Language of document : ECLI:EU:T:2011:218

Rechtssache T−343/08

Arkema France

gegen

Europäische Kommission

„Wettbewerb – Kartelle – Markt für Natriumchlorat – Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG und Art. 53 EWR-Abkommen festgestellt wird – Nichtigkeitsklage – Zulässigkeit – Zurechenbarkeit der Zuwiderhandlung – Geldbußen – Erschwerender Umstand – Wiederholungsfall – Mildernder Umstand – Zusammenarbeit während des Verwaltungsverfahrens – Erheblicher Mehrwert“

Leitsätze des Urteils

1.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Mitteilung der Beschwerdepunkte – Notwendiger Inhalt – Wahrung der Verteidigungsrechte

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 27)

2.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Verteidigungsrechte – Gerichtliche Nachprüfung – Befugnis des Unionsrichters zu unbeschränkter Nachprüfung

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 31)

3.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung – Erschwerende Umstände

(Verordnung Nr. 2003/1 des Rates, Art. 23 Abs. 2 und 3)

4.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung

(Verordnung Nr. 2003/1 des Rates, Art. 23 Abs. 2 und 3)

5.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Ermessen der Kommission – Berücksichtigung der besonderen Merkmale einer Tatwiederholung – Einbeziehung – Keine Festsetzung einer Verjährungsfrist

(Verordnung Nr. 2003/1 des Rates, Art. 23 Abs. 2 und 3)

6.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt und eine Geldbuße verhängt wird – Berücksichtigung früherer, von demselben Unternehmen begangener Zuwiderhandlungen, die von der Kommission bereits geahndet wurden, bei der Feststellung der Wiederholungstäterschaft eines Unternehmens

(Art.  50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union)

7.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Entscheidung der Kommission, mit der im Anschluss an eine andere, auf dasselbe Unternehmen bezogene Entscheidung der Kommission eine Zuwiderhandlung festgestellt wird – Erneute Erhöhung der Geldbuße wegen Tatwiederholung

(Verordnung Nr. 2003/1 des Rates, Art. 23 Abs. 2 und 3)

8.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung – Möglichkeit der Anhebung des Niveaus der Geldbußen, um deren abschreckende Wirkung zu verstärken

(Verordnung Nr. 2003/1 des Rates, Art. 23 Abs. 2 und 3)

9.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Grundsatz der Gleichbehandlung

(Verordnung Nr.  2003/1 des Rates, Art. 23 Abs. 2 und 3) (

10.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Ermessen der Kommission

(Verordnung Nr. 2003/1 des Rates, Art. 23 Abs. 2 und 3)

11.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Nichtverhängung oder Herabsetzung einer Geldbuße als Gegenleistung für die Zusammenarbeit des beschuldigten Unternehmens – Erforderlichkeit eines Verhaltens, das der Kommission die Feststellung der Zuwiderhandlung erleichtert hat

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 18; Mitteilung 2002/C 45/03 der Kommission)

12.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen wegen Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln – Herabsetzung der Geldbuße als Gegenleistung für die Zusammenarbeit des beschuldigten Unternehmens außerhalb des Anwendungsbereichs der Mitteilung über die Zusammenarbeit – Voraussetzungen

(Mitteilung 2002/C 45/03 der Kommission, Randnr. 1; Mitteilung 2006/C 210/02 der Kommission, Randnr. 29, vierter Gedankenstrich)

13.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Herabsetzung der Geldbuße als Gegenleistung für die Zusammenarbeit des beschuldigten Unternehmens – Voraussetzungen

(Mitteilung 2002/C 45/03 der Kommission, Randnr. 21; Mitteilung 2006/C 210/02 der Kommission, Randnr. 29, vierter Gedankenstrich, und Mitteilung 2008/C 167/01 der Kommission, Randnr. 5)

14.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Gerichtliche Nachprüfung – Befugnis des Unionsrichters zu unbeschränkter Nachprüfung

(Art. 229 EG; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 31)

1.      Die Kommission kommt ihrer Verpflichtung zur Wahrung des Anhörungsanspruchs der Unternehmen nach, wenn sie in der Mitteilung der Beschwerdepunkte ausdrücklich darauf hinweist, dass sie prüfen werde, ob gegen die betroffenen Unternehmen Geldbußen zu verhängen seien, und ferner die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte anführt, die zu einer Geldbuße führen können, wie z. B. die Schwere und die Dauer der angenommenen Zuwiderhandlung sowie den Umstand, dass diese vorsätzlich oder fahrlässig begangen worden sein soll. Damit macht sie gegenüber den Unternehmen die Angaben, die diese für ihre Verteidigung nicht nur gegen die Feststellung einer Zuwiderhandlung, sondern auch gegen die Festsetzung einer Geldbuße benötigen.

