URTEIL DES GERICHTS (Dritte erweiterte Kammer)
20. April 1999 (1)
„Wettbewerb Artikel 85 EG-Vertrag Wirkungen eines Nichtigkeitsurteils
Rechte der Verteidigung Geldbuße“
In den verbundenen Rechtssachen T-305/94, T-306/94, T-307/94, T-313/94,
T-314/94, T-315/94, T-316/94, T-318/94, T-325/94, T-328/94, T-329/94 und T-335/94
Limburgse Vinyl Maatschappij NV, Gesellschaft belgischen Rechts, Brüssel,
Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt Inne G. F. Cath, zugelassen beim Hoge
Raad der Nederlanden, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Lambert
Dupong, 4-6, rue de la Boucherie, Luxemburg,
Elf Atochem SA, Gesellschaft französischen Rechts, Paris, Prozeßbevollmächtigte:
Rechtsanwälte Xavier de Roux, Charles-Henri Léger und Jacques-Philippe
Gunther, Paris, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Jacques Loesch,
11, rue Goethe, Luxemburg,
BASF AG, Gesellschaft deutschen Rechts, Ludwigshafen (Deutschland),
Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt Ferdinand Hermanns, Düsseldorf,
Zustellungsanschrift: Kanzlei der Rechtsanwälte Jacques Loesch und Marc Wolters,
11, rue Goethe, Luxemburg,
Shell International Chemical Company Ltd, Gesellschaft englischen Rechts,
London, Prozeßbevollmächtigte: Kenneth B. Parker, QC, London, und Solicitor
John W. Osborne, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Jean Hoss,
2, place Winston Churchill, Luxemburg,
DSM NV und DSM Kunststoffen BV, Gesellschaften niederländischen Rechts,
Heerlen (Niederlande), Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt Inne G. F. Cath,
zugelassen beim Hoge Raad der Nederlanden, Zustellungsanschrift: Kanzlei des
Rechtsanwalts Lambert Dupong, 4-6, rue de la Boucherie, Luxemburg,
Wacker-Chemie GmbH, Gesellschaft deutschen Rechts, München (Deutschland),
Hoechst AG, Gesellschaft deutschen Rechts, Frankfurt am Main (Deutschland),
Prozeßbevollmächtigte der beiden Letztgenannten: Rechtsanwälte Hans Hellmann
und Hans-Joachim Hellmann, Köln, Zustellungsanschrift: Kanzlei der
Rechtsanwälte Jacques Loesch und Marc Wolters, 11, rue Goethe, Luxemburg,
Société artésienne de vinyle, Gesellschaft französischen Rechts, Paris,
Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt Bernard van de Walle de Ghelcke, Brüssel,
Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Alex Schmitt, 7, Val Sainte-Croix,
Luxemburg,
Montedison SpA, Gesellschaft italienischen Rechts, Mailand (Italien),
Prozeßbevollmächtigte: Rechtsanwälte Giuseppe Celona, Giorgio Aghina, beide
Mailand, und Piero Angelo Maria Ferrari, Rom, Zustellungsanschrift: Kanzlei des
Rechtsanwalts Georges Margue, 20, rue Philippe II, Luxemburg,
Imperial Chemical Industries plc, Gesellschaft englischen Rechts, London,
Prozeßbevollmächtigte: David Vaughan, QC, Barrister David Anderson, London,
und Solicitors Victor White und Richard Coles, London, Zustellungsanschrift:
Kanzlei des Rechtsanwalts Lambert Dupong, 4-6, rue de la Boucherie, Luxemburg,
Hüls AG, Gesellschaft deutschen Rechts, Marl (Deutschland),
Prozeßbevollmächtigte: zunächst Rechtsanwalt Hansjürgen Herrmann, Köln, später
Rechtsanwalt Frank Montag, Köln, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts
Jacques Loesch, 11, rue Goethe, Luxemburg,
Enichem SpA, Gesellschaft italienischen Rechts, Mailand, Prozeßbevollmächtigte:
Rechtsanwälte Mario Siragusa, Rom, und Francesca Maria Moretti, Bologna,
Zustellungsanschrift: Kanzlei der Rechtsanwälte Elvinger, Hoss und Prussen,
2, place Winston Churchill, Luxemburg,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, zunächst vertreten durch Berend
Jan Drijber, Julian Currall und Marc van der Woude, Juristischer Dienst, als
Bevollmächtigte, Beistand: Rechtsanwälte Éric Morgan de Rivery, Paris, Alexander
Böhlke, Frankfurt am Main, Barrister David Lloyd Jones, London, Rechtsanwalt
Renzo Maria Morresi, Bologna, und Nicholas Forwood, QC, später durch Julian
Curral, Beistand: Rechtsanwalt Marc van der Woude, Brüssel,
Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre
Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidung 94/599/EG der Kommission vom 27. Juli
1994 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 des EG-Vertrags (IV/31.865, PVC)
(ABl. L 239, S. 14)
erläßt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN
(Dritte erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin V. Tiili sowie der Richter K. Lenaerts und
A. Potocki,
Kanzler: J. Palacio González, Verwaltungsrat
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9.
bis 12. Februar 1998,
folgendes
Urteil
Sachverhalt
- 1.
- Nachdem die Kommission der Europäischen Gemeinschaften am 13. und 14.
Oktober 1983 eine Nachprüfung gemäß Artikel 14 der Verordnung Nr. 17 des
Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85
und 86 des Vertrages (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204), im Polypropylensektor
vorgenommen hatte, legte sie eine besondere Akte für Polyvinylchlorid (PVC) an.
In der Folge nahm sie mehrere Nachprüfungen in den Geschäftsräumen der
betroffenen Unternehmen vor und richtete mehrere Auskunftsverlangen an diese.
- 2.
- Am 24. März 1988 eröffnete die Kommission gegen 14 PVC-Hersteller von Amts
wegen ein Verfahren nach Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17. Am 5. April
1988 übermittelte sie allen diesen Unternehmen eine Mitteilung der
Beschwerdepunkte gemäß Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 99/63/EWG der
Kommission vom 25. Juli 1963 über die Anhörung nach Artikel 19 Absätze (1) und
(2) der Verordnung Nr. 17 des Rates (ABl. 1963, Nr. 127, S. 2268). Sämtliche
Adressaten beantworteten die Mitteilung der Beschwerdepunkte im Juni 1988. Sie
wurden mit Ausnahme von Shell International Chemical Company Ltd, die keinen
entsprechenden Antrag gestellt hatte, im September 1988 mündlich angehört.
- 3.
- Am 1. Dezember 1988 gab der Beratende Ausschuß für Kartell- und
Monopolfragen seine Stellungnahme zu dem Entscheidungsvorschlag der
Kommission ab.
- 4.
- Nach Abschluß des Verfahrens erließ die Kommission die Entscheidung
89/190/EWG vom 21. Dezember 1988 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 des
EWG-Vertrags (IV/31.865, PVC) (ABl. 1989, L 74, S. 1; nachstehend: ursprüngliche
Entscheidung oder Entscheidung 1988). Mit dieser Entscheidung setzte die
Kommission eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen Artikel 85 Absatz 1 des
Vertrages gegen folgende PVC-Hersteller fest: Atochem SA, BASF AG, DSM NV,
Enichem SpA, Hoechst AG, Hüls AG, Imperial Chemical Industries plc, Limburgse
Vinyl Maatschappij NV, Montedison SpA, Norsk Hydro AS, Société artésienne de
vinyle, Shell International Chemical Company Ltd, Solvay et Cie und Wacker-Chemie GmbH.
- 5.
- Alle diese Unternehmen mit Ausnahme von Solvay et Cie (nachstehend: Solvay)
erhoben gegen diese Entscheidung beim Gemeinschaftsrichter Klage auf
Nichtigerklärung.
- 6.
- Mit Beschluß vom 19. Juni 1990 erklärte das Gericht in der Rechtssache T-106/89
(Norsk Hydro/Kommission, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht) die
Klage der Norsk Hydro für unzulässig.
- 7.
- Die in das Register der Kanzlei des Gerichts unter den Nummern T-79/89, T-84/89,
T-85/89, T-86/89, T-89/89, T-91/89, T-92/89, T-94/89, T-96/89, T-98/89, T-102/89 und
T-104/89 eingetragenen Rechtssachen wurden zu gemeinsamem mündlichen
Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.
- 8.
- Mit Urteil vom 27. Februar 1992 erklärte das Gericht in den Rechtssachen T-79/89,
T-84/89, T-85/89, T-86/89, T-89/89, T-91/89, T-92/89, T-94/89, T-96/89, T-98/89,
T-102/89 und T-104/89 (BASF u. a./Kommission, Slg. 1992, II-315) die
Entscheidung 1988 für inexistent.
- 9.
- Auf Rechtsmittel der Kommission hob der Gerichtshof mit Urteil vom 15. Juni
1994 in der Rechtssache C-137/92 P (Kommission/BASF u. a., Slg. 1994, I-2555;
nachstehend: Urteil vom 15. Juni 1994) das Urteil des Gerichts auf und erklärte die
Entscheidung 1988 für nichtig.
- 10.
- Auf dieses Urteil hin erließ die Kommission am 27. Juli 1994 eine neue
Entscheidung gegen die von der ursprünglichen Entscheidung betroffenen
Hersteller mit Ausnahme von Solvay und von Norsk Hydro AS (nachstehend:
Norsk Hydro) (Entscheidung 94/599/EG der Kommission vom 27. Juli 1994
betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 EG-Vertrag [IV/31.865, PVC] [ABl.
L 239, S. 14; nachstehend: Entscheidung oder zweite Entscheidung]).
- 11.
- Die zweite Entscheidung enthält u. a. folgende Artikel:
„Artikel 1
BASF AG, DSM NV, Elf Atochem SA, Enichem SpA, Hoechst AG, Hüls AG,
Imperial Chemical Industries Plc, Limburgse Vinyl Maatschappij NV, Montedison
SpA, Société artésienne de vinyle SA, Shell International Chemical [Company] Ltd
und Wacker-Chemie GmbH haben gegen Artikel 85 EWG-Vertrag verstoßen,
indem sie (zusammen mit Norsk Hydro ... und Solvay ...) an einer Vereinbarung
und/oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweise beteiligt waren, die etwa im
August 1980 beschlossen wurde und auf deren Grundlage die PVC-Hersteller, die
die EWG beliefern, an regelmäßigen Sitzungen teilnahmen, um Zielpreise und
Zielquoten festzusetzen, abgestimmte Initiativen zur Anhebung des Preisniveaus zu
planen und die Anwendung der besagten geheimen Vereinbarungen zu
kontrollieren.
Artikel 2
Die in Artikel 1 genannten Unternehmen, die nach wie vor auf dem PVC-Sektor
in der EG tätig sind, sind verpflichtet (außer Norsk Hydro und Solvay, die bereits
einer bestandskräftigen Abstellungsentscheidung unterliegen), die festgestellte
Zuwiderhandlung unverzüglich abzustellen (falls sie dies noch nicht getan haben)
und in Zukunft bezüglich ihrer PVC-Geschäfte von allen Vereinbarungen oder
aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, die dasselbe oder ähnliches
bezwecken oder bewirken, Abstand zu nehmen. Dazu gehört der Austausch von
Informationen, die normalerweise dem Geschäftsgeheimnis unterliegen und durch
die Teilnehmer direkt oder indirekt über Produktion, Absatz, Lagerhaltung,
Verkaufspreise, Kosten oder Investitionspläne anderer Hersteller informiert oder
aufgrund derer sie in die Lage versetzt werden, die Befolgung ausdrücklicher oder
stillschweigender Preis- oder Marktaufteilungsabsprachen innerhalb der
Gemeinschaft zu kontrollieren. Ein Verfahren zum Austausch von den PVC-Sektor
betreffenden Informationen, dem sich die Hersteller anschließen, muß unter
Ausschluß sämtlicher Informationen geführt werden, aus denen sich das
Marktverhalten einzelner Hersteller ableiten läßt, insbesondere dürfen die
Unternehmen untereinander keine zusätzlichen wettbewerbsrelevanten
Informationen austauschen, die ein solches System nicht erfaßt.
Artikel 3
Gegen die in dieser Entscheidung genannten Unternehmen werden wegen des in
Artikel 1 festgestellten Verstoßes folgende Geldbußen festgesetzt:
i) BASF AG: eine Geldbuße von 1 500 000 ECU,
ii) DSM NV: eine Geldbuße von 600 000 ECU,
iii) Elf Atochem SA: eine Geldbuße von 3 200 000 ECU,
iv) Enichem SpA: eine Geldbuße von 2 500 000 ECU,
v) Hoechst AG: eine Geldbuße von 1 500 000 ECU,
vi) Hüls AG: eine Geldbuße von 2 200 000 ECU,
vii) Imperial Chemical Industries Plc: eine Geldbuße von 2 500 000 ECU,
viii) Limburgse Vinyl Maatschappij NV: eine Geldbuße von 750 000 ECU,
ix) Montedison SpA: eine Geldbuße von 1 750 000 ECU,
x) Société artésienne de vinyle SA: eine Geldbuße von 400 000 ECU,
xi) Shell International Chemical Company Ltd: eine Geldbuße von 850 000
ECU,
xii) Wacker-Chemie GmbH: eine Geldbuße von 1 500 000 ECU.“
Verfahren
- 12.
- Die Unternehmen Limburgse Vinyl Maatschappij NV (nachstehend: LVM), Elf
Atochem, BASF AG (nachstehend: BASF), Shell International Chemical Company
Ltd (nachstehend: Shell), DSM NV et DSM Kunststoffen BV (nachstehend: DSM),
Wacker-Chemie GmbH (nachstehend: Wacker), Hoechst AG (nachstehend:
Hoechst), Société artésienne de vinyle (nachstehend: SAV), Montedison SpA
(nachstehend: Montedison), Imperial Chemical Industries plc (nachstehend: ICI),
Hüls AG (nachstehend: Hüls) und Enichem SpA (nachstehend: Enichem) haben
mit Klageschriften, die zwischen dem 5. und 14. Oktober 1994 bei der Kanzlei des
Gerichts eingegangen sind, die vorliegenden Klagen erhoben.
- 13.
- Auf der Grundlage von Artikel 64 der Verfahrensordnung hat am 6. April 1995
eine Sitzung zwischen den Mitgliedern der Dritten erweiterten Kammer und den
Parteien stattgefunden. In dieser Sitzung haben die Parteien sich damit
einverstanden erklärt, das schriftliche Verfahren auszusetzen und die mündliche
Verhandlung auf die Prüfung der verfahrensrechtlichen Klagegründe zu
beschränken. Sie haben sich dabei für die Verbindung der Rechtssachen T-305/94,
T-306/94, T-307/94, T-313/94, T-314/94, T-315/94, T-316/94, T-318/94, T-325/94,
T-328/94, T-329/94 und T-335/94 ausgesprochen.
- 14.
- Das Gericht (Dritte erweiterte Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters
beschlossen, die mündliche Verhandlung, beschränkt auf die Prüfung derverfahrensrechtlichen Klagegründe, ohne vorherige Beweisaufnahme zu eröffnen.
- 15.
- Die Präsidentin der Dritten erweiterten Kammer hat mit Beschluß vom 25. April
1995 (nicht in der Sammlung veröffentlicht) die Rechtssachen T-305/94, T-306/94,
T-307/94, T-313/94, T-314/94, T-315/94, T-316/94, T-318/94, T-325/94, T-328/94,
T-329/94 und T-335/94 wegen ihres Zusammenhangs nach Artikel 50 der
Verfahrensordnung zu gemeinsamer mündlicher Verhandlung verbunden.
- 16.
- Die mündliche Verhandlung hat am 13. und 14. Juni 1995 stattgefunden.
- 17.
- Mit Beschluß vom 14. Juli 1995 (nicht in der Sammlung veröffentlicht) hat die
Präsidentin der Dritten erweiterten Kammer die Fortsetzung des schriftlichen
Verfahrens und die Aufhebung der Verbindung der Rechtssachen angeordnet.
- 18.
- Das schriftliche Verfahren ist am 20. Februar 1996 geschlossen worden.
- 19.
- Im Rahmen prozeßleitender Maßnahmen hat das Gericht (Dritte erweiterte
Kammer) den Parteien mit Schreiben vom 7. Mai 1997 seine Entscheidung
mitgeteilt, allen Klägerinnen Zugang zu gewähren zu den Akten der Kommission
in der Sache, die zu der Entscheidung geführt hat, mit Ausnahme der
kommissionsinternen Dokumente und der Dokumente, die Geschäftsgeheimnisse
oder andere vertrauliche Angaben enthalten.
- 20.
- Nachdem die Klägerinnen im Juni und Juli 1997 Einsicht in die Akten genommen
hatten, haben alle bis auf die Klägerinnen in den Rechtssachen T-315/94 und
T-316/94 ihre Stellungnahme im Juli bzw. im September 1997 bei der Kanzlei des
Gerichts eingereicht. Die Kommission hat als Antwort hierauf im Dezember 1997
eine Stellungnahme abgegeben.
- 21.
- Mit Beschluß vom 22. Januar 1998 hat die Präsidentin der Dritten erweiterten
Kammer des Gerichts nach Anhörung der Parteien die vorliegenden Rechtssachen
erneut zu gemeinsamem mündlichen Verfahren verbunden.
- 22.
- Das Gericht (Dritte erweiterte Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters
beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen, und hat den Parteien im
Rahmen prozeßleitender Maßnahmen aufgegeben, verschiedene schriftliche Fragen
zu beantworten und eine Reihe von Schriftstücken vorzulegen. Die Parteien sind
dem nachgekommen.
- 23.
- Die Parteien haben in der Sitzung vom 9. bis 12. Februar 1998 mündlich verhandelt
und Fragen des Gerichts beantwortet.
- 24.
- Sie haben dabei erklärt, sie hätten keine Einwände gegen die Verbindung der
Rechtssachen zu gemeinsamer Entscheidung.
- 25.
- In der mündlichen Verhandlung war das Gericht mit der Präsidentin V. Tiili sowie
den Richtern C. P. Briët, K. Lenaerts, A. Potocki und J. D. Cooke besetzt. Nach
Ablauf der Amtszeit von Richter Briët am 17. September 1998 ist das vorliegende
Urteil gemäß Artikel 32 § 1 der Verfahrensordnung von den drei unterzeichnenden
Richtern beraten worden.
Anträge der Parteien
- 26.
- Sämtliche Klägerinnen beantragen,
die Entscheidung ganz oder teilweise für nichtig zu erklären,
hilfsweise, die gegen sie festgesetzte Geldbuße für nichtig zu erklären oder
herabzusetzen,
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
- 27.
- In den Rechtssachen T-315/94, T-316/94 und T-329/94 beantragen Wacker, Hoechst
und Hüls weiterhin,
den Bericht des Anhörungsbeauftragten beizuziehen und anzuordnen, daß
er ihnen zugänglich gemacht wird,
anzuordnen, daß ihnen das vollständige Protokoll der Anhörung
einschließlich aller Anlagen zugänglich gemacht wird.
- 28.
- Darüber hinaus beantragen Wacker und Hüls in den Rechtssachen T-315/94, und
T-329/94,
anzuordnen, daß die Beklagte dem Gericht das Gutachten ihres Juristischen
Dienstes vorlegt, das dieser zu Verfahrensfragen im Zusammenhang mit der
angefochtenen Entscheidung erstellt hat, und ferner anzuordnen, ihnen
dieses Gutachten zugänglich zu machen.
- 29.
- In den Rechtssachen T-315/94 und T-316/94 beantragen Wacker und Hoechst,
die Verfahrensakten der Rechtssache T-92/89 beizuziehen.
- 30.
- In der Rechtssache T-325/94 beantragt Montedison weiterhin,
die Kommission zum Ersatz des Schadens zu verurteilen, der ihr durch die
Kosten für die Stellung der Sicherheit und durch alle anderen Kosten als
Folge der zweiten Entscheidung entstanden ist,
die Verfahrensakten der Rechtssache T-104/89 und die dort vorgelegten
Schriftstücke beizuziehen,
das geschäftsführende Mitglied des Verwaltungsrats und den am 1.
November 1982 zuständigen Manager von Montedison als Zeugen zu
vernehmen.
- 31.
- Die Kommission beantragt,
die Klagen abzuweisen,
den Klägerinnen die Kosten aufzuerlegen.
Zur Zulässigkeit der Klagegründe im Hinblick auf die Artikel 44 § 1, 46 § 1 und
48 § 2 der Verfahrensordnung
- 32.
- Die Kommission hat gegenüber mehreren Klagegründen die Einrede der
Unzulässigkeit erhoben und diese je nach Fall auf Artikel 44 § 1 Buchstabe c oder
auf Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung gestützt. Eine Klägerin hat ebenfalls eine
Einrede der Unzulässigkeit erhoben, die sie auf Artikel 46 § 1 der
Verfahrensordnung stützt. Jede dieser drei Gruppen von Einreden ist getrennt zu
untersuchen.
I Zu den Einreden der Unzulässigkeit, die auf Artikel 44 § 1 Buchstabe c der
Verfahrensordnung gestützt sind
Vorbringen der Parteien
- 33.
- Die Kommission trägt vor, Montedison habe in ihrer Erwiderung allgemein auf
sämtliche verfahrensrechtlichen Klagegründe verwiesen, die die Parteien in ihren
gemeinsamen Plädoyers in der Sitzung vom 13. und 14. Juni 1995 angeführt hätten.
Montedison habe diese Plädoyers ihrem Schriftsatz nicht beigefügt, da sie dem
Gericht angeblich bekannt seien.
- 34.
- Auch Enichem zähle in dem verfahrensrechtlichen Teil ihres
Erwiderungsschriftsatzes einleitend sämtliche verfahrensrechtlichen Klagegründe
auf, die die Klägerinnen in ihren gemeinsamen Plädoyers in der Sitzung vom 13.
und 14. Juni 1995 vorgetragen hätten, und erkläre, sich diese Gründe zu eigen zu
machen. Zu diesem Zweck habe Enichem ihrer Erwiderung die Notizen sämtlicher
Prozeßbevollmächtigter der Klägerinnen für ihre Plädoyers beigefügt.
- 35.
- Solche Verweisungen ständen nicht im Einklang mit Artikel 44 § 1 Buchstabe c der
Verfahrensordnung des Gerichts (Beschluß des Gerichts vom 29. November 1993
in der Rechtssache T-56/92, Koelman/Kommission, Slg. 1993, II-1267, Randnrn. 21
bis 23). Das Gericht könne nämlich nicht an Stelle der Klägerin in den Unterlagen,
auf die verwiesen worden sei, selbst die Umstände suchen und bestimmen, die es
als Grundlage für die Anträge in der Klageschrift betrachten könnte.
- 36.
- Auch die Klagegründe, die Shell in ihrer Erwiderung aufgezählt habe und die in
den dazugehörigen Anlagen näher ausgeführt worden seien, müßten für unzulässig
erklärt werden und seien im Verfahren nicht zu berücksichtigen (Urteile des
Gerichtshofes vom 13. Dezember 1990 in der Rechtssache C-347/88,
Kommission/Griechenland, Slg. 1990, I-4747, Randnr. 29, vom 13. März 1992 in der
Rechtssache C-43/90, Kommission/Deutschland, Slg. 1992, I-1909, Randnr. 8; Urteil
des Gerichts vom 29. Juni 1995 in der Rechtssache T-37/91, ICI/Kommission, Slg.
1995, II-1901, Randnr. 46, und Beschluß des Gerichts vom 28. April 1993 in der
Rechtssache T-85/92, Hoe/Kommission, Slg. 1993, II-523).
- 37.
- Jeder Schriftsatz müsse nämlich klar die für den konkreten Fall maßgeblichen
tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte erkennen lassen und mit Ausnahme
der Klageschrift dem vorangegangenen Schriftsatz entsprechen. Durch die
Verweisung auf beigefügte Schriftstücke, die andere Prozeßbevollmächtigte in
anderen Rechtssachen vorgelegt hätten, zwinge die Klägerin das Gericht, selbst die
Umstände zu bestimmen, auf die Shell ihre Klage stützen wolle. Zudem seien die
beigefügten Unterlagen nur vorbereitende Notizen einiger Prozeßbevollmächtigter
für die Sitzung vom 13. und 14. Juni 1995 gewesen und entsprächen nicht unbedingt
den tatsächlichen Plädoyers. Das Sitzungsprotokoll sei aber nicht zugänglich. Im
übrigen stütze sich die Klägerin nur auf einige Teile der Notizen eines der
Prozeßbevollmächtigten für sein Plädoyer. Einige dieser Notizen verwiesen
wiederum auf Argumente anderer Parteien in deren Anträgen und Schriftsätzen.
- 38.
- Schließlich seien die Rechtssachen nur zu gemeinsamer mündlicher Verhandlung
verbunden worden, und die Präsidentin der Dritten erweiterten Kammer habe an
deren Schluß die Trennung der Rechtssachen angeordnet.
Würdigung durch das Gericht
- 39.
- Die Klageschrift muß gemäß Artikel 44 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung
den Streitgegenstand und eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten. Diese
Angaben müssen so klar und genau sein, daß dem Beklagten die Vorbereitung
seiner Verteidigung und dem Gericht die Entscheidung über die Klage,
gegebenenfalls auch ohne weitere Informationen, ermöglicht wird. Um die
Rechtssicherheit und eine ordnungsgemäße Rechtspflege zu gewährleisten, ist es
für die Zulässigkeit einer Klage erforderlich, daß die wesentlichen tatsächlichen und
rechtlichen Umstände, auf denen die Klage beruht, zumindest in gedrängter Form,
jedenfalls aber zusammenhängend und verständlich, aus dem Wortlaut der
Klageschrift selbst hervorgehen. Die Klageschrift kann zwar in einzelnen Punkten
durch Verweisungen auf bestimmte Stellen beigefügter Schriftstücke gestützt und
ergänzt werden, eine allgemeine Verweisung auf andere Schriftstücke, selbst wenn
sie der Klageschrift beigefügt sind, kann jedoch das Fehlen wesentlicher Umstände
in der Klageschrift nicht ausgleichen (vgl. u. a. Beschluß Koelman/Kommission,
Randnr. 21). Zudem ist es nicht Sache des Gerichts, die Klagegründe und
Argumente, auf die sich die Klage möglicherweise stützen läßt, in den Anlagen zu
suchen und zu bestimmen, denn die Anlagen haben eine bloße Beweis- und
Hilfsfunktion (Urteil des Gerichts vom 7. November 1997 in der Rechtssache
T-84/96, Cipeke/Kommission, Slg. 1997, II-2081, Randnr. 34).
- 40.
- Diese Auslegung des Artikels 44 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung gilt auch
für die Voraussetzungen der Zulässigkeit der Erwiderung, die nach Artikel 47 § 1
der Verfahrensordnung die Klageschrift ergänzen soll.
- 41.
- Im vorliegenden Fall verweisen Shell, Montedison und Enichem in ihrer
Erwiderung allgemein auf die Klagegründe und Argumente, die einige Klägerinnen
in der mündlichen Verhandlung vor dem Gericht am 13. und 14. Juni 1995
vorgetragen haben. Diese allgemeine Verweisung auf Schriftstücke, selbst wenn sie
der Erwiderung beigefügt sind, kann nicht die Wiedergabe des Sachverhalts, der
Klagegründe und der Argumente im Schriftsatz selbst ersetzen.
- 42.
- Ergänzend zu ihrer Erwiderung verweist Enichem in einzelnen Punkten auf die
beigefügten Schriftstücke. Diese Verweise bezeichnen jedoch das betreffende
beigefügte Schriftstück nur allgemein und erlauben es damit dem Gericht nicht,
genau die Argumente zu bestimmen, die es als Ergänzung der in der Klageschrift
vorgetragenen Gründe betrachten könnte.
- 43.
- Soweit Shell, Montedison und Enichem in ihren Erwiderungen auf die
gemeinsamen Plädoyers verweisen, genügen diese Schriftsätze somit nicht den
Anforderungen des Artikels 44 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung und können
daher nicht berücksichtigt werden.
II Zur Einrede der Unzulässigkeit, die auf Artikel 46 § 1 der Verfahrensordnung
gestützt wird
Vorbringen der Parteien
- 44.
- Nach Ansicht von Hüls ist es nach Artikel 46 § 1 Buchstabe b der
Verfahrensordnung unzulässig, wenn die Kommission als Entgegnung auf
bestimmte Klagegründe in der Klageschrift auf den Sitzungsbericht in der
Rechtssache T-86/89, Hüls/Kommission, verweise (Urteile des Gerichtshofes vom
8. Juli 1965 in den Rechtssachen 19/63 und 65/63, Prakash/Euratom, Slg. 1965, 718,
736, vom 28. April 1971 in der Rechtssache 4/69, Lütticke/Kommission, Slg. 1971,
325, Randnr. 2, und Kommission/Deutschland, Randnrn. 7 und 8; Urteile des
Gerichts vom 5. Dezember 1990 in der Rechtssache T-82/89, Marcato/Kommission,
Slg. 1990, II-735, Randnr. 22, und ICI/Kommission, Randnr. 47).
- 45.
- Die Kommission führt aus, die Textübernahme in ihrer Klagebeantwortung sei
keine pauschale Verweisung im Sinne der von Hüls angeführten Rechtsprechung.
Hüls verkenne in Wirklichkeit die Funktion einer Anlage, die eine förmliche
Bezugnahme ohne überflüssige Wiederholung gestatte. Im übrigen sei die
Bezugnahme auf eine andere Klage zwischen denselben Parteien wegen desselben
Gesamtkomplexes zulässig (Urteil ICI/Kommission, Randnr. 47).
Würdigung durch das Gericht
- 46.
- Nach Artikel 46 § 1 Buchstabe b der Verfahrensordnung muß die
Klagebeantwortung die tatsächliche und rechtliche Begründung enthalten. Diese
Begründung muß, sei es auch in gedrängter Form, hinreichend klar und genau in
der Klagebeantwortung selbst enthalten sein, um dem Kläger die Vorbereitung
seiner Erwiderung und dem Gericht die Entscheidung über die Klage,
gegebenenfalls auch ohne weitere Informationen, zu ermöglichen.
- 47.
