Language of document : ECLI:EU:C:2010:708

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

23. November 2010(*)

„Freizügigkeit – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 16 Abs. 4 und Art. 28 Abs. 3 Buchst. a – Unionsbürger, der im Aufnahmemitgliedstaat geboren ist und dort mehr als 30 Jahre gewohnt hat – Abwesenheiten vom Aufnahmemitgliedstaat – Strafrechtliche Verurteilungen – Ausweisungsverfügung – Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“

In der Rechtssache C‑145/09

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 9. April 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 24. April 2009, in dem Verfahren

Land Baden-Württemberg

gegen

Panagiotis Tsakouridis

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter), K. Lenaerts, J.‑C. Bonichot und D. Šváby, der Richter A. Rosas, J. Malenovský, U. Lõhmus, E. Levits, A. Ó Caoimh und L. Bay Larsen sowie der Richterin M. Berger,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. April 2010,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        des Landes Baden-Württemberg, vertreten durch M. Schenk als Bevollmächtigten,

–        von Herrn Tsakouridis, vertreten durch Rechtsanwalt K. Frank,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma, J. Möller und C. Blaschke als Bevollmächtigte,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,

–        der dänischen Regierung, vertreten durch B. Weis Fogh als Bevollmächtigte,

–        der estnischen Regierung, vertreten durch L. Uibo als Bevollmächtigten,

–        der ungarischen Regierung, vertreten durch R. Somssich, M. Fehér und K. Veres als Bevollmächtigte,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch E. Riedl als Bevollmächtigten,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch M. Dowgielewicz als Bevollmächtigten,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch L. Seeboruth und I. Rao als Bevollmächtigte im Beistand von K. Beal, Barrister,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Maidani und S. Grünheid als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Juni 2010

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 16 Abs. 4 und Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, sowie Berichtigungen in ABl. L 229, S. 35, und in ABl. 2007, L 204, S. 28).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Land Baden-Württemberg und Herrn Tsakouridis, einem griechischen Staatsangehörigen, wegen der Entscheidung dieses Landes über die Feststellung des Verlusts des Rechts von Herrn Tsakouridis auf Einreise und Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland sowie wegen der ihm angedrohten Abschiebung.

 Rechtlicher Rahmen

 Die Richtlinie 2004/38

3        Der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 lautet:

„Die Unionsbürgerschaft sollte der grundsätzliche Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sein, wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt wahrnehmen. Daher müssen die bestehenden Gemeinschaftsinstrumente, die Arbeitnehmer und Selbständige sowie Studierende und andere beschäftigungslose Personen getrennt behandeln, kodifiziert und überarbeitet werden, um das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger zu vereinfachen und zu verstärken.“

4        Im 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 heißt es:

„Der Vertrag sieht Beschränkungen des Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit vor. Um eine genauere Definition der Umstände und Verfahrensgarantien sicherzustellen, unter denen Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen die Erlaubnis zur Einreise verweigert werden kann oder unter denen sie ausgewiesen werden können, sollte die vorliegende Richtlinie die Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind [ABl. Nr. 56, S. 850, in der durch die Richtlinie 75/35/EWG des Rates vom 17. Dezember 1974 (ABl. 1975, L 14, S. 14) geänderten Fassung], ersetzen.“

5        Die Erwägungsgründe 23 und 24 der Richtlinie 2004/38 lauten:

„(23) Die Ausweisung von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist eine Maßnahme, die Personen, die ihre Rechte und Freiheiten aus dem [EG-]Vertrag in Anspruch genommen haben und vollständig in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, sehr schaden kann. Die Wirkung derartiger Maßnahmen sollte daher gemäß dem Verhältnismäßigkeitsprinzip begrenzt werden, damit der Grad der Integration der Betroffenen, die Dauer des Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat, ihr Alter, ihr Gesundheitszustand, die familiäre und wirtschaftliche Situation und die Bindungen zum Herkunftsstaat berücksichtigt werden.

(24)      Daher sollte der Schutz vor Ausweisung in dem Maße zunehmen, wie die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen in den Aufnahmemitgliedstaat stärker integriert sind. Gegen Unionsbürger, die sich viele Jahre im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufgehalten haben, insbesondere in Fällen, in denen sie dort geboren sind und dort ihr ganzes Leben lang ihren Aufenthalt gehabt haben, sollte nur unter außergewöhnlichen Umständen aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit eine Ausweisung verfügt werden. Gemäß dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes sollten solche außergewöhnlichen Umstände zudem auch für Ausweisungsmaßnahmen gegen Minderjährige gelten, damit die familiären Bande unter Schutz stehen.“

6        Art. 16 der Richtlinie 2004/38 lautet:

„(1)      Jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, hat das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Dieses Recht ist nicht an die Voraussetzungen des Kapitels III geknüpft.