(vgl. Randnr. 54)

2.      Was die Bemessung der wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln verhängten Geldbuße angeht, werden die Verteidigungsrechte der von der Mitteilung der Beschwerdepunkte betroffenen Unternehmen gegenüber der Kommission dadurch gewahrt, dass ihnen ermöglicht wird, zu Dauer, Schwere und Erkennbarkeit der Wettbewerbswidrigkeit der Zuwiderhandlung Stellung zu nehmen. Außerdem verfügen die Unternehmen bezüglich der Bemessung der Geldbuße über eine zusätzliche Garantie, weil das Gericht mit Befugnis zu uneingeschränkter Nachprüfung entscheidet und gemäß Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 die Geldbuße insbesondere aufheben oder herabsetzen kann.

(vgl. Randnr. 55)

3.      Was den erschwerenden Umstand der Wiederholungstat betrifft, kann allein aus der Tatsache, dass die Kommission in ihrer früheren Entscheidungspraxis bestimmte Gesichtspunkte bei der Bemessung der Geldbuße nicht als erschwerende Umstände angesehen hat, nicht abgeleitet werden, dass sie verpflichtet wäre, in einer späteren Entscheidung ebenso zu verfahren. Die einem Unternehmen in einer anderen Sache eingeräumte Möglichkeit, zu der ihm gegenüber beabsichtigten Feststellung einer Tatwiederholung Stellung zu nehmen, bedeutet keineswegs, dass die Kommission verpflichtet wäre, in jedem Fall so zu verfahren, und auch nicht, dass das betroffene Unternehmen in Ermangelung einer derartigen Möglichkeit daran gehindert wäre, sein Anhörungsrecht in vollem Maße auszuüben.

(vgl. Randnr. 56)

4.      Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was für die Erreichung des angestrebten Ziels geeignet und erforderlich ist. Bei der Festsetzung von Geldbußen ist die Schwere der Zuwiderhandlungen anhand von zahlreichen Gesichtspunkten zu ermitteln, von denen keinem gegenüber den anderen Beurteilungsgesichtspunkten unverhältnismäßiges Gewicht beizumessen ist. Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgt in diesem Zusammenhang, dass die Kommission die Geldbuße verhältnismäßig nach den Faktoren festsetzen muss, die sie für die Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung berücksichtigt hat, und dass sie diese Faktoren dabei schlüssig und objektiv gerechtfertigt bewerten muss.

(vgl. Randnr. 63)

5.      Die Kommission verfügt über ein Ermessen bei der Wahl der bei der Bemessung der Geldbußen zu berücksichtigenden Gesichtspunkte, zu denen u. a. die besonderen Umstände der Sache, ihr Kontext und die Abschreckungswirkung der Geldbußen gehören, ohne dass es eine zwingende oder abschließende Liste von Kriterien gäbe, die auf jeden Fall berücksichtigt werden müssten.

Das Ermessen der Kommission erstreckt sich auch auf die Feststellung und die Beurteilung der besonderen Merkmale eines Wiederholungsfalls, und die Kommission ist für eine solche Feststellung nicht an eine Verjährungsfrist gebunden.

Die Wiederholung von Zuwiderhandlungen stellt nämlich einen wichtigen Gesichtspunkt dar, den die Kommission zu prüfen hat, da mit dessen Berücksichtigung der Zweck verfolgt wird, Unternehmen, die bereits eine Neigung zur Verletzung der Wettbewerbsregeln gezeigt haben, zur Änderung ihres Verhaltens zu veranlassen. Die Kommission kann daher in jedem Einzelfall die Anhaltspunkte berücksichtigen, die eine solche Neigung bestätigen, einschließlich des zeitlichen Abstands zwischen den betreffenden Verstößen. Zwar steht der Feststellung einer Tatwiederholung durch die Kommission keine Verjährungsfrist entgegen, jedoch darf die Kommission nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine oder mehrere frühere Entscheidungen, mit der ein Unternehmen mit einer Sanktion belegt wird, nicht zeitlich unbegrenzt berücksichtigen.

