Language of document : ECLI:EU:C:2020:277

BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

8. April 2020(*)

„Vorläufiger Rechtsschutz – Art. 279 AEUV – Antrag auf einstweilige Anordnungen – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Unabhängigkeit der Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen)“

In der Rechtssache C‑791/19 R

betreffend einen Antrag auf einstweilige Anordnungen gemäß Art. 279 AEUV und Art. 160 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, eingereicht am 23. Januar 2020,

Europäische Kommission, vertreten durch K. Banks, H. Krämer und S. L. Kalėda als Bevollmächtigte,

Antragstellerin,

unterstützt durch

Königreich Belgien, vertreten durch C. Pochet, M. Jacobs und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,

Königreich Dänemark, vertreten durch M. Wolff als Bevollmächtigte,

Königreich der Niederlande, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,

Republik Finnland, vertreten durch M. Pere als Bevollmächtigte,

Königreich Schweden, vertreten durch A. Falk, C. Meyer-Seitz, H. Shev, J. Lundberg und H. Eklinder als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

gegen

Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna, D. Kupczak, S. Żyrek, A. Dalkowska und A. Gołaszewska als Bevollmächtigte,

Antragsgegnerin,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, M. Vilaras, E. Regan, S. Rodin und P. G. Xuereb, des Richters E. Juhász, der Richterin C. Toader, der Richter D. Šváby und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos, N. Piçarra und N. Wahl,

nach Anhörung des Generalanwalts E. Tanchev

folgenden

Beschluss

1        Mit ihrem Antrag ersucht die Europäische Kommission den Gerichtshof, im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes

–        anzuordnen, dass die Republik Polen bis zum Erlass des Urteils zur Hauptsache

–        die Anwendung der Bestimmungen von Art. 3 Nr. 5, Art. 27 und Art. 73 § 1 der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 5) in geänderter Fassung (im Folgenden: Gesetz über das Oberste Gericht), auf denen die Zuständigkeit der Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) (im Folgenden: Disziplinarkammer) beruht, sowohl im ersten als auch im zweiten Rechtszug in Disziplinarsachen gegen Richter zu entscheiden, aussetzt,

–        es unterlässt, die bei der Disziplinarkammer anhängigen Verfahren an einen Spruchkörper zu verweisen, der die insbesondere im Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, im Folgenden: Urteil A. K., EU:C:2019:982) definierten Anforderungen an die Unabhängigkeit nicht erfüllt, und

–        der Kommission spätestens einen Monat nach Zustellung des Beschlusses des Gerichtshofs, mit dem die beantragten einstweiligen Anordnungen erlassen werden, alle Maßnahmen mitteilt, die Polen getroffen hat, um diesem Beschluss in vollem Umfang nachzukommen;

–        der Republik Polen die Kosten aufzuerlegen.

2        Darüber hinaus weist die Kommission darauf hin, dass sie sich das Recht vorbehalte, einen weiteren Antrag auf Anordnung der Zahlung eines Zwangsgelds zu stellen, falls aus den der Kommission übermittelten Informationen hervorgehen sollte, dass die Republik Polen die auf ihren Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz hin erlassenen einstweiligen Anordnungen nicht beachtet.

3        Dieser Antrag ist im Rahmen einer von der Kommission am 25. Oktober 2019 erhobenen Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV (im Folgenden: Vertragsverletzungsklage) gestellt worden, mit der die Feststellung beantragt wird, dass die Republik Polen

–        dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat,

–        dass sie zulässt, dass der Inhalt von Gerichtsentscheidungen als von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit begangenes Disziplinarvergehen gewertet werden kann (Art. 107 § 1 der Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych [Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit] vom 27. Juli 2001 [Dz. U. Nr. 98 Pos. 1070] in geänderter Fassung [Dz. U. 2019, Pos. 1495] [im Folgenden: Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit] sowie Art. 97 §§ 1 und 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht);

–        dass sie die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit der Disziplinarkammer, die für die Kontrolle der in Disziplinarverfahren gegen Richter ergangenen Entscheidungen zuständig ist, nicht gewährleistet (Art. 3 Nr. 5, Art. 27 und Art. 73 § 1 des Gesetzes über das Oberste Gericht in Verbindung mit Art. 9a der Ustawa o Krajowej Radzie Sądownictwa [Gesetz über den Landesjustizrat] vom 12. Mai 2011 [Dz. U. Nr. 126, Pos. 714] in der durch die Ustawa o zmianie ustawy o Krajowej Radzie Sądownictwa oraz niektórych innych ustaw [Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und einiger anderer Gesetze] vom 8. Dezember 2017 [Dz. U. 2018, Pos. 3] geänderten Fassung [im Folgenden: Gesetz über die KRS]);

–        dass sie dem Präsidenten der Disziplinarkammer das Recht einräumt, in Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit betreffenden Sachen das zuständige Disziplinargericht erster Instanz nach seinem Ermessen zu bestimmen (Art. 110 § 3 und Art. 114 § 7 des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit), und somit nicht gewährleistet, dass Disziplinarsachen von einem „durch Gesetz errichteten“ Gericht entschieden werden;

–        dass sie dem Justizminister die Zuständigkeit zur Ernennung eines Disziplinarbeauftragten des Justizministers überträgt (Art. 112b des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit) und damit nicht gewährleistet, dass Disziplinarverfahren gegen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit innerhalb einer angemessenen Frist entschieden werden, sowie vorsieht, dass die Handlungen, die mit der Ernennung eines Verteidigers sowie der Verteidigung durch diesen zusammenhängen, den Lauf des Disziplinarverfahrens nicht hemmen (Art. 113a des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit) und das Disziplinargericht das Verfahren trotz der entschuldigten Abwesenheit des benachrichtigten Beschuldigten oder seines Verteidigers durchführt (Art. 115a § 3 des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit), und somit die Verteidigungsrechte der beschuldigten Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht gewährleistet,

–        und dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV verstoßen hat, dass sie zulässt, dass das Recht der Gerichte, sich mit Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu wenden, durch die Möglichkeit der Einleitung eines Disziplinarverfahrens eingeschränkt wird.

4        Die Vizepräsidentin des Gerichtshofs hat den vorliegenden Antrag gemäß Art. 161 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Gerichtshof übertragen, der sie in Anbetracht ihrer Bedeutung gemäß Art. 60 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung an die Große Kammer verwiesen hat.

5        Am 9. März 2020 haben die Parteien im Rahmen einer Anhörung vor der Großen Kammer mündlich Stellung genommen.

 Rechtlicher Rahmen

 Gesetz über das Oberste Gericht

6        Mit dem am 3. April 2018 in Kraft getretenen Gesetz über das Oberste Gericht wurden am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), zwei neue Kammern eingerichtet, darunter die Disziplinarkammer (Art. 3 Nr. 5).

