Language of document : ECLI:EU:T:2016:403

Verbundene Rechtssachen T836/16 und T624/17

Republik Polen

gegen

Europäische Kommission

 Urteil des Gerichts (Neunte erweiterte Kammer) vom 16. Mai 2019

„Staatliche Beihilfen – Polnische Einzelhandelssteuer – Progressive Umsatzsteuer – Beschluss zur Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens – Abschließender Beschluss, mit dem die Maßnahme als eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe eingestuft wird – Begriff der staatlichen Beihilfe – Voraussetzung der Selektivität“

1.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Gewährung einer steuerlichen Vergünstigung für bestimmte Unternehmen durch staatliche Stellen – Einbeziehung

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 56-58)

2.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Selektiver Charakter der Maßnahme – Maßnahme, die einen Steuervorteil verschafft – Referenzsystem zur Bestimmung des Vorliegens eines Vorteils – Sachliche Abgrenzung – Kriterien – Ermittlung der allgemeinen oder „normalen“ Steuerregelung – Differenzierung zwischen sich in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befindenden Wirtschaftsteilnehmern, die nicht durch die Natur und die Systematik der allgemeinen oder „normalen“ Steuerregelung gerechtfertigt ist – Natur und Systematik einer Steuerregelung – Begriff

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 59-62)

3.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Selektiver Charakter der Maßnahme – Referenzsystem zur Bestimmung des Vorliegens eines Vorteils – Sektorspezifische Steuer auf den Umsatz von im Einzelhandel tätigen Unternehmen – Ermittlung der allgemeinen oder „normalen“ Steuerregelung – Progressive Besteuerungsstruktur – Einbeziehung – Definition eines unvollständigen oder hypothetischen Bezugssteuersystems durch die Kommission – Unzulässigkeit

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 63-68)

4.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Selektiver Charakter der Maßnahme – Sektorspezifische Steuer auf den Umsatz von im Einzelhandel tätigen Unternehmen – Natur der Steuer – Vom betreffenden Staat angeführtes Ziel, eine sektorspezifische Besteuerung unter Berücksichtigung einer Umverteilungslogik einzuführen – Ziel, das mit der progressiven Besteuerungsstruktur im Einklang steht – Zulässigkeit

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 69-77)

5.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Selektiver Charakter der Maßnahme – Progressive sektorspezifische Steuer auf den Umsatz von im Einzelhandel tätigen Unternehmen – Systematik der Steuer – Grundsatz einer progressiven Besteuerungsstruktur – Diskriminierungsfreie Differenzierung, die durch das angestrebte Ziel der Steuerumverteilung gerechtfertigt ist – Keine Selektivität

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 79-93)

6.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Selektiver Charakter der Maßnahme – Progressive sektorspezifische Steuer auf den Umsatz von im Einzelhandel tätigen Unternehmen – Systematik der Steuer – Überprüfung der konkret gewählten progressiven Besteuerungsstruktur – Vereinbarkeit mit der Substanz des angestrebten Ziels der Steuerumverteilung – Keine Diskriminierung von Steuerpflichtigen, die sich in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden – Keine Selektivität

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 95-102)

7.      Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Schwierigkeiten bei der Beurteilung, ob eine Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar ist, oder Zweifel hinsichtlich des Beihilfencharakters – Pflicht der Kommission, das förmliche Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV einzuleiten

(Art. 107 und Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV)

(vgl. Rn. 104)

8.      Staatliche Beihilfen – Beschluss der Kommission, ein förmliches Prüfverfahren über eine vorläufig als neue Beihilfe eingestufte staatliche Maßnahme einzuleiten – Gerichtliche Überprüfung – Grenzen

(Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV)

(vgl. Rn. 106)

9.      Staatliche Beihilfen – Beschluss der Kommission, ein förmliches Prüfverfahren über eine vorläufig als neue Beihilfe eingestufte staatliche Maßnahme einzuleiten – Offensichtlicher Fehler bei der Beurteilung, ob eine neue Beihilfe vorliegt – Nichtigerklärung – Folgen – Nichtigerklärung der Anordnung zur Aussetzung der staatlichen Maßnahme

(Art. 108 Abs. 2 AEUV; Verordnung Nr. 2015/1589 des Rates, Art. 1 Buchst. f und Art. 13 Abs. 1)

(vgl. Rn. 107-109)

Zusammenfassung

Mit seinem am 16. Mai 2019 verkündeten Urteil Polen/Kommission (T‑836/16 und T‑624/17) hat das Gericht den abschließenden Beschluss, mit dem die Kommission die von Polen eingeführte progressive Steuer auf den Umsatz von im Einzelhandel tätigen Unternehmen als mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfe eingestuft hatte(1), und den ursprünglichen Beschluss über die Eröffnung des förmlichen Verfahrens zur Prüfung dieser Steuer für nichtig erklärt.