(vgl. Randnrn. 64-66, 68)

6.      Der Grundsatz ne bis in idem ist ein fundamentaler Grundsatz des Unionsrechts, der es im Bereich des Wettbewerbs verbietet, dass ein Unternehmen wegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens, in Bezug auf das es in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde, erneut verurteilt oder verfolgt wird. Die Anwendung dieses Grundsatzes hängt von der dreifachen Voraussetzung der Identität des Sachverhalts, des Zuwiderhandelnden und des geschützten Rechtsguts ab.

Der Grundsatz ne bis in idem wird nicht dadurch verletzt, dass die Kommission in einer Entscheidung, mit der die Beteiligung eines Unternehmens an wettbewerbswidrigen Absprachen festgestellt und eine Geldbuße gegen dieses Unternehmen verhängt wird, mehrere frühere Zuwiderhandlungen berücksichtigt hat, die von demselben Unternehmen begangen und von der Kommission geahndet wurden, da mit der Berücksichtigung dieser früheren Zuwiderhandlungen diese nicht erneut geahndet werden sollen, sondern lediglich zum Zweck der Bemessung der Geldbuße, mit der die erneute Zuwiderhandlung geahndet wird, die Wiederholungstäterschaft des betroffenen Unternehmens festgestellt werden soll.

Zudem sind die kumulativen Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Grundsatzes ne bis in idem nicht erfüllt, wenn es an dem Erfordernis der Identität des Sachverhalts fehlt.

(vgl. Randnrn. 80-84)

7.      Es widerspräche dem Abschreckungszweck der Geldbuße, wenn die Kommission in Rechnung stellen würde, dass sie in einer früheren Entscheidung eine erste Zuwiderhandlung im Rahmen der Tatwiederholung berücksichtigt hätte, um dann in einer späteren Entscheidung eine Erhöhung des Grundbetrags der Geldbuße auf der Grundlage der besagten Entscheidung auszuschließen. Eine solche Lösung würde nämlich dazu führen, dass ein wiederholt rückfälliges Unternehmen nicht erwarten müsste, den Betrag der ihm auferlegten Geldbuße progressiv mit der Anzahl der von ihm begangenen Zuwiderhandlungen ansteigen zu sehen, sondern im Gegenteil darauf zählen könnte, dass der marginale Wert der Geldbuße, die gegen es verhängt werden könnte, progressiv mit der Anzahl der gegen es ergehenden Entscheidungen abnähme, was unter dem Blickwinkel des Abschreckungszwecks der Geldbuße kontraproduktiv wäre.

Außerdem ist es ohne Bedeutung, dass frühere Entscheidungen, mit denen das fragliche Unternehmen sanktioniert wurde, Verhaltensweisen betrafen, die mit den von der angefochtenen Entscheidung erfassten zeitgleich waren, weil sich die Kommission ausschließlich auf andere frühere, vor dem Beginn der geahndeten Verhaltensweise erlassene Entscheidungen gestützt hat, um in der angefochtenen Entscheidung die Tatwiederholung durch das betroffene Unternehmen festzustellen.

(vgl. Randnrn. 88-89)

8.      Nach Art. 23 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 1/2003 kann die Kommission gegen Unternehmen, die gegen Art. 81 EG verstoßen haben, durch Entscheidung Geldbußen verhängen und dabei sowohl die Schwere der Zuwiderhandlung als auch deren Dauer berücksichtigen. Diese Bestimmungen stellen die maßgebliche Rechtsgrundlage für die Berücksichtigung eines Wiederholungsfalls bei der Bemessung der Geldbuße dar.

Außerdem schaffen die Leitlinien, die die Kommission für die Bemessung der Geldbußen aufstellt, Rechtssicherheit für die Unternehmen, da sie eine Regelung des Verfahrens enthalten, das sich die Kommission zur Festsetzung der Geldbußen auferlegt hat. Die Verwaltung kann von den Leitlinien im Einzelfall nicht ohne Angabe von Gründen abweichen, die mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung vereinbar sind.

Im Übrigen bildet die frühere Entscheidungspraxis der Kommission nicht den rechtlichen Rahmen für Geldbußen in Wettbewerbssachen. Insoweit verfügt die Kommission bei der Festsetzung der Geldbuße über ein weites Ermessen. Sie ist nicht an frühere eigene Beurteilungen gebunden und muss keine genauen mathematischen Formeln anwenden.