(3)      Die Kontinuität des Aufenthalts wird weder durch vorübergehende Abwesenheiten von bis zu insgesamt sechs Monaten im Jahr, noch durch längere Abwesenheiten wegen der Erfüllung militärischer Pflichten, noch durch eine einzige Abwesenheit von höchstens zwölf aufeinander folgenden Monaten aus wichtigen Gründen wie Schwangerschaft und Niederkunft, schwere Krankheit, Studium oder Berufsausbildung oder berufliche Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat oder einen Drittstaat berührt.

(4)      Wenn das Recht auf Daueraufenthalt erworben wurde, führt nur die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, die zwei aufeinander folgende Jahre überschreitet, zu seinem Verlust.“

7        Art. 27 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38 sieht vor:

„(1)      Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.

(2)      Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.

Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.“

8        Art. 28 der Richtlinie 2004/38 bestimmt:

„(1)      Bevor der Aufnahmemitgliedstaat eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, berücksichtigt er insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat.

(2)      Der Aufnahmemitgliedstaat darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen.

(3)      Gegen Unionsbürger darf eine Ausweisung nicht verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie

a)      ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben oder

b)      minderjährig sind, es sei denn, die Ausweisung ist zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.“

9        Art. 32 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 bestimmt:

„Personen, gegen die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ein Aufenthaltsverbot verhängt worden ist, können nach einem entsprechend den Umständen angemessenen Zeitraum, in jedem Fall aber drei Jahre nach Vollstreckung des nach dem Gemeinschaftsrecht ordnungsgemäß erlassenen endgültigen Aufenthaltsverbots einen Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbots unter Hinweis darauf einreichen, dass eine materielle Änderung der Umstände eingetreten ist, die das Aufenthaltsverbot gerechtfertigt haben.

Der betreffende Mitgliedstaat muss binnen sechs Monaten nach Einreichung des Antrags eine Entscheidung treffen.“

 Nationales Recht

10      § 6 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2004 I, S. 1950) in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Bundespolizeigesetzes und anderer Gesetze vom 26. Februar 2008 (BGBl. 2008 I, S. 215) (im Folgenden: FreizügG/EU) bestimmt:

„(1)      Der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 kann unbeschadet des § 5 Abs. 5 nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Artikel 39 Abs. 3, Artikel 46 Abs. 1 des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft) festgestellt und die Bescheinigung über das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht oder über den Daueraufenthalt eingezogen und die Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte widerrufen werden. Aus den in Satz 1 genannten Gründen kann auch die Einreise verweigert werden. Die Feststellung aus Gründen der öffentlichen Gesundheit kann nur erfolgen, wenn die Krankheit innerhalb der ersten drei Monate nach Einreise auftritt.

(2)      Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um die in Absatz 1 genannten Entscheidungen oder Maßnahmen zu begründen. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

(3)      Bei der Entscheidung nach Absatz 1 sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.

(4)      Eine Feststellung nach Absatz 1 darf nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden.

(5)      Eine Feststellung nach Absatz 1 darf bei Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, und bei Minderjährigen nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden. Für Minderjährige gilt dies nicht, wenn der Verlust des Aufenthaltsrechts zum Wohl des Kindes notwendig ist. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit können nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn vom Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht.

…“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

11      Herr Tsakouridis wurde am 1. März 1978 in Deutschland geboren. Im Jahr 1996 machte er seinen Hauptschulabschluss. Seit Oktober 2001 ist er in diesem Mitgliedstaat im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis. Von März 2004 bis Mitte Oktober 2004 betrieb er einen Crêpes-Stand auf der Insel Rhodos in Griechenland. Anschließend kehrte er nach Deutschland zurück und arbeitete dort ab Dezember 2004. Mitte Oktober 2005 ging Herr Tsakouridis nach Rhodos und betrieb dort seinen Crêpes-Stand weiter. Am 22. November 2005 erließ das Amtsgericht Stuttgart einen internationalen Haftbefehl gegen ihn. Am 19. November 2006 wurde er auf Rhodos festgenommen und anschließend am 19. März 2007 nach Deutschland überführt.

12      Herr Tsakouridis ist wie folgt vorbestraft. Das Amtsgericht Stuttgart-Bad Cannstatt verurteilte ihn zur Zahlung mehrerer Geldstrafen, nämlich am 14. Oktober 1998 wegen Besitzes eines verbotenen Gegenstands, am 15. Juni 1999 wegen gefährlicher Körperverletzung und am 8. Februar 2000 wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung. Am 5. September 2002 verurteilte ihn zudem das Amtsgericht Stuttgart wegen Nötigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe. Schließlich wurde Herr Tsakouridis am 28. August 2007 vom Landgericht Stuttgart wegen unerlaubten bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in acht Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt.

