Language of document : ECLI:EU:T:2022:853

Rechtssache T626/20

Landwärme GmbH

gegen

Europäische Kommission

 Urteil des Gerichts (Siebte erweiterte Kammer) vom 21. Dezember 2022

„Staatliche Beihilfen – Biogasmarkt – Steuerbefreiungen zum Ausgleich von Produktionsmehrkosten – Beschlüsse, keine Einwände zu erheben – Nichtigkeitsklage – Rechtsschutzinteresse – Zulässigkeit – Keine Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens – Ernsthafte Schwierigkeiten – Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV – Art. 4 Abs. 3 und 4 der Verordnung (EU) 2015/1589 – Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2014‑2020 – Kumulierung von Beihilfen – Von mehreren Mitgliedstaaten gewährte Beihilfen – Eingeführtes Biogas – Diskriminierungsverbot – Art. 110 AEUV“

1.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Beschluss der Kommission, mit dem ohne Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens die Vereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe mit dem Binnenmarkt festgestellt wird – Klage von Beteiligten im Sinne von Art. 108 Abs. 2 AEUV – Klage zur Wahrung der Verfahrensrechte der Beteiligten – Zulässigkeit

(Art. 108 Abs. 2 und 3 sowie Art. 263 Abs. 4 AEUV; Verordnung 2015/1589 des Rates, Art. 1 Buchst. h, Art. 4 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 1)

(vgl. Rn. 18-32)

2.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Rechtsschutzinteresse – Erfordernis eines bestehenden und gegenwärtigen Interesses – Beschluss der Kommission, mit dem ohne Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens die Vereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe mit dem Binnenmarkt festgestellt wird – Klage von Beteiligten im Sinne von Art. 108 Abs. 2 AEUV – Klage zur Wahrung der Verfahrensrechte der Beteiligten – Klage eines potenziellen Begünstigten der in Rede stehenden Beihilfe – Zulässigkeit

(Art. 263 Abs. 4 AEUV)

(vgl. Rn. 35-48)

3.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Ermessen der Kommission – Leitlinien der Kommission für die Prüfung der Vereinbarkeit von Beihilfen mit dem Binnenmarkt – Folgen – Selbstbeschränkung ihres Ermessens

(Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV; Mitteilung 2014/C 200/1 der Kommission)

(vgl. Rn. 51)

4.      Staatliche Beihilfen – Beihilfevorhaben – Prüfung durch die Kommission – Vorprüfungsphase und kontradiktorische Prüfungsphase – Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt – Beurteilungsschwierigkeiten – Verpflichtung der Kommission, das kontradiktorische Verfahren zu eröffnen – Ernsthafte Schwierigkeiten – Beweislast – Verfügbare Informationen – Umstände, die das Vorliegen solcher Schwierigkeiten belegen können – Unzureichende oder unvollständige Prüfung durch die Kommission im vorläufigen Prüfverfahren

(Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV; Verordnung 2015/1589 des Rates, Art. 4)

(vgl. Rn. 64-75, 83-100)

5.      Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt – Ermessen – Wahrung der Kohärenz zwischen den Vorschriften über staatliche Beihilfen und anderen Vorschriften des Vertrags – Steuerbefreiung seitens eines Mitgliedstaats für den Kauf von Biogas zum Ausgleich von Produktionsmehrkosten – In anderen Mitgliedstaaten ansässige Biogaserzeuger, denen Produktionsbeihilfen gewährt werden – Pflicht zur Berücksichtigung der von diesen anderen Mitgliedstaaten gewährten Beihilfen bei der Prüfung der Vereinbarkeit der Steuerbefreiung mit dem Binnenmarkt – Diskriminierungsverbot – Vergleichbarkeit der Sachverhalte – Art. 110 AEUV – Objektives Kriterium – Umgekehrte Diskriminierung

(Art. 107 Abs. 1 und Art. 108 AEUV)

(vgl. Rn. 101-128)

Zusammenfassung

Am 1. April 2020 meldete das Königreich Schweden bei der Europäischen Kommission seine Absicht an, zwei Beihilferegelungen, die von der Kommission bereits bis zum 31. Dezember 2020 genehmigt worden waren, zu ändern und bis zum 31. Dezember 2030 zu verlängern (im Folgenden: streitige Regelungen). Nach diesen Regelungen ist der Kauf bestimmter erneuerbarer gasförmiger Brennstoffe (im Folgenden: Biogas) von der Zahlung bestimmter Verbrauchsteuern befreit, die auf zur gleichen Verwendung bestimmte fossile Gase erhoben werden.

Die Kommission stellte, ohne das förmliche Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV zu eröffnen, mit Beschlüssen vom 29. Juni 2020(1) (im Folgenden: angefochtene Beschlüsse) fest, dass die angemeldeten Maßnahmen staatliche Beihilfen beträfen, die gemäß Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar seien. Nach dieser Bestimmung können Beihilfen zur Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden, soweit sie die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft. Die Kommission stellte insbesondere zum einen fest, dass die streitigen Regelungen erforderlich seien, weil Biogas ohne die darin vorgesehenen vollständigen Steuerbefreiungen teurer als fossile Gase wäre. Zum anderen könne ausgeschlossen werden, dass die kraft dieser Regelungen gewährten Beihilfen den Betrag überstiegen, der erforderlich sei, um die höheren Kosten der Biogasproduktion im Vergleich zur Produktion fossiler Gase auszugleichen, und sie auf diese Weise zu einer Überkompensation dieser höheren Kosten führten (im Folgenden: Überkompensation).