Dieses weite Ermessen soll es ihr ermöglichen, die Unternehmen dazu anzuhalten, die Wettbewerbsregeln einzuhalten.

In diesem Zusammenhang ist die Kommission dadurch, dass sie in der Vergangenheit für bestimmte Arten von Zuwiderhandlungen Geldbußen in bestimmter Höhe verhängt hat, nicht daran gehindert, dieses Niveau innerhalb der durch die Verordnung Nr. 1/2003 gezogenen Grenzen anzuheben, wenn dies erforderlich ist, um die Durchführung der gemeinschaftlichen Wettbewerbspolitik sicherzustellen.

Vielmehr verlangt die wirksame Anwendung der Wettbewerbsregeln, dass die Kommission das Niveau der Geldbußen jederzeit den Erfordernissen dieser Politik anpassen kann. So kann die gegenüber einem Unternehmen in einer bestimmten Größenordnung vorgenommene Erhöhung wegen der Neigung dieses Unternehmens zur Außerachtlassung der Wettbewerbsregeln durch ein zusätzliches Abschreckungsbedürfnis gerechtfertigt sein, während die gegenüber einem anderen Unternehmen vorgenommene Erhöhung der Notwendigkeit entsprechen kann, eine abschreckende Wirkung der gegen dieses andere Unternehmen verhängten Geldbuße zu sichern, wenn dieses andere Unternehmen wegen seines im Verhältnis zu den übrigen Kartellmitgliedern eindeutig höheren Gesamtumsatzes eher in der Lage war, die für die Zahlung ihrer Geldbuße erforderlichen Mittel aufzubringen.

(vgl. Randnrn. 96, 98-101, 106)

9.      Der Grundsatz der Gleichbehandlung verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden, es sei denn, dass eine derartige Behandlung objektiv gerechtfertigt ist.

Der bloße Umstand, dass die Kommission in ihrer früheren Entscheidungspraxis einen bestimmten Erhöhungssatz für den Grundbetrag der gegen ein Unternehmen wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln verhängten Geldbuße herangezogen hat, bedeutet nicht, dass sie in einer anderen Entscheidung daran gehindert wäre, diesen Satz in den Grenzen, die sie selbst in den Leitlinien gezogen hat, anzuheben, um das betroffene Unternehmen anzuhalten, sein wettbewerbswidriges Verhalten zu ändern.

(vgl. Randnrn. 108-109)

10.    In den Fällen, in denen die Organe der Union über einen Ermessensspielraum verfügen, um ihre Aufgaben erfüllen zu können, kommt der Beachtung der Garantien der Unionsrechtsordnung in den Verwaltungsverfahren eine um so grundlegendere Bedeutung zu. Zu diesen Garantien gehört insbesondere die Verpflichtung des zuständigen Organs, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen.

(vgl. Randnr. 111)

11.    Der Kommission steht hinsichtlich der Methode für die Bemessung von Geldbußen ein weites Ermessen zu; sie kann insoweit eine Vielzahl von Faktoren berücksichtigen, zu denen auch die Kooperationsbeiträge der betroffenen Unternehmen während der von den Dienststellen der Kommission durchgeführten Untersuchungen gehören. In diesem Rahmen muss die Kommission komplexe Tatsachenwürdigungen, wie die Würdigung der jeweiligen Kooperationsbeiträge dieser Unternehmen, vornehmen.

Im Rahmen der Beurteilung der Zusammenarbeit der an einem Kartell Beteiligten kann nur ein offensichtlicher Beurteilungsfehler der Kommission beanstandet werden, da diese bei der Beurteilung der Qualität und der Nützlichkeit des Kooperationsbeitrags eines Unternehmens, insbesondere im Vergleich zu den Beiträgen anderer Unternehmen, über ein weites Ermessen verfügt.

Die Ermäßigung von Geldbußen im Falle einer Zusammenarbeit von Unternehmen, die an Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht beteiligt sind, findet ihre Begründung in der Erwägung, dass eine solche Zusammenarbeit die Aufgabe der Kommission erleichtert, eine Zuwiderhandlung festzustellen und ihr gegebenenfalls ein Ende zu setzen. Wegen dieses Geltungsgrunds der Ermäßigung kann die Kommission nicht die Nützlichkeit der vorgelegten Information unberücksichtigt lassen, die sich zwangsläufig nach dem Beweismaterial richtet, das sich bereits in ihrem Besitz befindet.