13      Mit Bescheid vom 19. August 2008 stellte das Regierungspräsidium Stuttgart nach Anhörung von Herrn Tsakouridis den Verlust seines Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet fest und drohte die Abschiebung nach Griechenland ohne Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise an. Zur Begründung führte das Regierungspräsidium Stuttgart aus, dass mit dem Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 28. August 2007 das Mindestmaß von fünf Jahren Freiheitsstrafe überschritten werde, so dass die fraglichen Maßnahmen durch „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ im Sinne von Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 oder § 6 Abs. 5 FreizügG/EU gerechtfertigt seien.

14      Das persönliche Verhalten von Herrn Tsakouridis gefährde aktuell die öffentliche Ordnung. Die von ihm begangenen Betäubungsmittelstraftaten seien ausgesprochen schwerwiegend, und es bestehe eine konkrete Wiederholungsgefahr. Herr Tsakouridis sei offensichtlich aus finanziellen Gründen bereit gewesen, sich am illegalen Handel mit Rauschgift aktiv zu beteiligen. Die mit dem Handel verbundenen Probleme für rauschgiftabhängige Personen und für die Gesellschaft seien ihm gleichgültig gewesen. Es bestehe ein Grundinteresse der Gesellschaft daran, dass die besonders sozialschädliche Rauschgiftkriminalität mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln wirksam bekämpft werde.

15      Im Übrigen sei Herr Tsakouridis nicht willens oder nicht in der Lage gewesen, sich an die bestehende Rechtsordnung zu halten. Er habe mit einer ausgesprochen hohen kriminellen Energie Straftaten begangen. Ein eventuell beanstandungsfreies Verhalten im Strafvollzug lasse keinen Rückschluss auf eine fehlende Wiederholungsgefahr zu. Nachdem somit die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 6 FreizügG/EU erfüllt seien, stehe die Entscheidung im Ermessen der Behörde. Das private Interesse von Herrn Tsakouridis, von der Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt wegen der Dauer seines langen rechtmäßigen Aufenthalts in Deutschland verschont zu bleiben, überwiege nicht das herausragende öffentliche Interesse an der Bekämpfung der mit dem Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität. Die Wahrscheinlichkeit, dass er erneut ähnlich gelagerte Straftaten begehe, sei ausgesprochen hoch.

16      Nach Ansicht des Regierungspräsidiums Stuttgart ist nicht zu erwarten, dass Herr Tsakouridis nach seiner Abschiebung aus Deutschland Integrationsprobleme in seinem Herkunftsmitgliedstaat haben werde, da er in den letzten Jahren mehrere Monate dort verbracht habe. Die Wiederholungsgefahr rechtfertige auch den Eingriff in sein freies Zugangsrecht als Unionsbürger zum deutschen Arbeitsmarkt. Es gebe kein Mittel, das milder als die angeordneten Maßnahmen oder ihnen gleichwertig sei, und durch die Maßnahmen werde auch keine bereits aufgebaute wirtschaftliche Existenzgrundlage zerstört.

17      Der Eingriff in das Privat- und Familienleben von Herrn Tsakouridis sei angesichts der Schwere der festgestellten Straftaten im überwiegenden Interesse der Verteidigung der öffentlichen Ordnung und der Verhinderung von weiteren strafbaren Handlungen im Sinne von Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gerechtfertigt, ohne dass gleichwertige private und familiäre Belange ersichtlich wären, die ein Absehen von der Abschiebung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit gebieten würden.

18      Am 17. September 2008 erhob Herr Tsakouridis gegen den Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 19. August 2008 Klage zum Verwaltungsgericht Stuttgart und berief sich darauf, dass seine Familie zum großen Teil in Deutschland lebe. Außerdem gehe aus dem Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 28. August 2007 hervor, dass er nur ein untergeordnetes Bandenmitglied gewesen sei. Da er in Deutschland aufgewachsen sei und dort seine schulische Ausbildung genossen habe, bestehe keine Gefährdung im Sinne von § 6 Abs. 1 FreizügG/EU. Außerdem habe er eine intensive Bindung zu seinem in Deutschland lebenden Vater, der ihn regelmäßig im Gefängnis besuche. Er habe sich freiwillig der Polizei gestellt, was zeige, dass er nach der Verbüßung der Strafhaft keine Gefahr für die öffentliche Ordnung mehr darstelle, so dass die Feststellung des Verlusts seines Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet unverhältnismäßig sei. Schließlich werde sich seine Mutter, die sich gegenwärtig bei ihrer Tochter in Australien aufhalte, ab Frühjahr 2009 endgültig wieder bei ihrem Ehemann in Deutschland aufhalten.