7        Art. 20 des Gesetzes über das Oberste Gericht lautet:

„In Bezug auf die Disziplinarkammer und die Richter, die ihr Amt in der Disziplinarkammer ausüben, werden die Befugnisse des Ersten Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], wie sie festgelegt sind in

–        Art. 14 § 1 Nrn. 1, 4 und 7, Art. 31 § 1, Art. 35 § 2, Art. 36 § 6, Art. 40 §§ 1 und 4 und Art. 51 §§ 7 und 14, vom Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] wahrgenommen, der die Tätigkeit der Disziplinarkammer leitet;

–        Art. 14 § 1 Nr. 2 sowie Art. 55 § 3 Satz 2 vom Ersten Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] im Einvernehmen mit dem Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] wahrgenommen, der die Tätigkeit der Disziplinarkammer leitet.“

8        Art. 27 § 1 des Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor:

„Die Disziplinarkammer ist zuständig für

1)      Disziplinarverfahren,

a)      die Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] betreffen,

b)      die beim [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] in Disziplinarverfahren anhängig sind, die auf der Grundlage folgender Gesetze betrieben werden:

–        Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit vom 27. Juli 2001,

2)      Verfahren auf dem Gebiet des Arbeits- und des Sozialversicherungsrechts, die Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] betreffen;

3)      Verfahren über die Versetzung eines Richters des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] in den Ruhestand.“

9        Art. 73 § 1 des Gesetzes über das Oberste Gericht bestimmt:

„Disziplinargerichte in Disziplinarsachen gegen Richter des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] sind

1)      im ersten Rechtszug – der [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] in der Besetzung mit zwei Richtern der Disziplinarkammer und einem ehrenamtlichen Richter des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)];

2)      im zweiten Rechtszug – der [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] in der Besetzung mit drei Richtern der Disziplinarkammer und zwei ehrenamtlichen Richtern des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)].“

10      Art. 97 des Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor:

„1.      Stellt der [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] bei der Prüfung eines Verfahrens einen offenkundigen Verstoß gegen die Vorschriften fest, richtet er – unabhängig von seinen weiteren Befugnissen – eine Fehlerfeststellung an das betreffende Gericht. Zuvor ist er verpflichtet, den oder die Richter des Spruchkörpers über die Möglichkeit zu informieren, sich innerhalb einer Frist von 7 Tagen schriftlich zu erklären. Die Aufdeckung und die Feststellung eines Fehlers haben keine Auswirkung auf den Ausgang des Verfahrens.

3.      Übermittelt der [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] eine Fehlerfeststellung, kann er die Prüfung eines Disziplinarverfahrens bei einem Disziplinargericht beantragen. Disziplinargericht des ersten Rechtszugs ist der [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)].“

 Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit

11      In Art. 107 § 1 des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit heißt es:

„Ein Richter kann für Fehlverhalten im Amt (Disziplinarvergehen) disziplinarisch belangt werden. Dazu zählen

1)      offensichtliche und grobe Missachtung der Rechtsvorschriften

5)      Verletzung der Würde des Amtes.“

12      Art. 110 §§ 1 und 3 dieses Gesetzes bestimmt:

„1.      Zuständig für Disziplinarverfahren gegen Richter sind

1)      im ersten Rechtszug

a)      die Disziplinargerichte der Berufungsgerichte in der Besetzung mit drei Richtern,

b)      der [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] in der Besetzung mit zwei Richtern der Disziplinarkammer und einem ehrenamtlichen Richter des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] bei Verfahren über Disziplinarvergehen, die die Tatbestandsmerkmale vorsätzlicher Straftaten, die von Amts wegen verfolgt werden, oder vorsätzlicher Steuerstraftaten erfüllen, sowie in Angelegenheiten, in denen der [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] die Prüfung eines Disziplinarverfahrens im Rahmen einer Fehlerfeststellung beantragt hat;

2)      im zweiten Rechtszug – der [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] in der Besetzung mit zwei Richtern der Disziplinarkammer und einem ehrenamtlichen Richter des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)].

3.      Das Disziplinargericht, in dessen Bezirk der Richter, gegen den das Disziplinarverfahren anhängig ist, sein Amt ausübt, ist nicht befugt, über die in § 1 Nr. 1 Buchst. a genannten Angelegenheiten zu befinden. Das für die Entscheidung über die Sache zuständige Disziplinargericht wird vom Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] bestimmt, der die Arbeit der Disziplinarkammer auf Antrag des Disziplinarbeauftragten leitet.“

 Gesetz über die KRS

13      Art. 9a des Gesetzes über die KRS lautet:

„(1)      Der Sejm [(Abgeordnetenkammer, im Folgenden: Sejm)] wählt aus den Reihen der Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], an den ordentlichen Gerichten, an den Verwaltungsgerichten und an den Militärgerichten 15 Mitglieder der Krajowa Rada Sądownictwa [(Landesjustizrat)] für eine gemeinsame Amtszeit von vier Jahren.

(2)      Bei der Vornahme der Wahl nach Abs. 1 trägt der Sejm soweit wie möglich dem Erfordernis Rechnung, dass Richter verschiedener Arten und Ebenen von Gerichten [im Landesjustizrat] vertreten sind.

(3)      Die gemeinsame Amtszeit der aus den Reihen der Richter gewählten neuen Mitglieder [des Landesjustizrats] beginnt an dem auf ihre Wahl folgenden Tag. Die für die vorherigen Amtszeiten ernannten Mitglieder [des Landesjustizrats] üben ihre Tätigkeit bis zu dem Tag aus, an dem die gemeinsame Amtszeit der neuen Mitglieder [des Landesjustizrats] beginnt.“

14      Die Übergangsvorschrift in Art. 6 des am 17. Januar 2018 in Kraft getretenen Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und einiger anderer Gesetze sieht vor:

„Die Amtszeit der in Art. 187 Abs. 1 Nr. 2 der Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej [(Verfassung der Republik Polen)] genannten Mitglieder [des Landesjustizrats], die nach den bisherigen Bestimmungen gewählt wurden, dauert bis zum Tag vor dem Beginn der Amtszeit der neuen Mitglieder [des Landesjustizrats], höchstens jedoch 90 Tage ab dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes, sofern sie nicht vorher durch den Ablauf der Amtszeit endet.“

 Vorverfahren

15      Da die Kommission der Ansicht war, dass die Republik Polen durch den Erlass der neuen Disziplinarordnung für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und der ordentlichen Gerichtsbarkeit gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV verstoßen habe, richtete sie am 3. April 2019 ein Aufforderungsschreiben an diesen Mitgliedstaat. Die Republik Polen antwortete darauf mit Schreiben vom 1. Juni 2019, in dem sie jeden Verstoß gegen das Unionsrecht bestritt.

16      Am 17. Juli 2019 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie an ihrer Auffassung festhielt, dass diese Disziplinarordnung gegen die genannten Unionsrechtsvorschriften verstoße. Sie forderte die Republik Polen daher auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um der mit Gründen versehenen Stellungnahme binnen zweier Monate nach ihrem Erhalt nachzukommen. Die Republik Polen antwortete darauf mit Schreiben vom 17. September 2019, in dem sie geltend machte, dass die von der Kommission in der mit Gründen versehenen Stellungnahme vorgebrachten Rügen unbegründet seien, und die Einstellung des Verfahrens beantragte.

17      Da die Kommission diese Antwort nicht für überzeugend hielt, hat sie beschlossen, die Vertragsverletzungsklage zu erheben.

 Umstände nach Erhebung der Vertragsverletzungsklage

 Urteil A. K.

18      In Nr. 2 des Tenors des Urteils A. K. hat der Gerichtshof Folgendes entschieden:

„Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf [(ABl. 2000, L 303, S. 16)] sind dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass Rechtsstreitigkeiten über die Anwendung des Unionsrechts in die ausschließliche Zuständigkeit einer Einrichtung fallen können, die kein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta ist. Das ist der Fall, wenn die objektiven Bedingungen, unter denen die Einrichtung geschaffen wurde, ihre Merkmale sowie die Art und Weise der Ernennung ihrer Mitglieder geeignet sind, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, und daher dazu führen können, dass diese Einrichtung nicht den Eindruck vermittelt, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden erheblichen Erkenntnisse zu ermitteln, ob dies bei einer Einrichtung wie der Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) der Fall ist.“

 Urteile des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in den Rechtssachen, zu denen das Urteil A. K. ergangen ist

 Urteil vom 5. Dezember 2019

19      In seinem Urteil vom 5. Dezember 2019 hat der Sąd Najwyższy – Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych (Oberstes Gericht – Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen) in dem Rechtsstreit, der zum Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑585/18 geführt hat, entschieden, dass der Landesjustizrat (im Folgenden: KRS) in seiner derzeitigen Besetzung kein unparteiisches und von der Legislative und Exekutive unabhängiges Gremium sei.

