscheidung bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.


32      Rn. 50 und 51 der schriftlichen Erklärungen der französischen Regierung.


33      Urteil Anesco u. a., Rn. 48.


34      Rn. 54 der schriftlichen Erklärungen der französischen Regierung. In der mündlichen Verhandlung hat MO darauf hingewiesen, dass auch der Vorsitzende des H3C die Entscheidungen der Formation restreinte, die er für falsch halte, vor dem Conseil d’État (Staatsrat) anfechten könne. Diese Möglichkeit diene dem Zweck, das Verwaltungshandeln zu korrigieren und dabei die Unabhängigkeit der Formation restreinte gegenüber den anderen Organen des H3C zu wahren. Meines Erachtens entkräftet dies jedoch nicht die übrigen Argumente dafür, dass die Sanktionsentscheidung verwaltungsrechtlicher und nicht gerichtlicher Art ist. Unabhängig von seinem Standpunkt tritt der H3C als Einrichtung im Gerichtsverfahren als Partei auf.


35      Urteil CityRail, Rn. 62 und 69.


36      In der mit Urteil vom 5. April 2011 entschiedenen Rechtssache Société fiduciaire nationale d’expertise comptable (C‑119/09, EU:C:2011:208) hat der Conseil d’État (Staatsrat) ein Vorabentscheidungsersuchen zu einem anderen Verbot für französische Wirtschaftsprüfer gestellt. In diesem Verfahren wurde erörtert, ob das Verbot der „Kundenakquise“ gegen Art. 24 der Richtlinie 2006/123 verstößt.


37      Urteil vom 31. Januar 2013, Belov (C‑394/11, EU:C:2013:48, Rn. 52).


38      Nr. 15 der vorliegenden Schlussanträge.


39      Rn. 122 ihrer schriftlichen Erklärungen.


40      Im Urteil vom 29. Juli 2019, Kommission/Österreich (Ziviltechniker, Patentanwälte und Tierärzte) (C‑209/18, EU:C:2019:632), hat der Gerichtshof die Beschränkung der multidisziplinären Tätigkeiten von Ziviltechniker- und Patentanwaltsgesellschaften geprüft.


41      Nach der Vorlageentscheidung hatten die Gesellschaft Fidaudit (deren Kapital zu 98 % unmittelbar oder mittelbar von MO gehalten wird) und ihre Tochtergesellschaften vier Prüfungsaufträge für Unternehmen von öffentlichem Interesse. Da die Richtlinie 2006/43 nicht für Abschlussprüfungen bei Unternehmen von öffentlichem Interesse gilt, wurde (zeitgleich mit der Richtlinie 2014/56) die Verordnung Nr. 537/2014 erlassen. Gemäß Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 537/2014 bleibt die Richtlinie 2006/43 „von dieser Verordnung unberührt“.


42      Wiedergegeben in Nr. 5 der vorliegenden Schlussanträge.


43      Gemäß dem 101. Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/123 wird so „im Interesse der Dienstleistungsempfänger, insbesondere der Verbraucher, sicher[gestellt], dass die Dienstleistungserbringer die Möglichkeit haben, multidisziplinäre Dienstleistungen anzubieten, und dass die diesbezüglichen Beschränkungen auf das begrenzt werden, was erforderlich ist, um die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit sowie die Integrität der reglementierten Berufe zu gewährleisten“.


44      Vgl. Urteil vom 24. März 2021, A (C‑950/19, EU:C:2021:230, Rn. 39), in Bezug auf die Richtlinie 2006/43. Das gleiche Ziel findet sich in den Erwägungsgründen und in den Artikeln der Verordnung Nr. 537/2014.