Am 1. September 2016 trat in Polen das Gesetz über die Einzelhandelssteuer in Kraft. Bemessungsgrundlage für diese Steuer war der monatliche Umsatz aller Einzelhändler, sofern der Umsatz 17 Mio. polnische Złoty (PLN) überstieg. Für die Steuer gab es zwei Steuersätze. Der erste Steuersatz betrug 0,8 % für einen monatlichen Umsatz zwischen 17 und 170 Mio. PLN (etwa 40 Mio. Euro), der zweite 1,4 % für einen monatlichen Umsatz über 170 Mio. PLN. Der Teil des Umsatzes, der unterhalb von 17 Mio. PLN (etwa 4 Mio. Euro) lag, war von der Steuer befreit. Da die Kommission der Auffassung war, dass die Progressivität dieser Steuer eine staatliche Beihilfe darstelle, setzte sie am 19. September 2016(2) Polen von ihrem Beschluss in Kenntnis, wegen dieser Maßnahme das förmliche Prüfverfahren einzuleiten. Zugleich wurde angeordnet, dass die Anwendung des progressiven Steuersatzes unverzüglich auszusetzen sei(3). In ihrem abschließenden Beschluss vom 30. Juni 2017 vertrat die Kommission die Ansicht, dass diese progressive Steuer eine staatliche Beihilfe darstelle, die nicht mit dem Binnenmarkt vereinbar sei. Zudem gab sie Polen auf, alle noch ausstehenden Beihilfezahlungen mit Wirkung vom Zeitpunkt der Annahme dieses Beschlusses einzustellen.

Das Gericht hatte damit zum ersten Mal(4) zu klären, ob eine Umsatzsteuer mit progressiver Steuerstruktur aus diesem Grund eine selektive Maßnahme ist, die eine staatliche Beihilfe darstellt. Es entscheidet im vorliegenden Fall, dass die Kommission mehrere Fehler begangen hat.

So stellt es zunächst fest, dass die Kommission, um zu klären, ob die Steuer selektiven Charakter hat, kein unvollständiges oder hypothetisches Bezugssteuersystem zugrunde legen durfte. Die Kommission hatte nämlich eine „normale“ Regelung mit einer Besteuerungsstruktur ermittelt, bei der ein einheitlicher Steuersatz ab dem ersten PLN galt, obwohl sie auf die im Gesetz festgelegten tatsächlichen Merkmale der „normalen“ Steuerregelung hätte abstellen müssen, mit ihrer durch eine progressive Steuerskala und durch Stufen gekennzeichneten Struktur, einschließlich des Grundfreibetrags, der für Umsätze unterhalb von 17 Mio. PLN vorgesehen war. Unter Hinweis darauf, dass die Schlussfolgerung der Kommission jedoch durch andere Gründe gerechtfertigt sein könnte, die das Vorliegen eines selektiven Vorteils zugunsten von Unternehmen mit geringem Umsatz belegen, hat das Gericht auch geprüft, ob das Organ nachweisen konnte, dass die Systematik dieser Steuer, d. h. ihre Besteuerungsstruktur, ihre Natur, d. h. ihre Ziele, verletzt hat.

Es stellt insoweit zunächst fest, dass die Kommission auch durch ihre Schlussfolgerung einen Rechtsfehler begangen hat, dass das Ziel der Steuer lediglich darin bestanden habe, Haushaltseinnahmen zu erzielen, während es nach Ansicht der polnischen Behörden darin bestand, eine Besteuerung des Umsatzes der Einzelhändler zu schaffen, der eine Umverteilungslogik zugrunde liegt. Sodann stellt es fest, dass die Kommission nicht nachweisen konnte, dass eine progressive Struktur der Steuer dem verfolgten Ziel grundsätzlich zuwiderlief. An einem selektiven Charakter fehlt es insbesondere dann, wenn die Unterschiede in der Besteuerung das Ergebnis der nicht ausnahmsweisen Anwendung der „normalen“ Regelung sind, wenn vergleichbare Sachverhalte gleich behandelt werden und wenn die Anpassungsvorschriften nicht dem Ziel der betreffenden Steuer zuwiderlaufen. Schließlich hat das Gericht festgestellt, dass die Kommission nicht nachgewiesen hat, dass die konkret angewandte progressive Besteuerungsstruktur so konzipiert war, dass das mit dieser Steuer verfolgte Ziel weitgehend seiner Substanz beraubt wurde.

Das Gericht erklärt folglich den abschließenden Beschluss wegen eines Fehlers bei der rechtlichen Einstufung der eingeführten Steuer als staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV für nichtig. Es entscheidet zudem, dass auch der Beschluss über die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens, einschließlich der darin enthaltenen Anordnung, die Anwendung des progressiven Steuersatzes auszusetzen, für nichtig zu erklären ist, da offensichtlich war, dass die Kommission die Einstufung als neue Beihilfe anhand der Informationen, über die sie beim Erlass des Beschlusses verfügte, nicht auf der Grundlage der von ihr angestellten rechtlichen Erwägungen vornehmen durfte. Eine solche Anordnung setzt nämlich voraus, dass die staatliche Maßnahme, auf die sie abzielt, gemäß der in der anwendbaren Regelung vorgeschriebenen vorläufigen Analyse zu Recht als rechtswidrige neue Beihilfe eingestuft wurde.


1      Beschluss (EU) 2018/160 vom 30. Juni 2017 über die staatliche Beihilfe SA.44351 (2016/C) (ex 2016/NN), die Polen in Bezug auf die Einzelhandelssteuer gewährt hat (ABl. 2018, L 29, S. 38).


2      Beschluss vom 19. September 2016 über die staatliche Beihilfe SA.44351 (2016/C) (ex 2016/NN) – Polnische Einzelhandelssteuer – Aufforderung zur Stellungnahme nach Artikel 108 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) (ABl. 2016, C 406, S. 76).


3      Anordnung nach Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. 2015, L 248, S. 9).


4      Vgl. auch Urteil des Gerichts vom 27. Juni 2019, Ungarn/Kommission (T-20/17, EU:T:2019:448).