Die Klägerin, die Landwärme GmbH, eine Erzeugerin von Biomethan in Deutschland, hat Klage auf Nichtigerklärung der angefochtenen Beschlüsse erhoben. Das Gericht gibt der Klage nach Bejahung ihrer Zulässigkeit statt, da nach seinem Urteil die Kommission angesichts der ernsthaften Schwierigkeiten, die die Beurteilung der Vereinbarkeit der angemeldeten Maßnahmen mit dem Binnenmarkt aufwarf, das förmliche Prüfverfahren hätte eröffnen müssen.

Würdigung durch das Gericht

Zur Zulässigkeit der Klage stellt das Gericht zunächst fest, dass die Klägerin u. a. beanstandet, dass die Kommission das förmliche Prüfverfahren nicht eröffnet habe, obwohl sie nicht habe ignorieren können, dass im Hinblick auf die mögliche Kumulierung der in Schweden in Anwendung der streitigen Regelungen gewährten Beihilfen mit sonstigen Beihilfen, die Biogasproduzenten von anderen Mitgliedstaaten gewährt würden (im Folgenden: streitige Kumulierung), ernsthafte Schwierigkeiten bestanden hätten, da diese Kumulierung zu einer Überkompensation zugunsten dieser Produzenten führen könne, wenn diese in Schweden Biogas verkauften. Das Gericht stellt weiter fest, dass die Klägerin als potenzielle mittelbare Begünstigte der mit den streitigen Regelungen vorgesehenen Beihilfen und Wettbewerberin der derzeitigen Empfänger dieser Beihilfen die Beteiligteneigenschaft im Sinne von Art. 108 Abs. 2 AEUV und Art. 1 Buchst. h der Verordnung über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art. 108 AEUV(2) hat. Schließlich bejaht das Gericht das Rechtsschutzinteresse der Klägerin, da sie im Fall der Nichtigerklärung der angefochtenen Beschlüsse die Verfahrensrechte, die den Beteiligten im Rahmen des förmlichen Prüfverfahrens garantiert werden, ausüben könnte, indem sie gegenüber der Kommission zu den Änderungen Stellung nähme, die an den streitigen Regelungen zur Herstellung ihrer Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt vorgenommen werden müssten. Somit ist die Klage zumindest insoweit zulässig, als die Klägerin damit die Rüge in Bezug auf die streitige Kumulierung vorbringt.

Vor der Prüfung dieser Rüge weist das Gericht das Vorbringen der Kommission zurück, dass nach den Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2014-2020(3), deren Rechtswidrigkeit von der Klägerin nicht geltend gemacht worden sei, die streitige Kumulierung bei der Beurteilung der Vereinbarkeit der streitigen Regelungen mit dem Binnenmarkt keine Rolle spielen könne. Diese Leitlinien hindern die Kommission nämlich nicht daran, die möglicherweise aus dieser Kumulierung resultierende Überkompensation zu prüfen.

Zur Begründetheit der besagten Rüge stellt das Gericht fest, dass die Kommission in den angefochtenen Beschlüssen nur die Überkompensation prüfte, die sich aus der Kumulierung mehrerer vom Königreich Schweden gewährter Beihilfen ergeben konnte, und dass sie damit die Möglichkeit von durch die streitige Kumulierung hervorgerufenen ernsthaften Schwierigkeiten bei der Feststellung der Vereinbarkeit der streitigen Regelungen mit dem Binnenmarkt ausschloss. Außerdem stellt das Gericht klar, dass die Kommission, wenn sie am Ende des vorläufigen Prüfverfahrens einen auf Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV gestützten Beschluss erlässt, in der Lage sein muss, zu dem Ergebnis zu gelangen, dass die betreffenden Beihilfen den Handel zwischen den Mitgliedstaaten nicht verändern werden, ohne dass insoweit ernsthafte Schwierigkeiten bestehen.

Nach dem Hinweis, dass es nach der Rechtsprechung ein Indiz für das Bestehen ernsthafter Schwierigkeiten bei der Beurteilung der angemeldeten Beihilfemaßnahme darstellt, wenn die Prüfung durch die Kommission im vorläufigen Prüfverfahren unzureichend oder unvollständig war, stellt das Gericht fest, dass die Frage, ob keine Überkompensation vorliegt, eng mit der Frage verknüpft ist, ob die streitigen Regelungen angemessen sind. Somit kann der Umstand, dass die Kommission trotz der ihr zur Verfügung stehenden Informationen über die möglichen Auswirkungen der streitigen Kumulierung das Nichtvorliegen einer Überkompensation unzureichend und unvollständig geprüft hat, im vorliegenden Fall ausreichen, um das Bestehen ernsthafter Schwierigkeiten festzustellen.