- Im konkreten Fall hat die Kommission unter der Überschrift „Die materiellen
Rügen“ sich auf folgende Erklärung in ihrer Klagebeantwortung beschränkt: „Die
Kommission sieht sich zu ihrer Verteidigung ihrerseits veranlaßt, ihr seinerzeitiges
Verteidigungsvorbingen [im Rahmen der Klagen gegen die Entscheidung 1988] in
das vorliegende Verfahren einzuführen. Statt einer wörtlichen Wiedergabe der
Klagebeantwortung hält sie es im gegenwärtigen Verfahrensstadium für sinnvoll
und zweckmäßig, auf ihren Vortrag in der Rechtssache T-86/89 zu verweisen, wie
er im Sitzungsbericht zusammengefaßt ist.“ Sie führt anschließend die
entsprechenden Titel des Sitzungsberichts auf, verweist auf Seitenzahlen dieses
Berichts und ergänzt das Vorbringen, auf das sie verweist, um einige Anmerkungen.
- 48.
- Unter der Überschrift „Die materiellen Rügen“ gibt die Beklagte die tatsächliche
und rechtliche Begründung nur in Form von Überschriften wieder. Diese
Begründung genügt daher nicht den Zulässigkeitsvoraussetzungen der Klarheit und
Genauigkeit. Infolgedessen sind diese tatsächlichen und rechtlichen Gründe für
unzulässig zu erklären.
III Zu den Einreden der Unzulässigkeit, die auf Artikel 48 § 2 der
Verfahrensordnung gestützt werden
Vorbringen der Parteien
- 49.
- Die Kommission macht geltend, daß jedes erstmals in der Erwiderung vorgetragene
Angriffs- und Verteidigungsmittel, das nicht auf rechtliche oder tatsächliche Gründe
gestützt werde, die erst während des Verfahrens zutage getreten seien, ein neues
Angriffs- oder Verteidungsmittel sei, das aufgrund von Artikel 48 § 2 der
Verfahrensordnung für unzulässig zu erklären sei (Urteile des Gerichts vom 10.
März 1992 in der Rechtssache T-68/89, T-77/89 und T-78/89, SIV u. a./Kommission,
Slg. 1992, II-1403, Randnr. 82, vom 18. November 1992 in der Rechtssache T-16/91,
Rendo u. a./Kommission, Slg. 1992, II-2417, Randnr. 131, und vom 21. Februar
1995 in der Rechtssache T-29/92, SPO u. a./Kommission, Slg. 1995, II-289, Randnr.
409).
- 50.
- Im vorliegenden Fall seien mehrere Angriffsmittel von LVM, BASF, DSM und ICI
aufgrund dieser Bestimmung unzulässig.
- 51.
- Der Beschluß der Präsidentin der Dritten erweiterten Kammer des Gerichts vom
14. Juli 1995 über die Fortsetzung des schriftlichen Verfahrens und die Aufhebung
der Verbindung der Rechtssachen sei nicht so zu verstehen, daß er einer Partei
erlaube, sämtliche verfahrensrechtlichen Klagegründe geltend zu machen,
einschließlich der Gründe, die nur in der Klageschrift anderer Klägerinnen
vorgetragen worden seien.
- 52.
- Darüber hinaus müßten die meisten Anlagen der Erwiderung von Hüls
ausgeschlossen werden, da sie entgegen Artikel 35 § 3 der Verfahrensordnung nicht
in der Verfahrenssprache verfaßt seien.
Würdigung durch das Gericht
- 53.
- Nach Artikel 48 § 2 Absatz 1 der Verfahrensordnung können neue Angriffs- und
Verteidigungsmittel im Laufe des Verfahrens nicht mehr vorgebracht werden, es
sei denn, daß sie auf rechtliche oder tatsächliche Gründe gestützt werden, die erst
während des Verfahrens zutage getreten sind.
- 54.
- BASF hat im vorliegenden Fall erstmals in der Erwiderung folgende Klagegründe
geltend gemacht: Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem, Verstoß gegen das
Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen), Verstoß
gegen die seinerzeit geltende Geschäftsordnung der Kommission, Verjährung,
Verstoß gegen die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (MRK) sowie Verstoß gegen die
Verpflichtung zur Anhörung der Klägerin, bevor die Entscheidung getroffen wird,
von dem Verfahren gemäß den Verordnungen Nrn. 17 und 99/63 abzuweichen.
- 55.
- ICI rügt in ihrer Erwiderung einen Verstoß gegen die Geschäftsordnung der
Kommission, da der Juristische Dienst der Kommission vor Erlaß der Entscheidung
nicht konsultiert worden sei. Die fehlende Konsultierung des Juristischen Dienstes
der Kommission vor Erlaß der Entscheidung, die durch den Sitzungsbericht in der
Rechtssache T-307/94 vor der Sitzung vom Juni 1995 zutage getreten sei, stelle eine
neue, während des Verfahrens zutage getretene Tatsache dar. Dem kann nicht
gefolgt werden. Dazu genügt die Feststellung, daß in diesem Sitzungsbericht keine
Rede davon ist, daß der Juristische Dienst überhaupt nicht konsultiert worden sei,
sondern es heißt dort: „Die Kommission behauptet, es gebe kein Gutachten des
Juristischen Dienstes zu der Frage, ob eine neue Entscheidung gegenüber den
PVC-Herstellern auf der Grundlage des Verwaltungsverfahrens erlassen werden
könne, das vor dem Erlaß der Entscheidung vom 21. Dezember 1988 durchgeführt
worden sei.“ Somit läßt sich nicht die Ansicht vertreten, daß diese Stelle des
Sitzungsberichts in der Rechtssache T-307/94 eine neue Tatsache sei, die zeige, daß
es vor Erlaß der Entscheidung keine Stellungnahme des Juristischen Dienstes
gegeben habe.
- 56.
- Soweit die Argumentation von ICI dahin zu verstehen sein sollte, daß im Rahmen
dieses Klagegrundes und durch die Verweisung auf ein ihrer Erwiderung als Anlage
beigefügtes gemeinsames Plädoyer geltend gemacht wird, daß die bei Erlaß der
Entscheidung geltende Geschäftsordnung der Kommission rechtswidrig gewesen sei,
so ist festzustellen, daß dieser Einwand der Rechtswidrigkeit erstmals in der
Erwiderung vorgetragen worden ist, obwohl die Klägerin nicht daran gehindert war,
ihn in ihrer Klageschrift anzuführen.
- 57.
- Hüls beruft sich in ihrer Erwiderung auf die als Anlage beigefügten, für die
Plädoyers bestimmten Notizen zu den in der Sitzung vom 13. und 14. Juni 1995
gemeinsam dargestellten Themen. Die in diesen Notizen behandelten Themen
betreffen, soweit sie in der Erwiderung ausführlicher erörtert werden, Klagegründe,
die Hüls in ihrer Klageschrift geltend gemacht hatte, mit Ausnahme des
Klagegrundes der fehlenden Beteiligung der Überwachungsbehörde der
Europäischen Freihandelsgemeinschaft (EFTA), der erstmals in der Erwiderung
angeführt worden ist.
- 58.
- Die Notizen für die gemeinsamen Plädoyers in der Anlage der Erwiderung von
Hüls sind nicht in der von der Klägerin gewählten Verfahrenssprache verfaßt. Hüls
hat entgegen Artikel 35 § 3 der Verfahrensordnung keine auszugsweise
Übersetzung dieser umfangreichen Schriftstücke vorgelegt. Unter den ganz
besonderen Umständen des vorliegenden Falles und unter Berücksichtigung der
Zustimmung des Gerichts zur Benutzung irgendeiner der Verfahrenssprachen für
den Vortrag einiger gemeinsamer Themen in der mündlichen Verhandlung vom 13.
und 14. Juni 1995 wäre es jedoch nach Ansicht des Gerichts trotz der von ihm
verfügten Aufhebung der Verbindungen der Rechtssachen im Anschluß an diese
Verhandlung ein übertriebener Formalismus, diese Anlagen, die in einer anderen
als der von der Klägerin gewählten Verfahrenssprache verfaßt sind, nicht zu
akzeptieren. Somit sind die Anlagen der Erwiderung von Hüls in der vorgelegten
Form zulässig.
- 59.
- LVM und DSM machen in ihrer Erwiderung zur Begründung des Klagegrundes des
Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, den sie bereits in ihrer
Klageschrift vorgetragen haben, geltend, daß die Kommission gegen ihre
Begründungspflicht nach Artikel 190 EG-Vertrag verstoßen habe. Angesichts der
Formulierung dieser Rüge im Kontext des betreffenden Klagegrundes kommt
diesem Vorbringen kein eigenständiger Charakter gegenüber dem Klagegrund zu,
in dessen Rahmen diese Rüge erhoben worden ist. Sie kann daher nicht als ein
eigenständiger Klagegrund angesehen werden, der erstmals in der Erwiderung
geltend gemacht worden ist.
- 60.
- Nach Artikel 113 der Verfahrensordnung kann das Gericht schließlich jederzeit von
Amts wegen prüfen, ob unverzichtbare Prozeßvoraussetzungen fehlen.
- 61.
- Das Gericht stellt in diesem Zusammenhang fest, daß Elf Atochem erstmals in
ihrer Erwiderung geltend gemacht hat, daß die Kommission gegen ihre
Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit der EFTA-Überwachungsbehörde verstoßen
hat.
- 62.
- SAV hat in ihrer Klageschrift einen „Verstoß gegen die Grundsätze der
ordnungsgemäßen Verwaltung und des rechtlichen Gehörs [gerügt], weil das
Verfahren nicht in einer angemessenen Frist eingeleitet worden ist“. In ihrer
Erwiderung hat sie unter dem Klagegrund „Verstoß gegen die Grundsätze der
geordneten Rechtspflege und des rechtlichen Gehörs“ vorgetragen, daß die
Kommission die Anhörung im September 1988 nicht berücksichtigt habe, da sie
nicht genügend Zeit gehabt habe, sich vor Erlaß der Entscheidung 1988 näher mit
dem Anhörungsprotokoll zu befassen. Diese letztgenannte Feststellung ist als ein
getrennter Klagegrund anzusehen, da er in keiner Weise die Einleitung des
Verfahrens innerhalb einer angemessenen Frist betrifft. Dieser Klagegrund, der in
keiner Verbindung zu einem der in der Klageschrift vorgetragenen Gründe steht,
ist daher als ein erstmals in der Erwiderung geltend gemachtes Angriffsmittel
anzusehen.
- 63.
- Im vorliegenden Fall ist während des Verfahrens kein neuer Grund zutage getreten,
der das verspätete Vorbringen von Elf Atochem und SAV rechtfertigen könnte.
Diese beiden Klägerinnen hätten die entsprechenden Angriffsmittel daher in ihrer
Klageschrift geltend machen können. Folglich können sie diese nach Artikel 48 § 2
nicht in der Erwiderung vortragen.
- 64.
- Nach alledem sind die Angriffsmittel, die Elf Atochem, BASF, SAV, ICI und Hüls
erstmals in ihrer Erwiderung geltend gemacht haben und die nicht auf rechtlichen
oder tatsächlichen Gründen beruhen, die erstmals während des Verfahrens zutage
getreten sind, für unzulässig zu erklären.
Zum Antrag auf Nichtigerklärung der Entscheidung
I Zu den Klagegründen, die Form- und Verfahrensmängel betreffen
- 65.
- Die verschiedenen Klagegründe, die Form- und Verfahrensmängel betreffen, lassen
sich in vier Hauptgruppen einteilen. Zunächst wenden sich die Klägerinnen gegen
die Auslegung, die die Kommission der Tragweite des Urteils vom 15. Juni 1994
gegeben hat, mit der die Entscheidung 1988 für nichtig erklärt worden ist, und
gegen die Folgerungen, die die Kommission daraus gezogen hat (A). Sodann rügen
sie Unregelmäßigkeiten beim Erlaß und bei der Feststellung der Entscheidung (B).
Sie machen ferner geltend, daß das Verfahren vor Erlaß der Entscheidung 1988
Unregelmäßigkeiten aufgewiesen habe (C). Schließlich sei die Entscheidung
bezüglich einer Reihe von Fragen, die in die drei vorhergehenden Gruppen fielen,
unzureichend begründet (D).
A Die Wirkungen des Urteils vom 15. Juni 1994, mit dem die Entscheidung 1988 für
nichtig erklärt worden ist
- 66.
- Die Klagegründe und Argumente der Klägerinnen lassen sich unter drei
Gesichtspunkte einordnen. Erstens habe die Kommission wegen des Urteils vom
15. Juni 1994 keine neue Entscheidung erlassen können. Zweitens, so einige
Klägerinnen, habe das Urteil vom 15. Juni 1994 durch die Nichtigerklärung der
Entscheidung 1988 die den Erlaß dieser Entscheidung vorbereitenden Rechtsakte
rückwirkend gegenüber allen Unternehmen, die die Adressaten gewesen seien,
beseitigt. Drittens hätte die Kommission, wenn sie eine neue Entscheidung hätte
treffen können, um die Konsequenzen aus dem Urteil vom 15. Juni 1994 zu ziehen,
jedenfalls bestimmte Verfahrenserfordernisse beachten müssen.
1. Zur Befugnis der Kommission, nach dem Urteil vom 15. Juni 1994 eine neue
Entscheidung zu erlassen
- 67.
- Die Argumente der Klägerinnen lassen sich in drei Teile gliedern. Mit dem ersten
Teil wird geltend gemacht, die Kommission habe nach dem Urteil vom 15. Juni
1994 keine neue Entscheidung in der „PVC-Sache“ treffen können. Der zweite Teil
enthält Klagegründe bezüglich des Zeitablaufs: Danach habe die Kommission ihre
Befugnis zum Erlaß der Entscheidung nicht mehr ausüben können. Schließlich geht
es beim dritten Teil um die Klagegründe, nach denen die Kommission fehlerhaftenGebrauch von ihrem Ermessen gemacht hat.
- 68.
- Jeder Teil ist getrennt zu untersuchen.
a) Zu den Klagegründen, nach denen die Kommission die Entscheidung nicht
erlassen konnte
- 69.
- Zur Begründung ihrer Auffassung, daß die Kommission die Entscheidung nicht
habe erlassen können, führen die Klägerinnen zwei Klagegründe an.
- 70.
- Der erste Klagegrund betrifft einen Verstoß gegen die Rechtskraft. Der zweite
Klagegrund betrifft einen Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem.
Zur Rüge eines Verstoßes gegen die Rechtskraft
Vorbringen der Parteien
- 71.
- LVM, DSM, ICI und Enichem machen geltend, die Kommission habe die
Entscheidung nicht erlassen können, ohne gegen die Rechtskraft des Urteils vom
15. Juni 1994 zu verstoßen.
- 72.
- LVM und DSM tragen vor, die Unterscheidung zwischen verfahrensrechtlichen und
materiell-rechtlichen Mängeln der angefochtenen Entscheidung habe weder eine
rechtliche Grundlage, noch lasse sie sich auf den Wortlaut oder die Rechtsprechung
stützen. Weder Artikel 174 EG-Vertrag noch das Urteil des Gerichts vom 6. April
1995 in den verbundenen Rechtssachen T-80/89, T-81/89, T-83/89, T-87/89, T-88/89,
T-90/89, T-93/89, T-95/89, T-97/89, T-99/89, T-100/89, T-101/89, T-103/89, T-105/89,
T-107/89 und T-112/89 (BASF u. a./Kommission, Slg. 1995, II-729, Randnr. 78)
enthielten eine solche Unterscheidung. Da das Urteil vom 15. Juni 1994 zu dieser
Frage schweige, sei es dahin zu verstehen, daß die Sache abschließend geregelt
worden sei (Urteile des Gerichtshofes vom 29. Oktober 1980 in der Rechtssache
138/79, Roquette Frères/Rat, Slg. 1980, 3333, Randnr. 37, und vom 30. September
1982 in der Rechtssache 108/81, Amylum/Rat, Slg. 1982, 3107, Randnr. 5;
Schlußanträge des Generalanwalts Reischl in dieser Rechtssache, Slg. 1982, 3139,
3151 f.). Die Tatsache, daß der Gerichtshof das Urteil des Gerichts aufgehoben und
über die zur Entscheidung reife Sache selbst entschieden habe, bestätigte diese
Auslegung.
- 73.
- Enichem macht geltend, der Gerichtshof habe mit seinem Urteil vom 15. Juni 1994
das gegen die PVC-Hersteller eingeleitete Verfahren endgültig abschließen wollen,
indem er von seiner Befugnis nach Artikel 54 Absatz 1 Satz 2 EG-Satzung des
Gerichtshofes Gebrauch gemacht habe. Auch wenn der Gerichtshof nur bestimmte
Klagegründe geprüft habe, habe er somit über den Rechtsstreit insgesamt
entschieden. Sämtliche Aspekte dieses Streits würden somit von der Rechtskraft
erfaßt.
- 74.
- In Wirklichkeit führe die Auffassung der Kommission dazu, daß den materiell-rechtlichen Rügen ein Vorrang vor den verfahrensrechtlichen Rügen eingeräumt
werde, die dann nur von untergeordneter Bedeutung seien. Jeder
Verfahrensverstoß könnte somit leicht korrigiert werden. Jede Geltendmachung von
Verfahrensmängeln vor dem Gemeinschaftsrichter wäre dann nutzlos, und die
Bemühungen im vorliegenden Fall vor dem Gericht und anschließend vor dem
Gerichtshof wären umsonst gewesen.
- 75.
- Nach Ansicht der Kommission wird von der Rechtskraft nur das erfaßt, worüber
der Gerichtshof entschieden habe. Im vorliegenden Fall sei der einzige Grund, den
der Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. Juni 1994 für die Aufhebung der
Entscheidung 1988 angeführt habe, das Fehlen der Feststellung in der
vorgeschriebenen Form, so daß nur die Beurteilung des Gerichtshofes hinsichtlich
der Formmängel in Rechtskraft erwachsen sei. Die anderen verfahrensrechtlichen
und materiell-rechtlichen Rügen seien vom Gerichtshof also nicht geprüft worden.
- 76.
- Es gebe keine Vorschrift, nach der der Gerichtshof die Rechtssache nach der
Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 an das Gericht hätte zurückverweisen
können.
Würdigung durch das Gericht
- 77.
- Die Rechtskraft erstreckt sich lediglich auf diejenigen Tatsachen- und Rechtsfragen,
die tatsächlich oder notwendigerweise Gegenstand der betreffenden gerichtlichen
Entscheidung waren (Urteil des Gerichtshofes vom 19. Februar 1991 in der
Rechtssache C-281/89, Italien/Kommission, Slg. 1991, I-347, Randnr. 14, und
Beschluß des Gerichtshofes vom 28. November 1996 in der Rechtssache
C-277/95 P, Lenz/Kommission, Slg. 1996, I-6109, Randnr. 50).
- 78.
- Der Gerichtshof hat im Urteil vom 15. Juni 1994 festgestellt, daß dem Gericht ein
Rechtsirrtum unterlaufen ist, als es die Entscheidung 89/190 für inexistent erklärte,
und daß das angefochtene Urteil daher aufzuheben ist (Randnrn. 53 und 54). Er
hat beschlossen, gemäß Artikel 54 Absatz 1 Satz 2 der EG-Satzung des
Gerichtshofes über den Rechtsstreit endgültig zu entscheiden, da dieser zur
Entscheidung reif war (Randnr. 55).
- 79.
- Der Gerichtshof hat deshalb die Klagegründe, die die Klägerinnen in ihren
Nichtigkeitsklagen vor dem Gericht gegen die Entscheidung 1988 vorgetragen
haben, wie folgt zusammengefaßt: „Das Vorverfahren sei mit verschiedenen
Mängeln behaftet gewesen; die angefochtene Entscheidung sei nicht oder nicht
ausreichend begründet; die Verteidigungsrechte seien nicht gewahrt worden; die
von der Kommission vorgenommene Beweisführung sei anfechtbar; die
angefochtene Entscheidung verstoße gegen Artikel 85 EWG-Vertrag und gegen die
allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts; die Entscheidung verletzte die
Verjährungsvorschriften; sie sei durch Ermessensmißbrauch gekennzeichnet; die
verhängten Geldbußen seien rechtswidrig“ (Randnr. 56).
- 80.
- Der Gerichtshof hat weiter ausgeführt: „Die Klägerinnen haben die Rüge der
fehlenden und unzureichenden Begründung der streitigen Entscheidung im
wesentlichen darauf gestützt, daß die Begründung der ihnen zugestellten
Entscheidung wahrscheinlich in mehreren, manchmal wesentlichen Punkten von der
Entscheidung abweiche, die vom Kommissionskollegium in seiner Sitzung vom 21.
Dezember 1988 angenommen worden sei [Randnr. 57]. Einige Klägerinnen haben
ferner dem Verteidigungsvorbringen der Kommission entnommen, daß die
Entscheidung in zwei verbindlichen Sprachen, nämlich Italienisch und
Niederländisch, nicht angenommen worden sei, da dem Kollegium lediglich die auf
deutsch, englisch und französisch abgefaßten Entwürfe vorgelegt worden seien
[Randnr. 58] ... In ihrer abschließenden Stellungnahme haben die Klägerinnen
vorgetragen, es liege ein Verstoß gegen Artikel 12 der Geschäftsordnung der
Kommission vor [Randnr. 59].“ Im Anschluß daran hat der Gerichtshof mit der
Prüfung der „Begründetheit dieser Rüge“ begonnen (Randnr. 61).
- 81.
- Nach der Feststellung, daß die Kommission gegen Artikel 12 Absatz 1 ihrer
Geschäftsordnung verstoßen hat, indem sie die Entscheidung 1988 nicht in der in
diesem Artikel vorgesehenen Form ausgefertigt hat, hat der Gerichtshof festgestellt:
„Die Entscheidung ist daher wegen Verletzung wesentlicher Formvorschriften für
nichtig zu erklären, ohne daß auf die anderen von den Klägerinnen erhobenen
Rügen eingegangen zu werden braucht“ (Randnr. 78).
- 82.
- Daraus folgt, daß weder die anderen von den Klägerinnen vor dem Gericht
erhobenen verfahrensrechtlichen Klagegründe noch die materiell-rechtlichen, noch
die hilfsweise gegenüber den festgesetzten Geldbußen erhobenen Klagegründe
tatsächlich oder notwendigerweise Gegenstand des Urteils vom 15. Juni 1994
waren.
- 83.
- Artikel 54 Absatz 1 der Satzung des Gerichtshofes lautet: „Ist das Rechtsmittel
begründet, so hebt der Gerichtshof die Entscheidung des Gerichts auf. Er kann
sodann den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung
reif ist, oder die Sache zur Entscheidung an das Gericht zurückverweisen.“
- 84.
- Satz 2 dieser Bestimmung bedeutet nicht, daß der Gerichtshof, wenn er endgültig
über den Rechtsstreit entscheidet, indem er einen oder mehrere der Klagegründe
für begründet hält, ipso jure über alle von den Klägerinnen im Kontext der
Rechtssache geltend gemachten tatsächlichen oder rechtlichen Fragen entscheidet.
Die Auffassung von Enichem verkennt, daß die entschiedene Rechtssache nur
bezüglich der tatsächlichen und rechtlichen Fragen, über die tatsächlich oder
notwendigerweise entschieden worden ist, in materieller Rechtskraft erwächst.
- 85.
- Somit ist der Klagegrund zurückzuweisen.
Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz ne bis in idem
Vorbringen der Parteien
- 86.
- LVM, DSM, Montedison und ICI werfen der Kommission vor, daß sie durch den
Erlaß einer neuen Entscheidung nach der Nichtigerklärung der Entscheidung 1988
durch den Gerichtshof gegen den Grundsatz ne bis in idem verstoßen habe.
- 87.
- LVM, DSM und ICI verweisen darauf, daß der Gemeinschaftsrichter die Beachtung
der allgemeinen Rechtsgrundsätze wie des Grundsatzes ne bis in idem, der auch
im Protokoll Nr. 7 zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte
und in Artikel 14 Absatz 7 des am 16. März 1966 in New York unterzeichneten
Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte niedergelegt sei,
sicherstellen müsse (Urteile des Gerichtshofes vom 5. Mai 1966 in den
Rechtssachen 18/65 und 35/65, Gutmann/Kommission, Slg. 1966, 154, und vom 15.
März 1967 in den Rechtssachen 18/65 und 35/65, Gutmann/Kommission, Slg. 1967,
79).
- 88.
- Nach Ansicht von LVM und DSM hat die Kommission diesen Grundsatz in
doppeltem Sinne verletzt: Zum einen habe sie wegen ein und derselben
Zuwiderhandlung zweimal eine Sanktion verhängt; zum anderen habe sie zweimal
ein Ermittlungsverfahren selbst wenn sich dieses im zweiten Fall auf den Erlaß
und die Zustellung der Entscheidung beschränkt habe aufgrund ein und desselben
Sachverhalts eingeleitet (Urteile vom 5. Mai 1966, Gutmann/Kommission, Slg. 1966,
178, vom 15. März 1967, Gutmann/Kommission, Slg. 1967, 88, sowie Schlußanträge
des Generalanwalts Mayras in der durch Urteil des Gerichtshofes vom 14.
Dezember 1972 entschiedenen Rechtssache 7/72, Boehringer/Kommission, Slg.
1972, 1293, 1296).
- 89.
- Für die Feststellung eines Verstoßes gegen den Grundsatz ne bis in idem sei allein
die Identität der zur Last gelegten Handlungen entscheidend (Urteil
Boehringer/Kommission, Randnr. 6), die hier gegeben sei. Die Nichtigerklärung der
ursprünglichen Entscheidung, die zwar die Rechtswirkungen entfallen lasse, nicht
aber die Tatsache ungeschehen mache, daß ein Ermittlungsverfahren durchgeführt,
eine Zuwiderhandlung festgestellt und eine Geldbuße verhängt worden sei, sei
ebensowenig von Bedeutung wie die Rechtskraft.
- 90.
- Nach Ansicht von ICI ist das Urteil vom 15. Juni 1994 verbindlich und endgültig,
was bedeute, daß es rechtskräftig geworden sei (Artikel 65 der Verfahrensordnung
des Gerichtshofes). Der Gerichtshof habe die Rechtssache nicht an das Gericht
zurückverwiesen. Da die Entscheidung 1988 insgesamt und nicht nur in einigen
Punkten für nichtig erklärt worden sei, stelle das Urteil einen endgültigen
Freispruch dar. Die Kommission habe daher gegen den Grundsatz ne bis in idem
verstoßen, indem sie auf der Grundlage der gleichen rechtlichen und tatsächlichen
Gegebenheiten die gleiche Entscheidung erlassen habe. Schließlich habe der
Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. Juni 1994 der Kommission nicht den Erlaß
einer neuen Entscheidung aufgegeben (vgl. im Umkehrschluß Urteil des
Gerichtshofes vom 23. Oktober 1974 in der Rechtssache 17/74, Transocean Marine
Paint/Kommission, Slg. 1974, 1063, Randnr. 22).
- 91.
- Die Kommission trägt vor, die Argumente von LVM, DSM und ICI im Rahmen
dieses Klagegrundes ständen im Widerspruch zu deren Meinung, die Entscheidung
1988 habe wegen ihrer rückwirkenden Nichtigerklärung niemals bestanden.
- 92.
- Der Gerichtshof habe die Erheblichkeit des Grundsatzes ne bis in idem im
Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft anerkannt (Urteil Boehringer/Kommission),
so daß die Berufung der Klägerinnen auf die MRK oder den Internationalen Pakt
über bürgerliche und politische Rechte überflüssig sei.
- 93.
- Jedenfalls sei das Vorbringen der Klägerinnen nicht begründet, da die
Entscheidung nach der Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 durch den
Gerichtshof als die erste Entscheidung anzusehen sei, die das Verhalten der auf
dem PVC-Markt tätigen Unternehmen wegen Verstoßes gegen Artikel 85 EG-Vertrag ahnde. Weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht seien den
Unternehmen zwei Geldbußen auferlegt worden.
- 94.
- Der Grundsatz ne bis in idem betreffe nur die Möglichkeit der Verhängung von
Sanktionen; er dürfe daher nicht mit dem Grundsatz der Rechtskraft einer
Entscheidung verwechselt werden.
Würdigung durch das Gericht
- 95.
- Die Klägerinnen werfen der Kommission vor, durch den Erlaß der Entscheidung
den allgemeinen Rechtsgrundsatz ne bis in idem verletzt zu haben, der zum einen
verbiete, für ein und dieselbe Zuwiderhandlung zwei Sanktionen zu verhängen, und
zum anderen, auf der Grundlage ein und desselben Sachverhalts zweimal einErmittlungsverfahren einzuleiten.
- 96.
- Im vorliegenden Zusammenhang besagt dieser Grundsatz, daß die Kommission
gegen ein Unternehmen wegen eines Verhaltens, zu dem das Gericht oder der
Gerichtshof bereits festgestellt hat, daß die Kommission dessen
Wettbewerbswidrigkeit nachgewiesen oder nicht nachgewiesen hat, keine
Ermittlungen nach den Verordnungen Nrn. 17 und 99/63 wegen Verstoßes gegen
die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft führen oder eine Geldbuße verhängen
darf.
- 97.
- Erstens hat der Gerichtshof im vorliegenden Fall die Entscheidung 1988 mit Urteil
vom 15. Juni 1994 für nichtig erklärt. Die Kommission hat mit Erlaß der zweiten
Entscheidung nach dieser Nichtigerklärung gegen die Klägerinnen keine zweite
Sanktion für ein und dieselbe Zuwiderhandlung verhängt.
- 98.
- Zweitens hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. Juni 1994 über keine der
von den Klägerinnen angeführten materiell-rechtlichen Klagegründe entschieden,
als er die Entscheidung 1988 für nichtig erklärt hat (vorstehend, Randnr. 81).
Daher hat die Kommission mit dem Erlaß der zweiten Entscheidung nur den vom
Gerichtshof beanstandeten Formfehler behoben. Die Kommission hat somit nicht
zweimal Ermittlungen wegen ein und desselben Sachverhalts gegen die Klägerinnen
durchgeführt.
- 99.
- Der Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
b) Zu den auf die Länge des verstrichenen Zeitraums gestützten Klagegründen
- 100.
- Einige Klägerinnen führen zur Stützung ihres Antrags auf Nichtigerklärung der
Entscheidung mehrere Klagegründe an, die die Länge des verstrichenen Zeitraums
betreffen. Erstens habe die Kommission den Grundsatz der Sachbehandlung
innerhalb angemessener Frist verletzt. Zweitens habe sie rechtsmißbräuchlich
gehandelt. Schließlich habe sie die Grundsätze eines fairen Verfahrens verletzt. Da
die Kommission hierauf eine für alle Verfahren gemeinsame Antwort gegeben hat,
werden ihre Argumente gegen diese Klagegründe insgesamt nach denen der
Klägerinnen wiedergegeben.