Die Kommission ist zwar verpflichtet, anzugeben, aus welchen Gründen sie der Ansicht ist, dass die von Unternehmen im Rahmen einer Mitteilung über die Zusammenarbeit gemachten Angaben einen Beitrag darstellen, der eine Herabsetzung der festgesetzten Geldbuße rechtfertigt oder auch nicht, jedoch haben die Unternehmen, die die Entscheidung der Kommission insoweit anfechten wollen, nachzuweisen, dass die Kommission in Ermangelung derartiger, von ihnen freiwillig gelieferter Angaben nicht in der Lage gewesen wäre, die wesentlichen Punkte der Zuwiderhandlung zu beweisen und somit eine Entscheidung über die Festsetzung von Geldbußen zu erlassen.

Bestätigt ein Unternehmen bei der Kooperation nur bestimmte Informationen, die ein anderes Unternehmen im Rahmen der Zusammenarbeit bereits gegeben hat, und geschieht dies zudem weniger genau und weniger explizit, so kann der Mitwirkungsumfang dieses Unternehmens, selbst wenn er nicht eines gewissen Nutzens für die Kommission entbehren mag, nicht als dem Ausmaß der Mitwirkung des Unternehmens vergleichbar angesehen werden, das die betreffenden Informationen als Erstes gegeben hat. Eine Erklärung, die in gewissem Umfang die der Kommission bereits vorliegenden Erklärungen erhärtet, erleichtert nämlich die Aufgabe der Kommission nicht nennenswert. Sie genügt deshalb nicht, um eine Herabsetzung der Geldbuße wegen Zusammenarbeit zu rechtfertigen Die Mitwirkung eines Unternehmens an der Untersuchung verleiht zum anderen dann kein Recht auf eine Herabsetzung der Geldbuße, wenn diese Mitwirkung nicht über das hinausgegangen ist, wozu das Unternehmen nach Art. 18 der Verordnung Nr. 1/2003 verpflichtet war.

(vgl. Randnrn. 134-138)

12.    In Randnr. 29 vierter Gedankenstrich der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung Nr. 1/2003 hat sich die Kommission im Rahmen ihrer Befugnis zur Würdigung mildernder Umstände, die sie bei der Festlegung des Betrags von Geldbußen zu berücksichtigen hat, verpflichtet, die Geldbuße bei einer aktiven Zusammenarbeit des Unternehmens mit der Kommission außerhalb des Anwendungsbereichs der Mitteilung über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, die über seine rechtliche Verpflichtung zur Zusammenarbeit hinausgeht, zu verringern.

Die Anwendung von Randnr. 29 vierter Gedankenstrich der Leitlinien kann aber nicht die Folge haben, dass die Mitteilung über die Zusammenarbeit um ihre nützliche Wirkung gebracht wird.

Randnr. 1 der Mitteilung über die Zusammenarbeit bestimmt nämlich, dass diese „einen Rahmen festlegt, der es erlaubt, Unternehmen, die Mitglieder von geheimen Kartellen, die die Gemeinschaft beeinträchtigen, sind oder waren, für ihre Zusammenarbeit bei der Untersuchung der Kommission zu belohnen“. Aus der Fassung und dem Aufbau dieser Mitteilung ergibt sich mithin, dass die Unternehmen eine Geldbußenermäßigung für ihre Zusammenarbeit grundsätzlich nur erhalten können, wenn sie die engen Voraussetzungen dieser Mitteilung erfüllen.

Um die nützliche Wirkung der Mitteilung über die Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten, kann die Kommission nur in Ausnahmesituationen verpflichtet sein, einem Unternehmen eine Geldbußenermäßigung auf der Grundlage von Randnr. 29 vierter Gedankenstrich der Leitlinien zuzubilligen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Zusammenarbeit eines Unternehmens, selbst wenn sie über dessen gesetzliche Pflicht zur Zusammenarbeit hinausgeht, ohne ihm jedoch Anrecht auf eine Geldbußenermäßigung nach der Mitteilung über die Zusammenarbeit zu geben, der Kommission objektiv nutzt. Eine solche Nützlichkeit ist festzustellen, wenn sich die Kommission in ihrer Schlussentscheidung auf Beweismittel stützt, die ein Unternehmen ihr im Rahmen seiner Zusammenarbeit geliefert hat und ohne die die Kommission nicht in der Lage gewesen wäre, die betreffende Zuwiderhandlung ganz oder teilweise zu ahnden.