19      Mit Urteil vom 24. November 2008 hob das Verwaltungsgericht Stuttgart den Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 19. August 2008 auf. Nach Auffassung dieses Gerichts genügt eine strafrechtliche Verurteilung allein nicht, um den Verlust des Rechts eines Unionsbürgers auf Einreise und Aufenthalt zu begründen, der gemäß § 6 Abs. 2 FreizügG/EU eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung voraussetze, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Zudem dürfe nach § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU in Umsetzung von Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt gemäß § 6 Abs. 1 FreizügG/EU in einem Fall wie dem von Herrn Tsakouridis, der sich über zehn Jahre lang im Bundesgebiet aufgehalten habe, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit festgestellt werden. Dazu führt das Verwaltungsgericht Stuttgart aus, dass Herr Tsakouridis sein Daueraufenthaltsrecht nicht aufgrund seiner Aufenthalte auf Rhodos verloren habe, da § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU keinen ununterbrochenen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet fordere.

20      Das Verwaltungsgericht Stuttgart war der Ansicht, dass keine „zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit“ im Sinne von § 6 Abs. 5 letzter Satz FreizügG/EU vorlägen, die eine Abschiebung rechtfertigen würden. Die öffentliche Sicherheit umfasse nur die innere und die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats und sei damit enger als der Begriff der öffentlichen Ordnung, der auch die innerstaatliche Strafrechtsordnung umfasse. Die Überschreitung des in § 6 Abs. 5 letzter Satz FreizügG/EU genannten Mindeststrafmaßes lasse nicht den Schluss auf das Vorliegen von zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit zu Zwecken einer Abschiebung zu. Herr Tsakouridis stelle möglicherweise eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung, jedoch keineswegs für den Bestand des Staates und seiner Institutionen oder das Überleben der Bevölkerung dar. Dies werde vom Regierungspräsidium Stuttgart auch nicht geltend gemacht.

21      Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, bei dem Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 24. November 2008 eingelegt wurde, hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist der in Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 verwendete Begriff der „zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit“ dahin gehend auszulegen, dass nur unabweisbare Gefährdungen der äußeren oder inneren Sicherheit des Mitgliedstaats eine Ausweisung rechtfertigen können und hierzu nur die Existenz des Staates mit seinen wesentlichen Einrichtungen, deren Funktionsfähigkeit, das Überleben der Bevölkerung sowie die auswärtigen Beziehungen und das friedliche Zusammenleben der Völker zählen?

2.      Unter welchen Voraussetzungen geht der nach einem zehnjährigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erreichte erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 wieder verloren? Ist in diesem Zusammenhang der Verlusttatbestand für das Daueraufenthaltsrecht nach Art. 16 Abs. 4 dieser Richtlinie entsprechend anzuwenden?

3.      Für den Fall, dass die Frage 2 und eine entsprechende Anwendbarkeit des Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38 bejaht werden: Geht der erhöhte Ausweisungsschutz allein durch Zeitablauf verloren, unabhängig von den maßgeblichen Gründen für die Abwesenheit?

4.      Ebenfalls für den Fall, dass die Frage 2 und eine entsprechende Anwendbarkeit des Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38 bejaht werden: Ist eine zwangsweise Rückkehr in den Aufnahmemitgliedstaat im Rahmen einer Strafverfolgungsmaßnahme vor Ablauf des Zweijahreszeitraums geeignet, den erhöhten Ausweisungsschutz zu erhalten, auch wenn im Anschluss an die Rückkehr zunächst für längere Zeit von den Grundfreiheiten kein Gebrauch gemacht werden kann?

 Zu den Vorlagefragen

 Zu den Fragen 2 bis 4

22      Mit seinen Fragen 2 bis 4, die zunächst zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, inwieweit Abwesenheiten vom Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats während des in Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 genannten Zeitraums, d. h. in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisung des Betroffenen, dazu führen, dass diesem der in dieser Vorschrift vorgesehene verstärkte Schutz versagt bleibt.

23      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs soll die Richtlinie 2004/38 die Ausübung des den Unionsbürgern unmittelbar aus dem Vertrag erwachsenden elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erleichtern und bezweckt insbesondere, dieses Recht zu verstärken, so dass nicht in Betracht kommt, dass die Unionsbürger aus dieser Richtlinie weniger Rechte ableiten als aus den Sekundärrechtsakten, die sie ändert oder aufhebt (vgl. Urteile vom 25. Juli 2008, Metock u. a., C‑127/08, Slg. 2008, I‑6241, Randnrn. 59 und 82, sowie vom 7. Oktober 2010, Lassal, C‑162/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 30).