20      Darüber hinaus hat der Sąd Najwyższy – Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych (Oberstes Gericht – Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen) entschieden, dass die Disziplinarkammer nicht als ein Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta der Grundrechte (im Folgenden: Charta), von Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und von Art. 45 Abs. 1 der Verfassung der Republik Polen angesehen werden könne. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, hat er sich auf folgende Gesichtspunkte gestützt:

–        die ad hoc geschaffene Disziplinarkammer sei hinsichtlich der Richter des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] auf den Gebieten des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts sowie der Versetzung dieser Richter in den Ruhestand zuständig, während diese Gebiete bis dahin in die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit sowie der Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen sowie Öffentliche Angelegenheiten des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), jetzt Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych (Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen), gefallen seien;

–        die Disziplinarkammer könne sich nur aus neuen Richtern zusammensetzen, die von der KRS ausgewählt worden seien; Letztere sei kein von der Legislative und der Exekutive unabhängiges Gremium;

–        alle Richter, die für eine Tätigkeit in der Disziplinarkammer ernannt worden seien, wiesen deutliche Verbindungen zur Legislative oder Exekutive auf, was geeignet sei, bei den Rechtsunterworfenen objektive Zweifel an der bedingungslosen Achtung des Rechts auf ein unparteiisches und unabhängiges Gericht aufkommen zu lassen;

–        die Bedingungen des Auswahlverfahrens für die Ernennung von Richtern der Disziplinarkammer seien während des Verfahrens geändert worden; die Möglichkeit für einen Bewerber, eine Entscheidung der KRS anzufechten, sei eingeschränkt worden;

–        durch die Änderung der Art und Weise der Auswahl der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) sei jede Beteiligung und Rolle dieses Gerichts beim Ernennungsverfahren der Richter abgeschafft worden;

–        der Disziplinarkammer komme innerhalb des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) große Autonomie und ein Sonderstatus als Ausnahmegerichtsbarkeit zu; ihre Anbindung an den Aufbau des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) sei nur Fassade;

–        seit ihrer Einrichtung habe die Disziplinarkammer ihre Tätigkeit auf Handlungen gerichtet, mit denen die Vorlagefragen, die zum Urteil A. K. geführt hätten, zurückgenommen werden sollten;

–        die Art der von der Disziplinarkammer geführten Disziplinarverfahren zeige deutlich, dass sich ein Richter nunmehr wegen des Erlasses einer gerichtlichen Entscheidung dem Vorwurf eines Fehlverhaltens im Amt ausgesetzt sehen könne, während dies vorher nicht der Fall gewesen sei.

 Urteile vom 15. Januar 2020

21      In seinen Urteilen vom 15. Januar 2020 hat der Sąd Najwyższy – Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych (Oberstes Gericht – Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen) auch in den Rechtsstreitigkeiten, die zu den Vorlagefragen in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 geführt haben, entschieden, dass die Disziplinarkammer unter Berücksichtigung der Umstände ihrer Errichtung, des Umfangs ihrer Befugnisse, ihrer Besetzung und der Rolle, die die KRS bei ihrer Einrichtung eingenommen habe, kein unabhängiges und unparteiisches Gericht sei.

 Tätigkeit der Disziplinarkammer seit der Verkündung der Urteile des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in den Rechtssachen, zu denen das Urteil A. K. ergangen ist

22      Am 10. Dezember 2019 veröffentlichte die Erste Präsidentin des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eine Erklärung, in der sie darauf hinwies, dass die Fortsetzung der Tätigkeiten der Disziplinarkammer eine schwerwiegende Bedrohung für die Stabilität der polnischen Rechtsordnung darstelle. Daher forderte sie deren Mitglieder auf, jede Rechtsprechungstätigkeit zu unterlassen.

23      Am selben Tag führte der Präsident der Disziplinarkammer in Beantwortung dieser Erklärung u. a. aus, dass das Urteil des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vom 5. Dezember 2019 die Arbeitsweise der Kammer nicht berühre, da es in einem spezifischen tatsächlichen Kontext ergangen sei. Die Disziplinarkammer werde die ihr von den Verfassungsorganen der Republik Polen übertragenen Rechtsprechungsaufgaben weiterhin wahrnehmen.

24      Am 13. Dezember 2019 legten acht Mitglieder der Disziplinarkammer ihren Standpunkt zur Erklärung der Ersten Präsidentin des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) dar. Sie betonten erstens, dass die Unparteilichkeit und die Unabhängigkeit der Disziplinarkammer durch das Urteil A. K. nicht in Frage gestellt worden seien, zweitens, dass das Urteil des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vom 5. Dezember 2019 in anderen Rechtssachen als derjenigen, auf die es sich beziehe, keine Rechtswirkungen entfalte und keine Auswirkung auf die geltenden Rechtsvorschriften habe, und drittens, dass die Forderung, wonach die Disziplinarkammer ihre Rechtssprechungstätigkeit aussetzen müsse, um diesem Urteil nachzukommen, jeder rationalen Grundlage entbehre.

 Zum Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz

 Zulässigkeit

25      Die Republik Polen hält den Antrag der Kommission auf vorläufigen Rechtsschutz für offensichtlich unzulässig.

26      Als Erstes macht die Republik Polen geltend, die von der Kommission beantragten einstweiligen Anordnungen zielten darauf ab, die Tätigkeit einer Kammer eines Verfassungsorgans dieses Mitgliedstaats, nämlich des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), auszusetzen und in die interne Organisation dieses Gerichts einzugreifen, was einen unzulässigen Eingriff in die polnische Verfassungs- und Gerichtsstruktur darstelle. Weder die Europäische Union selbst noch eines ihrer Organe, einschließlich des Gerichtshofs, seien nämlich befugt, in Fragen im Zusammenhang mit dem politischen System der verschiedenen Mitgliedstaaten, den Zuständigkeiten der verschiedenen Verfassungsorgane dieser Staaten und der internen Organisation dieser Organe tätig zu werden. Daher sei der Gerichtshof für den Erlass der von der Kommission beantragten einstweiligen Anordnungen offensichtlich unzuständig.

27      Diese Beurteilung werde dadurch bestätigt, dass der Gerichtshof noch nie derartige einstweilige Anordnungen wie diejenigen getroffen habe, die Gegenstand des vorliegenden Antrags seien, obwohl die Kommission den Gerichtshof häufig mit Klagen gegen Mitgliedstaaten wegen der Verletzung verschiedener Verpflichtungen, die sich aus deren Beitritt zur Union ergäben, befasst habe und die in diesen Klagen in Rede stehenden Vertragsverletzungen im Allgemeinen einem bestimmten Organ des betroffenen Mitgliedstaats hätten zugerechnet werden können.

28      In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission geltend gemacht, dass die nationalen Bestimmungen, deren Aussetzung sie beantrage (im Folgenden: streitige nationale Bestimmungen), in den Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV fielen, so dass sie Gegenstand der beantragten einstweiligen Anordnungen sein könnten.

