Language of document : ECLI:EU:C:2011:175

Rechtssache C‑369/09 P

ISD Polska sp. z o.o. u. a.

gegen

Europäische Kommission

„Rechtsmittel – Staatliche Beihilfen – Entscheidung der Kommission – Feststellung der Unvereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt – Anordnung der Rückforderung der Beihilfe – Grundsatz der Rechtssicherheit und Rückwirkungsverbot – Grundsatz des Vertrauensschutzes – Bestimmung der ‚Angemessenheit‘ des bei Rückforderung der Beihilfen anzuwendenden Zinssatzes“

Leitsätze des Urteils

1.        Rechtsmittel – Gründe – Rechtsmittel gegen ein Urteil in verbundenen Rechtssachen – Möglichkeit jeder Partei, unabhängig von den von ihr vor dem Gericht vorgetragenen Angriffs- und Verteidigungsmitteln auf jede Erwägung des Gerichts ein Angriffs- und Verteidigungsmittel zu richten

(Art. 225 EG; Satzung des Gerichtshofs, Art. 58 Abs. 1)

2.        Staatliche Beihilfen – Bestimmungen des Vertrags – Zeitlicher Geltungsbereich – Beitritt Polens zur Europäischen Union – Protokoll Nr. 8 Umstrukturierung der polnischen Stahlindustrie im Anhang der Beitrittsakte 2003

(Art. 87 EG und 88 EG; Beitrittsakte von 2003, Protkoll Nr. 8)

3.        Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Vertrauensschutz – Grenzen

1.        Da eine Partei im Rahmen eines Rechtsmittels sämtliche Gründe eines Urteils, das sie beschwert, anfechten können muss, wenn das Gericht zwei Rechtssachen verbunden und ein einziges Urteil erlassen hat, das auf alle von den Parteien im Verfahren vor dem Gericht vorgetragenen Angriffs- und Verteidigungsmittel eingeht, kann jede Partei, ohne dass ihr entgegengehalten werden kann, dass sie ein neues Angriffs- und Verteidigungsmittel einführt, Erwägungen beanstanden, die sich auf Angriffs- und Verteidigungsmittel beziehen, die vor dem Gericht allein von der Klägerin in der anderen verbundenen Rechtssache geltend gemacht worden sind. Es handelt sich also nicht um ein neues Angriffs- und Verteidigungsmittel, auch wenn es von der Rechtsmittelführerin im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht wurde, sondern von der anderen Klägerin in der verbundenen Rechtssache.

(vgl. Randnr. 85)

2.        Die Vorschriften des materiellen Gemeinschaftsrechts sind, um die Beachtung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes zu gewährleisten, so auszulegen, dass sie für vor ihrem Inkrafttreten entstandene Sachverhalte nur gelten, soweit aus ihrem Wortlaut, ihrer Zielsetzung oder ihrem Aufbau eindeutig hervorgeht, dass ihnen eine solche Wirkung beizumessen ist.

Aus dem Wortlaut des der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge beigefügten Protokolls Nr. 8 über die Umstrukturierung der polnischen Stahlindustrie ergibt sich, dass es eine Rückwirkung vorsieht, da es ausdrücklich auf einen im Zeitpunkt seines Inkrafttretens am 1. Mai 2004 vollständig abgeschlossenen Zeitraum verweist.

Die Schaffung einer Regelung, die die Kommission dazu ermächtigt, die im Vertrag vorgesehene Kontrolle staatlicher Beihilfen über jede Beihilfe für die Umstrukturierung der polnischen Stahlindustrie sogar vor dem Beitritt Polens zur Union auszuüben, war die logische Folge der materiellen Kontinuität in Bezug auf staatliche Beihilfen zwischen dem Assoziations-Abkommen mit Polen, das dem Beitritt Polens vorangegangen war, und dem Vertrag und brachte darüber hinaus das Ziel zum Ausdruck, eine einzige Kontrollregelung vor und nach dem Beitritt anzuwenden. Zweck des Protokolls Nr. 8 war es nämlich, eine umfassende Regelung für die Zulassung von Beihilfen zur Umstrukturierung der polnischen Stahlindustrie zu treffen und nicht nur die Kumulierung von Beihilfen durch begünstigte Unternehmen zu verhindern. Das Protokoll Nr. 8 stellt im Verhältnis zu den Art. 87 EG und 88 EG eine lex specialis dar, die die Befugnis der Kommission zur Kontrolle der staatlichen Beihilfen für die Umstrukturierung der polnischen Stahlindustrie im Zeitraum von 1997 bis 2003 erweitert hat.

(vgl. Randnrn. 98-101, 103)

3.        Jeder, bei dem die Gemeinschaftsverwaltung durch bestimmte Zusicherungen begründete Erwartungen geweckt hat, hat das Recht, sich auf den Vertrauensschutzgrundsatz zu berufen. Im Bereich der staatlichen Beihilfen kann in Bezug auf die Voraussetzung der präzisen Zusicherungen ein dem Rat unterbreiteter Beschlussvorschlag der Kommission kein berechtigtes Vertrauen darauf begründen, dass die untersuchten Beihilfen mit den Vorschriften des Unionsrechts im Einklang stehen.

(vgl. Randnrn. 123-124)