24      Aus dem 23. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 geht hervor, dass die Ausweisung von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit Personen, die ihre Rechte und Freiheiten aus dem Vertrag in Anspruch genommen haben und vollständig in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, sehr schaden kann.

25      Aus diesem Grund wird mit der Richtlinie 2004/38, wie aus ihrem 24. Erwägungsgrund hervorgeht, eine auf das Maß der Integration der betroffenen Personen im Aufnahmemitgliedstaat gestützte Regelung zum Schutz vor Ausweisungsmaßnahmen geschaffen, so dass dieser Schutz vor Ausweisung umso stärker ist, je besser die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind.

26      Zu diesem Zweck bestimmt Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 allgemein, dass der Aufnahmemitgliedstaat, bevor er eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat berücksichtigt.

27      Nach Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die nach Art. 16 dieser Richtlinie das Recht auf Daueraufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats erworben haben, eine Ausweisung „nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ verfügt werden.

28      Bei Unionsbürgern, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben, verstärkt Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 den Schutz vor Ausweisungsmaßnahmen erheblich, indem er vorsieht, dass eine solche Maßnahme nicht verfügt werden darf, es sei denn, die Entscheidung beruht auf „zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden“.

29      Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 macht zwar den Genuss des verstärkten Schutzes davon abhängig, dass sich der Betroffene in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisung im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufgehalten hat, doch ergibt sich daraus nichts zu der Frage, welche Umstände eine Unterbrechung der Aufenthaltsdauer von zehn Jahren bewirken können, die für den Erwerb des Rechts auf verstärkten Ausweisungsschutz gemäß dieser Vorschrift erforderlich ist.

30      Ausgehend von der Prämisse, dass der verstärkte Schutz ebenso wie das Recht auf Daueraufenthalt nach einem Aufenthalt von bestimmter Dauer im Aufnahmemitgliedstaat erworben wird und anschließend verloren gehen kann, zieht das vorlegende Gericht in Betracht, die in Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Kriterien entsprechend anzuwenden.

31      Es trifft zwar zu, dass die Erwägungsgründe 23 und 24 der Richtlinie 2004/38 einen besonderen Schutz für diejenigen Personen vorsehen, die vollständig in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, insbesondere in Fällen, in denen sie dort geboren sind und dort ihr ganzes Leben lang ihren Aufenthalt gehabt haben, doch ist das entscheidende Kriterium angesichts des Wortlauts von Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 nichtsdestoweniger, ob sich der Unionsbürger in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisung in diesem Mitgliedstaat aufgehalten hat.

32      Was die Frage betrifft, inwieweit Abwesenheiten vom Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats in dem Zeitraum, auf den in Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 abgestellt wird, d. h. in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisung des Betroffenen, diesen daran hindern, in den Genuss des verstärkten Schutzes zu kommen, ist eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen jeweils zu dem genauen Zeitpunkt vorzunehmen, zu dem sich die Frage der Ausweisung stellt.

33      Die mit der Anwendung von Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 betrauten nationalen Behörden haben alle in jedem Einzelfall relevanten Umstände zu berücksichtigen, insbesondere die Dauer jeder einzelnen Abwesenheit des Betroffenen vom Aufnahmemitgliedstaat, die Gesamtdauer und die Häufigkeit der Abwesenheiten sowie die Gründe, die ihn dazu veranlasst haben, diesen Mitgliedstaat zu verlassen. Zu prüfen ist nämlich, ob die fraglichen Abwesenheiten bedeuten, dass sich der Mittelpunkt der persönlichen, familiären oder beruflichen Interessen des Betroffenen in einen anderen Mitgliedstaat verlagert hat.

34      Der Umstand, dass der Betroffene zur Verbüßung einer Haftstrafe zwangsweise in den Aufnahmemitgliedstaat zurückgebracht wurde, und die im Gefängnis verbrachte Zeit können zusammen mit den in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Umständen bei der gebotenen umfassenden Beurteilung berücksichtigt werden, um zu bestimmen, ob die zuvor mit dem Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsverbindungen abgerissen sind.

35      Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob das im Ausgangsverfahren der Fall ist. Sollte es zu dem Schluss kommen, dass die Abwesenheiten von Herrn Tsakouridis vom Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats ihn nicht daran hindern, in den Genuss des verstärkten Schutzes zu kommen, hätte es sodann zu prüfen, ob die Ausweisung auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit im Sinne von Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 beruht.