29      Insoweit ist hervorzuheben, dass die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten zwar in deren Zuständigkeit fällt, die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht, insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, ergeben (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny zastępowany przez Prokuraturę Krajową [Disziplinarordnung für Richter], C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Nach dieser Bestimmung schaffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit den Einzelnen die Wahrung ihres Anspruchs auf einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet wird. Die Mitgliedstaaten müssen daher ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorsehen, mit dem in diesen Bereichen eine wirksame gerichtliche Kontrolle gewährleistet ist (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny zastępowany przez Prokuraturę Krajową [Disziplinarordnung für Richter], C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Folglich hat jeder Mitgliedstaat gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden (Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Art. 19 EUV, mit dem der in Art. 2 EUV proklamierte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, überträgt den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den gerichtlichen Schutz, der den Einzelnen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten (Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33      Zur Gewährleistung dieses Schutzes ist aber die Wahrung der Unabhängigkeit dieser Einrichtungen von grundlegender Bedeutung, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört (Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass das Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit auch verlangt, dass die Regeln über die Disziplinarordnung für diejenigen, die mit der Aufgabe des Richtens betraut sind, die erforderlichen Garantien aufweisen, damit jegliche Gefahr verhindert wird, dass eine solche Regelung als System zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird. Daher bilden Regeln, die insbesondere festlegen, welche Verhaltensweisen Disziplinarvergehen begründen und welche Sanktionen konkret anwendbar sind, die die Einschaltung einer unabhängigen Einrichtung gemäß einem Verfahren vorsehen, das die in den Art. 47 und 48 der Charta niedergelegten Rechte, namentlich die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang sicherstellt, und die die Möglichkeit festschreiben, die Entscheidungen der Disziplinarorgane vor Gericht anzufechten, eine Reihe von Garantien, die wesentlich sind, um die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren (Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Es ist daher nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV Sache jedes Mitgliedstaats, dafür zu sorgen, dass die Disziplinarordnung für Richter der nationalen Gerichte, die Bestandteil ihrer Rechtsbehelfssysteme in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit gerecht wird, indem sie insbesondere gewährleistet, dass die im Rahmen von Disziplinarverfahren gegen Richter dieser Gerichte erlassenen Entscheidungen von einer Einrichtung überprüft werden, die ihrerseits die Garantien eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes erfüllt, zu denen die Unabhängigkeit zählt.

36      Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage, mit der in Abrede gestellt wird, dass nationale Bestimmungen über die Disziplinarordnung für Richter von Gerichten, die über Fragen mit Bezug zum Unionsrecht zu entscheiden haben, insbesondere die Bestimmungen über die Einrichtung, die dafür zuständig ist, in Disziplinarverfahren gegen diese Richter zu entscheiden, mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vereinbar seien, für den Erlass einstweiliger Anordnungen nach Art. 279 AEUV zuständig, die darauf gerichtet sind, die Anwendung dieser Bestimmungen auszusetzen.

37      Vorliegend steht fest, dass der Disziplinarkammer durch die streitigen nationalen Bestimmungen die Zuständigkeit für die Entscheidung in Disziplinarsachen gegen die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und der ordentlichen Gerichtsbarkeit übertragen wurde.

38      Ebenso steht fest, dass sowohl der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) als auch die ordentliche Gerichtsbarkeit, da sie über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts befinden können, als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts unter das polnische Rechtsbehelfssystem in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV fallen.

39      Darüber hinaus betrifft die Vertragsverletzungsklage, wie sich aus Rn. 3 des vorliegenden Beschlusses ergibt, u. a. die Vereinbarkeit der nationalen Bestimmungen über die Disziplinarordnung für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und der ordentlichen Gerichtsbarkeit, insbesondere der Bestimmungen über die Disziplinarkammer, mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV.

40      Schließlich zielt der vorliegende Antrag auf einstweilige Anordnungen, wie Rn. 1 des vorliegenden Beschlusses zu entnehmen ist, insbesondere auf die Aussetzung der Anwendung der letztgenannten Bestimmungen bis zum Erlass des Urteils des Gerichtshofs zur Hauptsache (im Folgenden: Endurteil).

41      Folglich ist der Gerichtshof entgegen dem Vorbringen der Republik Polen für den Erlass einstweiliger Anordnungen der von der Kommission beantragten Art zuständig.

42      Der von der Republik Polen angeführte Umstand, dass der Gerichtshof bislang keine derartige einstweilige Anordnung erlassen habe, kann diese Beurteilung nicht in Frage stellen. Die angebliche Neuartigkeit einer einstweiligen Anordnung kann sich nämlich nicht auf diese Zuständigkeit auswirken, da sonst die Zuständigkeit des Gerichtshofs für den Erlass einer solchen Anordnung ausgehöhlt würde.

43      Als Zweites macht die Republik Polen geltend, dass die von der Kommission beantragten einstweiligen Anordnungen darauf abzielten, dass bestimmte Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), nämlich die Richter der Disziplinarkammer, ihres Amtes enthoben würden. Unter diesen Umständen verstoße der Erlass solcher Anordnungen gegen den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter und beeinträchtige daher die sowohl durch die Unionsrechtsordnung als auch die Verfassung der Republik Polen geschützten Garantien der richterlichen Unabhängigkeit.

44      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die von der Kommission beantragten einstweiligen Anordnungen im Fall ihres Erlasses nicht zur Abberufung der Richter der Disziplinarkammer führen würden, sondern die vorläufige Aussetzung der Anwendung der streitigen nationalen Bestimmungen und folglich die Aussetzung der Amtsausübung dieser Richter bis zur Verkündung des Endurteils zur Folge hätten.

45      Folglich kann der Erlass solcher Anordnungen entgegen dem Vorbringen der Republik Polen nicht als Verstoß gegen den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter angesehen werden.

46      Als Drittes bringt die Republik Polen vor, dass die von der Kommission beantragten einstweiligen Anordnungen nicht nur nicht die vollständige Durchführung des Endurteils sicherstellen könnten, sondern für den Fall, dass der Klage stattgegeben werde, die Durchführung dieses Urteils sogar unmöglich machten, da der Erlass dieser Anordnungen praktisch die Auflösung der Disziplinarkammer zur Folge hätte.

47      Abgesehen davon, dass der Erlass der von der Kommission beantragten einstweiligen Anordnungen nicht zur Auflösung der Disziplinarkammer führen würde, ist jedoch darauf hinzuweisen, dass, sollte der Gerichtshof im Rahmen der Vertragsverletzungsklage der Rüge der Kommission, wonach die Republik Polen die ihr nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV obliegende Verpflichtung, die Unabhängigkeit dieser Kammer zu gewährleisten, verletzt habe, stattgeben, dieser Mitgliedstaat, um dem Endurteil Folge zu leisten, verpflichtet wäre, sein nationales Recht so zu gestalten, dass sichergestellt ist, dass Disziplinarsachen gegen die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und der ordentlichen Gerichtsbarkeit von einer Einrichtung bearbeitet werden, die dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit gerecht wird.

48      Folglich stünden die von der Kommission beantragten einstweiligen Anordnungen für den Fall, dass der Gerichtshof deren Erlass beschließen sollte, anders als die Republik Polen vorbringt, der vollen Wirksamkeit des Endurteils keineswegs entgegen.

49      Nach alledem ist der Antrag auf einstweilige Anordnungen zulässig.

 Begründetheit

50      Art. 160 Abs. 3 der Verfahrensordnung bestimmt, dass Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz „den Streitgegenstand bezeichnen und die Umstände, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt, sowie die den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung dem ersten Anschein nach rechtfertigenden Sach- und Rechtsgründe anführen“ müssen.