(vgl. Randnrn. 168-170)

13.    Mit der Ersetzung der Mitteilung über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen von 1996 durch die Mitteilung über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen von 2002, die bei bloßem Nichtbestreiten des Sachverhalts keine Herabsetzung der Geldbuße vorsieht, hat die Kommission unzweideutig ausgeschlossen, dass im Rahmen der Mitteilung über die Zusammenarbeit von 2002 oder gemäß Randnr. 29 vierter Gedankenstrich der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung Nr. 1/2003 aus diesem Grund eine Herabsetzung der Geldbuße gewährt werden kann. Nur dann nämlich, wenn ein Unternehmen Beweisstücke mit einem erheblichen Mehrwert im Sinne von Randnr. 21 der Mitteilung über die Zusammenarbeit von 2002 beibringt, oder Informationen preisgibt, ohne die die Kommission nicht in der Lage gewesen wäre, die betreffende Zuwiderhandlung ganz oder teilweise zu ahnden, ist die Kommission verpflichtet, ihm eine Herabsetzung der Geldbuße zuzugestehen. Somit hängt die Herabsetzung der Geldbuße von dem objektiven Nutzen ab, den die Kommission aus der Zusammenarbeit eines Unternehmens gewinnt.

Auf jeden Fall verfügt die Kommission gemäß Randnr. 5 der Mitteilung über die Durchführung von Vergleichsverfahren bei dem Erlass von Entscheidungen nach Artikel 7 und Artikel 23 der Verordnung Nr. 1/2003 in Kartellfällen über einen weiten Ermessensspielraum bei der Auslotung der Fälle, in denen die Parteien an Vergleichsgesprächen interessiert sein könnten; nur dann, wenn die daran beteiligten Unternehmen die Voraussetzungen nach dieser Mitteilung erfüllen, wird ihnen eine Ermäßigung der Geldbuße von 10 % zugestanden.

Mithin ist es nach der Mitteilung über Vergleichsverfahren allein Sache der Kommission, nicht aber der Unternehmen, zu entscheiden, ob unter den Umständen jedes einzelnen Falles der Rückgriff auf dieses Verfahren eine Ahndung der betreffenden Zuwiderhandlung erleichtern kann und einem Unternehmen, das dessen Voraussetzungen erfüllt, eine Ermäßigung der Geldbuße von 10 % zugestanden werden kann.

Auch wenn nach dem nationalen Wettbewerbsrecht mehrerer Mitgliedstaaten der Union das Nichtbestreiten des Sachverhalts einen Anspruch auf eine Ermäßigung der Geldbuße begründet, bilden diese für die Kommission nicht verbindlichen Vorschriften schließlich nicht den maßgebenden rechtlichen Rahmen für die Prüfung, ob die Kommission den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dadurch verletzt hat, dass sie einem Unternehmen für seine Zusammenarbeit keine Ermäßigung der Geldbuße zugestanden hat.

(vgl. Randnrn. 189-192)

14.    Was die Nachprüfung wettbewerbsrechtlicher Entscheidungen der Kommission durch den Unionsrichter betrifft, ermächtigt die dem Gericht auf der Grundlage von Art. 229 EG durch Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 erteilte Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung dieses, über die reine Kontrolle der Rechtmäßigkeit hinaus, die nur die Zurückweisung der Nichtigkeitsklage oder die Nichtigerklärung des angefochtenen Rechtsakts ermöglicht, den angefochtenen Rechtsakt, auch ohne ihn für nichtig zu erklären, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände abzuändern und z. B. die Höhe der Geldbuße anders festzusetzen.

Weder ist insoweit der Erhöhungssatz von 90 % auf den Grundbetrag der Geldbuße, die die Kommission gegen ein Unternehmen wegen dessen Beteiligung an wettbewerbswidrigen Absprachen verhängt hat, angesichts der starken Neigung dieses Unternehmens, sich den Wettbewerbsregeln zu entziehen, noch, da die Zusammenarbeit dieses Unternehmens die Kommission nicht in die Lage versetzt hat, das Kartell ganz oder teilweise zu ahnden, der Betrag der verhängten Geldbuße abzuändern.

(vgl. Randnrn. 203-205)