36      Es ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof, um dem nationalen Gericht eine sachdienliche Antwort geben zu können, die diesem die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits ermöglicht, veranlasst sein kann, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, auf die sich das nationale Gericht in seinen Vorlagefragen nicht bezogen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. November 2007, Gintec, C‑374/05, Slg. 2007, I‑9517, Randnr. 48).

37      Wenn der Schluss gezogen werden sollte, dass eine Person in der Situation von Herrn Tsakouridis, die im Aufnahmemitgliedstaat ein Recht auf Daueraufenthalt erworben hat, nicht die in Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 hinsichtlich des Aufenthalts aufgestellte Voraussetzung erfüllt, könnte eine Ausweisungsmaßnahme gegebenenfalls gemäß Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 beim Vorliegen von „schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ gerechtfertigt sein.

38      Nach alledem ist auf die Fragen 2 bis 4 zu antworten, dass Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 dahin gehend auszulegen ist, dass für die Bestimmung, ob sich ein Unionsbürger in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisung im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, was das ausschlaggebende Kriterium für die Gewährung des verstärkten Schutzes nach dieser Vorschrift ist, alle im Einzelfall relevanten Umstände zu berücksichtigen sind, insbesondere die Dauer jeder einzelnen Abwesenheit des Betroffenen vom Aufnahmemitgliedstaat, die Gesamtdauer und die Häufigkeit der Abwesenheiten sowie die Gründe, die ihn dazu veranlasst haben, diesen Mitgliedstaat zu verlassen, und anhand deren sich feststellen lässt, ob die entsprechenden Abwesenheiten bedeuten, dass sich der Mittelpunkt seiner persönlichen, familiären oder beruflichen Interessen in einen anderen Mitgliedstaat verlagert hat.

 Zur ersten Frage

39      Angesichts der Antwort auf die Fragen 2 bis 4 ist die erste Frage dahin gehend zu verstehen, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob und inwieweit die mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundene Kriminalität für den Fall, dass es zu dem Schluss kommt, dass dem betroffenen Unionsbürger der Schutz nach Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 zusteht, unter den Ausdruck der „zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit“ oder, für den Fall, dass es zu dem Schluss kommt, dass diesem Unionsbürger der Schutz nach Art. 28 Abs. 2 dieser Richtlinie zusteht, unter den der „schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ fallen kann.

40      Aus dem Wortlaut und der Systematik von Art. 28 der Richtlinie 2004/38, die in den Randnrn. 24 bis 28 des vorliegenden Urteils dargelegt worden sind, geht hervor, dass der Unionsgesetzgeber, indem er jede Ausweisungsmaßnahme in den in Art. 28 Abs. 3 dieser Richtlinie genannten Fällen vom Vorliegen „zwingender Gründe“ der öffentlichen Sicherheit abhängig gemacht hat, einem Begriff, der erheblich enger ist als der der „schwerwiegenden Gründe“ im Sinne von Abs. 2 dieses Artikels, die auf diesen Abs. 3 gestützten Maßnahmen ganz offensichtlich entsprechend der Ankündigung im 24. Erwägungsgrund der Richtlinie auf „außergewöhnliche Umstände“ begrenzen wollte.

41      Der Ausdruck „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ setzt nämlich nicht nur das Vorliegen einer Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit voraus, sondern darüber hinaus, dass die Beeinträchtigung einen besonders hohen Schweregrad aufweist, der im Gebrauch des Ausdrucks „zwingende Gründe“ zum Ausdruck kommt.

42      Auch der Begriff „öffentliche Sicherheit“ in Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 ist in diesem Kontext auszulegen.

43      Hinsichtlich der öffentlichen Sicherheit hat der Gerichtshof entschieden, dass sie sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats umfasst (vgl. u. a. Urteile vom 26. Oktober 1999, Sirdar, C‑273/97, Slg. 1999, I‑7403, Randnr. 17, vom 11. Januar 2000, Kreil, C‑285/98, Slg. 2000, I‑69, Randnr. 17, vom 13. Juli 2000, Albore, C‑423/98, Slg. 2000, I‑5965, Randnr. 18, und vom 11. März 2003, Dory, C‑186/01, Slg. 2003, I‑2479, Randnr. 32).

44      Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können (vgl. u. a. Urteile vom 10. Juli 1984, Campus Oil u. a., 72/83, Slg. 1984, 2727, Randnrn. 34 und 35, vom 17. Oktober 1995, Werner, C‑70/94, Slg. 1995, I‑3189, Randnr. 27, Albore, Randnr. 22, und vom 25. Oktober 2001, Kommission/Griechenland, C‑398/98, Slg. 2001, I‑7915, Randnr. 29).