51      Eine einstweilige Anordnung kann folglich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur getroffen werden, wenn die Notwendigkeit der Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft gemacht wurde (fumus boni iuris) und wenn sie in dem Sinne dringend ist, dass sie zur Verhinderung eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens für die Interessen des Antragstellers bereits vor der Entscheidung zur Hauptsache erlassen werden und ihre Wirkungen entfalten muss. Der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter nimmt gegebenenfalls auch eine Abwägung der widerstreitenden Interessen vor. Diese Voraussetzungen bestehen kumulativ, so dass der Antrag auf einstweilige Anordnungen zurückzuweisen ist, sofern es an einer von ihnen fehlt (Beschluss vom 17. Dezember 2018, Kommission/Polen, C‑619/18 R, EU:C:2018:1021, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 Zum fumus boni iuris

52      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Voraussetzung des fumus boni iuris erfüllt, wenn zumindest einer der Gründe, die die Partei, die die einstweiligen Anordnungen beantragt, zur Hauptsache geltend macht, auf den ersten Blick nicht ohne ernsthafte Grundlage erscheint. Dies ist insbesondere der Fall, wenn einer dieser Gründe komplexe rechtliche Fragen aufwirft, deren Lösung sich nicht sogleich aufdrängt und die daher einer eingehenden Prüfung bedürfen, die nicht von dem für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richter vorgenommen werden kann, sondern Gegenstand des Verfahrens zur Hauptsache sein muss, oder wenn ausweislich des Vorbringens der Parteien eine bedeutsame rechtliche Kontroverse besteht, deren Lösung sich nicht offensichtlich aufdrängt (Beschluss der Vizepräsidentin des Gerichtshofs vom 20. Dezember 2019, Puigdemont i Casamajó und Comín i Oliveres/Parlament, C‑646/19 P[R], nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1149, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

53      Im vorliegenden Fall beruft sich die Kommission zum Nachweis des Bestehens eines fumus boni iuris auf einen Grund, der der zweiten Rüge des ersten Klagegrundes im Rahmen der Vertragsverletzungsklage entspricht, nämlich, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen habe, dass sie die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit der Disziplinarkammer nicht gewährleiste.

54      Hierzu führt die Kommission nach einem Hinweis auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, die insbesondere aus den Urteilen vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 67), und vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 77), hervorgehe, eine Reihe von Gesichtspunkten an, die ihrer Ansicht nach die fehlende Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer verdeutlichen.

55      Erstens sei die Einrichtung der Disziplinarkammer mit der Änderung der Vorschriften über die Ernennung der Mitglieder der KRS zusammengefallen, wobei diese Änderung eine Politisierung dieses Verfassungsorgans bewirkt habe, das an dem Auswahlverfahren für Richter in Polen beteiligt und damit betraut sei, die Unabhängigkeit der polnischen Gerichte und Richter zu gewährleisten.

56      Art. 6 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und einiger anderer Gesetze habe die laufende Amtszeit der Mitglieder der KRS unterbrochen; der Sejm habe gemäß dem neuen Art. 9a des Gesetzes über die KRS 15 der Richterschaft angehörenden Mitglieder dieses Verfassungsorgans gewählt, was den Einfluss der Legislative auf die Arbeitsweise dieses Organs und damit auf das Verfahren der Ernennung der Richter der Disziplinarkammer vergrößert habe.

57      Nach diesen Gesetzesänderungen bestehe die KRS derzeit aus 15 vom Sejm gewählten, der Richterschaft angehörenden Mitgliedern, vier vom Sejm aus dem Kreis der Abgeordneten ernannten Mitgliedern, zwei vom Senat (Senat) aus dem Kreis der Senatoren ernannten Mitgliedern, einem Vertreter des Präsidenten der Republik Polen, einem Vertreter des Justizministers und zwei Mitgliedern von Amts wegen, nämlich dem Ersten Präsidenten des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und dem Präsidenten des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen). Somit seien 23 der 25 Mitglieder der KRS von Stellen der Legislative oder der Exekutive ernannt worden oder würden diese vertreten.

58      Alle Richter der Disziplinarkammer würden auf Vorschlag der KRS in ihrer in der vorstehenden Randnummer dargestellten Zusammensetzung vom Präsidenten der Republik Polen ernannt.

59      Zweitens weist die Kommission darauf hin, dass der nationale Gesetzgeber die Möglichkeit ausgeschlossen habe, einen Richter, der bereits am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) tätig sei, zum Mitglied der Disziplinarkammer zu ernennen, so dass nur neue Richter, die auf Vorschlag der KRS ernannt worden seien, in diese Kammer hätten berufen werden können.

60      Drittens sei die Disziplinarkammer innerhalb des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) durch ein hohes Maß an organisatorischer und finanzieller Autonomie gekennzeichnet. So würden beispielsweise gemäß Art. 20 des Gesetzes über das Oberste Gericht die Befugnisse, über die normalerweise der Erste Präsident des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in Bezug auf die Richter dieses Gerichts verfüge, im besonderen Fall der Richter der Disziplinarkammer vom Präsidenten dieser Kammer ausgeübt. Ähnliche besondere Befugnisse beträfen auch die finanzielle Autonomie der Disziplinarkammer.

61      Nach Auffassung der Kommission lassen die kombinierte Prüfung der vorgenannten Gegebenheiten und ihre gleichzeitige Einführung in das polnische Recht einen strukturellen Verstoß erkennen; dieser hindere daran, die berechtigten Zweifel an der Unabhängigkeit der Disziplinarkammer von äußeren Faktoren und ihrer Unparteilichkeit in Bezug auf die ihrer Entscheidungsbefugnis unterliegenden widerstreitenden Interessen auszuräumen.

62      Die streitigen nationalen Bestimmungen in Verbindung mit Art. 9a des Gesetzes über die KRS gewährleisteten weder die Unabhängigkeit noch die Unparteilichkeit der Disziplinarkammer und verstießen daher gegen die Verpflichtungen der Republik Polen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV.

63      Schließlich werde die Stichhaltigkeit der rechtlichen Begründung der zweiten Rüge des ersten Klagegrundes der Vertragsverletzungsklage durch das Urteil A. K. in Verbindung mit dem Urteil des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vom 5. Dezember 2019 bestätigt.

64      Für die Prüfung, ob die Voraussetzung des fumus boni iuris im vorliegenden Fall erfüllt ist, ist darauf hinzuweisen, dass diese zweite Rüge die Frage betrifft, ob die Disziplinarkammer dem Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit gerecht wird, das sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergibt.

65      Insoweit ist festzustellen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Garantien der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit voraussetzen, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der betreffenden Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteil A. K., Rn. 123 und die dort angeführte Rechtsprechung).

66      Nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung ist die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten. Insoweit sind die betreffenden Richter vor Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, zu schützen. In diesem Zusammenhang müssen es die in der vorstehenden Randnummer angeführten Vorschriften insbesondere ermöglichen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen auszuschließen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten (Urteil A. K., Rn. 124 und 125 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

67      Im Urteil A. K. hatte der Gerichtshof die Tragweite der Erfordernisse der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit im Zusammenhang mit der Schaffung einer Einrichtung wie der Disziplinarkammer zu präzisieren.

68      Was zunächst die Umstände betrifft, unter denen die Ernennungen der Mitglieder der Disziplinarkammer erfolgt sind, hat der Gerichtshof nach der Feststellung, dass die Richter dieser Kammer vom Präsidenten der Republik Polen auf Vorschlag der KRS ernannt werden, in den Rn. 137 und 138 des Urteils A. K. unter Berufung insbesondere auf die Rn. 115 und 116 des Urteils vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531), entschieden, dass die Einschaltung der KRS in diesem Ernennungsverfahren zwar zur Objektivierung dieses Verfahrens beitragen kann, indem sie den Handlungsspielraum, über den der Präsident der Republik Polen bei der Ausübung der ihm eingeräumten Befugnis verfügt, begrenzt; dies gilt jedoch u. a. nur insoweit, als die KRS selbst von der Legislative und der Exekutive sowie dem Präsidenten der Republik Polen hinreichend unabhängig ist.

69      Zu diesem Punkt hat der Gerichtshof in den Rn. 142 bis 145 des Urteils A. K. ausgehend von den Angaben des vorlegenden Gerichts Gesichtspunkte ermittelt, die zusammen betrachtet Anlass zu Zweifeln an der Unabhängigkeit eines Gremiums wie der KRS geben können.