Vorbringen der Parteien
Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Sachbehandlung
innerhalb angemessener Frist
- 101.
- LVM, DSM und ICI machen geltend, die von einem Verfahren nach Artikel 85
EG-Vertrag betroffenen Unternehmen hätten Anspruch darauf, daß die
Kommission innerhalb einer angemessenen Frist entscheide. Diese Garantie einer
Sachbehandlung innerhalb angemessener Frist sei im Gemeinschaftsrecht verankert
(vgl. u. a. Urteil des Gerichtshofes vom 24. November 1987 in der Rechtssache
223/85, RSV/Kommission, Slg. 1987, 4617, Randnr. 14) und gelte unabhängig von
den Vorschriften über die Verjährung in der Verordnung (EWG) Nr. 2988/74 des
Rates vom 26. November 1974 über die Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung
im Verkehrs- und Wettbewerbsrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
(ABl. L 319, S. 1).
- 102.
- Zudem ergebe sich aus Artikel 6 Absatz 1 MRK, daß über die Stichhaltigkeit einer
strafrechtlichen Anklage innerhalb einer angemessenen Frist zu entscheiden sei,
damit die Betroffenen über ihre Rechtslage nicht zu lange im Ungewissen blieben.
- 103.
- Der Lauf der Frist beginnt nach Ansicht von LVM und DSM mit jeder
Ermittlungshandlung im Sinne des Artikels 2 der Verordnung 2988/74
(Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil Eckle vom 15. Juli 1982,
Serie A, Nr. 51, Randnr. 73, Urteil Foti u. a. vom 10. Dezember 1982, Serie A, Nr.
56, Randnr. 52, und Urteil Corigliano vom 10. Dezember 1982, Serie A, Nr. 57,
Randnr. 34). Die Frist ende mit dem Erlaß der ursprünglichen Entscheidung.
- 104.
- Im vorliegenden Fall habe die Frist im Dezember 1983 begonnen, als die
Kommission die Nachprüfungen durchgeführt habe, und im Dezember 1988
geendet. In diesen fünf Jahren sei die Kommission von April 1984 bis Januar 1987
untätig geblieben.
- 105.
- Im Rahmen der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte dürfe
eine angemessene Frist zwei Jahre nicht überschreiten, es sei denn, daß besondere
Umstände vorlägen (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil König
vom 28. Juni 1978, Serie A, Nr. 27, Randnrn. 98 f.). Daß der Sachverhalt unter das
Wettbewerbsrecht falle, sei kein besonderer Umstand.
- 106.
- Die Nichteinhaltung einer angemessenen Frist für den Erlaß der Entscheidung 1988
und erst recht für den der zweiten Entscheidung habe zudem ein berechtigtes
Vertrauen bei den Unternehmen begründet, daß die Untersuchungen nicht
weitergeführt würden.
- 107.
- ICI trägt vor, im vorliegenden Fall sei zweimal eine Verzögerung eingetreten. Im
Ermittlungszeitraum sei die Kommission vom 5. Juni 1984, dem Zeitpunkt, zu dem
die Klägerin auf eine Entscheidung nach Artikel 11 Absatz 5 der Verordnung Nr.
17 geantwortet habe, bis zum Januar 1987, dem Beginn der Nachforschungen in
den Räumlichkeiten anderer PVC-Hersteller, untätig geblieben. Diese Frist sei
unangemessen (Urteile RSV/Kommission, und Urteile des Gerichts vom 2. Mai
1995 in den Rechtssachen T-163/94 und T-165/94, NTN Corporation und Koyo
Seiko/Rat, Slg. 1995, II-1381, und vom 28. September 1995 in der Rechtssache
T-95/94, Sytraval und Brink's France/Kommission, Slg. 1995, II-2651).
- 108.
- Die durch die Rechtsstreitigkeiten verursachte Verzögerung von fast fünf Jahren
sei der Kommission wegen der in ihrem Fall festgestellten Verfahrensverstöße
zuzurechnen.
- 109.
- LVM, DSM und ICI kommen zu dem Ergebnis, daß die Kommission wegen
Überschreitung der angemessenen Frist nicht mehr zum Erlaß der Entscheidung
1988 und erst recht nicht der zweiten Entscheidung befugt gewesen sei. Die zweite
Entscheidung sei daher wegen mangelnder Befugnis der Kommission für nichtig zu
erklären (Urteile des Gerichtshofes vom 12. November 1987 in der Rechtssache
344/85, Ferriere San Carlo/Kommission, Slg. 1987, 4435, und RSV/Kommission).
Zum Klagegrund des Rechtsmißbrauchs
- 110.
- Wacker und Hoechst machen geltend, daß, losgelöst von der Beurteilung der
Verjährungsfrage, der lange Zeitraum zwischen 1983 und 1987, in dem die
Kommission untätig geblieben sei, und der Zeitraum zwischen dem Beginn der
angeblichen Zuwiderhandlung und dem Zeitpunkt des Erlasses der zweiten
Entscheidung, nämlich vierzehn Jahre, einen Rechtsmißbrauch belegten. Diese
Verzögerung sei allein von der Kommission zu vertreten.
Zum Klagegrund des Verstoßes gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens
- 111.
- Hüls und Enichem werfen der Kommission vor, die Grundsätze eines fairen
Verfahren verletzt zu haben.
- 112.
- Nach Ansicht von Enichem ist das Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden,
da zwischen den ersten Ermittlungen und dem Erlaß der Entscheidung ein sehr
langer Zeitraum verstrichen sei. Die Parteien seien dadurch in eine äußerst
schwierige und unangenehme Lage versetzt worden, da sie den Sachverhalt nicht
genau hätten rekonstruieren können.
- 113.
- Nach Ansicht von Hüls ist das Verhalten der Kommission mit den Grundsätzen
eines fairen Verfahrens nicht vereinbar.
- 114.
- Erstens habe die Kommission, obwohl sie von dem angeblichen Verstoß spätestens
seit 1983 Kenntnis gehabt habe, erst im September 1987 Nachprüfungen in den
Räumlichkeiten von Hüls durchgeführt. Diese Verzögerung der
Verfahrenseinleitung habe Hüls in ihren Verteidigungsmöglichkeiten eingeschränkt
und tatsächlich zu einer Beweislastumkehr zu ihren Lasten geführt. Dies gelte erst
recht für das Jahr 1994. Im übrigen hätte die insgesamt eingetretene Verzögerung
sich auf die Bemessung der Geldbuße auswirken müssen (Urteil des Gerichtshofes
vom 6. März 1974 in den Rechtssachen 6/73 und 7/73, Istituto Chemioterapico und
Commercial Solvents/Kommission, Slg. 1974, 223).
- 115.
- Zweitens beruft sich die Klägerin darauf, daß der Grundsatz der Verwirkung
Bestandteil des geltenden Gemeinschaftsrechts sei (Urteile des Gerichtshofes vom
14. Juli 1972 in der Rechtssache 48/69, ICI/Kommission, Slg. 1972, 619, Randnr. 49,
vom 18. Oktober 1989 in der Rechtssache 374/87, Orkem/Kommission, Slg. 1989,
3283, Randnr. 30; vgl. auch Artikel 6 MRK und Entscheidung der Europäischen
Kommission für Menschenrechte vom 9. Februar 1990 im Fall Melchers &
Co./Bundesrepublik Deutschland, Nr. 13258/87). Die Verordnung Nr. 2988/74
könne das Problem nicht erschöpfend geregelt haben; bei einem Konflikt gehe der
Grundsatz der Verwirkung als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts
zwangsläufig der Verordnung vor. Aufgrund dieser Verwirkung sei es unzulässig,
1994 eine Entscheidung über einen fast fünfzehn Jahre zurückliegenden Sachverhalt
zu erlassen.
- 116.
- Die Kommission bestreitet nicht, daß es im Gemeinschaftsrecht ein auf die
Erfordernisse der Rechtssicherheit und einer geordneten Verwaltung gegründetes
allgemeines Prinzip gebe, nach dem eine Verwaltungsbehörde ihre Befugnisse
innerhalb bestimmter zeitlicher Grenzen ausüben müsse (Urteil des Gerichtshofes
vom 15. Juli 1970 in der Rechtssache 45/69, Boehringer/Kommission, Slg. 1970, 769,
Randnr. 6).
- 117.
- Die Verordnung Nr. 2988/74 entspreche jedoch gerade diesem Ziel der
Rechtssicherheit, da sie die Kommission und die Wirtschaftsteilnehmer in die Lage
versetze, im voraus zu wissen, innerhalb welcher zeitlicher Grenzen die Kommission
handeln könne, um eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln der
Gemeinschaft festzustellen.
- 118.
- Diese Verordnung schließe jedoch eine Bezugnahme auf andere rechtliche
Kriterien wie „übermäßige Verzögerung“, unangemessene Frist, Rechtsmißbrauch,
faires Verfahren oder Verwirkung aus. Im übrigen würden solche Kriterien nur
Verwirrung und Rechtsunsicherheit stiften, da sie nicht unter den im voraus
schriftlich festgelegten Regeln aufgeführt seien (Urteil vom 15. Juli 1970,
Boehringer/Kommission, Randnr. 47) und auf einem unscharfen und subjektiven
Begriff beruhten.
- 119.
- Zu den Argumenten von LVM und DSM trägt die Kommission vor, daß aufgrund
dieser Verordnung die Anwendung des Artikels 6 MRK für die rechtliche Lage der
Unternehmen ebenfalls keine Rolle spiele. Auch wenn die Verweisung auf die
MRK erheblich wäre, sei die von den Klägerinnen angeführte Rechtsprechung dies
jedenfalls nicht, da es dort um den Begriff der angemessenen Frist in
Strafverfahren gegen natürliche Personen gehe, nicht aber in Fällen, in denen
Wirtschaftsrecht auf juristische Personen angewandt werde. Für die komplexen
tatsächlichen Sachverhalte im letztgenannten Bereich sei die Frist von zwei Jahren,
die von LVM und DSM angeführt werde, offensichtlich unzureichend, wie die
Dauer derartiger Verfahren vor dem Gericht oder dem Gerichtshof belegten.
Immer noch unter der Voraussetzung, daß der Verweis auf Artikel 6 MRK
erheblich sei, könne der Lauf der Frist erst mit der Mitteilung der
Beschwerdepunkte beginnen; die Untersuchungsmaßnahmen wie z. B. die
Nachforschungen und die Auskunftsverlangen dienten lediglich der Klärung des
Sachverhalts und stellten keine Beschuldigung dar. Im vorliegenden Fall sei die
Entscheidung 1988 einige Monate nach der Mitteilung der Beschwerdepunkte
ergangen. Der Kommission könne daher entgegen der Ansicht von LVM und DSM
keine Untätigkeit vorgeworfen werden, die ein berechtigtes Vertrauen hinsichtlich
des Ausgangs des Verwaltungsverfahrens begründet hätte.
Würdigung durch das Gericht
- 120.
- Nach ständiger Rechtsprechung gehören die Grundrechte zu den allgemeinen
Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gemeinschaftsrichter zu sichern hat (vgl.
insbesondere Gutachten 2/94 vom 28. März 1996, Slg. 1996, I-1759, Randnr. 33, und
Urteil des Gerichtshofes vom 29. Mai 1997 in der Rechtssache C-299/95, Kremzow,
Slg. 1997, I-2629, Randnr. 14). Dabei lassen sich der Gerichtshof und das Gericht
von den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie von den
Hinweisen leiten, die die völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der
Menschenrechte geben, an deren Abschluß die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder
denen sie beigetreten sind. Der Europäischen Konvention zum Schutze der
Menschenrechte kommt insoweit eine besondere Bedeutung zu (Urteile des
Gerichtshofes vom 15. Mai 1986 in der Rechtssache 222/84, Johnston, Slg. 1986,
1651, Randnr. 18, und Kremzow, Randnr. 14). Im übrigen achtet nach Artikel F
Absatz 2 des Vertrages über die Europäische Union die „Union ... die
Grundrechte, wie sie in der ... Europäischen Konvention zum Schutze der
Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den
gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine
Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben“.
- 121.
- Daher ist zu prüfen, ob unter Berücksichtigung dieser Erwägungen die Kommission
gegen den allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Einhaltung einer
angemessenen Frist für den Erlaß von Entscheidungen nach Abschluß der
Verwaltungsverfahren auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik verstoßen hat (Urteil
des Gerichts vom 22. Oktober 1997 in den Rechtssachen T-213/95 und T-18/96,
SCK und FNK/Kommission, Slg. 1997, II-1739, Randnr. 56).
- 122.
- Der Verstoß gegen diesen Grundsatz, wenn er denn bewiesen wäre, rechtfertigte
jedoch die Nichtigerklärung der Entscheidung nur, wenn damit auch die
Verteidigungsrechte der betroffenen Unternehmen verletzt worden wären. Wenn
nämlich nicht bewiesen ist, daß die übermäßig lange Verfahrensdauer die
Möglichkeit für die betroffenen Unternehmen, sich wirksam zu verteidigen,
beeinträchtigt hat, wirkt sich die Nichtbeachtung des Grundsatzes der
Sachbehandlung innerhalb angemessener Frist nicht auf die Rechtsgültigkeit des
Verwaltungsverfahrens aus und kann daher nur als Ursache eines Schadens
angesehen werden, der vor dem Gemeinschaftsrichter im Rahmen einer Klage nach
den Artikeln 178 und 215 Absatz 2 EG-Vertrag geltend gemacht werden kann.
- 123.
- Im vorliegenden Fall betrug die Gesamtdauer des Verwaltungsverfahrens vor der
Kommission etwa 62 Monate. Der Zeitraum, in dem der Gemeinschaftsrichter die
Rechtmäßigkeit der Entscheidung 1988 und das Urteil des Gerichts nachgeprüft
hat, kann bei der Bestimmung der Dauer des Verfahrens vor der Kommission nicht
berücksichtigt werden.
- 124.
- Für die Beurteilung der Angemessenheit des Verwaltungsverfahrens vor der
Kommission ist zwischen dem Verfahrensabschnitt, der durch die Nachprüfungen
im PVC-Sektor im November 1983 gemäß Artikel 14 der Verordnung Nr. 17
eingeleitet worden ist, und dem Abschnitt zu unterscheiden, der mit dem Eingang
der Mitteilung der Beschwerdepunkte bei den betroffenen Unternehmen begonnen
hat. Die Angemessenheit der Dauer dieser beiden Abschnitte ist getrennt zu
beurteilen.
- 125.
- Der erste Abschnitt von 52 Monaten reicht von den ersten Nachprüfungen im
November 1983 bis zur Einleitung des Verfahrens gemäß Artikel 3 der Verordnung
Nr. 17 durch die Kommission im März 1988 auf der Grundlage des Artikels 9
Absatz 3 dieser Verordnung.
- 126.
- Die Angemessenheit eines solchen Verfahrensabschnitts beurteilt sich nach den
besonderen Umständen des jeweiligen Einzelfalls und insbesondere nach dessen
Kontext, dem Verhalten der Beteiligten im Laufe des Verfahrens, der Bedeutung
der Angelegenheit für die verschiedenen betroffenen Unternehmen und der
Komplexität der Sache.
- 127.
- Unter Berücksichtigung des gesamten Aktenmaterials erscheint die Dauer dieses
Ermittlungsverfahrens in den einzelnen dem Gericht zur Prüfung vorgelegten
Rechtssachen angemessen.
- 128.
- In diesem Zusammenhang ist die Komplexität des von der Kommission
aufzuklärenden Sachverhalts hervorzuheben, die auf der Art der beanstandeten
Verhaltensweisen und auf ihrer Verbreitung auf dem relevanten geographischen
Markt beruht, der das gesamte Tätigkeitsgebiet der wichtigsten PVC-Hersteller
innerhalb des Gemeinsamen Marktes umfaßt.
- 129.
- Die Komplexität des aufzuklärenden Sachverhalts rührt auch von der Zahl und der
Unübersichtlichkeit der von der Kommission zusammengetragenen Schriftstücke
her. Die bei den Nachprüfungen in dem genannten Zeitraum in den
Räumlichkeiten mehrerer Hersteller petrochemischer Erzeugnisse aufgefundenen
Schriftstücke sowie die Antworten dieser Hersteller auf Fragen der Kommission
gemäß Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 ergaben eine besonders umfangreiche
Akte. Zudem mußte die Kommission bei den sehr zahlreichen im
Verwaltungsverfahren zusammengetragenen Schriftstücken solche, die zur PVC-Akte gehörten, und andere, die zu einer für den benachbarten Sektor LDPE
angelegten Akte gehörten, voneinander trennen. In dem zuletzt genannten Sektor
wurden ebenso wie bei anderen thermoplastischen Erzeugnissen in eben dieser Zeit
Ermittlungen und ein Verfahren zur Feststellung von Verstößen durchgeführt, die
Unternehmen vorgeworfen wurden, die auch Parteien des vorliegenden Verfahrens
sind. Die der Entscheidung zugrunde liegenden Akten enthielten nach einer ersten
Numerierung durch die Verwaltung eine Folge von Schriftstücken mit 1 072 Seiten
und nach einer anderen Numerierung mehr als 5 000 Seiten ohne die
kommissionsinternen Schriftstücke.
- 130.
- Schließlich ergab sich die Komplexität des aufzuklärenden Sachverhalts aus der
Schwierigkeit, die Beteiligung der Unternehmen an dem ihnen vorgeworfenen
Kartell und deren Zahl nachzuweisen. Dazu heißt es in der Entscheidung, daß
„[s]iebzehn Unternehmen ... während des ... erfaßten Zeitraums an dem Verstoß
beteiligt“ gewesen seien (Randnr. 2, zweiter Absatz, der Entscheidung) und daß die
endgültige Entscheidung an vierzehn Unternehmen gerichtet gewesen sei.
- 131.
- Der zweite Zeitraum reicht von der Mitteilung der Beschwerdepunkte bis zum
Erlaß der Entscheidung am 27. Juli 1994.
- 132.
- Ob die Dauer dieses Verfahrensabschnitts angemessen war, ist ebenfalls anhand
der vorstehend (Randnr. 126) genannten Kriterien, insbesondere der Bedeutung
der Angelegenheit für die betroffenen Unternehmen, zu beurteilen. Diesem
letztgenannten Kriterium kommt nämlich ein besonderes Gewicht für die
Beurteilung der Frage zu, ob die Dauer dieses Abschnitts in dem Verfahren zur
Feststellung von Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln angemessen
war. Zum einen setzt die Mitteilung der Beschwerdepunkte in einem Verfahren zur
Feststellung von Zuwiderhandlungen die Einleitung des Verfahrens nach Artikel
3 der Verordnung Nr. 17 voraus. Mit der Einleitung dieses Verfahrens bringt die
Kommission ihren Willen zum Ausdruck, zu einer Entscheidung zur Feststellung
einer Zuwiderhandlung zu gelangen (in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofes vom
6. Februar 1973 in der Rechtssache 48/72, Brasserie de Haecht, Slg. 1973, 77,
Randnr. 16). Zum anderen kann ein Unternehmen erst mit Eingang der Mitteilung
der Beschwerdepunkte von dem Gegenstand des gegen es eingeleiteten Verfahrens
und den ihm von der Kommission vorgeworfenen Verhaltensweisen Kenntnis
erlangen. Die Unternehmen haben daher ein besonderes Interesse daran, daß die
Kommission diesen zweiten Verfahrensabschnitt beschleunigt durchführt, ohne
dabei jedoch ihre Verteidigungsrechte zu verletzen.
- 133.
- Im vorliegenden Fall hat dieser zweite Verfahrensabschnitt vor der Kommission
zehn Monate gedauert. Ein solcher Zeitraum rechtfertigt nicht den Vorwurf
übermäßiger Länge. Die Beschwerdepunkte sind den betreffenden Unternehmen
Anfang April 1988 mitgeteilt worden. Diese haben dazu im Juni 1988 Stellung
genommen. Mit Ausnahme von Shell, die keinen entsprechenden Antrag gestellt
hatte, wurden die Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte vom 5. bis 8.
September 1988 und am 19. September 1988 angehört. Am 1. Dezember 1988 gab
der Beratende Ausschuß für Kartell- und Monopolfragen seine Stellungnahme zum
Entscheidungsvorschlag der Kommission ab, und 20 Tage später erließ diese die
ursprüngliche Entscheidung. Die zweite Entscheidung wurde 42 Tage nach der
Verkündung des Urteils vom 15. Juni 1994 erlassen.
- 134.
- Somit sind die ursprüngliche Entscheidung und nach deren Nichtigerklärung durch
den Gerichtshof auch die zweite Entscheidung in einer angemessenen Frist nach
der Mitteilung der Beschwerdepunkte ergangen.
- 135.
- Nach alledem hat die Kommission im Einklang mit dem Grundsatz der Wahrung
einer angemessenen Frist in dem dem Erlaß der Entscheidung vorangehenden
Verwaltungsverfahren gehandelt. Die Verteidigungsrechte der betroffenen
Unternehmen sind daher durch die Länge des verstrichenen Zeitraums nicht
verletzt worden.
- 136.
- Somit sind die Klagegründe, die sich auf die Länge des verstrichenen Zeitraums
stützen, zurückzuweisen.
c) Zu den Klagegründen, die sich auf einen Ermessensfehlgebrauch der
Kommission stützen
Vorbringen der Parteien
- 137.
- Enichem macht geltend, die Kommission habe dadurch, daß sie sich nach der
Nichtigerklärung der ursprünglichen Entscheidung durch den Gerichtshof zum
Erlaß einer neuen Entscheidung für verpflichtet gehalten habe, den Umfang ihrer
eigenen Befugnisse verkannt, deren Ausübung in dem einschlägigen Bereich allein
in ihrem Ermessen stehe (Urteil Transocean Marine Paint/Kommission, und Urteile
des Gerichtshofes vom 26. April 1988 in den Rechtssachen 97/86, 193/86, 99/86 und
215/86, Asteris u. a./Kommission, Slg. 1988, 2181, und vom 4. Februar 1992 in der
Rechtssache C-294/90, British Aerospace und Rover/Kommission, Slg. 1992, I-493).
Weder Artikel 176 EG-Vertrag noch die Verordnung Nr. 2988/74 könnten daher
die Rechtsgrundlage für eine Verpflichtung zum Neuerlaß der für nichtig erklärten
Entscheidung sein.
- 138.
- LVM und DSM tragen vor, daß die Ermittlung und Verfolgung von Verstößen
gegen die Wettbewerbsregeln zwar im Ermessen der Kommission stehe, daß diese
aber ihr Ermessen in den Grenzen des Gemeinschaftsrechts und insbesondere des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ausüben müsse. An diesem Grundsatz seien
sowohl das mit dem Erlaß des Rechtsakts verfolgte Ziel als auch die zur
Durchsetzung dieses Zieles eingesetzten Mittel zu messen.
- 139.
- Zunächst sei das mit dem Erlaß der Entscheidung verfolgte Ziel nicht, den
Wettbewerb im PVC-Sektor zu schützen, sondern, wie das Fehlen eines
Vorverfahrens zeige, dem Urteil vom 15. Juni 1994, mit dem die Praxis der
Kommission verurteilt worden sei, die Wirkung zu nehmen. Die Notwendigkeit und
die Zweckmäßigkeit des durch dieses Urteil nicht gebotenen Erlasses der
Entscheidung sei daher nicht bewiesen. Das tatsächlich verfolgte Ziel rechtfertige
nicht die Verhängung einer Geldbuße oder zumindest nicht einer so hohen
Geldbuße.
- 140.
- Sodann sei die Entscheidung, selbst wenn sie den Schutz des Wettbewerbs
bezweckt hätte, auch deshalb rechtswidrig, weil sie ohne ein vorheriges
Untersuchungsverfahren ein zur Erreichung dieses Ziels unverhältnismäßiges Mittel
darstelle.
- 141.
- Somit obliege es der Kommission, die Notwendigkeit und die Verhältnismäßigkeit
ihrer Maßnahme nachzuweisen. Im vorliegenden Fall habe die Entscheidung diese
Frage unter Verstoß gegen Artikel 190 EG-Vertrag nicht behandelt.
- 142.
- Nach Ansicht von Montedison ist die Entscheidung ermessensfehlerhaft, da ihr
Erlaß auf der Verfolgungswut und der Verbissenheit von Beamten der Kommission
beruhe.
- 143.
- Zu dem Vorwurf von Enichem vertritt die Kommission die Auffassung, daß sie im
Rahmen ihres Ermessens von einem Tätigwerden absehen könne (Urteil des
Gerichts vom 18. September 1992 in der Rechtssache T-24/90,
Automec/Kommission, Slg. 1992, II-2223). Ein Unternehmen könne ihr dagegen
nicht vorwerfen, von ihren Befugnissen Gebrauch gemacht zu haben (Urteil des
Gerichts vom 14. Juli 1994 in der Rechtssache T-77/92, Parker Pen/Kommission,
Slg. 1994, II-549, Randnrn. 64 und 65).
- 144.
- Im vorliegenden Fall wäre es nicht logisch gewesen, daß die Kommission, die ihr
Ermessen dahin gehend ausgeübt habe, daß sie die Entscheidung 1988 erlassen
habe, darauf verzichtet hätte, von ihren Befugnissen Gebrauch zu machen, obwohl
die im Urteil vom 15. Juni 1994 beanstandeten Fehler aus dem letzten Abschnitt
des Verfahrens zum Erlaß der Entscheidung stammten (Urteil Asteris
u. a./Kommission, Randnr. 28). Zudem sei die Verhängung einer Geldbuße schon
an sich ein Rechtfertigungsgrund für den Erlaß einer Entscheidung, selbst wenn die
Parteien die Zuwiderhandlung abgestellt hätten. Artikel 176 des Vertrages sei im
vorliegenden Fall nicht einschlägig.
- 145.
- Zu dem von LVM und DSM geltend gemachten Klagegrund trägt die Kommission
vor, sie habe mit dem Erlaß der Entscheidung ihr Bemühen gezeigt, die
Wettbewerbsregeln unter Beachtung des Urteils vom 15. Juni 1994 und der
Verordnung Nr. 2988/74 anzuwenden. Da die verhängten Geldbußen denen in der
Entscheidung 1988 entsprächen, könne ihr nicht vorgeworfen werden, den
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt zu haben.
- 146.
- Zur Begründung der Entscheidung trägt die Kommission vor, daß sie angesichts der
ihr nach Artikel 155 EG-Vertrag obliegenden Aufgabe nicht verpflichtet sei, die
Zweckmäßigkeit ihrer Maßnahme zu rechtfertigen.
- 147.
- Schließlich habe Montedison keine objektiven, genauen und schlüssigen Indizien
zum Nachweis eines Ermessensmißbrauchs vorgetragen (Urteile des Gerichts in der
Rechtssache Automec/Kommission, Randnr. 105, und vom 19. Mai 1994 in der
Rechtssache T-465/93, Consorzio gruppo di azione locale „Murgia
Messapica“/Kommission, Slg. 1994, II-361, Randnr. 66).
Würdigung durch das Gericht
- 148.
- Wie weit die Verpflichtungen der Kommission im Wettbewerbsrecht reichen, ist
anhand des Artikels 89 Absatz 1 EG-Vertrag zu prüfen, der auf diesem Gebiet
besonderer Ausdruck des allgemeinen Überwachungsauftrags ist, der der
Kommission in Artikel 155 EG-Vertrag erteilt worden ist.
- 149.
- Der der Kommission im Wettbewerbsrecht erteilte Überwachungsauftrag umfaßt
die Aufgabe, einzelne Zuwiderhandlungen zu ermitteln und zu ahnden, beinhaltet
aber auch die Pflicht, eine allgemeine Politik mit dem Ziel zu verfolgen, die im
Vertrag niedergelegten Grundsätze im Wettbewerbsrecht anzuwenden und das
Verhalten der Unternehmen in diesem Sinne zu lenken (Urteil des Gerichtshofes
vom 7. Juni 1983 in den Rechtssachen 100/80, 101/80, 102/80 und 103/80, Musique
Diffusion française u. a./Kommission, Slg. 1983, 1825, Randnr. 105).
- 150.
- Artikel 85 EG-Vertrag ist zudem ein Ausfluß des allgemeinen, der Tätigkeit der
Gemeinschaft in Artikel 3 Buchstabe g gesetzten Zieles, ein System zu errichten,
das den Wettbewerb innerhalb des Gemeinsamen Marktes vor Verfälschungen
schützt (in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofes vom 13. Februar 1979 in der
Rechtssache 85/76, Hoffmann-La Roche/Kommission, Slg. 1979, 461, Randnr. 38).
- 151.
- Angesichts dieses allgemeinen Zieles und des der Kommission erteilten Auftrags
war diese zwar nach dem Urteil vom 15. Juni 1994, mit dem die Entscheidung 1988
für nichtig erklärt worden ist, nicht zum Erlaß der zweiten Entscheidung
verpflichtet, um die beanstandeten wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen
festzustellen, jedoch auch nicht daran gehindert, da sie bei der Ausübung des ihr
eingeräumten Ermessens weder die Rechtskraft verletzt (vorstehend, Randnrn. 77
bis 85) noch die betroffenen Unternehmen wegen Verhaltensweisen, zu denen das
Gericht oder der Gerichtshof bereits festgestellt hätte, daß die Kommission deren
Wettbewerbswidrigkeit nachgewiesen hat, verfolgt oder eine Sanktion gegen sie
verhängt hat (vorstehend, Randnrn. 95 bis 99).
- 152.
- Somit war es Sache der Kommission, nach Maßgabe des ihr durch den Vertrag
erteilten Auftrags zu beurteilen, ob die Entscheidung zu erlassen war.
- 153.
- Was das Vorbringen von LVM und DSM (vorstehend, Randnrn. 138 und 139) zur
Stützung des Klagegrundes eines Verstoßes gegen den
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz betrifft, so ist dies in dem Sinne zu verstehen, daß
die Kommission ermessensmißbräuchlich gehandelt habe, indem sie die zweite
Entscheidung erlassen habe, wie auch von Montedison ausdrücklich geltend
gemacht wird.
- 154.
