Language of document : ECLI:EU:C:2012:479

Verbundene Rechtssachen C‑628/10 P und C‑14/11 P

Alliance One International Inc., vormals Standard Commercial Corp.
und
Standard Commercial Tobacco Co. Inc.
gegen
Europäische Kommission

und

Europäische Kommission
gegen
Alliance One International Inc. u. a.

„Rechtsmittel – Wettbewerb – Kartelle – Spanischer Markt für den Kauf und die Erstverarbeitung von Rohtabak – Preisfestsetzung und Marktaufteilung – Verstoß gegen Art. 81 EG – Zurechenbarkeit des Verstoßes von Tochtergesellschaften an ihre Muttergesellschaften – Unschuldsvermutung – Verteidigungsrechte – Begründungspflicht – Gleichbehandlung“

Leitsätze des Urteils

1.        Wettbewerb – Gemeinschaftsvorschriften – Zuwiderhandlungen – Zurechnung – Muttergesellschaft und Tochtergesellschaften – Wirtschaftliche Einheit – Beurteilungskriterien – Vermutung, dass eine Muttergesellschaft auf Tochtergesellschaften, deren Kapital sie zu 100 % hält, einen bestimmenden Einfluss ausübt – Möglichkeit für die Kommission, die Vermutung mit tatsächlichen Gesichtspunkten zu untermauern, mit denen die tatsächliche Ausübung eines bestimmenden Einflusses dargetan werden soll – Pflicht der Kommission, den Grundsatz der Gleichbehandlung zu beachten

(Art. 81 Abs. 1 EG)

2.        Rechtsmittel – Gründe – Unzureichende Begründung – Rückgriff des Gerichts auf eine implizite Begründung – Zulässigkeit – Voraussetzungen

(Art. 256 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 36 und 53 Abs. 1)

3.        Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang – Entscheidung zur Anwendung der Wettbewerbsregeln – Entscheidung, die mehrere Adressaten betrifft – Entscheidung, mit der die Verantwortung für die Zuwiderhandlung der Muttergesellschaft zugerechnet wird – Keine Möglichkeit für die Kommission, im Laufe des gerichtlichen Verfahrens in ihrer Entscheidung nicht enthaltene Beweise für die Verantwortlichkeit der Muttergesellschaft beizubringen

(Art. 101 AEUV und 296 AEUV)

4.        Rechtsmittel – Gründe – Fehlerhafte Tatsachenwürdigung – Unzulässigkeit – Überprüfung der Tatsachenwürdigung des Gerichts durch den Gerichtshof – Ausschluss außer bei Verfälschung

(Art. 256 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 58 Abs. 1)

5.        Wettbewerb – Gemeinschaftsvorschriften – Zuwiderhandlungen – Zurechnung – Muttergesellschaft und Tochtergesellschaften – Tochtergesellschaft, die sich im Gemeinschaftsbesitz zweier Gesellschaften befindet, deren eine auch die Muttergesellschaft der anderen ist – Wirtschaftliche Einheit – Beurteilungskriterien

(Art. 81 Abs. 1 EG)

6.        Rechtsmittel – Gründe – Angriffs- oder Verteidigungsmittel, das erstmals im Rechtsmittelverfahren geltend gemacht wird – Unzulässigkeit

(Satzung des Gerichtshofs, Art. 58)

1.        In dem besonderen Fall, dass eine Muttergesellschaft 100 % des Kapitals ihrer Tochtergesellschaft hält, die gegen die Wettbewerbsregeln der Union verstoßen hat, kann zum einen diese Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten dieser Tochtergesellschaft ausüben und besteht zum anderen eine widerlegliche Vermutung, dass die Muttergesellschaft tatsächlich einen solchen Einfluss ausübt. Unter diesen Umständen genügt es, dass die Kommission nachweist, dass die Muttergesellschaft das gesamte Kapital der Tochtergesellschaft hält, um zu vermuten, dass die Muttergesellschaft tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik dieser Tochtergesellschaft ausübt. Die Kommission kann in der Folge die Muttergesellschaft als gesamtschuldnerisch für die Zahlung der gegen die Tochtergesellschaft verhängten Geldbuße haftbar ansehen, sofern die Muttergesellschaft, der die Widerlegung dieser Vermutung obliegt, keine ausreichenden Beweise dafür erbringt, dass ihre Tochtergesellschaft auf dem Markt eigenständig auftritt.