70      In Rn. 143 des Urteils A. K. hat der Gerichtshof insbesondere auf drei Umstände ausdrücklich Bezug genommen, die sich für eine solche Gesamtwürdigung als erheblich erweisen können; dazu zählt u. a. der Umstand, dass mit der Einrichtung der neu zusammengesetzten KRS eine Verkürzung der laufenden vierjährigen Amtszeit der früheren Mitglieder dieses Gremiums erfolgte, sowie der Umstand, dass die 15 Mitglieder der KRS, die aus der Mitte der Richter gewählt werden, zuvor von der Richterschaft gewählt wurden, nun aber von einem Teil der Legislative aus einer Gruppe von Kandidaten, die u. a. von einer Gruppe aus mindestens 2 000 Bürgern oder 25 Richtern vorgeschlagen werden können, wobei eine solche Reform zu Ernennungen führt, durch die sich die Zahl der KRS-Mitglieder, die direkt aus der Politik kommen oder von politischen Kräften gewählt werden, auf 23 der insgesamt 25 Mitglieder erhöht.

71      Sodann hat der Gerichtshof unabhängig von den Umständen, unter denen die neuen Richter der Disziplinarkammer ernannt wurden, und von der Rolle, die die KRS hierbei gespielt hat, in den Rn. 147 bis 151 des Urteils A. K. weitere Gesichtspunkte festgestellt, die konkret für die Beschwerdekammer kennzeichnend sind. In Rn. 152 des Urteils A. K. hat der Gerichtshof entschieden, dass zwar jeder einzelne dieser Faktoren für sich allein und isoliert betrachtet keine Zweifel an der Unabhängigkeit dieser Einrichtung aufkommen lassen kann, doch für ihre Kombination etwas anderes gelten könnte, zumal dann, wenn die Prüfung in Bezug auf die KRS zeigen sollte, dass diese gegenüber der Legislative und der Exekutive nicht unabhängig ist.

72      In den Rn. 150 und 151 des Urteils A. K. hat der Gerichtshof u. a. zum einen auf den Umstand hingewiesen, dass die Disziplinarkammer nur mit neu ernannten Richtern besetzt werden darf, somit nicht mit bereits am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) tätigen Richtern, und zum anderen darauf, dass die Disziplinarkammer im Gegensatz zu den anderen Kammern dieses Gerichts, wie sich insbesondere aus Art. 20 des Gesetzes über das Oberste Gericht ergibt, innerhalb des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) über eine besonders weitgehende Autonomie zu verfügen scheint.

73      Zwar hat der Gerichtshof, wie die Republik Polen geltend macht, im Urteil A. K. nicht festgestellt, dass die nationalen Bestimmungen über die Disziplinarkammer und die nationalen Bestimmungen zur Änderung der Regeln über die Zusammensetzung der KRS nicht mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vereinbar sind, sondern es dem vorlegenden Gericht überlassen, die hierfür erforderlichen Beurteilungen vorzunehmen.

74      Insoweit ist es jedoch nach ständiger Rechtsprechung nicht Sache des Gerichtshofs, im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens die Vereinbarkeit nationalen Rechts oder einer nationalen Praxis mit dem Unionsrecht zu beurteilen. Dagegen ist der Gerichtshof befugt, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesem ermöglichen, für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache über die Frage der Vereinbarkeit zu befinden (Urteil vom 15. Juli 2010, Pannon Gép Centrum, C‑368/09, EU:C:2010:441, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

75      In Anwendung dieser Rechtsprechung hat der Gerichtshof in Rn. 132 des Urteils A. K. ausgeführt, dass er seine Prüfung auf die Bestimmungen des Unionsrechts beschränkt und dieses in einer für das vorlegende Gericht sachdienlichen Weise ausgelegt hat; diesem obliegt es, im Licht der vom Gerichtshof gegebenen Auslegungshinweise zu beurteilen, ob die in Rn. 73 des vorliegenden Beschlusses genannten nationalen Bestimmungen mit dem Unionsrecht vereinbar sind, um über die bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden (vgl. entsprechend Urteil vom 15. Juli 2010, Pannon Gép Centrum, C‑368/09, EU:C:2010:441, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

76      Die Relevanz gerade dieser Faktoren kann, da sie sich im Wesentlichen auf die Zuständigkeiten der Disziplinarkammer, ihre Zusammensetzung, die Bedingungen und das Verfahren zur Ernennung ihrer Mitglieder sowie auf den Grad ihrer Autonomie innerhalb des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) beziehen, nicht auf die tatsächlichen Umstände beschränkt werden, die dem Urteil des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vom 5. Dezember 2019 eigen sind. Daher kann das Vorbringen der Republik Polen, mit dem jegliche Relevanz dieses Urteils mit der Begründung in Abrede gestellt werden soll, dass es in einem spezifischen tatsächlichen Kontext ergangen sei, keinen Erfolg haben.

77      Angesichts der Faktoren, die u. a. in den Rn. 136 bis 151 des Urteils A. K. enthalten sind, sowie der in den Rn. 19 bis 21 des vorliegenden Beschlusses angeführten Urteile des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vom 5. Dezember 2019 und vom 15. Januar 2020 im Anschluss an das Urteil A. K. kann jedoch auf den ersten Blick nicht ausgeschlossen werden, dass die streitigen nationalen Bestimmungen in Verbindung mit Art. 20 des Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 9a des Gesetzes über die KRS die Verpflichtungen der Republik Polen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verletzen, nämlich zu gewährleisten, dass Entscheidungen im Rahmen von Disziplinarverfahren gegen die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und der ordentlichen Gerichtsbarkeit durch eine Einrichtung kontrolliert werden, die den Anforderungen eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, zu denen die Unabhängigkeit zählt, gerecht wird.

78      Folglich ist – ohne dass damit der Entscheidung über die Begründetheit des Vorbringens der Parteien im Rahmen der Vertragsverletzungsklage, für die allein der Richter der Hauptsache zuständig ist, vorgegriffen würde – festzustellen, dass in Anbetracht der von der Kommission vorgetragenen Tatsachen und der insbesondere durch das Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen, (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531), und das Urteil A. K. gegebenen Auslegungshinweise es den Argumenten, die die Kommission im Rahmen der zweiten Rüge des ersten Klagegrundes der Vertragsverletzungsklage vorgebracht hat, der der vorliegende Antrag auf einstweilige Anordnung zugrunde liegt, dem ersten Anschein nach nicht an einer ernsthaften Grundlage im Sinne der in Rn. 52 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung fehlt.

79      Dem Vorbringen der Republik Polen, die Kommission hätte darlegen müssen, dass die Voraussetzung des fumus boni iuris für alle zur Stützung des ersten Klagegrundes der Vertragsverletzungsklage erhobenen Rügen erfüllt sei, kann nicht gefolgt werden.

80      Angesichts des begrenzten Gegenstands des Antrags auf einstweilige Anordnungen, nämlich der Aussetzung der Anwendung nur der im Rahmen der zweiten Rüge des ersten Klagegrundes der Vertragsverletzungsklage genannten nationalen Bestimmungen, ist die Kommission nämlich nur im Hinblick auf diese Rüge verpflichtet, das Vorliegen eines fumus boni iuris darzutun.

81      Nach alledem ist darauf zu schließen, dass die Voraussetzung des fumus boni iuris im vorliegenden Fall erfüllt ist.