- Eine Entscheidung ist nur dann ermessensmißbräuchlich, wenn aufgrund objektiver,
schlüssiger und übereinstimmender Indizien anzunehmen ist, daß sie ausschließlich
oder zumindest überwiegend zu anderen als den angegebenen Zwecken oder mit
dem Ziel erlassen worden ist, ein Verfahren zu umgehen, das der Vertrag speziell
vorsieht, um die konkrete Sachlage zu bewältigen (Urteile des Gerichtshofes vom
12. November 1996 in der Rechtssache C-84/94, Vereinigtes Königreich/Rat, Slg.
1996, I-5755, Randnr. 69, und vom 25. Juni 1997 in der Rechtssache C-285/94,
Italien/Kommission, Slg. 1997, I-3519, Randnr. 52).
- 155.
- Da LVM, DSM und Montedison entsprechende Indizien nicht aufgezeigt haben,
ist diese Rüge zurückzuweisen.
- 156.
- Das Vorbringen von LVM und DSM, die Entscheidung stelle ohne eine vorherige
Untersuchung ein zur Erreichung des angestrebten Zieles des Wettbewerbsschutzes
unverhältnismäßiges Mittel dar, betrifft eine Frage, die bei der Beurteilung der
Rechtmäßigkeit der Art und Weise des Erlasses der Entscheidung zu prüfen sein
wird (nachstehend, Randnr. 269).
- 157.
- Zu der Rüge, die Entscheidung sei hinsichtlich der Notwendigkeit und der
Verhältnismäßigkeit der Maßnahme der Kommission mangelhaft begründet, genügt
die Feststellung, daß der erste Bezugsvermerk der Entscheidung der Kommission
den „Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft“ anführt, was implizit,
aber zwangsläufig eine förmliche Bezugnahme auf den der Kommission erteilten
Auftrag darstellt.
- 158.
- Nach alledem sind die auf einen angeblichen Ermessensfehlgebrauch der
Kommission gestützten Klagegründe zurückzuweisen.
2. Zur Tragweite des Urteils vom 15. Juni 1994
a) Zu den Rügen, die sich auf die Wirkung „erga omnes“ des Urteils vom 15. Juni
1994 stützen
Vorbringen der Parteien
- 159.
- Nach Ansicht von Atochem, BASF und SAV wirkt die Nichtigerklärung der
Entscheidung 1988, die der Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. Juni 1994
ausgesprochen habe, erga omnes und schaffe daher eine für alle Beteiligten neue
Rechtslage (Urteil des Gerichtshofes vom 11. Februar 1955 in der Rechtssache
3/54, Assider/Hohe Behörde, Slg. 1955, 131), und zwar auch für diejenigen, die
nicht rechtzeitig Klage erhoben hätten.
- 160.
- SAV trägt hierzu vor, sie sei gegenüber Solvay und Norsk Hydro diskriminiert
worden, da die Entscheidung sich nicht an die Letztgenannten richte und die
Entscheidung 1988 diesen gegenüber aufgrund des Urteils vom 15. Juni 1994 keine
Wirkung mehr entfalte.
- 161.
- Für LVM und DSM hat die Kommission gegen den Grundsatz der
Nichtdiskriminierung verstoßen, da in Artikel 1 der Entscheidung eine
Zuwiderhandlung sämtlicher PVC-Hersteller festgestellt werde und diese damit in
eine vergleichbare Lage versetzt würden, während sie in den Artikeln 2 bis 4 der
Entscheidung, in denen die Geldbußen festgesetzt würden, ausdrücklich hiervon
ausgenommen würden.
- 162.
- Die Kommission könne sich zur Rechtfertigung nicht darauf berufen, daß die
Entscheidung 1988 gegenüber diesen beiden Unternehmen gültig geblieben sei, da
nach Artikel 174 EG-Vertrag die für nichtig erklärte Handlung als „inexistent“
anzusehen und die Parteien in die frühere Lage zurückzuversetzen seien (Urteil des
Gerichtshofes vom 31. März 1971 in der Rechtssache 22/70, Kommission/Rat, Slg.
1971, 263, Randnr. 60). Die Nichtigerklärung wirke auch erga omnes; Artikel 174
EG-Vertrag beschränke die Wirkung der Nichtigerklärung keineswegs auf die
Unternehmen, die gegen die Handlung rechtswirksam Klage erhoben hätten. Im
übrigen könne, wenn eine Entscheidung für alle Adressaten nach Artikel 189 EG-Vertrag verbindlich sei, die Nichtigkeit auch nur für alle gelten.
- 163.
- Würde man den Argumenten der Kommission folgen, so würde sich die gerügte
Diskriminierung auch bei der Vollstreckung zeigen; während die zweite
Entscheidung gegenüber ihren Adressaten vollstreckbar wäre, wäre die
Entscheidung 1988 dies nicht gegenüber Solvay und Norsk Hydro. Diese entgingen
jeder Sanktion, obwohl sie sich in einer Lage befänden, die der der anderen
Unternehmen vergleichbar sei.
- 164.
- Die Kommission trägt vor, daß die Entscheidung 1988 ein Bündel individueller
Entscheidungen sei. Da Solvay gegen diese Entscheidung keine und Norsk Hydro
nicht rechtzeitig Klage erhoben hätten, sei die Entscheidung 1988 ihnen gegenüber
bestandskräftig geworden (namentlich Urteile des Gerichtshofes vom 17. November
1965 in der Rechtssache 20/65, Collotti/Gerichtshof, Slg. 1965, 1112, vom 14.
Dezember 1965 in der Rechtssache 52/64, Pfloeschner/Kommission, Slg. 1965, 1288,
und vom 14. Juni 1988 in der Rechtssache 161/87, Muysers und
Tülp/Rechnungshof, Slg. 1988, 3037, Randnrn. 9 und 10).
- 165.
- Die Frage der Wirkung erga omnes von Nichtigkeitsurteilen, die die
Nichtigerklärung normativer Rechtsakte mit Auswirkungen auf die Rechtsordnung
im allgemeinen betreffe, stelle sich im vorliegenden Fall nicht; ein Urteil, das eine
individuelle Entscheidung für nichtig erkläre, könne nur eine relative Wirkung
haben.
- 166.
- Der von LVM und DSM geltend gemachte Klagegrund eines Verstoßes gegen das
Diskriminierungsverbot sei unzulässig, da die Stellung von Solvay und Norsk Hydro
die Interessen der beiden Klägerinnen nicht verletzen könne. Im übrigen sei der
Klagegrund nicht begründet, da für Solvay und Norsk Hydro weiterhin die
Entscheidung 1988 gelte.
Würdigung durch das Gericht
- 167.
- Die Entscheidung 1988 ist zwar nur als eine einzige Entscheidung abgefaßt und
veröffentlicht, sie stellt aber ein Bündel von Einzelfallentscheidungen dar, mit
denen festgestellt wird, welcher Verstoß gegen Artikel 85 EG-Vertrag den
jeweiligen Adressaten zur Last gelegt wird, und mit denen diesen eine Geldbuße
auferlegt wird. Die Kommission hätte nämlich, wenn sie es gewollt hätte, formal
auch mehrere getrennte Einzelfallentscheidungen erlassen können, mit denen sie
die Verstöße gegen Artikel 85 EG-Vertrag festgestellt hätte.
- 168.
- Nach Artikel 189 EG-Vertrag ist jede dieser Einzelfallentscheidungen, die Teil der
Entscheidung 1988 ist, in allen Teilen für diejenigen verbindlich, die sie bezeichnet.
Wenn ein Adressat gegen die Entscheidung 1988 keine Nichtigkeitsklage nach
Artikel 173 EG-Vertrag eingereicht hat, hat diese Entscheidung somit ihm
gegenüber Bestand und bleibt bindend (vgl. in diesem Sinne Urteil des
Gerichtshofes vom 9. März 1994 in der Rechtssache C-188/92, TWD Textilwerke
Deggendorf, Slg. 1994, I-833, Randnr. 13).
- 169.
- Wenn also ein Adressat Nichtigkeitsklage erhebt, ist der Gemeinschaftsrichter nur
mit den Teilen der Entscheidung befaßt, die diesen Adressaten betreffen. Die die
anderen Adressaten betreffenden Teile der Entscheidung, die nicht angefochten
worden sind, werden dagegen nicht Gegenstand des Rechtsstreits, über den der
Gemeinschaftsrichter zu befinden hat.
- 170.
- Der Gemeinschaftsrichter kann im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nur über den
Streitgegenstand entscheiden, der ihm von den Parteien unterbreitet wird. Die
Entscheidung 1988 konnte daher nur in bezug auf die Adressaten, die vor dem
Gemeinschaftsrichter mit ihrer Klage obsiegt haben, für nichtig erklärt werden.
- 171.
- Nummer 2 des Tenors des Urteils vom 15. Juni 1994 führt daher nur insoweit zur
Nichtigkeit der Entscheidung 1988, als diese die Parteien betrifft, die vor dem
Gerichtshof obsiegt haben.
- 172.
- Die Rechtsprechung, auf die sich die Klägerinnen zur Stützung ihrer These einer
Wirkung erga omnes berufen, ist im vorliegenden Fall nicht einschlägig, da das
angeführte Urteil Assider/Hohe Behörde die Wirkung eines Urteils betrifft, mit
dem eine im Rahmen des EGKS-Vertrags ergangene allgemeine Entscheidung und
nicht wie im vorliegenden Fall ein Bündel individueller Entscheidungen für nichtig
erklärt worden war.
- 173.
- Nach alledem hat die Kommission die Klägerinnen nicht diskriminiert, indem sie
Solvay und Norsk Hydro in die Artikel des verfügenden Teils der Entscheidung
nicht aufgenommen hat. Der Kommission kann eine Diskriminierung nämlich nur
vorgeworfen werden, wenn sie vergleichbare Sachverhalte in unterschiedlicher
Weise behandelt und dadurch bestimmte Betroffene gegenüber anderen
benachteiligt, ohne daß diese Ungleichbehandlung durch das Vorliegen objektiver
Unterschiede von einigem Gewicht gerechtfertigt wäre (Urteil des Gerichtshofes
vom 15. Januar 1985 in der Rechtssache 250/83, Finsider/Kommission, Slg. 1985,
131, Randnr. 8). Im vorliegenden Fall genügt die Feststellung, daß entgegen der
Behauptung der Klägerinnen deren Lage und die von Norsk Hydro und Solvay
nicht vergleichbar waren, da die Entscheidung 1988 nicht gegenüber den beiden
Letztgenannten für nichtig erklärt worden war. Zudem hat die Kommission auf eine
Frage des Gerichts erklärt, daß Norsk Hydro und Solvay die ihnen auferlegten
Geldbußen gezahlt hätten, so daß die Klägerinnen nicht behaupten können, sich
gegenüber diesen beiden Unternehmen in einer schlechteren Lage zu befinden.
- 174.
- Nach alledem kommt das Gericht zu dem Ergebnis, daß die Nichtigerklärung der
Entscheidung 1988 durch den Gerichtshof entgegen der Auffassung der
Klägerinnen keine Wirkung erga omnes hatte und der Klagegrund eines Verstoßes
gegen das Diskriminierungsverbot daher als unbegründet zurückzuweisen ist.
b) Zu den Rügen, die die Ungültigkeit der Verfahrenshandlungen vor dem Erlaß
der Entscheidung betreffen
Vorbringen der Parteien
- 175.
- Elf Atochem und BASF tragen vor, die Nichtigerklärung der Entscheidung 1988
durch den Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. Juni 1994 habe ex tunc gewirkt.
Daher hätte die von der Entscheidung 1988 verschiedene zweite Entscheidung
jedenfalls erst nach Abschluß eines neuen Verwaltungsverfahren ergehen dürfen.
- 176.
- Nach Ansicht von Wacker, Hoechst und Hüls hat die Nichtigerklärung der das
Verwaltungsverfahren abschließenden Entscheidung 1988 durch den Gerichtshof
ipso jure die Rechtswidrigkeit des gesamten kontradiktorischen
Verwaltungsverfahrens, d. h. des Verfahrens seit der Mitteilung der
Beschwerdepunkte, nach sich gezogen (Urteile des Gerichtshofes vom 15. Juli 1970
in der Rechtssache 41/69, ACF Chemiefarma/Kommission, Slg. 1970, 661, Randnrn.
48 bis 52, und vom 25. Oktober 1983 in der Rechtssache 107/82, AEG/Kommission,
Slg. 1983, 3151, Randnr. 30; Urteile des Gerichts vom 18. Dezember 1992 in den
Rechtssachen T-10/92, T-11/92, T-12/92 und T-15/92, Cimenteries CBR
u. a./Kommission, Slg. 1992, II-2667, Randnr. 47, und SIV u. a./Kommission,
Randnr. 83). Das streitige Verfahren vor der Kommission und die abschließende
Entscheidung bildeten ein einheitliches Verwaltungsverfahren. Infolgedessen sei die
zweite Entscheidung rechtswidrig, da die Kommission vor Erlaß dieser
Entscheidung kein neues Verwaltungsverfahren durchgeführt habe. Zur
Begründung dieser Ansicht tragen Wacker und Hoechst vor, daß die Handlungen
in einem Verwaltungsverfahren nach Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 nur
vorbereitende Handlungen seien, deren Rechtmäßigkeit nur zusammen mit der
verfahrensabschließenden Entscheidung überprüft werden könne (Urteil des
Gerichtshofes vom 11. November 1981 in der Rechtssache 60/81, IBM/Kommission,
Slg. 1981, 2639, Randnrn. 9 ff., und Beschluß des Gerichtshofes vom 18. Juni 1986in den Rechtssachen 142/84 und 156/84, Reynolds/Kommission, Slg. 1986, 1899,
Randnrn. 13 ff.).
- 177.
- Infolgedessen hätte die Kommission nach Ansicht von Wacker, Hoechst und Hüls
nach der Nichtigerklärung für den Erlaß einer neuen Entscheidung ein neues
streitiges Verwaltungsverfahren (Urteil Cimenteries CBR u. a./Kommission) unter
Beachtung sämtlicher wesentlichen hierfür vorgeschriebenen Formvorschriften
einleiten müssen.
- 178.
- Nach Ansicht von Wacker und Hoechst läßt sich zudem weder dem Tenor noch der
Begründung des Urteils vom 15. Juni 1994 entnehmen, daß der Gerichtshof das
Verwaltungsverfahren, das zum Erlaß der Entscheidung 1988 geführt habe,
entgegen diesen Grundsätzen bis zum Zeitpunkt des festgestellten Verstoßes habe
fortbestehen lassen wollen (Urteil des Gerichtshofes vom 6. März 1979 in der
Rechtssache 92/78, Simmenthal/Kommission, Slg. 1979, 777, Randnrn. 106 bis 109).
Schließlich habe die Kommission kein Recht zur Nachbesserung bei Verletzung
wesentlicher Formvorschriften (Urteil des Gerichtshofes vom 7. Februar 1979 in
den Rechtssachen 15/76 und 16/76, Frankreich/Kommission, Slg. 1979, 321,
Randnrn. 7 bis 11; Schlußanträge des Generalanwalts Warner in der Rechtssache
30/78, Distillers Company/Kommission, Urteil des Gerichtshofes vom 10. Juli 1980,
Slg. 1980, 2229, 2267, 2297 ff.).
- 179.
- Enichem trägt vor, die Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 habe die
Verfahrenshandlungen beseitigt, die dieser Entscheidung vorausgegangen und
dieser untergeordnet seien. Diesen Handlungen komme nämlich eine eigenständige
Bedeutung zu; sie könnten im übrigen für sich genommen nicht Gegenstand einer
Nichtigkeitsklage sein (Urteile IBM/Kommission und Cimenteries CBR
u. a./Kommission).
- 180.
- Nach Ansicht von Montedison hat ein zu einer Geldbuße verurteiltes Unternehmen
Anspruch auf ein Vorverfahren. Es treffe daher nicht zu, daß die dem fehlerhaften
Abschnitt vorausgegangenen Verfahrensabschnitte für den Erlaß einer neuen
Handlung rechtsgültig blieben, insbesondere wenn das Verwaltungsverfahren das
Recht auf eine streitige Erörterung und die Verteidigungsrechte der betroffenen
Partei schützen solle. Die verschiedenen Verfahrensabschnitte seien nämlich
notwendige Etappen, die die Kommission zurücklegen müsse, bevor sie eine
Geldbuße verhängen könne (Urteil IBM/Kommission, Randnr. 17).
- 181.
- Die Kommission macht geltend, daß das betroffene Organ einem Nichtigkeitsurteil
nur dann nachkomme, wenn es nicht nur den Tenor des Urteils beachte, sondern
auch die Gründe, die zu diesem geführt hätten und die dessen notwendige
Grundlage bildeten (Urteil Asteris u. a./Kommission, Randnr. 27). Im vorliegenden
Fall sei der einzige Grund für die Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 der
Verstoß gegen den die Ausfertigung von Rechtsakten betreffenden Artikel 12
Absatz 1 der seinerzeit geltenden Geschäftsordnung der Kommission (Urteil vom
15. Juni 1994, Randnrn. 76 bis 78). Infolgedessen sei das vorangegangene
Verwaltungsverfahren durch das Urteil des Gerichtshofes weder betroffen noch in
Frage gestellt worden.
- 182.
- Nach Artikel 176 EG-Vertrag sei zur Durchführung eines Urteils die Lage
wiederherzustellen, wie sie vor Eintritt der vom Gerichtshof beanstandeten
Umstände bestanden habe (Urteil des Gerichts vom 15. Juli 1993 in den
Rechtssachen T-17/90, T-28/91 und T-17/92, Camara Alloisio u. a./Kommission, Slg.
1993, II-841, Randnr. 79). Die Kommission habe daher unter Beachtung der
verletzten Formvorschriften eine neue Entscheidung erlassen können (Urteil des
Gerichtshofes vom 13. November 1990 in der Rechtssache C-331/88, Fedesa u. a.,
Slg. 1990, I-4023, Randnr. 34; Schlußanträge des Generalanwalts Mischo, Urteil
Fedesa u. a., Slg. 1990, 4042, Nr. 57, und Urteil Cimenteries CBR
u. a./Kommission, Randnr. 47).
Würdigung durch das Gericht
- 183.
- Nummer 2 des Tenors des Urteils vom 15. Juni 1994 lautet:
„Die Entscheidung 89/190/EWG der Kommission vom 21. Dezember 1988
betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 des EWG-Vertrags (IV/31.865, PVC)
wird für nichtig erklärt.“
- 184.
- Um die Tragweite des Urteils, mit der die Entscheidung 1988 für nichtig erklärt
worden ist, zu bestimmen, sind die Gründe dieses Urteils heranzuziehen. Diese
Gründe benennen nämlich zum einen die Bestimmung, die als rechtswidrig
angesehen wird, und lassen zum anderen die spezifischen Gründe der im Tenor
festgestellten Rechtswidrigkeit erkennen (Urteil Asteris u. a./Kommission, Randnr.
27, und Urteile des Gerichts vom 5. Juni 1992 in der Rechtssache T-26/90,
Finsider/Kommission, Slg. 1992, II-1789, Randnr. 53 und des Gerichtshofes vom 12.
November 1998 in der Rechtssache C-415/96, Spanien/Kommission, Slg. 1998,
I-6993, Randnr. 31).
- 185.
- Aus der Begründung des Urteils vom 15. Juni 1994 ergibt sich, daß die
Entscheidung 1988 für nichtig erklärt worden ist, weil sie nicht nach Artikel 12
Absatz 1 der seinerzeit geltenden Geschäftsordnung der Kommission festgestellt
worden ist.
- 186.
- Nach der Feststellung, daß die Kommission u. a. verpflichtet ist, geeignete
Maßnahmen zu treffen, damit der vollständige Wortlaut der vom Kollegium
angenommenen Rechtsakte eindeutig bestimmt werden kann (Randnr. 73), hat der
Gerichtshof auf Artikel 12 Absatz 1 der seinerzeit geltenden Geschäftsordnung
verwiesen, der lautet: „Die von der Kommission in einer Sitzung oder im
schriftlichen Verfahren gefaßten formellen Beschlüsse werden in der Sprache oder
in den Sprachen, in denen sie verbindlich sind, durch die Unterschriften des
Präsidenten und des Exekutivsekretärs festgestellt“ (Randnr. 74).
- 187.
- Weiter heißt es in dem Urteil: „Anders als die Kommission meint, ist die in diesem
Artikel 12 Absatz 1 vorgesehene Ausfertigung der Rechtsakte keine bloße
Formalie, die ihr Erinnerungsvermögen stützen soll; sie soll vielmehr die
Rechtssicherheit gewährleisten, indem sie den vom Kollegium angenommenen
Wortlaut in allen verbindlichen Sprachen feststellt. Damit ermöglicht sie es, im
Streitfall die vollkommene Übereinstimmung der zugestellten oder veröffentlichten
Texte mit dem angenommenen Text und damit zugleich mit dem Willen der sie
erlassenden Stelle zu prüfen“ (Randnr. 75). „Artikel 12 Absatz 1 der
Geschäftsordnung der Kommission, der die Ausfertigung der Rechtsakte vorsieht,
stellt somit eine wesentliche Formvorschrift im Sinne des Artikels 173 [des
Vertrages] dar, wegen deren Verletzung die Nichtigkeitsklage gegeben ist“
(Randnr. 76).
- 188.
- Nach dem Hinweis, daß die Kommission nicht bestritten hat, die streitige
Entscheidung nicht gemäß den Bestimmungen ihrer Geschäftsordnung festgestellt
zu haben, ist der Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangt, daß die Entscheidung 1988
„wegen Verletzung wesentlicher Formvorschriften für nichtig zu erklären [ist], ohne
daß auf die anderen von den Klägerinnen erhobenen Rügen eingegangen zu
werden braucht“ (Randnr. 78).
- 189.
- Aus den wiedergegebenen Randnummern folgt, daß der Gerichtshof die
Entscheidung 1988 wegen eines Verfahrensfehlers für nichtig erklärt hat, der
ausschließlich die Art und Weise betraf, in der diese Entscheidung schließlich von
der Kommission erlassen wurde. Da der festgestellte Verfahrensfehler im letzten
Abschnitt des Verfahrens zum Erlaß der Entscheidung 1988 aufgetreten ist, berührt
die Nichtigerklärung nicht die Gültigkeit der Maßnahmen, die zur Vorbereitung
dieser Entscheidung vor dem Abschnitt getroffen worden sind, in dem dieser Fehler
aufgetreten ist (in diesem Sinne Urteile Fedesa u. a., Randnr. 34, und
Spanien/Kommission, Randnr. 32).
- 190.
- Diese Feststellung wird auch nicht durch die Argumentation einiger Klägerinnen
entkräftet, wonach die Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 zwangsläufig die
Verfahrenshandlungen vor dieser Entscheidung beseitigt habe, da diese sich nicht
von der abschließenden Entscheidung trennen ließen. Daß rein vorbereitende
Maßnahmen nicht mit einer Nichtigkeitsklage angegriffen werden können (Urteil
IBM/Kommission, Randnr. 12), erklärt sich daraus, daß die Kommission ihren
Standpunkt noch nicht endgültig festgelegt hat. Daraus ergibt sich aber nicht, daß
die Gültigkeit dieser Maßnahmen in Frage gestellt wird, wenn die abschließende
Entscheidung aufgrund eines Verfahrensfehlers für nichtig erklärt wird, der wie im
vorliegenden Fall in einem auf diese Maßnahmen folgenden Abschnitt aufgetreten
ist.
- 191.
- Diese Feststellung wird auch nicht durch die Argumente entkräftet, die auf das
Urteil Cimenteries CBR u. a./Kommission gestützt werden. In den Verfahren, die
zu diesem Urteil geführt haben, hat das Gericht die Klagen, die von den
Klägerinnen namentlich gegen die Entscheidung der Kommission, ihnen keine
Einsicht in sämtliche zu ihrer Akte gehörenden Schriftstücke zu gewähren, erhoben
worden waren, mangels einer anfechtbaren Handlung als unzulässig abgewiesen.
Das Gericht hat dazu im Rahmen der rechtlichen Würdigung festgestellt: „Wenn
nun aber das Gericht bei einer Klage gegen eine das Verwaltungsverfahren
abschließende Entscheidung ein in diesem Verfahren mißachtetes Recht auf
vollständige Akteneinsicht bestätigen und daher die endgültige Entscheidung der
Kommission wegen Verletzung des Rechts auf Anhörung aufheben würde, so wäre
das gesamte Verfahren rechtswidrig gewesen“ (Randnr. 47).
- 192.
- Diese Verweisung auf „das gesamte Verfahren“ kann nicht losgelöst vom folgenden
Satz der Urteilsbegründung ausgelegt werden, wonach die Kommission dann das
Verfahren erneut beginnen und „den betroffenen Unternehmen und
Unternehmensvereinigungen Gelegenheit ... geben [könnte], ihren Standpunkt zu
den gegen sie erhobenen Beanstandungen im Lichte sämtlicher neuer
Gesichtspunkte, zu denen ihnen von Anfang an Zugang hätte gewährt werden
müssen, zu äußern“ (Randnr. 47). Der Wortlaut dieser Würdigung läßt erkennen,
daß das Gericht nicht der Auffassung gewesen ist, daß die Gültigkeit der Mitteilung
der Beschwerdepunkte in Frage gestellt werden könnte.
- 193.
- Nach alledem ist festzustellen, daß die Gültigkeit der Handlungen, die den Erlaß
der Entscheidung 1988 vorbereitet haben, durch die Nichtigerklärung dieser
Entscheidung durch den Gerichtshof nicht in Frage gestellt worden ist.
Infolgedessen sind die Rügen betreffend die Ungültigkeit dieser Handlungen als
unbegründet zurückzuweisen.
3. Zur Art und Weise des Erlasses der zweiten Entscheidung nach der
Nichtigerklärung der Entscheidung 1988
Zusammenfassung des Vorbringens der Klägerinnen
- 194.
- Die Klägerinnen tragen im wesentlichen vor, daß selbst dann, wenn der festgestellte
Fehler im letzten Verfahrensabschnitt vor Erlaß der Entscheidung 1988 aufgetreten
sei, die Kommission bei seiner Behebung vor Erlaß der zweiten Entscheidung
bestimmte Verfahrensgarantien hätte beachten müssen.
- 195.
- Es handele sich gegenüber der Entscheidung 1988 um eine neue Entscheidung, da
die erstere für nichtig erklärt worden sei. Allein aufgrund dieses Umstands hätte
vor Erlaß der zweiten Entscheidung ein neues Verwaltungsverfahren eingeleitet
werden müssen. Nach Ansicht einiger Klägerinnen hätte das Verwaltungsverfahren
vollständig wiederholt werden müssen, während andere der Meinung sind, daß
einige Abschnitte dieses Verfahrens hätten durchgeführt werden müssen. Ganz
allgemein habe die Kommission den Anspruch der Klägerinnen auf rechtliches
Gehör verletzt.
Zu den nach dem Sekundärrecht vorgeschriebenen Verfahrensabschnitten
- 196.
- LVM, Elf Atochem, BASF, Shell, DSM, SAV, Montedison, ICI und Hüls machen
geltend, daß sie sich nicht gemäß den Bestimmungen der Verordnungen Nrn. 17
und 99/63 hätten äußern können, die Ausdruck des grundlegenden
gemeinschaftsrechtlichen Prinzips des rechtlichen Gehörs seien, das auch gelte,
wenn besondere Rechtsvorschriften fehlten (Urteile des Gerichtshofes in den
Rechtssachen Transocean Marine Paint/Kommission, British Aerospace und
Rover/Kommission, Hoffmann-La Roche/Kommission, Randnr. 9, vom 29. Oktober
1980 in den Rechtssachen 209/78 bis 215/78 und 218/78, Van Landewyck
u. a./Kommission, Slg. 1980, 3125, Randnr. 81, Musique Diffusion française
u. a./Kommission, Randnrn. 9 und 10, und vom 9. November 1983 in der
Rechtssache 322/81, Michelin/Kommission, Slg. 1983, 3461, Randnr. 7; Urteile des
Gerichts vom 10. Juli 1990 in der Rechtssache T-64/89, Automec/Kommission, Slg.
1990, II-367, Randnr. 46, und vom 29. Juni 1995 in der Rechtssache T-36/91,
ICI/Kommission, Slg. 1995, II-1847, Randnr. 69). Nach Ansicht von SAV ist die
Entscheidung 1988 so anzusehen, als ob sie niemals bestanden hätte, so daß die
Kommission das gesamte Verwaltungsverfahren hätte wiederholen müssen, wozu
sie sich im übrigen im Vierten Bericht über die Wettbewerbspolitik (Nr. 49)
verpflichtet habe. Zudem beruhe, so SAV und ICI, die von der Kommission
vertretene Auffassung, daß nur wesentliche Änderungen des Inhalts der für nichtig
erklärten Entscheidung bei ihrer Berichtigung ein neues Verfahren rechtfertigen
könnten, auf der Rechtsprechung des Gerichtshofes zum institutionellen
Gleichgewicht, um das es im vorliegenden Fall nicht gehe (Urteil Fedesa u. a.).
- 197.
- ICI widerspricht dem Argument der Kommission, daß sie sich auf die Berichtigung
des vom Gerichtshof festgestellten Fehlers habe beschränken dürfen, ohne die
Parteien anzuhören, denn die Entscheidung 1988 und die zweite Entscheidung seienbezüglich der Beteiligten, der wirtschaftlichen Lage des Marktes und der
Entwicklung der Rechtsprechung in den Jahren vor Erlaß der zweiten Entscheidung
unter unterschiedlichen tatsächlichen und rechtlichen Bedingungen ergangen.
- 198.
- SAV und Montedison machen in diesem Zusammenhang geltend, daß der für
nichtig erklärte Rechtsakt in Ausübung eines Ermessens erlassen worden sei und
das Organ deshalb den wegen eines Formfehlers für nichtig erklärten Rechtsakt nur
unter Beachtung der erforderlichen Formvorschriften und der Rechte der
Verteidigung neu erlassen könne, selbst wenn eine besondere Vorschrift fehle
(Urteil Transocean Marine Paint/Kommission, Randnr. 16).
- 199.