45      Ebd., Rn. 40. In den Schlussanträgen in dieser Rechtssache (C‑950/19, EU:C:2020:1019, Nrn. 36 bis 42), habe ich dargelegt, dass es sich bei der Unabhängigkeit der Abschlussprüfer um ein vom Unionsgesetzgeber ausdrücklich genanntes Anliegen handelt, das bis zur aktuellen, durch die Richtlinie 2014/56 eingeführten Regelung schrittweise in den Mittelpunkt gerückt ist.


46      Rn. 22 ihrer schriftlichen Erklärungen.


47      Eine nationale Regelung kann zwei Freiheiten gleichzeitig beeinträchtigen: vgl. Urteil vom 28. Januar 2016, Laezza (C‑375/14, EU:C:2016:60, Rn. 24).


48      Vgl. entsprechend Urteil vom 27. Februar 2020, Kommission/Belgien (Buchhalter) (C‑384/18, EU:C:2020:124, Rn. 76).


49      Vgl. ebenfalls entsprechend Urteil vom 5. April 2011, Société fiduciaire nationale d’expertise comptable (C‑119/09, EU:C:2011:208).


50      Urteile vom 12. Juni 2014, Digibet und Albers (C‑156/13, EU:C:2014:1756, Rn. 22), und vom 24. Januar 2013, Stanleybet u. a. (C‑186/11 und C‑209/11, EU:C:2013:33, Rn. 27).


51      In der mündlichen Verhandlung hat die französische Regierung erläutert, dass Abschlussprüfer die Aufgaben von Wirtschaftsprüfern einschließlich der Nebentätigkeiten zu diesem Beruf (die unter Art. 22 der Ordonnance Nr. 45‑2138 fallen) ausüben könnten, wenn sie bei der Wirtschaftsprüferkammer eingetragen seien.


52      Nach dem Avis n.º 2021-01 du Haut Conseil du Commisariat aux Comptes relatif à l’exercice par un commisaire aux comptes d’une activité comerciale en application de l’article L. 822‑10 du code de commerce (Gutachten Nr. 2021‑01 des Obersten Rates der Abschlussprüfer zur Ausübung einer gewerblichen Tätigkeit durch Abschlussprüfer gemäß Art. L. 822‑10 des Code de commerce) gilt diese Ausnahme nur für Abschlussprüfer, die bei der Wirtschaftsprüferkammer eingetragen sind.


53      So wird es im achten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 537/2014 dargestellt. In meinen Schlussanträgen in der Rechtssache A (C‑950/19, EU:C:2020:1019, Nrn. 51 bis 55) habe ich Art. 22a der Richtlinie 2006/43 unter demselben Blickwinkel geprüft.


54      In der mündlichen Verhandlung ist darauf hingewiesen worden, dass die internationalen Empfehlungen für die Tätigkeit von Abschlussprüfern (International Auditing Standards, verabschiedet vom International Ethics Standards Board for Accountants [IESBA]) und die Berichte des Committee of European Auditing Oversight Bodies (CEAOB) unter den Maßnahmen zur Gewährleistung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von Abschlussprüfern keine Verbote wie das hier in Rede stehende für geschäftliche Tätigkeiten enthalten, die nicht gegenüber geprüften Unternehmen erbracht werden.


55      Sie weist darauf hin, dass über 90 % der Abschlussprüfer in Frankreich auch als gesetzlich zugelassene Wirtschaftsprüfer tätig seien (Rn. 87 und 88 ihrer schriftlichen Erklärungen).


56      Rn. 52 der Vorlageentscheidung.


57      Ich verwende den anschaulichen und treffenden Ausdruck, den MO in seinen schriftlichen Erklärungen verwendet (Rn. 69). Zwar können reglementierte Berufe von der allgemeinen Regelung des Art. 25 Abs. 1 der Richtlinie 2006/123 ausgenommen sein, jedoch gilt dies nur unter den strengen Bedingungen aus Art. 25 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a.


58      Urteil vom 27. Februar 2020, Kommission/Belgien (Buchhalter) (C‑384/18, EU:C:2020:124, Rn. 68).