 Zur Dringlichkeit

82      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs besteht der Zweck des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes darin, die volle Wirksamkeit der künftigen Endentscheidung zu gewährleisten, um eine Lücke in dem vom Gerichtshof gewährten Rechtsschutz zu verhindern. Um dieses Ziel zu erreichen, ist die Dringlichkeit im Hinblick darauf zu beurteilen, ob eine einstweilige Anordnung erforderlich ist, um den Eintritt eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens bei der Partei, die den vorläufigen Rechtsschutz beantragt, zu verhindern. Dieser Partei obliegt der Nachweis, dass sie den Ausgang des Verfahrens zur Hauptsache nicht abwarten kann, ohne dass ihr derartiger Schaden entstünde. Für den Nachweis des Bestehens eines solchen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens braucht sein Eintritt nicht mit absoluter Sicherheit nachgewiesen zu werden. Es genügt, dass seine Entstehung mit einem hinreichenden Grad von Wahrscheinlichkeit vorhersehbar ist (Beschluss vom 17. Dezember 2018, Kommission/Polen, C‑619/18 R, EU:C:2018:1021, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

83      Außerdem muss der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter zum alleinigen Zweck der Beurteilung der Dringlichkeit, ohne dass dies eine wie auch immer geartete Stellungnahme seinerseits zur Begründetheit der vom Antragsteller in der Hauptsache geltend gemachten Rügen bedeutete, als gegeben annehmen, dass diese Rügen durchgreifen könnten. Denn der schwere und nicht wiedergutzumachende Schaden, dessen wahrscheinlicher Eintritt glaubhaft gemacht werden muss, ist der Schaden, der sich gegebenenfalls aus der Ablehnung der beantragten einstweiligen Anordnungen in dem Fall ergäbe, dass anschließend der Klage in der Hauptsache stattgegeben würde (Beschluss vom 17. Dezember 2018, Kommission/Polen, C‑619/18 R, EU:C:2018:1021, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

84      Daher muss der Gerichtshof im vorliegenden Fall bei der Beurteilung der Dringlichkeit als gegeben annehmen, dass die nationalen Bestimmungen, auf die sich die zweite Rüge des ersten Klagegrundes der Vertragsverletzungsklage bezieht, die Unabhängigkeit der Disziplinarkammer gefährden und damit gegen die Verpflichtung der Republik Polen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen könnten, nämlich zu gewährleisten, dass Entscheidungen im Rahmen von Disziplinarverfahren gegen die Richter der nationalen Gerichte, die über Fragen mit Bezug zum Unionsrecht zu entscheiden haben, durch eine Einrichtung kontrolliert werden, die den Anforderungen an einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, insbesondere der Anforderung der Unabhängigkeit, gerecht wird.

85      Bei dieser Beurteilung ist ferner zu berücksichtigen, dass die Disziplinarkammer schon in der Zusammensetzung besteht, die sich aus der Anwendung der in der Vertragsverletzungsklage genannten nationalen Bestimmungen, insbesondere derjenigen über die Ernennung der Richter, die dort tätig werden sollen, ergibt, und dass sie ihre Tätigkeit bereits aufgenommen hat.

86      In diesem Zusammenhang ist zu prüfen, ob die Anwendung der streitigen nationalen Bestimmungen, wie die Kommission geltend macht, einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden im Hinblick auf die Funktionsweise der Unionsrechtsordnung verursachen kann.

87      Insoweit ergibt sich aus den streitigen nationalen Bestimmungen, dass die Disziplinarkammer für die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit das Disziplinargericht des zweiten Rechtszugs und in bestimmten Fällen des ersten Rechtszugs ist und für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) das Disziplinargericht des ersten und des zweiten Rechtszugs darstellt.

88      Nach der in Rn. 34 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung ist die Garantie der Unabhängigkeit der Disziplinarkammer als für die Entscheidung in Disziplinarsachen gegen die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und der ordentlichen Gerichtsbarkeit zuständiges Gericht wesentlich für die Wahrung der Unabhängigkeit sowohl des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) als auch der ordentlichen Gerichte.

89      Folglich wird der Umstand, dass die Unabhängigkeit der Disziplinarkammer bis zur Verkündung des Endurteils nicht garantiert werden kann, während dieses Zeitraums auch die Unabhängigkeit des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und der ordentlichen Gerichtsbarkeit beeinträchtigen.

90      Die bloße Aussicht für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Gefahr zu laufen, in einem Disziplinarverfahren belangt zu werden, das zur Anrufung einer Einrichtung führen kann, deren Unabhängigkeit nicht gewährleistet wäre, kann nämlich deren eigene Unabhängigkeit beeinträchtigen. Insoweit ist ohne Belang, wie viele Verfahren bislang tatsächlich gegen diese Richter eingeleitet worden sind und welchen Ausgang sie genommen haben.

91      Nach der in Rn. 33 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung ist die Wahrung der Unabhängigkeit des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und der ordentlichen Gerichtsbarkeit von entscheidender Bedeutung für die Gewährleistung des gerichtlichen Schutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte.

92      So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der Umstand, dass die Unabhängigkeit des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) nicht gewährleistet werden kann, für die Unionsrechtsordnung und damit für die Rechte, die die Rechtsunterworfenen aus dem Unionsrecht ableiten, sowie für die in Art. 2 EUV genannten Werte, auf die sich die Union gründet, insbesondere die Rechtsstaatlichkeit, einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden hervorrufen kann (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 17. Dezember 2018, Kommission/Polen, C‑619/18 R, EU:C:2018:1021, Rn. 68, 70 und 71).

93      Aus alledem folgt, dass die Anwendung der streitigen nationalen Bestimmungen, da sie die Zuständigkeit für die Entscheidung in Disziplinarsachen gegen die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und der ordentlichen Gerichtsbarkeit auf eine Einrichtung, im vorliegenden Fall die Disziplinarkammer, übertragen, deren Unabhängigkeit möglicherweise nicht gewährleistet ist, einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden für die Unionsrechtsordnung verursachen kann.

94      Dem Vorbringen der Republik Polen, dass die Voraussetzung der Dringlichkeit im vorliegenden Fall nicht erfüllt sei, weil die Kommission die Schritte zur Beendigung der behaupteten Vertragsverletzung verspätet unternommen habe, kann nicht gefolgt werden.

95      Es genügt nämlich der Hinweis, dass die mit dem vorliegenden Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zusammenhängende Vertragsverletzungsklage zu einer Reihe von Maßnahmen gehört, die die Kommission gegenüber allen das Justizsystem betreffenden Gesetzesreformen der Republik Polen seit 2015 ergriffen hat, zu denen der Erlass eines begründeten Vorschlags nach Art. 7 Abs. 1 EUV vom 20. Dezember 2017 über die Rechtsstaatlichkeit in Polen (COM[2017] 835 final) gehört; darin hat die Kommission u. a. die Probleme dargelegt, die durch die von der Vertragsverletzungsklage im Hinblick auf den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit erfassten nationalen Bestimmungen aufgeworfen werden.

96      Auch die Behauptung der Republik Polen, mit der das Vorliegen einer Dringlichkeit ausgeschlossen werden soll, weil die Kommission den Antrag auf einstweilige Anordnungen drei Monate nach Erhebung der Vertragsverletzungsklage gestellt habe, kann keinen Erfolg haben.

97      Zunächst ist nämlich festzustellen, dass die polnische Regierung und die Kommission zum Zeitpunkt der Erhebung der Vertragsverletzungsklage über das Datum der Verkündung des Urteils A. K. informiert worden waren.

98      Da dieses Urteil jedoch die Frage nach der Unabhängigkeit der Disziplinarkammer aufwarf, war es sachgerecht von der Kommission, vor der Beantragung einstweiliger Anordnungen die Antwort des Gerichtshofs auf diese Frage abzuwarten und gegebenenfalls die Auswirkungen des Urteils in Polen zu bewerten.

99      Sodann ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission gleichzeitig mit Erhebung der Vertragsverletzungsklage beantragt hat, diese Klage im Wege des beschleunigten Verfahrens nach Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 133 Abs. 1 der Verfahrensordnung zu behandeln. Zur Begründung führt sie u. a. aus, dass die mit dieser Klage gerügten Verstöße systemischen Charakter hätten und dass eine rasche Prüfung der Rechtssache sowohl im Interesse der Union als auch des betroffenen Mitgliedstaats der Rechtssicherheit dienen würde.