- LVM, Elf Atochem, BASF, Shell, DSM, Wacker, Hoechst, SAV, ICI, Hüls und
Enichem machen im einzelnen geltend, daß die Kommission gegen ihre
Verpflichtungen, die sie sich selbst im Hinblick auf die Aufgabe des
Anhörungsbeauftragten auferlegt habe, verstoßen habe, indem sie nicht vorher ein
Verwaltungsverfahren durchgeführt habe. Elf Atochem, Shell, SAV, ICI und
Enichem verweisen auf den Beschluß der Kommission vom 23. November 1990
über die Durchführung von Anhörungen im Verfahren zur Anwendung der Artikel
85 und 86 EWG-Vertrag sowie der Artikel 65 und 66 EGKS-Vertrag (Zwanzigster
Bericht über die Wettbewerbspolitik, S. 360). Nach Ansicht von BASF und Hüls hat
die Kommission gegen die Artikel 5, 6 und 7 des Beschlusses der Kommission vom
8. September 1982 über das Mandat des Anhörungsbeauftragten (Dreizehnter
Bericht über die Wettbewerbspolitik, S. 284) verstoßen.
- 200.
- ICI trägt vor, die Entscheidung wäre wesentlich anders ausgefallen, wenn der
Anhörungsbeauftragte beteiligt worden wäre, da ICI bei dieser Gelegenheit
namentlich die Verjährung der Handlungen, die Verzögerung beim Erlaß der
Entscheidung, die Weigerung der Kommission, ihr Akteneinsicht zu gewähren, die
Frage der Selbstbezichtigung, die Tragweite des Artikels 20 der Verordnung Nr. 17
und den Begriff der abgestimmten Verhaltensweise hätte geltend machen können.
- 201.
- Nach Ansicht von Hüls war die Beteiligung des Anhörungsbeauftragten im Jahr
1988 nicht geeignet, diesem die Wahrnehmung seiner Aufgaben im Jahr 1994 zu
ermöglichen; tatsächlich müsse ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen der
Beteiligung des Anhörungsbeauftragten und dem Erlaß der entsprechenden
Entscheidung bestehen. Die Haltung der Kommission im vorliegenden Fall sei um
so befremdlicher, als die Rolle des Anhörungsbeauftragten erweitert worden sei
(Dreiundzwanzigster Bericht über die Wettbewerbspolitik, Nr. 203 ff; Beschluß
94/810/EGKS, EG der Kommission vom 12. Dezember 1994 über das Mandat des
Anhörungsbeauftragten in Wettbewerbsverfahren vor der Kommission, ABl. L 330,
S. 67).
- 202.
- Enichem trägt ergänzend vor, das von der Kommission angeführte Urteil des
Gerichts vom 10. März 1992 in der Rechtssache T-9/89 (Hüls/Kommission, Slg.
1992, II-499) lasse nicht den Schluß zu, daß die Anhörung des
Anhörungsbeauftragten nicht in jedem Verfahren ein verbindlich vorgeschriebener
Abschnitt sei. Wäre der Anhörungsbeauftragte gehört worden, hätte er sich zur
Zweckmäßigkeit des Erlasses einer neuen Entscheidung, zu den Nummern 55 bis
59 der Entscheidungsbegründung, die gegenüber der Begründung der
ursprünglichen Entscheidung neu gewesen seien (Urteil des Gerichtshofes vom 29.
Juni 1994 in der Rechtssache C-135/92, Fiskano/Kommission, Slg. 1994, I-2885,
Randnr. 40) und in die ausschließliche Zuständigkeit des Kollegiums der
Kommissionsmitglieder fielen, zur Höhe der Geldbuße, die in diskriminierender
Weise und unzutreffend nach dem Umsatz 1987 statt dem des Jahres 1993
festgesetzt worden sei, zur Frage der Verjährung, die entgegen der Ansicht der
Kommission ein materieller Klagegrund sei, zur Regelung der Akteneinsicht, zur
Wirkung erga omnes des Urteils des Gerichtshofes, zur Anwendung des
Grundsatzes der Rechtskraft, nach dem die Kommission zum Erlaß der zweiten
Entscheidung, die den gleichen Sachverhalt betroffen habe, nicht befugt gewesen
sei und mit deren Erlaß gegen den Grundsatz ne bis in idem verstoßen habe, sowie
zur Entwicklung des PVC-Marktes, von dem sich die Klägerin 1986 zurückgezogen
habe, indem sie ihre Geschäftstätigkeiten auf ein Unternehmen übertragen habe,
das sie zu 50 % gemeinsam mit ICI gegründet habe und an dem sie nur noch eine
Minderheitsbeteiligung halte, äußern können. Die zweite Entscheidung hätte
dadurch im Kern berührt werden können. Aufgrund der von der Kommission
getroffenen Entscheidung habe die Klägerin sich gezwungen gesehen, Klage zu
erheben, um eine solche Stellungnahme abgeben zu können.
- 203.
- LVM, Elf Atochem, BASF, DSM, Wacker, Hoechst, SAV, ICI, Hüls und Enichem
sind der Ansicht, daß die Kommission gegen ihre Verpflichtung zur Anhörung des
Beratenden Ausschusses für Kartell- und Monopolfragen (nachstehend: Beratender
Ausschuß) vor Erlaß der Entscheidung verstoßen habe; die Anhörung sei in Artikel
10 Absatz 3 der Verordnung Nr. 17 vorgeschrieben. Der Beratende Ausschuß
müsse nämlich vor Erlaß jeder Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen
die Wettbewerbsregeln gemäß Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17
festgestellt werde, und vor jeder Entscheidung über die Verhängung einer
Geldbuße gemäß Artikel 15 Absatz 3 dieser Verordnung beteiligt werden. Da die
zweite Entscheidung gegenüber der ursprünglichen neu gewesen sei, sei die
Anhörung des Beratenden Ausschusses, die 1988 stattgefunden habe, entweder
unwirksam oder unzureichend. Die zweite Entscheidung müsse daher wegen
Verletzung wesentlicher Formvorschriften für nichtig erklärt werden (Schlußanträge
des Generalanwalts Gand, ACF Chemiefarma/Kommission, Slg. 1970, 707, 709 bis
711, des Generalanwalts Warner, Distillers Company/Kommission, Slg. 1980, 2267,
2293, und des Generalanwalts Sir Gordon Slynn in den Rechtssachen 228/82 und
229/82, Ford/Kommission, Urteil des Gerichtshofes vom 28. Februar 1984, Slg.
1984, 1129, 1147, 1173; einige Klägerinnen verweisen auch auf die Rechtsprechung
zur Verletzung der Anhörungspflicht: Urteil des Gerichtshofes vom 21. Dezember
1954 in der Rechtssache 2/54, Italien/Hohe Behörde, Slg. 1954, 78, Urteil Roquette
Frères/Rat sowie Urteile vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C-65/90,
Parlament/Rat, Slg. 1992, I-4593, vom 5. Oktober 1993 in den Rechtssachen
C-13/92, C-14/92, C-15/92 und C-16/92, Driessen u. a., Slg. 1993, I-4751, und vom
1. Juni 1994 in der Rechtssache C-388/92, Parlament/Rat, Slg. 1994, I-2067). Das
von der Kommission angeführte Urteil des Gerichtshofes vom 15. Mai 1975 in der
Rechtssache 71/74 (Frubo/Kommission, Slg. 1975, 563) sei dagegen nicht
einschlägig, da sich die allgemeine Anhörung der Mitgliedstaaten im Rahmen der
Verordnung Nr. 26/62 des Rates vom 4. April 1962 zur Anwendung bestimmter
Wettbewerbsregeln auf die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse und auf den
Handel mit diesen Erzeugnissen (ABl. 1962, Nr. 30, S. 993) in einer Situation, in
der die Kommission keine Zweifel habe, nicht mit der Anhörung des Beratenden
Ausschusses vergleichen lasse, wie sie im einzelnen in der Verordnung Nr. 17
geregelt sei.
- 204.
- Die Anhörung des Beratenden Ausschusses sei um so mehr aus den beiden
folgenden Gründen geboten gewesen. Erstens sei, so tragen BASF, Wacker,
Hoechst, SAV, Hüls und Enichem vor, die Entscheidung die erste nach der vom
Gemeinschaftsrichter ausgesprochenen Nichtigerklärung einer gegenüber denselben
Unternehmen ergangenen früheren Entscheidung gewesen. Wie von SAV und ICI
vorgetragen wird, hätte der Beratende Ausschuß, der eng an der abgestimmten
Entwicklung der Wettbewerbspolitik zu beteiligen sei (Dreizehnter Bericht über die
Wettbewerbspolitik, Nr. 79), aufgrund der ihm übertragenen Aufgabe zur
Zweckmäßigkeit des Erlasses einer neuen Entscheidung gehört werden müssen,
wenn die frühere für nichtig erklärt worden sei, was offenkundig Präzedenzfälle
in der Rechtsprechung fehlten unter die Wettbewerbspolitik falle. Da der Erlaß
einer neuen Entscheidung nach der Nichtigerklärung der früheren in das Ermessen
der Kommission falle, wäre eine Anhörung des Beratenden Ausschusses über die
Zweckmäßigkeit eines solchen Vorgehens um so notwendiger gewesen. Im übrigen
sei die Kommission in der Vergangenheit in dieser Weise vorgegangen
(Entscheidung 75/649/EWG der Kommission vom 23. Oktober 1975 betreffend ein
Verfahren nach Artikel 85 des Vertrages (IV/223 Transocean Marine Paint
Association) (ABl. L 286, S. 24).
- 205.
- Zweitens, so BASF, Wacker, Hoechst, ICI, Hüls und Enichem, hätte der Beratende
Ausschuß auch wegen der textlichen Änderungen, die die Entscheidung gegenüber
der ursprünglichen Entscheidung aufweise, aber nach Ansicht einiger Klägerinnen
auch wegen der Länge des Verfahrens, der besonderen Umstände, die zur
Nichtigerklärung der ursprünglichen Entscheidung geführt hätten, der bei der
Sachverhaltsaufklärung vor dem Gericht festgestellten Fehler der Kommission, der
gegen diese Entscheidung erhobenen Klagen und der Marktentwicklung für dieses
Erzeugnis seit 1988 gehört werden müssen. ICI verweist in diesem Zusammenhang
darauf, daß die Änderung der Zusammensetzung des Beratenden Ausschusses
ebenfalls eine erneute Anhörung dieses Organs rechtfertige. In demselben
Zusammenhang macht BASF geltend, daß die Anhörung des Beratenden
Ausschusses den betroffenen Unternehmen auch ein faires Verfahren und den
Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleisten solle, wie sich aus den Artikeln 1,
7 Absatz 1 und 8 Absatz 2 der Verordnung Nr. 99/63 ergebe.
- 206.
- Nach Ansicht von BASF, Wacker, Hoechst und ICI hätte diese Anhörung die
Kommission dazu bringen können, eine andere Entscheidung, insbesondere
hinsichtlich der Geldbußen, zu erlassen oder sogar auf den Erlaß der zweiten
Entscheidung zu verzichten. Durch die Streichung zweier Sätze in Randnummer 37
der ursprünglichen Entscheidung über die schädlichen Wirkungen des Kartells hat
die Kommission nach Meinung von BASF einen Gesichtspunkt fallengelassen, der
zwangsläufig Einfluß auf die Entscheidung über die Verhängung einer Geldbuße
und deren Bemessung gehabt habe.
- 207.
- BASF und ICI sind darüber hinaus der Ansicht, wenn der Beratende Ausschuß vor
der Erneuerung einer Freistellung gehört werden müsse, müsse er auch gehört
werden, wenn die Kommission anstelle einer für nichtig erklärten Entscheidung
eine neue Entscheidung erlasse.
- 208.
- LVM und DSM machen im einzelnen geltend, daß die Kommission dadurch, daß
sie den Beratenden Ausschuß nicht vor Erlaß der Entscheidung angehört habe, den
Mitgliedstaaten die Möglichkeit genommen habe, bei der Festlegung der
gemeinschaftlichen Wettbewerbspolitik mitzuwirken. Die obligatorische Anhörung
des Beratenden Ausschusses fördere die Bemühungen um das institutionelle
Gleichgewicht auf diesem Gebiet. Der Verstoß gegen diese Verpflichtung müsse
daher zur Nichtigerklärung der zweiten Entscheidung wegen Verletzung
wesentlicher Formvorschriften und sogar wegen Unzuständigkeit führen, wenn diese
Verpflichtung dahin verstanden werde, daß sie die Zustimmung der zuständigen
Behörden der Mitgliedstaaten verlange.
- 209.
- Nach Ansicht von SAV kann die Rechtsprechung zum institutionellen
Gleichgewicht, die die Verpflichtung der Anhörung des Parlaments zu einem
Richtlinienvorschlag betreffe, der anschließend geändert worden sei (insbesondere
Urteil vom 16. Juli 1992, Parlament/Rat), nicht auf den Fall übertragen werden,
daß der Beratende Ausschuß zu einer den Adressaten beschwerenden neuen
Entscheidung nicht gehört worden sei.
- 210.
- Schließlich rügen SAV und ICI einen Verstoß der Kommission gegen Artikel 190
des Vertrages, da die Bezugsvermerke der Entscheidung sich nur auf die Anhörung
des Beratenden Ausschusses vor Erlaß der Entscheidung 1988 bezögen.
- 211.
- Auch SAV trägt im einzelnen vor, daß die Kommission gegen ihre Verpflichtung
zur Zusammenarbeit mit der EFTA-Überwachungsbehörde verstoßen habe.
Insbesondere die Artikel 53, 56 und 58 des Abkommens über den Europäischen
Wirtschaftsraum, das am 2. Mai 1992 in Porto unterzeichnet und am 1. Januar 1994
in Kraft getreten sei, sowie dessen Protokolle 21 und 23, verpflichteten die
Kommission zur Zusammenarbeit mit der EFTA-Überwachungsbehörde bei der
Festlegung der Wettbewerbspolitik und beim Erlaß individueller Entscheidungen
auf diesem Gebiet. Durch das Versäumnis, den Beratenden Ausschuß anzuhören,
habe die Kommission der EFTA-Überwachungsbehörde die Möglichkeit
genommen, ihren Standpunkt darzulegen. Die Verpflichtung zur Zusammenarbeit
mit dieser Behörde bestehe allein aufgrund der Tatsache des Erlasses einer
Entscheidung, unabhängig davon, ob diese Entscheidung mit einer früheren, für
nichtig erklärten Entscheidung identisch sei. Zudem hätte die
Überwachungsbehörde zur Zusammenarbeit mit der Kommission aufgerufen
werden müssen, da es sich um eine Sache handele, die die Wettbewerbspolitik in
Frage stelle.
Zu dem von den Klägerinnen geltend gemachten Anspruch auf rechtliches Gehör
- 212.
- Die Kommission habe in mehrfacher Hinsicht das Recht der Unternehmen auf
Mitteilung ihres Standpunkts verletzt.
- 213.
- Erstens tragen LVM und DSM vor, schon die Absicht, einen neuen beschwerenden
Rechtsakt zu erlassen, begründe die Verpflichtung, die Parteien hierzu zu hören
(Urteil des Gerichtshofes vom 12. Februar 1992 in den Rechtssachen C-48/90 und
C-66/90, Niederlande u. a./Kommission, Slg. 1992, I-565, Randnr. 44). ICI meint,
sie hätte jedenfalls zu der Frage gehört werden müssen, ob eine neue Entscheidung
in dem konkreten Fall wünschenswert oder ratsam sei.
- 214.
- Zweitens tragen SAV, Hüls und Enichem vor, die Vorentscheidung, vom normalen
Verfahren für den Erlaß einer Entscheidung abzuweichen, hätte eine Anhörung der
Parteien zu dieser Vorentscheidung gerechtfertigt.
- 215.
- Nach Ansicht von SAV hat die Kommission eine Wahl getroffen, als sie sich dafür
entschieden habe, nicht das gesamte Verwaltungsverfahren für den Erlaß der
zweiten Entscheidung erneut durchzuführen. Das Recht des Adressaten eines
Rechtsakts, über die Bedingungen informiert zu werden, unter denen die
Kommission eine Entscheidung erlassen wolle, erlege der Verwaltung auch ohne
eine besondere Regelung eine dem entsprechende Verpflichtung auf (Urteile des
Gerichtshofes vom 27. Juni 1991 in den Rechtssachen C-49/88, Al-Jubail Fertilizer
und Saudi Arabian Fertilizer/Rat, Slg. 1991, I-3187, Randnr. 16, Niederlande
u. a./Kommission). Die Kommission hätte daher die Unternehmen zu der
beabsichtigten Verfahrensentscheidung hören müssen.
- 216.
- Hüls trägt vor, sie hätte Gelegenheit erhalten müssen, zu der Rechtmäßigkeit des
von der Kommission nach dem Urteil vom 15. Juni 1994 beabsichtigten Verfahrens,
insbesondere zu der Frage, ob eine neue Entscheidung ohne erneute Anhörung
habe erlassen werden können, Stellung zu nehmen.
- 217.
- BASF, Wacker, Hoechst und Hüls weisen darauf hin, daß die Kommission, die
hinsichtlich des Vorgehens für den Erlaß der zweiten Entscheidung unsicher
gewesen sei, ihren Juristischen Dienst um ein Gutachten hierzu gebeten habe.
BASF, Hüls und Wacker beantragen, der Kommission aufzugeben, dieses
Gutachten zu den Akten zu reichen, oder, so der Antrag von BASF, wenn nur eine
mündliche Stellungnahme abgegeben worden sei, den Bediensteten zu hören, der
diese abgegeben habe.
- 218.
- Drittens tragen LVM, BASF, Shell, DSM, SAV, ICI und Enichem vor, der Erlaß
einer neuen Entscheidung beinhalte die Verpflichtung der Kommission, vor Erlaß
eines beschwerenden Rechtsakts die betroffenen Unternehmen zu hören (Urteile
des Gerichtshofes vom 10. Juli 1986 in der Rechtssache 234/84,
Belgien/Kommission, Slg. 1986, 2263, Randnr. 27, vom 10. Juli 1986 in der
Rechtssache 40/85, Belgien/Kommission, Slg. 1986, 2321, Randnr. 28, vom 11.
November 1987 in der Rechtssache 259/85, Frankreich/Kommission, Slg. 1987,
4393, Randnr. 12, vom 14. Februar 1990 in der Rechtssache C-301/87,
Frankreich/Kommission, Slg. 1990, I-307, Randnr. 29, und Niederlande
u. a./Kommission, Randnr. 44). Die Unternehmen hätten sich dann insbesondere
zu der Entwicklung der Rechtsprechung zum Begriff der abgestimmten
Verhaltensweise und der Art und Weise, den Nachweis für eine solche zu führen,
äußern können. Ebenso hätten sie zu der Entwicklung der Rechtsprechung zu den
Bedingungen der Einsicht in die Akten der Kommission, der Auslegung der
Verjährungsvorschriften, der Verzögerung, mit der die Kommission entschieden
habe, der Diskriminierung im Verhältnis zu Norsk Hydro und Solvay und dem
Grundsatz ne bis in idem Stellung nehmen können.
- 219.
- Wacker, Hoechst und ICI vertreten in diesem Zusammenhang die Ansicht, daß die
Kommission den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht allein auf die gegenüber
einem Unternehmen erhobenen Vorwürfe beschränken könne. Ein Unternehmen
müsse seinen Standpunkt darlegen können, wenn die Kommission neue, bisher
noch nicht mitgeteilte Gesichtspunkte tatsächlicher oder rechtlicher Art einbringe.
- 220.
- Nach Meinung von LVM und DSM entbindet auch die Möglichkeit für die
Unternehmen, die Streitigkeit dem Gericht zu unterbreiten, die Kommission nicht
davon, die Unternehmen vor Erlaß einer Entscheidung zu hören (Urteil vom 29.
Juni 1995 in der Rechtssache T-36/91, ICI/Kommission, Randnr. 108). Der Verstoß
gegen ein grundlegendes Recht könne auf diese Weise nicht geheilt werden, ohne
daß gegen das institutionelle Gleichgewicht verstoßen werde.
- 221.
- Nach Ansicht von SAV hätte das frühere Verfahren nur dann in dem Abschnitt
wiederaufgenommen werden dürfen, in dem der Fehler aufgetreten sei, wenn es
auf den neuesten Stand gebracht worden wäre, was bedeute, daß die Kommission
die zwischenzeitlich eingetretenen tatsächlichen und rechtlichen Änderungen hätte
berücksichtigen müssen (Urteile des Gerichtshofes vom 3. Oktober 1991 in der
Rechtssache C-261/89, Italien/Kommission, Slg. 1991, I-4437, British Aerospace und
Rover/Kommission, Schlußanträge des Generalanwalts Van Gerven in dieser
Rechtssache, Slg. 1992, I-504, Nrn. 10 und 12). SAV meint, daß sie hätte angehört
werden müssen, um sich auf die Entwicklung der Rechtsprechung (vorstehend,
Randnr. 218) berufen zu können, was zum besonderen Zweck des
Verwaltungsverfahrens gehöre. Im übrigen ändere die Tatsache allein, daß SAV
sich im Rahmen der vorliegenden Klage auf diese Rechtsprechung berufen könne,
nichts an der Verpflichtung der Kommission, sie hierzu vorher anzuhören, was zu
einer anderen Entscheidung hätte führen können.
- 222.
- Viertens vertreten LVM, Elf Atochem, BASF, Shell, DSM, Wacker, Hoechst, SAV,
ICI, Hüls und Enichem die Ansicht, daß die Unternehmen hätten angehört werden
müssen, weil die Entscheidung in wesentlichen Punkten textliche Abweichungen
gegenüber der ursprünglichen Entscheidung aufweise (Urteile des Gerichtshofes
vom 14. Juli 1972 in der Rechtssache 51/69, Bayer/Kommission, Slg. 1972, 745,
Randnr. 11, und in der Rechtssache 55/69, Cassella/Kommission, Slg. 1972, 887,
Randnr. 11). Dies gelte für die Beurteilung der Verjährungsvorschriften, die
Streichung zweier Sätze zu den Kartellwirkungen (Randnr. 37 der Entscheidung),
die Hinzufügung eines Teils, der das Verfahren seit 1988 betreffe, sowie die
Auslassung von Solvay und Norsk Hydro. Shell meint darüber hinaus, daß die
Aufrechterhaltung der Abstellungsverfügung (Artikel 2 der Entscheidung) ein Beleg
dafür sei, daß die Kommission über Informationen bezüglich des Zeitraums
19881994 verfügt haben müsse, zu denen Shell nicht gehört worden sei.
- 223.
- Fünftens trägt BASF vor, daß das frühere Verwaltungsverfahren mit der
Entscheidung 1988 abgeschlossen worden sei, so daß eine erneute Anhörung der
Unternehmen erforderlich gewesen wäre.
- 224.
- Sechstens tragen BASF, Wacker, Hoechst, ICI und Hüls vor, daß sie hätten
angehört werden müssen, weil ein Zeitraum von sechs Jahren zwischen der
Anhörung und dem Erlaß der zweiten Entscheidung vergangen sei. In diesem Sinne
macht auch Shell geltend, daß der Zeitraum zwischen der angeblichen
Zuwiderhandlung und dem Erlaß der Entscheidung übermäßig lang gewesen sei;
es stelle sich somit die Frage, ob das Verfahren nicht unbillig sei und sich
ungerecht zum Nachteil der Klägerin auswirke. BASF, Wacker, Hoechst und Hüls
machen geltend, das Verfahren zur Feststellung einer Zuwiderhandlung, das zu
einer Festsetzung von Geldbußen führe, habe eine abschreckende Funktion (Urteil
Musique Diffusion française u. a./Kommission, Randnr. 106) und einen quasi-strafrechtlichen Charakter. Daher müßten gleiche Garantien wie in einem
Strafverfahren gelten. Unter diesen Garantien sei insbesondere das Erfordernis
eines angemessenen zeitlichen Zusammenhangs zwischen Anhörung und
Entscheidung zu nennen (Urteil des Gerichts vom 7. Juli 1994 in der Rechtssache
T-43/92, Dunlop Slazenger/Kommission, Slg. 1994, II-441, Randnr. 167). Der
Zeitraum von sechs Jahren, der im vorliegenden Fall zwischen diesen beiden
Zeitpunkten verstrichen sei und nicht den Unternehmen angelastet werden könne,
da die Entscheidung 1988 mit schweren Mängeln behaftet gewesen sei, könne nicht
als angemessen angesehen werden. Angesichts der Veränderungen des PVC-Marktes, der Lage von BASF und der wesentlichen Änderungen am Text der
Entscheidung wäre für den Erlaß der Entscheidung eine erneute Anhörung der
Unternehmen unter Berücksichtigung sämtlicher zum Zeitpunkt ihres Erlasses
bestehender tatsächlicher und rechtlicher Umstände erforderlich gewesen.
- 225.
- ICI macht schließlich geltend, sie sei nicht in der Lage gewesen, ihre Interessen
wirksam zu verteidigen, da zwischen ihrer schriftlichen und mündlichen
Stellungnahme und dem Erlaß der Entscheidung sechs Jahre verstrichen seien; das
Recht, seinen Standpunkt gebührend darzulegen, setze nämlich voraus, in dem
rechtlichen und tatsächlichen Kontext gehört zu werden, wie er unmittelbar vor
Erlaß einer Entscheidung bestehe.
Vorbringen der Kommission
- 226.
- Zu dem Vorbringen der Klägerinnen führt die Kommission aus, daß die
Entscheidung 1988 durch das Urteil des Gerichtshofes vom 15. Juni 1994 gegenüber
den Klägerinnen für nichtig erklärt worden sei, weil diese Entscheidung unter
Verstoß gegen Artikel 12 Absatz 1 der seinerzeit geltenden Geschäftsordnung der
Kommission nicht festgestellt worden sei (Urteil vom 15. Juni 1994, Randnrn. 76
bis 78).
- 227.
- Daher sei die Gültigkeit des Verfahrens, das bis zu dem Abschnitt durchgeführt
worden sei, in dem der Fehler aufgetreten sei, nicht in Frage gestellt. Somit sei die
Kommission berechtigt gewesen, dem Urteil des Gerichtshofes in der Weise
nachzukommen, daß sie sich auf den Erlaß einer ordnungsgemäß festgestellten
Entscheidung beschränkt habe, da zum einen nach der Nichtigerklärung der
Entscheidung keine neue Vorschrift über das Verfahren nach Artikel 85 EG-Vertrag erlassen worden sei und es zum anderen keine neuen Tatsachen gebe, weil
die zur Last gelegten Handlungen lange zurücklägen. Dies entspreche im übrigen
dem besonderen Zweck des vorherigen Verwaltungsverfahrens (Urteil des
Gerichtshofes vom 17. Januar 1984 in den Rechtssachen 43/82 und 63/82, VBVB
und VBBB/Kommission, Slg. 1984, 19, Randnr. 52). Jede andere Lösung wäre ein
übertriebener Formalismus (Urteil Frubo/Kommission, Randnr. 11).
- 228.
- Die textlichen Unterschiede zwischen der Entscheidung 1988 und der zweiten
Entscheidung seien nicht wesentlich (Urteile des Gerichtshofes in der Rechtssache
ACF Chemiefarma/Kommission, Randnr. 178, vom 4. Februar 1982 in der
Rechtssache 817/79, Buyl u. a./Kommission, Slg. 1982, 245, Randnr. 23, Fedesa
u. a., vom 16. Juli 1992, Parlament/Rat, und vom 1. Juni 1994, Parlament/Rat), so
daß die von einigen Klägerinnen angeführte Rechtsprechung (namentlich die
Urteile Transocean Marine Paint/Kommission und British Aerospace und
Rover/Kommission) nicht einschlägig sei.
- 229.
- In Wirklichkeit seien die Änderungen am Text rein redaktioneller Art und
rechtfertigten nicht die Eröffnung einer Anhörung, da diese Zusätze keine
beschwerenden Punkte enthielten. Wenn zwei Sätze der Randnummer 37 der
deutschen Fassung der Entscheidung 1988 in derselben Randnummer der zweiten
Entscheidung nicht mehr auftauchten, so allein aus Gründen der Abstimmung mit
den anderen ebenfalls verbindlichen Sprachfassungen. Da die Anpassung des
Textes keine Beschwer enthalte, sei eine Anhörung dieser Klägerinnen hierzu nicht
notwendig gewesen.
- 230.
- Da der Fehler, der zur Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 geführt habe, klar
auf den letzten Abschnitt des Erlasses der Entscheidung begrenzt gewesen sei und
die zweite Entscheidung sich in nichts wesentlich von der früheren unterscheide,
seien sämtliche Verfahrensabschnitte vor Erlaß der Entscheidung 1988 rechtsgültig
geblieben.
- 231.
- Da es somit keine neuen Beschwerdepunkte gegen die Klägerinnen gegeben habe,
sei die Kommission nicht verpflichtet gewesen, eine neue Mitteilung der
Beschwerdepunkte an die Unternehmen zu richten oder diesen Gelegenheit zu
geben, sich mündlich oder schriftlich zu äußern, oder den Anhörungsbeauftragten
mit der Sache zu befassen, was sich von den ersten beiden Verfahrensabschnitten
nicht abtrennen lasse.
- 232.
- Die Kommission sei auch nicht verpflichtet gewesen, den Beratenden Ausschuß
anzuhören. Aufgrund der Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 sei die Anhörung
des Beratenden Ausschusses am 30. November 1988 als Anhörung vor Erlaß der
zweiten Entscheidung anzusehen, da es keine neuen Beschwerdepunkte gegeben
habe. Dem Sinn und Zweck des Artikels 10 Absatz 3 der Verordnung Nr. 17 sei
damit genügt. Der Hinweis auf das Äußerungsrecht des Beratenden Ausschusses
im Zusammenhang mit der Erneuerung einer Freistellungsentscheidung sei im
vorliegenden Fall nicht einschlägig. Eine solche Erneuerung betreffe nämlich einen
anderen zeitlichen Bezugsrahmen, so daß die Beurteilungen sich auf verschiedene
Parameter stützten.
- 233.
- In den Rechtssachen BASF und ICI trägt die Kommission vor, ihr Standpunkt
bezüglich des Beratenden Ausschusses schließe unwesentliche Textanpassungen wie
die bezüglich der Verjährung und der Streichung zweier Sätze in der deutschen
Fassung der Entscheidung nicht aus. Die Rechtssache Transocean Marine
Paint/Kommission, auf die sich SAV beziehe, zeige, daß eine neue Stellungnahme
nur erforderlich sei, wenn ein sachlicher Gesichtspunkt dem Beratenden Ausschuß
ursprünglich nicht unterbreitet worden sei. Dies sei hier nicht der Fall.