45      Daraus folgt jedoch nicht, dass Ziele wie die Bekämpfung der mit bandenmäßigem Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität zwingend von diesem Begriff ausgenommen wären.

46      Der bandenmäßige Handel mit Betäubungsmitteln stellt eine diffuse Kriminalität dar, die mit beeindruckenden wirtschaftlichen und operativen Mitteln ausgestattet ist und sehr häufig über internationale Verbindungen verfügt. Angesichts der verheerenden Folgen der mit diesem Handel verbundenen Kriminalität wird im ersten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2004/757/JI des Rates vom 25. Oktober 2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels (ABl. L 335, S. 8) festgestellt, dass der illegale Drogenhandel eine Bedrohung der Gesundheit, Sicherheit und Lebensqualität der Unionsbürger sowie der legalen Wirtschaftstätigkeit, der Stabilität und der Sicherheit der Mitgliedstaaten darstellt.

47      Da die Rauschgiftsucht ein großes Übel für den Einzelnen und eine soziale und wirtschaftliche Gefahr für die Menschheit ist (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 26. Oktober 1982, Wolf, 221/81, Slg. 1982, 3681, Randnr. 9, sowie Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Januar 2006, Aoulmi/Frankreich, Nr. 86), könnte nämlich der bandenmäßige Handel mit Betäubungsmitteln ein Maß an Intensität erreichen, durch das die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung insgesamt oder eines großen Teils derselben unmittelbar bedroht werden.

48      Hinzu kommt, dass in Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 hervorgehoben wird, dass das Verhalten der betreffenden Person eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellen muss, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder des betroffenen Mitgliedstaats berührt, dass vorangegangene strafrechtliche Verurteilungen allein Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nicht begründen können und dass vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen nicht zulässig sind.

49      Demzufolge muss eine Ausweisungsmaßnahme auf eine individuelle Prüfung des Einzelfalls gestützt werden (vgl. u. a. Urteil Metock u. a., Randnr. 74) und kann nur dann mit zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit im Sinne von Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 gerechtfertigt werden, wenn eine solche Maßnahme angesichts der außergewöhnlichen Schwere der Bedrohung für den Schutz der Interessen, die mit ihr gewahrt werden sollen, erforderlich ist, vorausgesetzt, dass dieses Ziel unter Berücksichtigung der Aufenthaltsdauer im Aufnahmemitgliedstaat des Unionsbürgers und insbesondere der schweren negativen Folgen, die eine solche Maßnahme für Unionsbürger haben kann, die vollständig in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, nicht durch weniger strikte Maßnahmen erreicht werden kann.

50      Bei der Anwendung der Richtlinie 2004/38 ist insbesondere der außergewöhnliche Charakter der Bedrohung der öffentlichen Sicherheit aufgrund des persönlichen Verhaltens der betroffenen Person, die gegebenenfalls zu der Zeit zu beurteilen ist, zu der die Ausweisungsverfügung ergeht (vgl. u. a. Urteil vom 29. April 2004, Orfanopoulos und Oliveri, C‑482/01 und C‑493/01, Slg. 2004, I‑5257, Randnrn. 77 bis 79), und zwar nach Maßgabe der verwirkten und verhängten Strafen, des Grades der Beteiligung an der kriminellen Aktivität, des Umfangs des Schadens und gegebenenfalls der Rückfallneigung (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 27. Oktober 1977, Bouchereau, 30/77, Slg. 1977, 1999, Randnr. 29), gegen die Gefahr abzuwägen, die Resozialisierung des Unionsbürgers in dem Staat, in den er vollständig integriert ist – die, wie der Generalanwalt in Nr. 95 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht nur im Interesse dieses Staates, sondern auch im Interesse der Europäischen Union insgesamt liegt –, zu gefährden.

51      Die verhängte Strafe ist als ein Umstand dieser Gesamtheit von Faktoren zu berücksichtigen. Eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren kann nicht zu einer Ausweisungsverfügung führen, wie es in der nationalen Regelung vorgesehen ist, ohne dass die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils beschriebenen Umstände berücksichtigt werden, was vom nationalen Gericht zu prüfen ist.

52      Im Rahmen der entsprechenden Beurteilung ist den Grundrechten Rechnung zu tragen, deren Beachtung der Gerichtshof sichert, da Gründe des Allgemeininteresses zur Rechtfertigung einer innerstaatlichen Maßnahme, die geeignet ist, die Ausübung der Freizügigkeit zu behindern, nur dann herangezogen werden können, wenn die fragliche Maßnahme diesen Rechten Rechnung trägt (vgl. u. a. Urteil Orfanopoulos und Oliveri, Randnrn. 97 bis 99), insbesondere dem in Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten niedergelegten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (vgl. u. a. Urteil vom 5. Oktober 2010, McB., C‑400/10 PPU, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 53, sowie Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [Große Kammer] vom 23. Juni 2008, Maslov/Österreich, Recueil des arrêts et décisions 2008, Nrn. 61 ff.).