Die Kommission muss sich jedoch nicht ausschließlich auf diese Vermutung stützen. Sie ist nämlich durch nichts daran gehindert, durch andere Beweise oder durch eine Kombination solcher Beweise mit der genannten Vermutung darzutun, dass eine Muttergesellschaft tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf ihre Tochtergesellschaft ausübt.

Der Grundsatz der Gleichbehandlung verlangt jedoch, dass die Kommission, wenn sie eine bestimmte Methode heranzieht, um festzustellen, ob von einer Verantwortung der Muttergesellschaften, deren Tochtergesellschaften an ein und demselben Kartell beteiligt waren, auszugehen ist, bei allen diesen Muttergesellschaften dieselben Kriterien zugrunde legen muss, sofern keine besonderen Umstände vorliegen. Beschließt die Kommission, die Muttergesellschaften nur zur Verantwortung zu ziehen, wenn Beweise die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses auf die Tochtergesellschaften bestätigen (sogenannte Methode der „doppelten Grundlage“), und verzichtet sie darauf, es mit der Anwendung der bloßen Vermutung eines bestimmenden Einflusses bewenden zu lassen, kann sie daher eine Muttergesellschaft nicht allein auf der Grundlage dieser Vermutung für die Zahlung der gegen ihre Tochtergesellschaft verhängten Geldbuße gesamtschuldnerisch haftbar machen und sie dadurch gegenüber den anderen Muttergesellschaften diskriminieren.

(vgl. Randnrn. 46-50, 55-57)

2.        Siehe den Text der Entscheidung.

(vgl. Randnr. 64)

3.        Eine Entscheidung zur Anwendung des Wettbewerbsrechts der Union muss, wenn sie an eine Mehrzahl von Adressaten gerichtet ist und die Zurechnung der Zuwiderhandlung betrifft, in Bezug auf jeden Adressaten hinreichend begründet sein, vor allem aber in Bezug auf diejenigen, denen die Zuwiderhandlung in der Entscheidung zugerechnet wird. Daher muss eine solche Entscheidung in Bezug auf eine Muttergesellschaft, die für die Zuwiderhandlung ihrer Tochtergesellschaft haftbar gemacht wird, grundsätzlich eine Darlegung der Gründe enthalten, die die Zurechnung der Zuwiderhandlung an die Muttergesellschaft rechtfertigt.

Dabei gehen die Verteidigungsrechte der Kommission nicht so weit, dass sie die Möglichkeit hat, die Rechtmäßigkeit einer solchen Entscheidung gegenüber Diskriminierungsvorwürfen zu verteidigen, indem sie während des gerichtlichen Verfahrens Beweise für die Verantwortlichkeit einer Muttergesellschaft beibringt, die sich in dieser Entscheidung nicht finden.

(vgl. Randnrn. 75, 79)

4.        Siehe den Text der Entscheidung.

(vgl. Randnrn. 84-85)

5.        Im Wettbewerbsrecht hindert die Ausübung einer gemeinsamen Kontrolle über ihre Tochtergesellschaft durch zwei voneinander unabhängige Muttergesellschaften die Kommission grundsätzlich nicht an der Feststellung, dass zwischen einer dieser beiden Muttergesellschaften und der fraglichen Tochtergesellschaft eine wirtschaftliche Einheit besteht. Dies gilt selbst dann, wenn die betreffende Muttergesellschaft weniger Kapital der Tochtergesellschaft hält als die andere Muttergesellschaft. Erst recht können eine Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft, die selbst Muttergesellschaft der Gesellschaft ist, die eine Zuwiderhandlung begangen hat, als wirtschaftliche Einheit zusammen mit der letztgenannten Gesellschaft angesehen werden.

Außerdem kann die Kommission eine Entscheidung, mit der Geldbußen verhängt werden, an die Muttergesellschaft einer an einem Verstoß gegen Art. 81 EG beteiligten Tochtergesellschaft richten, ohne dass die persönliche Beteiligung der Muttergesellschaft an dem Verstoß nachzuweisen wäre, sofern diese tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik der Tochtergesellschaft ausübt. Folglich steht allein der Umstand, dass eine Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft während eines bestimmten Zeitraums nur eine gemeinsame Kontrolle über die Tochtergesellschaft, die die Zuwiderhandlung begangen hat, ausübten, nicht der Feststellung entgegen, dass diese Gesellschaften eine wirtschaftliche Einheit bilden, sofern die beiden Muttergesellschaften erwiesenermaßen tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik der Tochtergesellschaft, die die Zuwiderhandlung begangen hat, ausübten.

(vgl. Randnrn. 101-103)

6.        Siehe den Text der Entscheidung.

(vgl. Randnr. 111)