- 234.
- Im übrigen sei die Kommission nicht an die Stellungnahme des Beratenden
Ausschusses gebunden, wie sich aus Artikel 10 Absatz 6 Satz 2 der Verordnung Nr.
17 ergebe.
- 235.
- In der Rechtssache SAV sei der Beratende Ausschuß jedenfalls über die Antwort
dieses Unternehmens auf die Beschwerdepunkte unterrichtet worden (Urteile
Michelin/Kommission, Randnr. 7, und Hüls/Kommission, Randnr. 86); diese
Beschwerdepunkte hätten sich seit 1988 nicht geändert. Eine Anhörung des
Beratenden Ausschusses zur Zweckmäßigkeit des Erlasses einer neuen
Entscheidung sei nirgendwo vorgeschrieben.
- 236.
- Schließlich sei nach Artikel 1 der Verordnung Nr. 99/63 die Anhörung des
Beratenden Ausschusses erst nach Anhörung der Parteien vorgeschrieben. Da eine
erneute Anhörung der Parteien nicht erforderlich gewesen sei, sei aus den gleichen
Gründen eine erneute Anhörung des Beratenden Ausschusses nicht geboten
gewesen (Urteil des Gerichtshofes vom 21. September 1989 in den Rechtssachen
46/87 und 227/88, Hoechst/Kommission, Slg. 1989, 2859, Randnr. 54).
- 237.
- Im übrigen habe allein die Kommission zu beurteilen, ob der Erlaß einer
Entscheidung oder einer neuen Entscheidung zweckmäßig sei (Urteil Parker
Pen/Kommission, Randnr. 65), so daß sie die Parteien über eine beabsichtigte
Verfahrensentscheidung nicht anzuhören brauche. Im übrigen gebe es keine
eigenständige Entscheidung der Kommission, ein anderes als das gesetzlich
vorgesehene Verfahren zu wählen.
- 238.
- Schließlich sei die angebliche Weiterentwicklung der Rechtsprechung zum Begriff
der abgestimmten Verhaltensweise und zur Frage der Akteneinsicht nicht erheblich,
da es keinen Bezug zu den den Referenzzeitraum betreffenden Beschwerdepunkten
gebe. Diese angebliche Weiterentwicklung der Rechtsprechung habe somit nicht zu
einer Änderung der den Klägerinnen zur Last gelegten Beschwerdepunkte geführt.
Wenn diese Entwicklung von den Klägerinnen geltend gemacht werden könne, um
die Nichtigerklärung des vorherigen Verwaltungsverfahrens zu erreichen, könne sie
jedenfalls nicht dazu führen, daß die Entscheidung deshalb für nichtig erklärt
werde, weil das Verfahren nicht wiedereröffnet worden sei.
- 239.
- Im übrigen seien die Verfahrensfragen, die in der Rechtsprechung weiterentwickelt
worden seien, normalerweise nicht Teil der Mitteilung der Beschwerdepunkte und
seien von der Kommission in ihrer Entscheidung nicht geprüft worden (Urteile vom
14. Juli 1972, ICI/Kommission, und Michelin/Kommission). Die Gesichtspunkte zur
Akteneinsicht, die in der Entscheidung genannt würden, gehörten nicht zu der den
verfügenden Teil tragenden wesentlichen Begründung.
- 240.
- In der Rechtssache Elf Atochem liege das Argument der Klägerin, daß sie zur
Anwendung der Grundsätze ne bis in idem und der Verhältnismäßigkeit hätte
gehört werden müssen, neben der Sache, da es im vorliegenden Fall um keinen
dieser Grundsätze gehe. Zudem sei das Argument, das diese Klägerin aus der
Entwicklung des PVC-Marktes zwischen 1988 und 1994 herleite, unerheblich, da
diese Entwicklung, selbst wenn man sie als gegeben unterstellte, auf die Beurteilung
der Ereignisse zwischen 1980 und 1984 keinen Einfluß habe. In demselben Sinne
verweist die Kommission in der Rechtssache T-313/94 darauf, daß die Entscheidung
keinen Anhaltspunkt dafür enthalte, daß Vorgänge aus den Jahren 19881994 zur
Stützung des Artikels 2 des verfügenden Teils herangezogen worden wären.
- 241.
- In den Rechtssachen BASF, Wacker und Hoechst erwidert die Kommission auf den
die Länge des Zeitraums zwischen Anhörung und Entscheidung betreffenden
Klagegrund, daß das Verwaltungsverfahren in Wettbewerbssachen kein
Strafverfahren sei und der Grundsatz der Mündlichkeit ihm fremd sei. Aus diesem
Grunde sei nichts dagegen einzuwenden, daß die Mitglieder der Kommission der
Anhörung nicht persönlich beiwohnten und sich über deren Ergebnisse durch
Personen unterrichten ließen, die die Kommission gemäß Artikel 9 Absatz 1 der
Verordnung Nr. 99/63 hierzu beauftragt habe (Urteil vom 15. Juli 1970,
Boehringer/Kommission, Randnr. 23). Im übrigen sorge der Anhörungsbeauftragte
dafür, daß über die Anhörung eine Niederschrift angefertigt und von dem
betroffenen Unternehmen durchgelesen und genehmigt werde.
- 242.
- Schließlich begründe der bloße Zeitablauf zwischen der Zuwiderhandlung und der
zweiten Entscheidung, zwischen der Entscheidung 1988 und der zweiten
Entscheidung sowie zwischen der Anhörung und der zweiten Entscheidung kein
Recht auf Anhörung, da die Verfolgungsverjährung nach dem Willen des
Gesetzgebers der Gemeinschaft während des Gerichtsverfahrens ruhe (Artikel 3
der Verordnung Nr. 2988/74). Shell, die die Dauer zwischen der Zuwiderhandlung
und der zweiten Entscheidung rüge, habe insoweit keinen Schaden erlitten.
- 243.
- Im übrigen sei die Entscheidung nicht überraschend ergangen. Die Kommission
habe nämlich ihre Absichten am Tag der Verkündung des Urteils des Gerichtshofes
durch ein Pressekommuniqué bekanntgegegben.
- 244.
- Schließlich habe die Kommission nicht gegen Bestimmungen des EWR-Abkommens
verstoßen; dieses sei nämlich in zeitlicher Hinsicht nicht anwendbar, da die der
Entscheidung zugrunde liegenden Ereignisse vor dem Inkrafttreten dieses
Abkommens am 1. Januar 1994 stattgefunden hätten.
- 245.
- In den Rechtssachen BASF, Wacker und Hüls trägt die Kommission vor, daß es ein
Gutachten ihres Juristischen Dienstes zu der Frage, ob eine neue Entscheidung
gegenüber den PVC-Herstellern auf der Grundlage des vor Erlaß der Entscheidung
1988 durchgeführten Verwaltungsverfahrens möglich sei, nicht existiere. Selbst wenn
es ein solches gäbe, wäre es jedenfalls ein rein internes Schriftstück und Dritten
nicht zugänglich (Urteil Hüls/Kommission, Randnr. 86).
Würdigung durch das Gericht
- 246.
- Die Wahrung der Verteidigungsrechte stellt in allen Verfahren, die zu Sanktionen,
namentlich zu Geldbußen oder zu Zwangsgeldern führen können, einen
fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts dar, der auch in einem
Verwaltungsverfahren beachtet werden muß (Urteil Hoffmann-La
Roche/Kommission, Randnr. 9).
- 247.
- In Durchführung dieses Grundsatzes verpflichten Artikel 19 Absatz 1 der
Verordnung Nr. 17 und Artikel 4 der Verordnung Nr. 99/63 die Kommission, in
ihrer Endentscheidung nur die Beschwerdepunkte in Betracht zu ziehen, zu denen
die beteiligten Unternehmen und Unternehmensvereinigungen sich äußern konnten.
- 248.
- Das Recht der betroffenen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen, sich
im schriftlichen und im mündlichen Teil des Verwaltungsverfahrens zu den von der
Kommission in Betracht gezogenen Beschwerdepunkten zu äußern, ist ein
wesentlicher Bestandteil der Verteidigungsrechte (Urteil Hoechst/Kommission,
Randnr. 52). Die Anhörung ist nämlich erforderlich, damit „die Unternehmen und
Unternehmensvereinigungen nach Abschluß der Untersuchungen das Recht haben,
sich zu allen Beschwerdepunkten zu äußern, die die Kommission in ihren
Entscheidungen in Betracht ziehen will“ (dritte Begründungserwägung der
Verordnung Nr. 99/63).
- 249.
- Die Wahrung der Verteidigungsrechte verlangt daher, daß den betroffenen
Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen die Möglichkeit eingeräumt wird,
sich zu den Beschwerdepunkten zu äußern, die die Kommission gegenüber den
einzelnen Betroffenen in ihrer endgültigen Entscheidung, mit der sie einen Verstoß
gegen die Wettbewerbsregeln feststellt, in Betracht ziehen will.
- 250.
- Im vorliegenden Fall ist bereits festgestellt worden, daß die Nichtigerklärung der
Entscheidung 1988 nicht die Gültigkeit der Maßnahmen berührt, die zur
Vorbereitung dieser Entscheidung vor dem Abschnitt getroffen worden sind, in dem
dieser Fehler aufgetreten ist (vorstehend, Randnr. 189). Die Gültigkeit der jeder
Klägerin Anfang April 1988 zugestellten Mitteilung der Beschwerdepunkte ist daher
durch das Urteil vom 15. Juni 1994 nicht in Frage gestellt worden. Ebenso ist aus
den gleichen Gründen die Gültigkeit des mündlichen Teils des
Verwaltungsverfahrens, der im September 1988 vor der Kommission stattgefunden
hat, nicht beeinträchtigt.
- 251.
- Daher war eine erneute Anhörung der betroffenen Unternehmen vor Erlaß der
zweiten Entscheidung nur erforderlich, soweit diese gegenüber der vom Gerichtshof
für nichtig erklärten ursprünglichen Entscheidung neue Beschwerdepunkte enthielt.
- 252.
- Die Klägerinnen bestreiten nicht, daß die zweite Entscheidung gegenüber der von
1988 keinen neuen Beschwerdepunkt enthält. Somit war es richtig, daß die
Kommission die Entscheidung erließ, ohne eine erneute Anhörung der betroffenen
Unternehmen durchzuführen. Daß die Entscheidung unter anderen tatsächlichen
und rechtlichen Umständen erging, als sie bei Erlaß der ursprünglichen
Entscheidung herrschten, bedeutet keineswegs, daß die Entscheidung neue
Beschwerdepunkte enthielt.
- 253.
- Da die Kommission nicht verpflichtet war, die betroffenen Unternehmen erneut
anzuhören, hat sie nicht gegen ihren Beschluß vom 23. November 1990 über die
Durchführung von Anhörungen in Verfahren zur Anwendung der Artikel 85 und
86 EWG-Vertrag sowie der Artikel 65 und 66 EGKS-Vertrag verstoßen. Dieser
Beschluß galt nämlich nicht während des dem Erlaß der Entscheidung
vorangegangenen mündlichen Teils des Verwaltungsverfahrens.
- 254.
- Was den Beratenden Ausschuß betrifft, dessen Zuständigkeit, Zusammensetzung
und Anhörung in Artikel 10 Absätze 3 bis 6 der Verordnung Nr. 17 geregelt sind,
so hat dieser seine Stellungnahme zum Entscheidungsvorschlag der Kommission am
1. Dezember 1988 abgegeben.
- 255.
- Der Auffassung der Klägerinnen, daß die Kommission den Beratenden Ausschuß
aufgrund der Umstände des vorliegenden Falles vor Erlaß der zweiten
Entscheidung erneut hätte anhören müssen, kann nicht gefolgt werden.
- 256.
- Artikel 1 der Verordnung Nr. 99/63 lautet nämlich: „Bevor die Kommission den
Beratenden Ausschuß für Kartell- und Monopolfragen anhört, nimmt sie eine
Anhörung nach Artikel 19 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 vor.“ Diese Vorschrift
bestätigt, daß die Anhörung der beteiligten Unternehmen und die des Ausschusses
in denselben Fällen erforderlich sind (Urteil Hoechst/Kommission, Randnr. 54).
- 257.
- Wie das Gericht bereits festgestellt hat (vorstehend, Randnr. 252), war im
vorliegenden Fall eine erneute Anhörung der betroffenen Unternehmen vor Erlaß
der zweiten Entscheidung nicht erforderlich. Da diese Entscheidung gegenüber der
Entscheidung 1988, die auf einen Entscheidungsvorschlag zurückging, zu dem der
Ausschuß gemäß Artikel 10 Absatz 5 der Verordnung Nr. 17 gehört worden war,
nur redaktionelle Änderungen enthielt, die an den Beschwerdepunkten nichts
änderten, war eine erneute Anhörung des Beratenden Ausschusses nicht notwendig.
- 258.
- Die Entscheidung erwähnt in ihrer Einleitung ausdrücklich die Anhörung des
Beratenden Ausschusses. Die Rüge von SAV und ICI, die Entscheidung sei
insoweit unzureichend begründet, ist daher zurückzuweisen.
- 259.
- Zu der Rüge eines Verstoßes gegen die Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit der
EFTA-Überwachungsbehörde genügt die Feststellung, daß eine erneute Anhörung
der betroffenen Unternehmen und eine erneute Anhörung des Beratenden
Ausschusses vor Erlaß der zweiten Entscheidung nicht erforderlich waren und daß
die einschlägigen Bestimmungen des EFTA-Abkommens und der Protokolle 21 und
23 auf das laufende Verwaltungsverfahren nicht anwendbar waren. Diese
Bestimmungen sind nämlich am 1. Januar 1994 in Kraft getreten, als die
Verfahrensabschnitte, die eine Zusammenarbeit zwischen der Kommission und der
EFTA-Überwachungsbehörde vorschreiben, nämlich die Anhörung der
Unternehmen und die Anhörung des Beratenden Ausschusses, bereits beendet
waren.
- 260.
- Die Klägerinnen berufen sich auch auf die Rechtsprechung, nach der die
Beachtung der Verteidigungsrechte in allen Verfahren, die zu einer die Betroffenen
beschwerenden Maßnahme führen können, ein fundamentaler Grundsatz des
Gemeinschaftsrechts ist und auch dann sichergestellt werden muß, wenn eine
besondere Regelung fehlt (namentlich Urteil Niederlande u. a./Kommission,
Randnr. 44).
- 261.
- Aus dieser Rechtsprechung läßt sich jedoch nicht herleiten, daß die Kommission
die Klägerinnen vor Erlaß der sie beschwerenden Maßnahme hätte erneut anhören
müssen.
- 262.
- Das Verwaltungsverfahren zur Feststellung eines Verstoßes gegen Artikel 85 EG-Vertrag richtet sich nach den Verordnungen Nrn. 17 und 99/63. Diese
Sonderregelung enthält Bestimmungen (vorstehend, Randnr. 247), die den
Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte ausdrücklich und wirksam
gewährleisten.
- 263.
- Unabhängig davon gebietet nach dieser Rechtsprechung der Grundsatz der
Wahrung der Verteidigungsrechte, daß dem Adressaten der Entscheidung vor Erlaß
der ihn beschwerenden endgültigen Entscheidung eine genaue und vollständige
Darstellung der Beschwerdepunkte, die die Kommission gegen ihn in Betracht
ziehen will, mitgeteilt wird.
- 264.
- Somit läßt sich entgegen der Auffassung der Klägerinnen aus dieser
Rechtsprechung nicht herleiten, daß der Kommission, wenn sie gegen mehrere
Unternehmen ein Verfahren zur Feststellung eines Verstoßes gegen die
Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft einleitet, zur Wahrung der
Verteidigungsrechte zu mehr verpflichtet ist, als diesen Unternehmen im Laufedieses Verfahrens Gelegenheit zu geben, zum Vorliegen und zur Erheblichkeit der
behaupteten Tatsachen und Umstände sowie zu den von der Kommission für ihre
Behauptung einer Verletzung des Gemeinschaftsrechts herangezogenen Unterlagen
gebührend Stellung zu nehmen.
- 265.
- Auch das Urteil Transocean Marine Paint/Kommission, das die Klägerinnen für die
angebliche Notwendigkeit einer erneuten Anhörung angeführt haben, ist im
vorliegenden Fall nicht einschlägig, da es einen besonderen Fall betrifft, nämlich
die Wahrung der Verteidigungsrechte eines Unternehmens, wenn die Kommission
eine Freistellung nach Artikel 85 Absatz 3 EG-Vertrag von bestimmten Auflagen
abhängig machen will.
- 266.
- Somit war die Kommission nicht verpflichtet, vor Erlaß der zweiten Entscheidung
die betroffenen Unternehmen zu dem von ihr beabsichtigten Erlaß einer neuen
beschwerenden Maßnahme, zu ihrer Verfahrensentscheidung, zu verschiedenen
Ausführungen, die bestimmte tatsächliche und rechtliche Gesichtspunkte betrafen,
oder zu den Abweichungen zwischen dem Text der zweiten Entscheidung und dem
der für nichtig erklärten ursprünglichen Entscheidung zu hören. Es ist
hervorzuheben, daß nicht behauptet worden ist, daß diese Punkte neue
Beschwerdepunkte darstellten.
- 267.
- Daran, daß die Kommission zu einer erneuten Anhörung der betroffenen
Unternehmen nicht verpflichtet war, ändert auch der Umstand nichts, daß zwischen
dem mündlichen Teil des Verwaltungsverfahrens und dem Erlaß der zweiten
Entscheidung sechs Jahre vergangen sind. Diese Unternehmen hatten nämlich
Gelegenheit, im September 1988 mündlich zu den Beschwerdepunkten Stellung zu
nehmen, die sich seither nicht geändert haben und in der zweiten Entscheidung
gegen sie verwandt worden sind.
- 268.
- Selbst wenn der Juristische Dienst der Kommission ein Gutachten zu der Frage
erstellt hätte, ob gegen die PVC-Hersteller eine neue Entscheidung auf der
Grundlage des der Entscheidung 1988 vorangegangenen Verwaltungsverfahrens
ergehen könnte, ist zur Wahrung der Verteidigungsrechte nicht erforderlich, daß
die an einem Verfahren nach Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag beteiligten
Unternehmen zu einem solchen Gutachten Stellung nehmen können, das ein rein
kommissionsinternes Dokument darstellt. Die Kommission ist nicht verpflichtet,
dem Gutachten ihres Juristischen Dienstes zu folgen, so daß dieses kein
entscheidender Faktor ist, den der Gemeinschaftsrichter bei seiner Prüfung zu
berücksichtigen hätte (vgl. in diesem Sinne Urteil Hüls/Kommission, Randnr. 86).
- 269.
- Zurückzuweisen ist auch das Argument von LVM und DSM (vorstehend, Randnr.
140), daß die Entscheidung deshalb rechtswidrig sei, weil sie ohne eine vorherige
Untersuchung ein zur Erreichung des angestrebten Zieles des Wettbewerbsschutzes
unverhältnismäßiges Mittel darstelle. Dazu genügt die Feststellung, daß die
Kommission nicht verpflichtet war, die betroffenen Unternehmen vor Erlaß der
zweiten Entscheidung erneut anzuhören. Die von den Klägerinnen vertretene
Auffassung, es bestehe ein Mißverhältnis, beruht somit auf einer falschen Prämisse.
- 270.
- Nach alledem sind sämtliche Rügen der Klägerinnen zurückzuweisen.
B Unregelmäßigkeiten bei Erlaß und Feststellung der Entscheidung
- 271.
- Einige Klägerinnen machen geltend, daß bei Erlaß und Feststellung der
Entscheidung der Kommission Unregelmäßigkeiten vorgekommen seien.
- 272.
- Wacker und Hoechst haben in der Sitzung den Klagegrund der mangelhaften
Feststellung der Entscheidung fallengelassen, was der Kanzler zu Protokoll
genommen hat. Die Rücknahme dieses Klagegrundes umfaßt auch den Klagegrund
der mangelnden Übereinstimmung zwischen den Wacker und Hoechst zugestellten
Abschriften der Entscheidung und dem Original, da dieser zweite Klagegrund eng
mit dem ersten zusammenhängt.
- 273.
- Das Vorbringen der Klägerinnen gliedert sich in mehrere Klagegründe.
1. Zu den Klagegründen, die die Rechtswidrigkeit der Geschäftsordnung der
Kommission vom 17. Februar 1993 betreffen
Vorbringen der Parteien
- 274.
- LVM und DSM verweisen darauf, daß die Entscheidung aufgrund der
Bestimmungen der Geschäftsordnung der Kommission vom 17. Februar 1993 (ABl.
L 230, S. 16; nachstehend: Geschäftsordnung) ergangen sei. Nach Artikel 16 dieser
Geschäftsordnung würden die gefaßten Beschlüsse dem Protokoll der Sitzung
beigefügt, in der sie angenommen worden seien, und durch die Unterschriften des
Präsidenten und des Generalsekretärs auf der ersten Seite dieses Protokolls
festgestellt.
- 275.
- Nach Ansicht von LVM und DSM kann eine Partei sich auf die Verletzung einer
solchen Geschäftsordnung als einer wesentlichen Formvorschrift berufen (Urteil
vom 27. Februar 1992, BASF u. a./Kommission, Randnr. 75). Im vorliegenden Fall
stehe die Regelung über die Feststellung nicht im Einklang mit den Grundsätzen,
die in den Urteilen vom 27. Februar 1992 (BASF u. a./Kommission, Randnrn. 75
und 78) und vom 15. Juni 1994 (Randnrn. 75, 76 und 78) aufgestellt worden seien
und nach denen die Verpflichtung zur Feststellung durch die Unterschrift des
Präsidenten und des Generalsekretärs der Kommission auf dem Rechtsakt selbst
ein grundlegendes Erfordernis des Gemeinschaftsrechts zum Ausdruck bringe, das
auf Erwägungen der Rechtssicherheit beruhe. Infolgedessen gebe es keinen
verbindlichen, ordnungsgemäß festgestellten Rechtsakt in niederländischer Sprache.
- 276.
- Enichem macht geltend, daß die Kommission mit Erlaß der Entscheidung entweder
gegen die im Urteil vom 15. Juni 1994 aufgeführten Grundsätze oder gegen ihre
Geschäftsordnung verstoßen habe. Die Artikel 2 und 16 dieser Geschäftsordnung
über die Ermächtigung zum Erlaß von Beschlüssen bzw. die Feststellung der nach
diesem Verfahren gefaßten Beschlüsse seien nicht mit dem Kollegialprinzip
vereinbar.
- 277.
- Die Art und Weise der Feststellung der Beschlüsse nach Artikel 16 der
Geschäftsordnung gewährleiste nicht die vom Gerichtshof geforderte
Rechtssicherheit, da das Protokoll und nicht die beschlossene Maßnahme
festgestellt werde.
- 278.
- Die Kommission entgegnet auf die Klagegründe von LVM und DSM, daß die
gegen die Geschäftsordnung erhobene Einrede der Rechtswidrigkeit unzulässig sei.
Die Geschäftsordnung eines Organs sei nämlich kein Rechtsakt mit allgemeiner
Geltung, der in allen seinen Teilen verbindlich und in allen Mitgliedstaaten für die
Zwecke des Artikels 184 EG-Vertrag unmittelbar anwendbar sei. Jedenfalls
verwechselten LVM und DSM das Kollegialprinzip nach Artikel 163 EG-Vertrag
und die Feststellung der Beschlüsse. Die Behauptung sei falsch, daß Artikel 12 der
Geschäftsordnung in der bei Erlaß der Entscheidung 1988 geltenden Fassung der
einzige Weg zur Einhaltung des Kollegialprinzips sei (Urteil vom 15. Juni 1994,
Randnrn. 72 bis 77).
- 279.
- Enichem habe weder nachgewiesen, inwiefern die Geschäftsordnung nicht im
Einklang mit dem Urteil des Gerichtshofes stehe, noch dargetan, inwiefern der
Mangel an Übereinstimmung Aspekte des Erlasses der Entscheidung betreffe
(Urteil des Gerichts vom 27. Oktober 1994 in der Rechtssache T-35/92,
Deere/Kommission, Slg. 1994, II-957).
Würdigung durch das Gericht
- 280.
- Das Vorbringen der Klägerinnen ist dahin zu verstehen, daß sie die
Rechtswidrigkeit einiger Bestimmungen der Geschäftsordnung der Kommission
geltend machen, die zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung galten. Die
Klägerinnen stellen nämlich inzidenter gemäß Artikel 184 EG-Vertrag die
Gültigkeit einiger Bestimmungen der Geschäftsordnung in Frage, indem sie sich auf
einen der Klagegründe im Rahmen der in Artikel 173 EG-Vertrag genannten
Rechtmäßigkeitskontrolle berufen, nämlich die Verletzung des Vertrages oder einer
bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm.
- 281.
- Die Einrede der Rechtswidrigkeit von Bestimmungen der Geschäftsordnung besteht
aus zwei Teilen. Erstens machen LVM, DSM und Enichem geltend, Artikel 16
Absatz 1 der Geschäftsordnung über die Art und Weise der Feststellung der
gefaßten Beschlüsse laufe dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwider, wie ihn der
Gerichtshof im Urteil vom 15. Juni 1994 erläutert habe. Zweitens macht Enichem
geltend, daß Artikel 2 Buchstabe c und 16 Absatz 2 der Geschäftsordnung über das
Ermächtigungsverfahren dem Kollegialprinzip zuwiderliefen.
Zur Zulässigkeit der Einrede der Rechtswidrigkeit
- 282.
- Das Gericht hält es für erforderlich, von Amts wegen die Zulässigkeit der Einrede
der Rechtswidrigkeit insgesamt zu prüfen, ohne sich nur auf die Entgegnung der
Kommission zu beschränken.
- 283.
- Artikel 184 EG-Vertrag lautet: „Ungeachtet des Ablaufs der in Artikel 173 Absatz
5 genannten Frist kann jede Partei in einem Rechtsstreit, bei dem es auf die
Geltung einer vom Europäischen Parlament und vom Rat gemeinsam erlassenen
Verordnung oder einer Verordnung des Rates, der Kommission oder der
[Europäischen Zentralbank] ankommt, vor dem Gerichtshof die Unanwendbarkeit
dieser Verordnung aus den in Artikel 173 Absatz 2 genannten Gründen geltend
machen.“
- 284.
- Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes (Urteil Simmenthal/Kommission,
Randnrn. 39 bis 41) ist Artikel 184 EG-Vertrag der Ausdruck eines allgemeinen
Grundsatzes, der jeder Partei das Recht gewährleistet, zum Zweck der
Nichtigerklärung einer sie unmittelbar und individuell betreffenden Entscheidung
die Gültigkeit derjenigen früheren Rechtshandlungen der Gemeinschaftsorgane zu
bestreiten, die die Rechtsgrundlage für die angegriffene Entscheidung bilden, falls
die Partei nicht das Recht hatte, gemäß Artikel 173 EG-Vertrag unmittelbar gegen
diese Rechtshandlungen zu klagen, deren Folgen sie nunmehr erleidet, ohne daß
sie ihre Nichtigerklärung hätte beantragen können.
- 285.
- Artikel 184 EG-Vertrag ist daher weit auszulegen, damit eine wirksame
Rechtmäßigkeitskontrolle der Handlungen der Organe gewährleistet ist. In diesem
Sinn hat der Gerichtshof im Urteil Simmenthal/Kommission (Randnr. 40) bereits
festgestellt, daß das Anwendungsgebiet dieses Artikels sich auf diejenigen
Handlungen der Gemeinschaftsorgane erstrecken muß, die, obwohl nicht in Form
einer Verordnung ergangen, gleichartige Wirkungen wie eine solche entfalten.
- 286.
- Artikel 184 EG-Vertrag ist auch auf die Bestimmungen einer Geschäftsordnung
eines Organs anzuwenden, die zwar nicht die Rechtsgrundlage der angefochtenen
Entscheidung bilden und keine gleichartigen Wirkungen wie die Bestimmungen
einer Verordnung im Sinne dieses Artikels entfalten, aber die wesentlichen
Formvorschriften festlegen, deren Beachtung für den Erlaß dieser Entscheidung
erforderlich ist und die deshalb die Rechtssicherheit für die Adressaten dieser
Entscheidung gewährleisten. Jeder Adressat einer Entscheidung kann nämlich
inzidenter die Rechtswidrigkeit des Rechtsakts geltend machen, von dem die
formelle Gültigkeit dieser Entscheidung abhängt, auch wenn der betreffende
Rechtsakt nicht die Rechtsgrundlage der Entscheidung ist, sofern der Betroffene
nicht die Möglichkeit hatte, die Nichtigerklärung dieses Rechtsakts vor der
Mitteilung der streitigen Entscheidung zu beantragen.
- 287.
- Infolgedessen kann gegenüber den Bestimmungen der Geschäftsordnung der
Kommission die Einrede der Rechtswidrigkeit erhoben werden, sofern diese dem
Schutz des einzelnen dienen.
- 288.
- Die Einrede der Rechtswidrigkeit ist auf das zu beschränken, was für die
Entscheidung des Rechtsstreits unerläßlich ist.
- 289.
- Artikel 184 hat nämlich nicht den Zweck, einer Partei zu gestatten, die
Unanwendbarkeit eines Rechtsakts allgemeinen Charakters mit jeder beliebigen
Klage geltend zu machen. Der allgemeine Rechtsakt, dessen Rechtswidrigkeit
geltend gemacht wird, muß unmittelbar oder mittelbar auf den
streitgegenständlichen Fall anwendbar sein, und es muß ein unmittelbarer
rechtlicher Zusammenhang zwischen der angegriffenen Entscheidung und dem
betreffenden allgemeinen Rechtsakt bestehen. (Urteile des Gerichtshofes vom 31.
März 1965 in der Rechtssache 21/64, Macchiorlati Dalmas e Figli/Hohe Behörde,
Slg. 1965, 241, 259, vom 13. Juli 1966 in der Rechtssache 32/65, Italien/Rat und
Kommission, Slg. 1966, 457, 487, und Urteil des Gerichts vom 26. Oktober 1993 in
den Rechtssachen T-6/92 und T-52/92, Reinarz/Kommission, Slg. 1993, II-1047,
Randnr. 57).
- 290.