53      Um zu beurteilen, ob der in Aussicht genommene Eingriff im Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck steht, hier dem Schutz der öffentlichen Sicherheit, sind insbesondere die Art und die Schwere der begangenen Zuwiderhandlung, die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Aufnahmemitgliedstaat, die seit der Begehung der Zuwiderhandlung vergangene Zeit und das Verhalten des Betroffenen in dieser Zeit sowie die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Aufnahmemitgliedstaat zu berücksichtigen. Im Fall eines Unionsbürgers, der die meiste oder die gesamte Zeit seiner Kindheit und Jugend rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat verbracht hat, müssten sehr stichhaltige Gründe vorgebracht werden, um die Ausweisungsmaßnahme zu rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Maslov/Österreich, Nrn. 71 bis 75).

54      Jedenfalls fällt, da der Gerichtshof entschieden hat, dass ein Mitgliedstaat zum Schutz der öffentlichen Ordnung die Verwendung von Betäubungsmitteln als eine Gefahr für die Gesellschaft ansehen kann, die besondere Maßnahmen gegen Ausländer rechtfertigt, die gegen Vorschriften über Betäubungsmittel verstoßen (vgl. Urteile vom 19. Januar 1999, Calfa, C‑348/96, Slg. 1999, I‑11, Randnr. 22, sowie Orfanopoulos und Oliveri, Randnr. 67), der bandenmäßige Handel mit Betäubungsmitteln erst recht unter den Begriff der „öffentlichen Ordnung“ im Sinne von Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38.

55      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller genannten Umstände zu prüfen, ob das Verhalten von Herrn Tsakouridis unter den Ausdruck „schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ im Sinne von Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 oder den Ausdruck „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ im Sinne von Art. 28 Abs. 3 dieser Richtlinie fällt und ob mit der in Aussicht genommenen Abschiebung die genannten Voraussetzungen beachtet werden.

56      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 für den Fall, dass das vorlegende Gericht zu dem Schluss kommt, dass dem betreffenden Unionsbürger der mit dieser Vorschrift gewährte Schutz zusteht, dahin gehend auszulegen ist, dass die Bekämpfung der mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität unter den Ausdruck „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ fallen kann, mit denen eine Ausweisungsmaßnahme in Bezug auf einen Unionsbürger, der seinen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt hat, gerechtfertigt werden kann. Für den Fall, dass das vorlegende Gericht zu dem Schluss kommt, dass dem betreffenden Unionsbürger der mit Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 gewährte Schutz zusteht, ist diese Vorschrift dahin gehend auszulegen, dass die Bekämpfung der mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität unter den Ausdruck „schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ fällt.

 Kosten

57      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin gehend auszulegen, dass für die Bestimmung, ob sich ein Unionsbürger in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisung im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, was das ausschlaggebende Kriterium für die Gewährung des verstärkten Schutzes nach dieser Vorschrift ist, alle im Einzelfall relevanten Umstände zu berücksichtigen sind, insbesondere die Dauer jeder einzelnen Abwesenheit des Betroffenen vom Aufnahmemitgliedstaat, die Gesamtdauer und die Häufigkeit der Abwesenheiten sowie die Gründe, die ihn dazu veranlasst haben, diesen Mitgliedstaat zu verlassen, und anhand deren sich feststellen lässt, ob die entsprechenden Abwesenheiten bedeuten, dass sich der Mittelpunkt seiner persönlichen, familiären oder beruflichen Interessen in einen anderen Mitgliedstaat verlagert hat.

2.      Für den Fall, dass das vorlegende Gericht zu dem Schluss kommt, dass dem betreffenden Unionsbürger der mit Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 gewährte Schutz zusteht, ist diese Vorschrift dahin gehend auszulegen, dass die Bekämpfung der mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität unter den Ausdruck „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ fallen kann, mit denen eine Ausweisungsmaßnahme in Bezug auf einen Unionsbürger, der seinen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt hat, gerechtfertigt werden kann. Für den Fall, dass das vorlegende Gericht zu dem Schluss kommt, dass dem betreffenden Unionsbürger der mit Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 gewährte Schutz zusteht, ist diese Vorschrift dahin gehend auszulegen, dass die Bekämpfung der mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität unter den Ausdruck „schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ fällt.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.