Vor der Feststellung, dass die Vereinbarkeit der streitigen Regelungen mit dem Binnenmarkt aufgrund der möglicherweise aus der streitigen Kumulierung resultierenden Überkompensation ernsthafte Schwierigkeiten aufwarf, prüft das Gericht noch das Vorbringen der Kommission und des Königreichs Schweden, wonach im Wesentlichen die Beachtung des Diskriminierungsverbots oder des Art. 110 AEUV verlange, dass die in den streitigen Regelungen vorgesehenen Steuerbefreiungen unabhängig vom Ursprung des in Schweden verkauften Biogases gälten und ohne danach zu unterscheiden, ob der Mitgliedstaat, in dem das Biogas produziert worden sei, Beihilfen für die Energieerzeugung aus Biogas gewährt habe oder nicht.

Zur Beachtung des Diskriminierungsverbots weist das Gericht darauf hin, dass die streitigen Regelungen Biogas gegenüber fossilen Gasen wettbewerbsfähig machen sollen, indem die höheren Produktionskosten von Biogas ausgeglichen werden. Im Hinblick auf diesen Zweck stellt der Verkauf von Biogas, dessen Produktionsmehrkosten ausgeglichen wurden, keinen Sachverhalt dar, der mit dem Verkauf von Biogas, dessen Produktionsmehrkosten noch nicht ausgeglichen wurden, vergleichbar ist. Der Unterschied zwischen diesen beiden Sachverhalten besteht auch dann, wenn der Ausgleich dieser Mehrkosten auf Beihilfen zurückgeht, die von anderen Mitgliedstaaten als dem Königreich Schweden gewährt wurden. Folglich können diese beiden Verkäufe, sofern keine objektive Rechtfertigung vorliegt, nicht in den Genuss derselben Steuerbefreiung kommen, und zwar unabhängig davon, ob das in Schweden verkaufte Biogas im Inland produziert oder eingeführt wurde.

In Bezug auf Art. 110 AEUV, nach dem die Mitgliedstaaten auf eingeführte Waren keine höheren Abgaben erheben dürfen, als gleichartige inländische Waren zu tragen haben, stellt das Gericht fest, dass das Vorliegen einer Überkompensation als ein objektives Kriterium angesehen werden kann, das es erlaubt, die in den streitigen Regelungen vorgesehene Steuerbefreiung nur auf inländisches oder eingeführtes Biogas anzuwenden, bei dem die Produktionsmehrkosten gegenüber fossilen Gasen nicht bereits durch andere Beihilfen ausgeglichen wurden. Diese auf einem objektiven Kriterium beruhende Differenzierung ist geeignet, die Diskriminierung zu verhindern, die eine Folge davon wäre, dass für aus bestimmten Mitgliedstaaten eingeführtes Biogas bereits Ausgleichszahlungen gewährt wurden. Das Gericht stellt auch klar, dass die streitigen Regelungen eine umgekehrte Diskriminierung des in Schweden produzierten Biogases zugunsten des Biogases bewirken, das in anderen Mitgliedstaaten, die Beihilfen für die Energieerzeugung aus Biogas gewähren, produziert wird. Dieses Ergebnis kann nicht als dadurch vorgegeben angesehen werden, dass Art. 110 AEUV zu beachten ist, dessen Sinn und Zweck darin besteht, zu verhindern, dass ein Mitgliedstaat seine eigene Produktion zulasten der Produktionen der anderen Mitgliedstaaten begünstigt.

Im Licht dieser Erwägungen gelangt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die Kommission bei der Prüfung der Vereinbarkeit der streitigen Regelungen mit dem Binnenmarkt im Zusammenhang mit der möglicherweise aus der streitigen Kumulierung resultierenden Überkompensation ernsthafte Schwierigkeiten hätte empfinden müssen, die die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens erforderlich machten. Das Gericht gibt deshalb der Klage statt und erklärt die angefochtenen Beschlüsse für nichtig.


1      Beschluss C(2020) 4489 final der Kommission vom 29. Juni 2020 über die staatliche Beihilfe SA.56125 (2020/N) – Schweden – Verlängerung und Änderung der Regelung SA.49893 (2018/N) – Steuerbefreiung für nicht auf Nahrungsmitteln basierendes Biogas und Biopropan zur Wärmeerzeugung und Beschluss C(2020) 4487 final der Kommission vom 29. Juni 2020 über die staatliche Beihilfe SA.56908 (2020/N) – Schweden – Verlängerung und Änderung der Regelung für Biogas zur Nutzung als Kraftstoff in Schweden; von beiden Beschlüssen wurde eine Zusammenfassung im Amtsblatt der Europäischen Union (ABl. 2020, C 245, S. 2, bzw. ABl. 2020, C 260, S. 4) veröffentlicht.


2      Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. 2015, L 248, S. 9).


3      Mitteilung der Kommission – Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2014-2020 (ABl. 2014, C 200, S. 1).