- Im vorliegenden Fall zielt der zweite Teil der Einrede der Rechtswidrigkeit auf die
Feststellung, daß die Bestimmungen der Geschäftsordnung der Kommission über
die Ermächtigung gegen das Kollegialprinzip verstießen. Enichem behauptet aber
nicht einmal, daß die Entscheidung im Rahmen einer übertragenen Zuständigkeit
erlassen worden sei, und trägt auch nichts vor, was dies nahelegen könnte. Da
Enichem einen unmittelbaren rechtlichen Zusammenhang zwischen der
Entscheidung und den Bestimmungen der Geschäftsordnung, deren
Rechtswidrigkeit sie geltend macht, nicht dargetan hat, ist der zweite Teil der
Einrede der Rechtswidrigkeit als unzulässig zurückzuweisen.
- 291.
- Zum ersten Teil der Einrede der Rechtswidrigkeit ist festzustellen, daß die
Entscheidung nach Artikel 16 Absatz 1 der Geschäftsordnung festgestellt worden
ist. Somit besteht ein unmittelbarer rechtlicher Zusammenhang zwischen der
Entscheidung und diesem Artikel der Geschäftsordnung, dessen Rechtswidrigkeit
die Klägerinnen geltend machen.
- 292.
- Artikel 16 der Geschäftsordnung regelt die Art und Weise der Feststellung des
Rechtsakts, der die Klägerinnen beschwert. Die Feststellung der Rechtsakte in der
in der Geschäftsordnung der Kommission vorgesehenen Art und Weise soll die
Rechtssicherheit gewährleisten, indem sie den vom Kollegium angenommenen
Wortlaut in allen verbindlichen Sprachen feststellt (Urteil vom 15. Juni 1994,
Randnr. 75). Diese Bestimmung soll somit dem Schutz der Adressaten des
Rechtsakts dienen und kann daher mit einer Einrede der Rechtswidrigkeit
angegriffen werden.
- 293.
- Daraus folgt, daß der erste Teil der Einrede der Rechtswidrigkeit, die LVM, DSM
und Enichem gegen Artikel 16 Absatz 1 der Geschäftsordnung erhoben haben,
zulässig ist. Daher ist die Begründetheit dieser Einrede hinsichtlich des angeblichen
Verstoßes gegen das Erfordernis der Rechtssicherheit zu prüfen.
Rechtswidrigkeit des Artikels 16 Absatz 1 der Geschäftsordnung wegen Verstoßes
gegen das Erfordernis der Rechtssicherheit
- 294.
- Nach Ansicht der Klägerinnen ist die Entscheidung rechtswidrig, da die in Artikel
16 Absatz 1 der Geschäftsordnung vorgesehene Art und Weise der Feststellung von
Rechtsakten mit dem vom Gerichtshof im Urteil vom 15. Juni 1994 angeführten
Erfordernis der Rechtssicherheit unvereinbar sei.
- 295.
- Artikel 16 Absatz 1 der Geschäftsordnung lautet in der bei Erlaß der Entscheidung
geltenden Fassung:
„Die von der Kommission in einer Sitzung oder im schriftlichen Verfahren gefaßten
Beschlüsse werden in der Sprache oder in den Sprachen, in denen sie verbindlich
sind, dem Protokoll der Kommissionssitzung beigefügt, in der diese Beschlüsse
angenommen wurden oder in der ihre Annahme vermerkt wurde. Diese Beschlüsse
werden durch die Unterschriften des Präsidenten und des Generalsekretärs auf der
ersten Seite dieses Protokolls festgestellt.“
- 296.
- Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 15. Juni 1994 festgestellt, daß die
Kommission nach Artikel 162 Absatz 2 EG-Vertrag u. a. verpflichtet ist, geeignete
Maßnahmen zu treffen, damit der vollständige Wortlaut der vom Kollegium
angenommenen Rechtsakte eindeutig bestimmt werden kann (Randnrn. 72 und 73).
- 297.
- Nach den Ausführungen des Gerichtshofes soll die Feststellung der Rechtsakte
gemäß Artikel 12 Absatz 1 der zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung 1988
geltenden Geschäftsordnung, wonach die „von der Kommission in einer Sitzung
oder im schriftlichen Verfahren gefaßten formellen Beschlüsse ... in der Sprache
oder in den Sprachen, in denen sie verbindlich sind, durch die Unterschriften des
Präsidenten und des Exekutivsekretärs festgestellt [werden]“, die Rechtssicherheit
gewährleisten, indem der vom Kollegium angenommene Wortlaut in allen
verbindlichen Sprachen festgestellt wird. Weiter hat der Gerichtshof ausgeführt:
„Damit ermöglicht [die Feststellung] es, im Streitfall die vollkommene
Übereinstimmung der zugestellten oder veröffentlichten Texte mit dem [vom
Kollegium] angenommenen Text und damit zugleich mit dem Willen der sie
erlassenden Stelle zu prüfen“ (Randnr. 75).
- 298.
- Unter Berücksichtigung dieser Begründung des Urteils vom 15. Juni 1994 ist zu
prüfen, ob die in Artikel 16 Absatz 1 der Geschäftsordnung vorgesehenen
Modalitäten (vorstehend, Randnr. 295) geeignet sind, den vollständigen Wortlaut
der vom Kollegium angenommenen Rechtsakte eindeutig zu bestimmen.
- 299.
- Entgegen der Ansicht der Klägerinnen hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom
15. Juni 1994 nicht zu der Frage Stellung genommen, ob die Feststellung gemäß
Artikel 12 Absatz 1 der zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung 1988
geltenden Geschäftsordnung die im Hinblick auf das Erfordernis der
Rechtssicherheit einzig zulässige Art der Feststellung ist. Der Gerichtshof hat zwar
ausgeführt, wozu die Feststellung der Rechtsakte dient (Randnr. 75), hat aber nicht
gesagt, daß sich dies nur in der Art und Weise erreichen läßt, die in Artikel 12
Absatz 1 der seinerzeit geltenden Geschäftsordnung für die Feststellung
vorgeschrieben war.
- 300.
- Im übrigen war zwischen den Parteien vor dem Gerichtshof unstreitig, daß die
Kommission gegen die Regelung über die Feststellung verstoßen hatte, wie sie in
der Geschäftsordnung der Kommission vorgesehen war, so daß der Gerichtshof die
ursprüngliche Entscheidung wegen Verstoßes gegen wesentliche Formvorschriften
für rechtswidrig erklären konnte, ohne sich zur Rechtmäßigkeit der Feststellung,
wie sie in Artikel 12 Absatz 1 der früheren Geschäftsordnung geregelt war, äußern
zu müssen.
- 301.
- Schließlich genügt die Unterschrift auf dem Protokoll nach Ansicht der Klägerinnen
nicht dem Erfordernis der Rechtssicherheit, da es keinen Rechtsakt gebe, der die
Unterschrift des Präsidenten und des Generalsekretärs trage, und sich deshalb die
vollkommene Übereinstimmung der zugestellten oder veröffentlichten Texte mit
dem vom Kollegium der Kommissionsmitglieder angenommenen Text nicht
überprüfen lasse. Die Klägerinnen meinen daher, daß nur die erste Seite des
Protokolls festgestellt sei.
- 302.
- Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden. Die Modalitäten der Feststellung
gemäß Artikel 16 Absatz 1 der Geschäftsordnung bieten als solche eine
hinreichende Garantie dafür, daß im Streitfall die vollkommene Übereinstimmung
der zugestellten oder veröffentlichten Texte mit dem vom Kollegium
angenommenen Text und damit zugleich mit dem Willen der sie erlassenden Stelle
geprüft werden kann. Da dieser Text dem Protokoll beigefügt ist und die erste
Seite dieses Protokolls vom Präsidenten und vom Generalsekretär unterschrieben
ist, besteht eine Verbindung zwischen diesem Protokoll und den Schriftstücken, auf
die es sich bezieht, die es erlaubt, sich über den genauen Inhalt und die genaue
Form der Entscheidung des Kollegiums zu vergewissern.
- 303.
- Dabei spricht eine Vermutung dafür, daß eine Behörde gemäß den geltenden
Rechtsvorschriften gehandelt hat, solange die Rechtswidrigkeit ihres Handelns nicht
vom Gemeinschaftsrichter festgestellt worden ist.
- 304.
- Infolgedessen ist die Feststellung nach den Modalitäten des Artikels 16 Absatz 1
der Geschäftsordnung als rechtmäßig anzusehen. Der Klagegrund ist daher
zurückzuweisen.
2. Zu den Klagegründen eines Verstoßes gegen das Kollegialprinzip und gegen die
Geschäftsordnung der Kommission
Vorbringen der Parteien
- 305.
- LVM und DSM machen geltend, die Kommission habe bei Erlaß der Entscheidung
gegen ihre Geschäftsordnung verstoßen. In ihren Erwiderungen weisen sie darauf
hin, daß die ihnen zugestellte „beglaubigte Abschrift“ der Entscheidung von dem
für Wettbewerbsfragen zuständigen Kommissionsmitglied unterzeichnet sei, was
dafür spreche, daß die Entscheidung nicht vom Kollegium der
Kommissionsmitglieder, sondern unter Verstoß gegen das Kollegialprinzip nur von
dem betreffenden Mitglied erlassen worden sei. Dies allein genüge, um die
Vermutung der Gültigkeit der Entscheidung in Frage zu stellen (Urteile vom 29.
Juni 1995 in der Rechtssache T-37/91, ICI/Kommission, und T-31/91,
Solvay/Kommission, Slg. 1995, II-1821). LVM und DSM beantragen, der
Kommission aufzugeben, hierzu ergänzende Informationen vorzulegen.
- 306.
- Elf Atochem weist darauf hin, daß die Entscheidung kaum einen Monat nach dem
Urteil des Gerichtshofes ergangen sei; nach den Erklärungen eines Sprechers der
Kommission vor der Presse sei diese Entscheidung im Kollegium ohne weitere
Erörterung ergangen. Diese Umstände seien geeignet, die Gültigkeit der
Entscheidung wegen Verstoßes gegen das Kollegialprinzip in Frage zu stellen.
- 307.
- Nach Ansicht der Kommission kann ein Verstoß gegen interne Vorschriften der
Beschlußfassung nur geltend gemacht werden, wenn die Klägerin anhand konkreter
Anhaltspunkte nachweisen könne, daß Grund für Zweifel an der Gültigkeit der
Beschlußfassung bestehe. Mangels solcher Anhaltspunkte gelte der Rechtsakt der
Kommission als rechtsgültig ergangen (Urteil Deere/Kommission, Randnr. 31). Im
vorliegenden Fall hätten die Klägerinnen keinen konkreten Anhaltspunkt
vorgetragen.
Würdigung durch das Gericht
- 308.
- Der Umstand, daß auf der Abschrift der Entscheidung, die an LVM und DSM
gerichtet war, der Name des für Wettbewerbsfragen zuständigen
Kommissionsmitglieds und die Angabe „beglaubigte Abschrift“ („voor gelijkluidend
afschrift“ auf Niederländisch) stehen, bietet keinen Anhaltspunkt dafür, daß die
Entscheidung unter Verstoß gegen das Kollegialprinzip ergangen ist. Nach dem
Wortlaut der Entscheidung handelt es sich um eine „Entscheidung der
Kommission“. Zudem ergibt sich aus dem Wortlaut, daß die „Kommission der
Europäischen Gemeinschaften“ die Entscheidung auf der Grundlage des
Sachverhalts und der rechtlichen Würdigung erlassen hat.
- 309.
- Somit führen diese Klägerinnen weder einen Anhaltspunkt noch einen konkreten
Umstand an, der die Vermutung der Gültigkeit von Gemeinschaftshandlungen
widerlegen könnte (vgl. namentlich Urteil Dunlop Slazenger/Kommission, Randnr.
24).
- 310.
- Mangels eines solchen Anhaltspunktes kann das Gericht die beantragte
Beweiserhebung nicht anordnen.
- 311.
- Die Tatsache, daß die Entscheidung kurze Zeit nach dem Urteil vom 15. Juni 1994
ergangen ist und der einmal als bewiesen unterstellte Umstand, daß sie ohne
Erörterung vom Kollegium der Kommissionsmitglieder angenommen worden ist,
bedeuten in keiner Weise, daß das Kollegialprinzip verletzt worden ist.
- 312.
- Infolgedessen sind die Klagegründe zurückzuweisen.
3. Zu dem Klagegrund bezüglich des Inhalts der dem Kollegium der
Kommissionsmitglieder zur Beratung vorgelegten Akte
- 313.
- ICI macht geltend, daß dem Kollegium der Kommissionsmitglieder infolge der
Mängel des Verwaltungsverfahrens vor Erlaß der Entscheidung nicht alle für die
Rechtssache erheblichen Schriftstücke vorgelegen hätten und daß es insbesondere
nicht über einen neuen Bericht des Anhörungsbeauftragten und ein neues Protokoll
über die Ergebnisse der Anhörung des Beratenden Ausschusses verfügt habe. Das
Kollegium der Kommissionsmitglieder, dessen Zusammensetzung sich gegenüber
1988 erheblich geändert habe, sei daher über das Verteidigungsvorbringen von ICI
nicht unterrichtet gewesen.
- 314.
- Nach Ansicht der Kommission entbehrt dieser Klagegrund jeder rechtlichen
Grundlage.
- 315.
- Wie bereits dargelegt, hat die Kommission nach der Nichtigerklärung der
Entscheidung 1988 durch den Gerichtshof durch den Verzicht auf eine erneute
Anhörung der betroffenen Unternehmen oder eine erneute Anhörung des
Beratenden Ausschusses vor dem Erlaß der Entscheidung keinen Rechtsfehler
begangen (vorstehend, Randnrn. 246 bis 258).
- 316.
- Da die Klägerin von einer falschem Prämisse ausgeht, ist der Klagegrund nicht
begründet und daher zurückzuweisen.
4. Zu den Klagegründen, die den Verstoß gegen den Grundsatz der Identität von
beratendem und beschlußfassendem Organ und den Grundsatz der Unmittelbarkeit
betreffen
Vorbringen der Parteien
- 317.
- Nach Ansicht von Hüls kann gemäß dem Grundsatz der Identität von beratendem
und beschlußfassendem Organ eine Entscheidung nur von Personen erlassen
werden, die an dem Verfahren teilgenommen oder die Möglichkeit gehabt hätten,
sich einen unmittelbaren Eindruck von der Sache zu verschaffen. Im vorliegenden
Fall seien bei Erlaß der Entscheidung die meisten Mitglieder der Kommission,
insbesondere das für Wettbewerbsfragen zuständige Kommissionsmitglied sowie der
Generaldirektor der Generaldirektion Wettbewerb der Kommission
(Generaldirektion IV) nicht dieselben Personen gewesen, die bei den Ermittlungen
im Jahr 1988 im Amt gewesen seien.
- 318.
- In Wettbewerbssachen sei die Kommission nicht als Behörde als solche zu
verstehen, d. h. nicht als eine von ihren Mitgliedern unabhängige Institution. In
diesem Zusammenhang seien die Artikel 1 und 12 der Geschäftsordnung, wonach
die Kommission als Kollegium handele, sowie Artikel 6 des Mandats des
Anhörungsbeauftragten zu berücksichtigen.
- 319.
- BASF, Wacker und Hoechst machen geltend, daß die Kommission gegen den
Grundsatz der Unmittelbarkeit verstoßen habe. Bei Erlaß der angefochtenen
Entscheidung waren nach dem Vortrag von BASF die meisten Mitglieder derKommission und der Generaldirektor der Generaldirektion IV nicht dieselben
Personen, die 1988 im Amt gewesen seien. Infolgedessen sei die Entscheidung von
Personen erlassen worden, die mit dem Sachverhalt nicht völlig vertraut gewesen
seien und auch nicht die Zeit gehabt hätten, sich nach der Verkündung des Urteils
vom 15. Juni 1994 damit vertraut zu machen. Mit diesem Klagegrund werde nicht
verlangt, daß die Kommissionsmitglieder bei den Anhörungen persönlich anwesend
seien, sondern daß sie über das, was dort gesagt werde, aufgrund der Anwendung
der Verfahrensregeln, insbesondere der Anhörung des Anhörungsbeauftragten,
genau informiert seien.
- 320.
- Nach Ansicht von Wacker und Hoechst müssen die Personen, die die Entscheidung
ausarbeiteten, an den Anhörungen teilgenommen haben oder sich zumindest einen
zeitlich nahen und durch unmittelbar beteiligte Dritte vermittelten Eindruck von
der Anhörung verschafft haben. Dies sei hier nicht der Fall gewesen, da der
überwiegende Teil der bei der Anhörung beteiligten Kommissionsmitglieder bei
Erlaß der zweiten Entscheidung nicht mehr im Amt gewesen sei.
- 321.
- Nach Ansicht der Kommission gibt es die Grundsätze der Gleichheit und der
Unmittelbarkeit nicht. Das Wettbewerbsverfahrensrecht der Gemeinschaft stelle auf
Funktionsträger und nicht auf die jeweiligen Personen ab, die die betreffenden
Funktionen ausübten (Urteil ACF Chemiefarma/Kommission, Randnrn. 71 und 72).
Es gebe keine Bestimmung, daß die verschiedenen Abschnitte des
Wettbewerbsverfahrens in ein und derselben Amtszeit der Mitglieder der
Kommission durchzuführen seien.
Würdigung durch das Gericht
- 322.
- Die Klägerinnen machen die Verletzung eines allgemeinen Grundsatzes der
Kontinuität der Zusammensetzung des Verwaltungsorgans geltend, das mit einer
Sache befaßt ist, die zur Verhängung einer Geldbuße führen kann.
- 323.
- Ein solcher allgemeiner Grundsatz besteht nicht (Urteil ACF
Chemiefarma/Kommission, Randnr. 72).
- 324.
- Somit ist dieser Klagegrund als nicht begründet zurückzuweisen.
C Mängel des Verwaltungsverfahrens
- 325.
- Die Klägerinnen machen hilfsweise mehrere Klagegründe geltend, mit denen sie
Unregelmäßigkeiten in dem Verwaltungsverfahren vor dem Erlaß der Entscheidung
rügen. Wacker und Hoechst haben in der Sitzung den Klagegrund, mit dem sie
einen Verstoß gegen Artikel 3 der Verordnung Nr. 1 des Rates vom 15. April 1958
zur Regelung der Sprachenfrage für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (ABl.
1958, Nr. 17, S. 385) gerügt haben, fallengelassen, was vom Kanzler zu Protokoll
genommen worden ist.
- 326.
- Bei den Klagegründen läßt sich unterscheiden zwischen denen, die Mängel bei der
Mitteilung der Beschwerdepunkte betreffen, und anderen, die Mängel bei der
Anhörung betreffen. Der Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen das Recht auf
Einsicht in die Akten der Kommission geltend gemacht wird, wird im Anschluß an
den Teil des Urteils geprüft, der den materiell-rechtlichen Fragen gewidmet ist.
1. Zu den Klagegründen, die angebliche Mängel bei der Mitteilung der
Beschwerdepunkte betreffen
a) Zu dem Klagegrund, mit dem Formfehler bei der Mitteilung der
Beschwerdepunkte geltend gemacht werden
Vorbringen der Parteien
- 327.
- Nach Ansicht von Wacker und Hoechst beruht die Entscheidung auf einer nicht
ordnungsgemäßen Mitteilung der Beschwerdepunkte. Erstens seien diese unter
Verstoß gegen Artikel 2 der Verordnung Nr. 99/63 nur durch einen Bediensteten
der Kommission übermittelt worden. Zweitens habe die Mitteilung der
Beschwerdepunkte, die ein umfangreiches Dokument gewesen sei, das nicht habe
erkennen lassen, ob es vollständig gewesen sei, gegen den genannten Artikel 2
verstoßen, nach dem die Kommission die Beschwerdepunkte schriftlich mitteile. Die
Beschwerdepunkte hätten folglich in einer einheitlichen schriftlichen Urkunde
mitgeteilt werden müssen. Drittens hätte die Mitteilung der Beschwerdepunkte von
ihrem Verfasser unterzeichnet sein müssen.
- 328.
- Nach Ansicht der Kommission ist dieser Klagegrund offenkundig unhaltbar.
Würdigung durch das Gericht
- 329.
- Zu dem Vorwurf, daß ein Bediensteter der Kommission ermächtigt worden sei, die
Beschwerdepunkte mitzuteilen, ist festzustellen, daß laut den Akten das
Begleitschreiben zu der an die Klägerinnen gerichteten Mitteilung der
Beschwerdepunkte vom Stellvertretenden Generaldirektor der Generaldirektion IV
der Kommission im Namen des Generaldirektors dieser Generaldirektion
unterzeichnet war.
- 330.
- Mit der Unterzeichnung dieses Schreiben hat der Stellvertretende Generaldirektor
nicht aufgrund einer Übertragung von Befugnissen, sondern im Rahmen einer
bloßen Übertragung der Zeichnungsberechtigung durch das zuständige Mitglied der
Kommission an den Generaldirektor gehandelt (Urteil des Gerichtshofes vom 14.
Juli 1972 in der Rechtssache 52/69, Geigy/Kommission, Slg. 1972, 787, Randnr. 5).
Die Kommission übt ihre Befugnisse üblicherweise im Wege einer solchen
Übertragung aus (Urteil VBVB und VBBB/Kommission, Randnr. 14).
- 331.
- Da die Klägerinnen nichts vorgetragen haben, was die Annahme rechtfertigen
würde, daß das Verwaltungsorgan der Gemeinschaft im vorliegenden Fall von den
einschlägigen Rechtsvorschriften abgewichen ist (Urteil VBVB und
VBBB/Kommission, Randnr. 14), ist die Rüge zurückzuweisen.
- 332.
- Auch die Rügen, die einen angeblichen Verstoß gegen die Formvorschriften für die
Mitteilung der Beschwerdepunkte betreffen, sind zurückzuweisen.
- 333.
- Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 99/63 lautet: „Die Kommission teilt den
Unternehmen und Unternehmensvereinigungen die in Betracht gezogenen
Beschwerdepunkte schriftlich mit.“ Diese Bestimmung verlangt nicht, daß die
Mitteilung der Beschwerdepunkte selbst eine eigenhändige Unterschrift trägt oder
aus einer förmlichen einheitlichen Urkunde besteht.
- 334.
- Nach alledem ist der Klagegrund zurückzuweisen.
b) Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen Artikel 3 der Verordnung Nr. 1 des
Rates
Vorbringen der Parteien
- 335.
- BASF, Hüls und Enichem werfen der Kommission einen Verstoß gegen Artikel 3
der Verordnung Nr. 1 vor. Die Mitteilung der Beschwerdepunkte habe nämlich
Anlagen enthalten, die zum richtigen Verständnis der Beschwerdepunkte
unerläßlich, aber nicht in der Sprache des Mitgliedstaats abgefaßt gewesen seien,
dessen Hoheitsgewalt die Klägerinnen unterständen. Dies gelte auch für die von
der Kommission am 3. Mai 1988 übermittelten Schriftstücke. Nach Ansicht von
Enichem hat die Kommission auch gegen Artikel 4 der Verordnung Nr. 99/63
verstoßen.
- 336.
- Die Kommission meint, daß die Argumentation der Klägerinnen im Widerspruch
zum Wortlaut und zum Geist des Artikels 3 der Verordnung Nr. 1 stehe. Die
Überfülle von Reaktionen seitens dieser Klägerinnen zeige im übrigen, daß sie
tatsächlich keine besonderen Schwierigkeiten gehabt hätten, den gesamten Inhalt
des Beweismaterials zu verstehen.
Würdigung durch das Gericht
- 337.
- Die Anlagen zur Mitteilung der Beschwerdepunkte, die nicht von der Kommission
stammen, sind nicht als „Schriftstücke“ im Sinne des Artikels 3 der Verordnung Nr.
1 des Rates zu betrachten. Sie sind vielmehr als Beweisstücke anzusehen, auf die
sich die Kommission stützt. Sie müssen deshalb dem Empfänger so, wie sie sind,
zur Kenntnis gebracht werden (vgl. namentlich Urteil des Gerichts vom 6. April
1995 in der Rechtssache T-148/89, Tréfilunion/Kommission, Slg. 1995, II-1063,
Randnr. 21). Die Kommission hat somit nicht gegen Artikel 3 der Verordnung Nr.
1 des Rates verstoßen.
- 338.
- Zu dem von Enichem erhobenen Vorwurf eines Verstoßes gegen Artikel 4 der
Verordnung Nr. 99/63 ist festzustellen, daß die eigentliche Mitteilung der
Beschwerdepunkte, die an diese Klägerin in italienischer Sprache gerichtet war,
einschlägige Auszüge aus den Anlagen enthielt. Diese Art der Darstellung ließ
somit genau erkennen, auf welchen Sachverhalt und auf welche rechtlichen
Argumente sich die Kommission gestützt hatte (Urteil Tréfilunion/Kommission,
Randnr. 21). Die Klägerin war infolgedessen imstande, sich angemessen zu
verteidigen.
- 339.
- Somit ist der Klagegrund zurückzuweisen.
c) Zum Klagegrund einer unzureichenden Frist für die Vorbereitung der Antwort
auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte
Vorbringen der Parteien
- 340.
- Wacker und Hoechst machen geltend, die Kommission habe ihnen keine
Gelegenheit gegeben, von den Akten Kenntnis zu nehmen und anschließend ihren
Standpunkt gebührend darzulegen (Urteil des Gerichtshofes vom 27. Oktober 1977
in der Rechtssache 121/76, Moli/Kommission, Slg. 1977, 1971, Randnr. 20). Mit
ihrer Weigerung, die den Klägerinnen für eine Stellungnahme zur Mitteilung der
Beschwerdepunkte eingeräumte Frist trotz der konkreten Umstände zu verlängern,
habe die Kommission sowohl gegen die Rechte der Verteidigung als auch gegen
Artikel 11 der Verordnung Nr. 99/63 verstoßen.
- 341.
- BASF rügt, nicht über genügend Zeit zur Prüfung der Schriftstücke verfügt zu
haben, die ihr mit Schreiben vom 3. Mai 1988 übermittelt worden seien.
- 342.
- Die Kommission entgegnet auf das Vorbringen von Wacker und Hoechst, daß
Artikel 11 der Verordnung Nr. 99/63 eingehalten worden sei. So habe die Klägerin
für die schriftliche Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte zwei Monate
und für die Vorbereitung auf die Anhörung im September 1988 fünf Monate Zeit
gehabt. Diese Fristen seien völlig ausreichend, insbesondere wenn man sie mit den
Fristen des Artikels 173 Absatz 5 EG-Vertrag vergleiche (Urteil des Gerichtshofes
vom 14. Februar 1978 in der Rechtssache 27/76, United Brands/Kommission, Slg.
1978, 207, Randnrn. 270 bis 273). Daran ändere auch nichts, daß bestimmte
Anlagen zur Mitteilung der Beschwerdepunkte nicht in der Sprache der Klägerin
verfaßt gewesen seien, da die Klägerin und ihr Prozeßbevollmächtigter keine
Verständnisschwierigkeiten gehabt hätten.
- 343.
- Zu dem Argument von BASF führt die Kommission aus, die Klägerin könne
bezüglich der Schriftstücke in der Anlage zum Schreiben der Kommission vom 3.
Mai 1988 angesichts des Wortlauts dieses Schreibens nicht behaupten, daß sie erst
nach Erlaß der Entscheidung den Nutzen dieser Schriftstücke für ihre Verteidigung
erkannt habe; die Bewertung sei ihre Sache gewesen. Da das Schreiben am 3. Mai
1988 versandt worden und die Antwort am 10. Juni 1988 eingegangen sei, habe der
Klägerin genügend Zeit zur Verfügung gestanden; die Klägerin habe keine
Fristverlängerung über diesen Zeitpunkt hinaus beantragt und sich im übrigen
ausführlich geäußert. Artikel 11 Absatz 1 der Verordnung Nr. 99/63 sei somit
eingehalten worden.
Würdigung durch das Gericht
- 344.
- Artikel 2 Absatz 4 der Verordnung Nr. 99/63 bestimmt: „In der Mitteilung der
Beschwerdepunkte setzt die Kommission eine Frist, innerhalb welcher die
Unternehmen und Unternehmensvereinigungen Gelegenheit haben, sich zu
äußern.“ Dazu heißt es in Artikel 11 Absatz 1 dieser Verordnung: „[D]ie
Kommission [trägt] dem für die Äußerung erforderlichen Zeitaufwand und der
Dringlichkeit des Falles Rechnung. Die Frist muß mindestens zwei Wochen
betragen; sie kann verlängert werden.“
- 345.
- Im vorliegenden Fall wurde die Mitteilung der Beschwerdepunkte an die
betroffenen Unternehmen am 5. April 1988 versandt. Diese sollten sich bis zum 16.
Mai 1988 zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen äußern.
- 346.
- Mit Schreiben vom 3. Mai 1988 übersandte die Kommission an die Adressaten der
Mitteilung der Beschwerdepunkte eine Reihe von ergänzenden Schriftstücken mit
dem Hinweis, daß diese zwar in den Beschwerdepunkten nicht erwähnt seien, doch
„für die Beurteilung der Sache insgesamt erheblich sein könnten“.
- 347.
- Wacker und Hoechst beantragten eine Fristverlängerung bis zum 15. Juli 1988. Mit
Schreiben vom 18. Mai 1988 gewährte die Kommission ihnen insbesondere wegen
der Übermittlung der ergänzenden Schriftstücke am 3. Mai 1988 eine Verlängerung
bis zum 10. Juni 1988.
- 348.
- Auf den Antrag auf Fristverlängerung, den BASF am 5. Mai 1988 gestellt hatte und
der bei der Kommission am 17. Mai 1988 eingegangen war, setzte die Kommission
mit Schreiben vom 24. Mai 1988 das Fristende für die Antwort auf die Mitteilung
der Beschwerdepunkte auf den 10. Juni 1988 fest.
- 349.
- Unter den Umständen des vorliegenden Falles war die den Klägerinnen bewilligte
Frist von etwa zwei Monaten hinreichend, um ihnen die Vorbereitung ihrer
Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte zu ermöglichen (in diesem Sinne
Urteil United Brands/Kommission, Randnrn. 272 und 273).
- 350.
- Somit ist der Klagegrund zurückzuweisen.
2. Zu den Klagegründen, mit denen Mängel bei der Anhörung gerügt werden
a) Zum Klagegrund einer für die Vorbereitung der Anhörung unzureichenden Frist
- 351.