100    Entgegen dem Vorbringen der Republik Polen beweist der Umstand, dass dieser Antrag vom Gerichtshof zurückgewiesen wurde, nicht, dass keine Dringlichkeit vorliegt.

101    Es besteht nämlich kein Zusammenhang zwischen der Frage, ob über eine Rechtssache in der Hauptsache im beschleunigten Verfahren zu entscheiden ist, und der Frage, ob die im Rahmen dieser Rechtssache beantragten einstweiligen Anordnungen dringlich sind, um zu verhindern, dass der Partei, die sie beantragt, ein schwerer Schaden entsteht (Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 22. März 2018, Wall Street Systems UK/EZB, C‑576/17 P[R] und C‑576/17 P[R]‑R, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:208, Rn. 51).

102    In diesem Zusammenhang kann das beschleunigte Verfahren keine Anwendung finden, wenn die Sensibilität und die Komplexität der durch einen Fall aufgeworfenen rechtlichen Fragen kaum mit der Anwendung des beschleunigten Verfahrens zu vereinbaren sind, insbesondere, wenn es nicht angebracht erscheint, das schriftliche Verfahren vor dem Gerichtshof zu verkürzen (vgl. entsprechend Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 18. Oktober 2017, Weiss u. a., C‑493/17, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:792, Rn. 13). Das ist hier der Fall.

103    Nach alledem ist davon auszugehen, dass die Voraussetzung der Dringlichkeit im vorliegenden Fall erfüllt ist.

 Zur Interessenabwägung

104    Bei den meisten Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes können sowohl der Erlass als auch die Ablehnung der beantragten Aussetzung des Vollzugs in gewissem Maße bestimmte endgültige Wirkungen zeitigen, und es ist Sache des für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richters, der mit einem Aussetzungsantrag befasst ist, die mit beiden Entscheidungsmöglichkeiten verbundenen Risiken gegeneinander abzuwägen. Konkret bedeutet dies u. a., dass zu prüfen ist, ob das Interesse der Partei, die die einstweiligen Anordnungen beantragt, an der Aussetzung des Vollzugs der nationalen Vorschriften schwerer wiegt als das Interesse an deren sofortiger Anwendung. Dabei ist zu bestimmen, ob eine Aufhebung dieser Vorschriften, nachdem der Gerichtshof der Klage in der Hauptsache stattgegeben hat, die Umkehrung der Lage erlauben würde, die durch ihren sofortigen Vollzug entstünde, und inwieweit andererseits die Aussetzung des Vollzugs die Erreichung der mit diesen Vorschriften verfolgten Ziele behindern würde, falls die Klage abgewiesen würde (Beschluss vom 17. Dezember 2018, Kommission/Polen, C‑619/18 R, EU:C:2018:1021, Rn. 91 und die dort angeführte Rechtsprechung).

105    Im vorliegenden Fall macht die Kommission geltend, dass, sollte der Gerichtshof der Vertragsverletzungsklage stattgeben, nachdem er den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnungen abgelehnt habe, das ordnungsgemäße Funktionieren der Unionsrechtsordnung systematisch beeinträchtigt würde und ein nicht wiedergutzumachender Schaden für die den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte entstünde. Sollte der Gerichtshof dagegen die Vertragsverletzungsklage nach Erlass der einstweiligen Anordnungen abweisen, so hätte dies nur zur Folge, dass die Arbeit der Disziplinarkammer vorübergehend ausgesetzt worden wäre.

106    Die Republik Polen macht geltend, die Anwendung der beantragten einstweiligen Anordnungen würde die polnische Legislative und Exekutive zum Erlass von Maßnahmen zwingen, deren praktische Wirkung die Auflösung eines Organs der Judikative wäre, das seine strukturellen Aufgaben in Verbindung mit der Rechtspflege gesetzeskonform ausübe. Die Anwendung solcher einstweiliger Anordnungen würde somit gegen die grundlegenden Strukturprinzipien des polnischen Staates verstoßen, indem der Eindruck der Unabhängigkeit des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in den Augen der Rechtsuchenden geschwächt würde.

107    Die Anwendung der beantragten einstweiligen Anordnungen würde auch zur Beseitigung einer Einrichtung führen, deren Haushalt von ihrem Präsidenten getrennt vom Haushalt der anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) ausgeführt werde. Ebenso verschwände der Arbeitsplatz der Beschäftigten, die für Verwaltung und Finanzen dieser Einrichtung verantwortlich seien.

108    Schließlich würde die Anwendung solcher Anordnungen das Recht der Rechtsunterworfenen darauf, dass ihre anhängigen Rechtssachen von dem zuvor kraft Gesetzes geschaffenen Gericht geprüft werden, beeinträchtigen.

109    Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass, wie in Rn. 29 des vorliegenden Beschlusses ausgeführt worden ist, die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten zwar in deren Zuständigkeit fällt, die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht, insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, ergeben.

110    Sodann würde, wie in den Rn. 44 und 47 des vorliegenden Beschlusses ausgeführt worden ist, der Erlass der beantragten einstweiligen Anordnungen nicht zur Auflösung der Disziplinarkammer und damit auch nicht zur Streichung ihrer administrativen und finanziellen Dienststellen, sondern zur vorläufigen Aussetzung ihrer Tätigkeit bis zur Verkündung des Endurteils führen.

111    Zudem wäre, soweit diese Anordnungen bedeuteten, dass die Bearbeitung der bei der Disziplinarkammer anhängigen Sachen bis zur Verkündung des Endurteils auszusetzen ist, der aus dieser Aussetzung entstehende Schaden für die Rechtsunterworfenen geringer als der Schaden, der daraus entstünde, wenn diese Sachen durch eine Einrichtung, d. h. die Disziplinarkammer, geprüft würden, bei der das Fehlen von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht auf den ersten Blick ausgeschlossen werden kann.

112    Schließlich können die von der Republik Polen geltend gemachten haushaltsrechtlichen Schwierigkeiten, die mit dem Erlass der beantragten einstweiligen Anordnungen verknüpft sein sollen, nicht schwerer wiegen als die Gefahr einer Beeinträchtigung des allgemeinen Interesses der Union im Hinblick auf das ordnungsgemäße Funktionieren ihrer Rechtsordnung.

113    Unter diesen Umständen fällt die Interessenabwägung zugunsten des Erlasses der von der Kommission beantragten einstweiligen Anordnungen aus.

114    Nach alledem ist dem in Rn. 1 des vorliegenden Beschlusses angeführten Antrag der Kommission auf einstweilige Anordnungen stattzugeben.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) beschlossen:

1.      Die Republik Polen ist verpflichtet, unverzüglich und bis zur Verkündung des das Verfahren in der Rechtssache C791/19 beendenden Urteils

–        die Anwendung der Bestimmungen von Art. 3 Nr. 5, Art. 27 und Art. 73 § 1 der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 5) in geänderter Fassung, auf denen die Zuständigkeit der Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) beruht, sowohl im ersten als auch im zweiten Rechtszug in Disziplinarsachen gegen Richter zu entscheiden, auszusetzen,

–        es zu unterlassen, die bei der Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) anhängigen Verfahren an einen Spruchkörper zu verweisen, der die insbesondere im Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C585/18, C624/18 und C625/18, EU:C:2019:982) definierten Anforderungen an die Unabhängigkeit nicht erfüllt, und

–        der Kommission spätestens einen Monat nach Zustellung des Beschlusses des Gerichtshofs, mit dem die beantragten einstweiligen Anordnungen erlassen werden, alle Maßnahmen mitzuteilen, die sie getroffen hat, um diesem Beschluss in vollem Umfang nachzukommen.

2.      Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Polnisch.