- Nach Ansicht von Wacker und Hoechst verfügte der Anhörungsbeauftragte nicht
über genügend Zeit, um die Anhörung vorzubereiten.
- 352.
- Die Kommission ist der Ansicht, daß diese Behauptung jeder Grundlage entbehre.
- 353.
- Selbst wenn die Klägerinnen zur Anführung eines solchen Klagegrundes berechtigt
wären, haben sie nicht dargetan, inwiefern die dem Anhörungsbeauftragten
eingeräumte Frist für die Vorbereitung der Anhörung für diesen nicht ausreichend
gewesen sein soll, und nicht einmal vorgetragen, inwiefern dieser Umstand, wenn
ihr Vorbringen begründet wäre, das Verwaltungsverfahren hätte fehlerhaft machen
können.
- 354.
- Somit ist der Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
b) Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen Artikel 3 der Verordnung Nr. 1
Vorbringen der Parteien
- 355.
- Nach Ansicht von BASF, Wacker, Hoechst und Enichem hat die Kommission gegen
Artikel 3 der Verordnung Nr. 1 verstoßen. Das Anhörungsprotokoll gebe die
Äußerungen der verschiedenen Beteiligten nur in der von diesen benutzten Sprache
wieder und nicht allein in der Sprache des Mitgliedstaats, dessen Hoheitsgewalt
diese Klägerinnen unterlägen. Diese Äußerungen sind nach Meinung von BASF
ebenfalls von wesentlicher Bedeutung, da der Vorwurf, ein Kartell gebildet zu
haben, gegen sämtliche Unternehmen erhoben worden sei.
- 356.
- Die Kommission hält diesen Klagegrund für unbegründet.
Würdigung durch das Gericht
- 357.
- Artikel 9 Absatz 4 der Verordnung Nr. 99/63 lautet: „Über die wesentlichen
Erklärungen jeder angehörten Person wird eine Niederschrift angefertigt. Die
Niederschrift wird verlesen und von der angehörten Person genehmigt.“
- 358.
- Im vorliegenden Fall steht fest, daß die Klägerinnen den wesentlichen Inhalt der
im Protokoll niedergelegten eigenen Erklärungen gebührend zur Kenntnis nehmen
konnten.
- 359.
- Zudem bestreiten die Klägerinnen nicht, daß sie dem Gang der Anhörung dank des
Simultandolmetschens folgen konnten. Sie behaupten auch nicht, daß die
Niederschrift mangels einer Übersetzung der Teile, die in einer anderen Sprache
abgefaßt waren als der des Staates, dessen Hoheitsgewalt sie unterstehen, in bezug
auf sie Ungenauigkeiten oder wesentliche Auslassungen enthalte, deren nachteilige
Folgen das Verwaltungsverfahren fehlerhaft machen könnten (Urteile ACF
Chemiefarma/Kommission, Randnr. 52, und Parker Pen/Kommission, Randnr. 74).
- 360.
- Somit ist dieser Klagegrund zurückzuweisen.
c) Zum Klagegrund der Unvollständigkeit des Anhörungsprotokolls
Vorbringen der Parteien
- 361.
- Nach Ansicht von BASF ist das Anhörungsprotokoll unvollständig. Es fehlten
nämlich entscheidende Teile der Ausführungen der anderen Unternehmen. So
seien in dem Protokoll entgegen den dort enthaltenen Hinweisen die Plädoyers, die
im Namen aller betroffenen Unternehmen vorgetragen worden seien, das Plädoyer
der Klägerin und das anderer Unternehmen nicht beigefügt gewesen. Da es sich
um Anschuldigungen wegen geheimer Abreden handele, sei die Kenntnis und
Prüfung des Verteidigungsvorbringens der anderen Beteiligten von wesentlicher
Bedeutung. Die Kommission könne sich nicht auf Artikel 9 Absatz 4 der
Verordnung Nr. 99/63 berufen, da diese Bestimmung nur die Prüfung der
Richtigkeit des Inhalts des Protokolls durch die angehörte Person betreffe, nicht
aber das Recht, von den Ausführungen der anderen Beteiligten Kenntnis zu
erlangen.
- 362.
- Wacker und Hoechst tragen den gleichen Klagegrund vor und führen dazu aus, daß
das Protokoll keinen Hinweis auf die gemeinsamen Ausführungen der einzelnen
Unternehmen enthalte.
- 363.
- Nach Ansicht der Kommission entspricht das BASF zugestellte Anhörungsprotokoll
Artikel 9 Absatz 4 der Verordnung Nr. 99/63, da das Unternehmen anhand dieses
Protokolls seine eigenen Erklärungen habe überprüfen können. Der Klägerin den
Text der Erklärungen, die die anderen betroffenen Unternehmen und ihre
Bevollmächtigten bei der Anhörung abgegeben hätten, zur Genehmigung
vorzulegen, habe daher keinen Sinn.
- 364.
- Im übrigen seien BASF, Wacker und Hoechst diese Erklärungen bekannt gewesen,
da sie an der Anhörung teilgenommen hätten.
Würdigung durch das Gericht
- 365.
- Im mündlichen Teil des Verwaltungsverfahrens vor der Kommission, der vom 5. bis
8. September 1988 und am 19. September 1988 durchgeführt wurde, hatten die
Beteiligten Gelegenheit zu einer gemeinsamen Stellungnahme zu bestimmten
Themen.
- 366.
- Aus dem Anhörungsprotokoll, das jedem an diesem Verfahrensabschnitt Beteiligten
übermittelt wurde, ergibt sich, daß die gemeinsamen Stellungnahmen in einer
Zusammenfassung wiedergegeben wurden.
- 367.
- Aus dem Protokoll ergibt sich ebenfalls, daß der vollständige Wortlaut der
verschiedenen im Namen der betroffenen Personen abgegebenen Stellungnahmen
in den Anlagen zum Protokoll hätte enthalten sein müssen. Diese Anlagen waren
dem Protokoll jedoch nicht beigefügt.
- 368.
- Dieser Umstand ist aber kein Mangel des Verwaltungsverfahrens, das zur
Rechtswidrigkeit der verfahrensabschließenden Entscheidung führen kann. Artikel
9 Absatz 4 der Verordnung Nr. 99/63 (wiedergegeben vorstehend in Randnr. 357)
soll nämlich den angehörten Personen die Gewähr bieten, daß die Niederschrift mit
ihren wesentlichen Erklärungen übereinstimmt (Urteil vom 14. Juli 1972,
ICI/Kommission, Randnr. 29). Soweit die gemeinsamen Plädoyers die Klägerinnen
betrafen, konnten diese vom wesentlichen Inhalt dieser Erklärungen Kenntnis
erlangen, da die Erklärungen insoweit in das Anhörungsprotokoll aufgenommen
worden waren. Im übrigen machen die Klägerinnen nicht geltend, daß die
Wiedergabe dieser Erklärungen in zusammengefaßter Form Unrichtigkeiten
enthalten hätte. Da diese Plädoyers im Namen der Klägerinnen gehalten wurden,
können diese nicht mit Erfolg geltend machen, daß sie keine hinreichende Kenntnis
von diesen Stellungnahmen gehabt hätten.
- 369.
- Daß der Text der Ausführungen von BASF und der anderen Beteiligten, die
Erklärungen abgegeben haben, nicht als Anlage zum Protokoll übermittelt wurde,
stellt ebenfalls keinen Mangel des Verwaltungsverfahrens dar, das zur
Rechtswidrigkeit der Entscheidung führen könnte, da das Protokoll selbst die
wesentlichen Erklärungen wiedergibt.
- 370.
- Jedenfalls ist festzustellen, daß BASF, Wacker und Hoechst an der Anhörung
teilgenommen haben und dabei von den tatsächlich gemeinsam dargestellten
Themen und den von anderen Beteiligten individuell abgegebenen Erklärungen
Kenntnis erlangen konnten.
- 371.
- Somit ist der Klagegrund zurückzuweisen.
d) Zum Klagegrund der Nichtvorlage des Berichts des Anhörungsbeauftragten
Vorbringen der Parteien
- 372.
- Wacker und Hoechst machen geltend, daß ihnen Gelegenheit hätte gegeben
werden müssen, vom Bericht des Anhörungsbeauftragten Kenntnis zu nehmen und
sich dazu zu äußern. Die Kommission habe diesen Bericht rechtswidrigerweise nicht
vorgelegt.
- 373.
- Nach Ansicht von BASF und Hüls ist die Entscheidung rechtswidrig, weil sie nicht
den Bericht des Anhörungsbeauftragten berücksichtige. Der zur Zeit der
Entscheidung 1988 erstellte Bericht des Anhörungsbeauftragten könne nämlich
tatsächliche und rechtliche Feststellungen enthalten, die in die gleiche Richtung
gingen wie die Kritik der Unternehmen. Die Klägerinnen beantragen daher, der
Kommission aufzugeben, den Bericht des Anhörungsbeauftragten vorzulegen.
- 374.
- Die Kommission widersetzt sich dem Antrag auf Beiziehung des Berichts des
Anhörungsbeauftragten mit der Begründung, daß es sich um ein Dritten nicht
zugängliches internes Schriftstück handele.
Würdigung durch das Gericht
- 375.
- Die Wahrung der Verteidigungsrechte verlangt nicht, daß den von einem Verfahren
nach Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag betroffenen Unternehmen Gelegenheit
gegeben wird, zu dem Bericht des Anhörungsbeauftragten, der ein rein internes
Schriftstück der Kommission ist, Stellung zu nehmen. Nach der Rechtsprechung ist
die Kommission an diesen Bericht, der für sie den Wert eines Gutachtens hat, in
keiner Weise gebunden. Dieser Bericht ist deshalb kein entscheidender Faktor, den
der Gemeinschaftsrichter bei seiner Prüfung zu berücksichtigen hätte (Beschluß
vom 11. Dezember 1986 in der Rechtssache 212/86 R, ICI/Kommission, Randnrn.
5 bis 8, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht). Die Wahrung der
Verteidigungsrechte ist nämlich rechtlich hinreichend sichergestellt, wenn die bei
der Ausarbeitung der endgültigen Entscheidung zusammenwirkenden Stellen
korrekt über die Argumentation der Unternehmen informiert worden sind, die
diese in Beantwortung der ihnen von der Kommission mitgeteilten
Beschwerdepunkte und gegenüber den von der Kommission zur Erhärtung dieser
Beschwerdepunkte vorgelegten Beweismitteln vorgetragen haben (Urteil
Michelin/Kommission, Randnr. 7).
- 376.
- Der Bericht des Anhörungsbeauftragten dient nicht dem Zweck, das Vorbringen
der Unternehmen zu ergänzen, zu korrigieren, neue Beschwerdepunkte zu
formulieren oder neue Beweismittel gegen die Unternehmen zu liefern (namentlich
Urteile des Gerichts vom 24. Oktober 1991 in der Rechtssache T-2/89,
Petrofina/Kommission, Slg. 1991, II-1087, Randnr. 54, und Hüls/Kommission,
Randnr. 87).
- 377.
- Folglich können die Unternehmen aus dem Grundsatz der Wahrung der
Verteidigungsrechte keinen Anspruch darauf ableiten, daß ihnen der Bericht des
Anhörungsbeauftragten zur Stellungnahme übermittelt wird (Urteile
Petrofina/Kommission, Randnr. 55, und Hüls/Kommission, Randnr. 88).
- 378.
- Infolgedessen ist der Klagegrund zurückzuweisen.
D Verstoß gegen Artikel 190 EG-Vertrag
Vorbringen der Parteien
- 379.
- Nach Ansicht der Klägerinnen ist in mehrfacher Hinsicht gegen die
Begründungspflicht gemäß Artikel 190 EG-Vertrag verstoßen worden.
- 380.
- So tragen Wacker und Hoechst vor, die Entscheidung sei in drei wesentlichen
Punkten nicht hinreichend begründet: bezüglich des Vorliegens der
Tatbestandsmerkmale einer Zuwiderhandlung, der Qualifizierung als Vereinbarung
oder abgestimmte Verhaltensweise und der Beteiligung dieser Klägerinnen.
- 381.
- Nach Ansicht von Montedison läßt die Entscheidung nicht erkennen, aus welchen
Erwägungen die Kommission beschlossen habe, die Geldbußen zu bestätigen, die
für einen Sachverhalt verhängt worden seien, der zehn bis fünfzehn Jahre
zurückliege (Urteil des Gerichtshofes vom 2. Mai 1990 in der Rechtssache C-27/89,
Scarpe, Slg. 1990, I-1701, Randnr. 27, und Urteil des Gerichts vom 24. Oktober
1991 in der Rechtssache T-3/89, Atochem/Kommission, Slg. 1991, II-1177, Randnr.
222). Im vorliegenden Fall gebe es kein berechtigtes Interesse (vgl. im Gegenschluß
Urteile des Gerichtshofes vom 2. März 1983 in der Rechtssache 7/82,
GVL/Kommission, Slg. 1983, 483, und vom 18. September 1992,
Automec/Kommission, Randnr. 85), das die Ermittlungen gegen ein Unternehmen
rechtfertigte, das sich seit mehr als zehn Jahren vom Markt zurückgezogen habe.
- 382.
- ICI macht geltend, die Entscheidung enthalte keinerlei Begründung für die
Verzögerung der Entscheidung der Kommission, für die Verfahrensentscheidung,
mit der auf eine neue Mitteilung der Beschwerdepunkte und die Anhörung der
Parteien verzichtet worden ist, für die Verwendung von Schriftstücken, die in einem
anderen Ermittlungsverfahren aufgefunden worden seien, oder von Beweisen, die
unter Verletzung des Rechts, sich nicht selbst zu belasten, erlangt worden seien, für
die Weigerung, gemäß den von der Rechtsprechung aufgestellten BedingungenAkteneinsicht zu gewähren, für die Verhängung einer Geldbuße, die zudem auf
einem tatsächlichen Irrtum beruhe, und für die Feststellung, daß die Entscheidung
1988 gegenüber Solvay und Norsk Hydro wirksam bleibe.
- 383.
- Nach Ansicht von Hüls ist die Entscheidung aus sich heraus unabhängig von den
Schriftstücken, auf die sie sich beziehe, nicht verständlich; keines dieser
Schriftstücke sei aber der Entscheidung beigefügt. Die Kommission nehme bei der
rechtlichen Würdigung weder auf bestimmte konkrete Beweismittel noch auf den
eingangs der angefochtenen Entscheidung geschilderten Sachverhalt Bezug.
Schließlich sei die Entscheidung vor allem im Hinblick auf die Dauer des
Verfahrens nicht ordnungsgemäß begründet (Urteil Sytraval und Brink's
France/Kommission, Randnr. 77 in Verbindung mit Randnr. 56).
- 384.
- Enichem trägt vor, die Kommission habe nicht erläutert, warum sie nach Ablauf
eines so langen Zeitraums erneut eine Geldbuße gegen die betroffenen
Unternehmen verhängt habe. Weder die Verordnung Nr. 2988/74, die höchstens
die Zuständigkeit der Kommission, nicht aber deren Entscheidung begründen
könne, noch der Umstand, daß die Kommission bereits 1988 die Verhängung der
Geldbußen beschlossen habe, was nicht bedeute, daß sie nach dem Urteil vom 15.
Juni 1994 erneut dazu verpflichtet gewesen wäre, könnten einen ausreichenden
Grund liefern.
- 385.
- Die Kommission hält diesen Klagegrund für unbegründet. Nach ihrer Ansicht
genügt die Entscheidung den Anforderungen des Artikels 190 EG-Vertrag.
Würdigung durch das Gericht
- 386.
- Nach ständiger Rechtsprechung hat die Pflicht zur Begründung von
Einzelfallentscheidungen den Zweck, dem Gemeinschaftsrichter die Überprüfung
der Entscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu ermöglichen und den Betroffenen
so ausreichend zu unterrichten, daß er erkennen kann, ob die Entscheidung
begründet oder eventuell mit einem Mangel behaftet ist, der ihre Anfechtung
ermöglicht; dabei hängt der Umfang der Begründungspflicht von der Art des
Rechtsakts und den Umständen ab, unter denen er erlassen wurde (vgl.
insbesondere Urteil des Gerichts vom 11. Dezember 1996 in der Rechtssache
T-49/95, Van Megen Sports/Kommission, Slg. 1996, II-1799, Randnr. 51).
- 387.
- In der ersten Randnummer der Entscheidung wird auf „den Vertrag zur Gründung
der Europäischen Gemeinschaft“ und damit implizit, aber zwangsläufig förmlich auf
den Auftrag der Kommission verwiesen (vorstehend, Randnrn. 148 und 149).
Bereits diese Verweisung ist eine ausreichende Begründung für das Interesse der
Kommission an der Feststellung einer Zuwiderhandlung und an deren Ahndung.
Da die Kommission bei der Ausübung der ihr im Vertrag im Wettbewerbsrecht
eingeräumten Befugnisse über ein Ermessen verfügt, muß sie ihre Gründe für die
Wahl dieses Weges nicht näher darlegen. Daher ist das Vorbringen von
Montedison und Enichem zurückzuweisen.
- 388.
- Was den von Wacker, Hoechst und Hüls erhobenen Vorwurf der unzureichenden
Begründung betrifft, so hat die Kommission zwar nach Artikel 190 EG-Vertrag ihre
Entscheidungen mit Gründen zu versehen und dabei die sachlichen und rechtlichen
Gesichtspunkte, von denen die Rechtmäßigkeit der Entscheidung abhängt, sowie
die Erwägungen aufzuführen, die sie zu deren Erlaß veranlaßt haben; sie braucht
jedoch nicht auf alle sachlichen und rechtlichen Fragen einzugehen, die während
des Verwaltungsverfahrens vorgebracht wurden (vgl. namentlich Urteil Van
Landewyck u. a./Kommission, Randnr. 66). Die Randnummern 7 bis 27 enthalten
eine klare Darstellung der wesentlichen Schriftstücke, die die Kommission als
Beweise für die Zuwiderhandlung ansieht. Ebenso enthalten die Randnummern 28
bis 39 eine ausreichende Begründung der rechtlichen Folgerungen, die sie aus dem
Sachverhalt zieht.
- 389.
- Kein Begründungsmangel der Entscheidung ist es, daß die Kommission für die
Verzögerung der Entscheidung, für die Verfahrensentscheidung, auf eine neue
Mitteilung der Beschwerdepunkte oder eine Anhörung der Parteien zu verzichten,
für die Verwendung von Schriftstücken, die im Rahmen eines anderen
Ermittlungsverfahrens aufgefunden worden sind oder von Beweisen, die unter
Verletzung des Rechts, sich nicht selbst zu belasten, erlangt sind, für die Weigerung
gemäß den von der Rechtsprechung aufgestellten Bedingungen Akteneinsicht zu
gewähren, und für die Verhängung einer Geldbuße, die angeblich auf einem
tatsächlichen Irrtum beruht, keine Erklärungen gibt. Diese Argumente von ICI sind
nämlich im wesentlichen darauf gerichtet, die Begründetheit der Würdigung dieser
verschiedenen Fragen durch die Kommission anzuzweifeln. Solche Argumente, die
zur Prüfung der Begründetheit der Entscheidung gehören, sind in dem vorliegenden
Kontext unerheblich.
- 390.
- Was das Argument von ICI betrifft, daß die zweite Entscheidung keine Begründung
dafür enthalte, daß die Entscheidung 1988 gegenüber Norsk Hydro und Solvay
wirksam sei, so genügt der Hinweis, daß die zweite Entscheidung hierzu eine
ausdrückliche Begründung enthält. In Randnummer 59 der Entscheidung heißt es
nämlich: „Da Solvay nicht beim Gerichtshof auf Nichtigerklärung der Entscheidung
geklagt hat und die Klage von Norsk Hydro für unzulässig erklärt wurde, bleibt die
Entscheidung 89/190/EWG ihnen gegenüber gültig.“
- 391.
- Somit ist der vorliegende Klagegrund zurückzuweisen.
II Zu den materiell-rechtlichen Klagegründen
- 392.
- Die Klägerinnen entwickeln im wesentlichen drei Argumentationslinien. Erstens
führen sie eine Reihe von Klagegründen an, die die Beweise betreffen (A).
Zweitens machen sie geltend, daß ein Verstoß gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag weder tatsächlich noch rechtlich vorliege (B). Drittens führt jede Klägerin
Argumente zum Beweis dafür an, daß jedenfalls sie an der ihr zur Last gelegten
Zuwiderhandlung nicht beteiligt gewesen sei (C).
A Zu den Beweisen
- 393.
- Die Klagegründe umfassen zwei Gesichtspunkte. Zum einen machen die
Klägerinnen geltend, daß einige der gegen sie verwendeten Beweise unzulässig
seien. Zum anderen ziehen sie den Beweiswert der gegen sie angeführten
Beweismittel in Frage.
1. Zur Zulässigkeit der Beweise
- 394.
- Die Klägerinnen machen geltend, daß die gegen sie verwendeten Beweise
unzulässig seien. Sie führen hierzu sechs Klagegründe an: erstens sei gegen den
Grundsatz der Unverletzlichkeit der Wohnung verstoßen worden; zweitens sei das
grundsätzliche Recht, die Aussage zu verweigern und sich nicht selbst zu belasten,
verletzt worden; drittens sei Artikel 20 der Verordnung Nr. 17 verletzt worden;
viertens könne die Weigerung, auf die Auskunftsverlangen zu antworten oder
Schriftstücke vorzulegen, nicht als Beweis gewertet werden, der gegen sie spreche;
fünftens seien ihnen bestimmte Schriftstücke niemals oder, sechstens, verspätet
übermittelt worden.
- 395.
- Diesen Klagegründen ist nach Ansicht der Klägerinnen gemeinsam, daß im Falle
ihrer Begründetheit die streitigen Schriftstücke im Verfahren unberücksichtigt
bleiben müßten und die Rechtmäßigkeit der Entscheidung ohne sie zu beurteilen
wäre (Urteil AEG/Kommission, Randnrn. 24 bis 30, und Beschluß des Präsidenten
des Gerichtshofes vom 26. März 1987 in der Rechtssache 46/87 R,
Hoechst/Kommission, Slg. 1987, 1549, Randnr. 34).
a) Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der
Wohnung
Vorbringen der Parteien
- 396.
- Nach Ansicht von LVM und DSM kann das Gericht prüfen, ob Nachprüfungen im
Rahmen des Artikels 14 der Verordnung Nr. 17 im Einklang mit Artikel 8 MRK
ständen. Diese Bestimmung habe nämlich unmittelbare Geltung im
Gemeinschaftsrecht. Nachprüfungen in den Geschäftsräumen einer natürlichen oder
juristischen Person aufgrund von Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung Nr. 17
stellten eine „Durchsuchung“ dar, die unter Artikel 8 MRK falle.
- 397.
- Auch wenn die Klägerinnen gegen die Nachprüfungsentscheidungen keine Klage
erhoben hätten, hätten sie doch weiterhin ein Interesse an der Überprüfung ihrer
Rechtmäßigkeit, da die Entscheidung auf Beweisen beruhe, die auf unzulässige
Weise erlangt worden seien. Zudem hätten sich die Nachprüfungen in den
Geschäftsräumen von DSM am 6. Dezember 1983 auf einen Prüfungsauftrag nach
Artikel 14 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 gegründet, der mit einer
Nichtigkeitsklage nach Artikel 173 EG-Vertrag nicht angefochten werden könne.
- 398.
- Mit dem ersten Teil dieses Klagegrundes machen die Klägerinnen geltend, daß die
Kommission bei ihren Nachprüfungen gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit
der Wohnung im Sinne des Artikels 8 MRK verstoßen habe, wie er in der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ausgelegt
worden sei (EuGHMR, Urteil vom 16. Dezember 1992, Niemietz/Deutschland,
Serie A, Nr. 251-B) und dessen Prüfung weiter reiche als die im
Gemeinschaftsrecht (Urteil Hoechst/Kommission und Urteil des Gerichtshofes vom
17. Oktober 1989 in der Rechtssache 85/87, Dow Benelux/Kommission, Slg. 1989,
3137).
- 399.
- So seien die Nachprüfungsanordnungen ohne vorherige richterliche Genehmigung
ergangen. Die Nachprüfungsentscheidungen oder Prüfungsaufträge seien allgemein
ohne irgendeine Einschränkung formuliert gewesen und hätten nicht den
Gegenstand der Nachprüfung erkennen lassen, wie die an LVM gerichtete
Nachprüfungsentscheidung vom 4. November 1987 und der Prüfungsauftrag vom
29. November 1983 belegten, aufgrund dessen die Nachprüfungen in den
Räumlichkeiten von DSM am 6. Dezember 1983 durchgeführt worden seien. Eine
Nachprüfung sei nur zulässig, soweit sie erforderlich sei (Artikel 14 Absatz 1 der
Verordnung Nr. 17 und Artikel 8 MRK). Diese Erforderlichkeit sei im Lichte der
Beschreibung der Verdachtsmomente, die die Kommission überprüfen wolle, zu
beurteilen; im vorliegenden Fall fehle eine solche Beschreibung gerade.
- 400.
- Folglich seien alle Nachprüfungsanordnungen der Kommission im vorliegenden Fall
rechtswidrig.
- 401.
- Enichem macht geltend, daß „die folgende Nachprüfungsentscheidung rechtswidrig
ist, da ihr Gegenstand ... allgemein formuliert ist“ und damit gegen Artikel 14 der
Verordnung Nr. 17 verstoße.
- 402.
- Mit dem zweiten Teil dieses Klagegrundes stellen LVM und DSM die
Rechtmäßigkeit der Durchführung der Nachprüfungen der Kommission in Frage.
Diese habe bei ihren Nachprüfungen angesichts der Art und des Umfangs der
dabei tatsächlich geprüften Schriftstücke das Geschäftsgeheimnis verletzt.
- 403.
- Nach Ansicht der Kommission ist die Europäische Konvention zum Schutze der
Menschenrechte nicht auf gemeinschaftsrechtliche Wettbewerbsverfahren
anwendbar. Zudem sei der Klagegrund nicht zulässig, da die Klägerinnen gegen die
Nachprüfungsanordnung der Kommission keine Klage erhoben hätten.
- 404.
- Zur Begründetheit des Klagegrundes trägt die Kommission vor, daß Artikel 8 MRK
in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nichts
an der Erheblichkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofes ändere (Urteile
Hoechst/Kommission und Dow Benelux/Kommission).
Würdigung durch das Gericht
- 405.
- Die Kommission hat im vorliegenden Fall Nachprüfungen nach Artikel 14 Absatz
2 der Verordnung Nr. 17 in den Räumlichkeiten folgender Unternehmen
durchgeführt: bei Shell und ICI auf der Grundlage eines Prüfungsauftrags vom 16.
November 1983, bei DSM auf der Grundlage eines Prüfungsauftrags vom 29.
November 1983, bei EVC, einem gemeinsamen Unternehmen von ICI und
Enichem, auf der Grundlage eines Prüfungsauftrags vom 17. Juli 1987, und bei Hüls
auf der Grundlage eines Prüfungsauftrags vom 17. September 1987.
- 406.
- Die Kommission hat am 15. Januar 1987 gegenüber den Unternehmen Alcudia,
Atochem, BASF, Hoechst und Solvay und am 4. November 1987 gegenüber
Wacker und LVM Nachprüfungsentscheidungen gemäß Artikel 14 Absatz 3 der
Verordnung Nr. 17 erlassen.
- 407.
- Zunächst ist die Zulässigkeit des Klagegrundes, die von der Kommission verneint
wird, und dann die Begründetheit zu prüfen.
i) Zur Zulässigkeit des Klagegrundes
- 408.
- Nachprüfungsentscheidungen sind selbst Rechtsakte, die mit einer Nichtigkeitsklage
nach Artikel 173 EG-Vertrag angefochten werden können. So sieht Artikel 14
Absatz 3 der Verordnung Nr. 17 ausdrücklich vor, daß die
Nachprüfungsentscheidung „auf das Recht hin[weist], vor dem Gerichtshof gegen
die Entscheidung Klage zu erheben“.
- 409.
- Nach gefestigter Rechtsprechung wird eine Entscheidung der Gemeinschaftsorgane,die von ihrem Adressaten nicht innerhalb der Frist des Artikels 173 EG-Vertrag
angefochten worden ist, ihm gegenüber bestandskräftig. Diese Rechtsprechung
beruht vor allem auf der Erwägung, daß die Klagefristen der Wahrung der
Rechtssicherheit dienen sollen, indem sie verhindern, daß das Rechtswirkungen
entfaltende Gemeinschaftshandeln wieder und wieder in Frage gestellt wird
(namentlich Urteil des Gerichtshofes vom 30. Januar 1997 in der Rechtssache
C-178/95, Wiljo, Slg. 1997, I-585, Randnr. 19).
- 410.
- LVM ist daher wegen Fristversäumnisses davon ausgeschlossen, die
Rechtswidrigkeit der Nachprüfungsentscheidung geltend zu machen, die an sie
gerichtet war und von ihr nicht fristgerecht angefochten worden ist. Der Klagegrund
ist daher unzulässig.
- 411.
- Dagegen können LVM und DSM, soweit von der Kommission erlangte
Schriftstücke gegen sie verwendet werden, die Rechtswidrigkeit der gegen andere
Unternehmen gerichteten Nachprüfungsentscheidungen geltend machen, denn es
steht nicht fest, daß die beiden Unternehmen mit einer gegen diese Entscheidungen
gerichteten unmittelbaren Klage ohne jeden Zweifel deren Rechtswidrigkeit hätten
geltend machen können.
- 412.
- Ebenso können die Klägerinnen im Rahmen einer Nichtigkeitsklage gegen die
Endentscheidung die Rechtswidrigkeit der Prüfungsaufträge geltend machen, die
als solche nicht mit einer Klage nach Artikel 173 EG-Vertrag anfechtbar sind.
- 413.
- Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes kann ein Unternehmen mit einer
Klage auf Nichtigerklärung des Rechtsakts, auf dessen Grundlage die Kommission
eine Nachprüfung durchführt, nicht die Rechtswidrigkeit des Ablaufs des
Nachprüfungsverfahrens geltend machen. Die richterliche Überprüfung der
Umstände, unter denen eine Nachprüfung durchgeführt worden ist, hat
gegebenenfalls im Rahmen einer Nichtigkeitsklage gegen die von der Kommission
nach Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag erlassene Endentscheidung zu erfolgen
(Urteil Dow Benelux/Kommission, Randnr. 49, sowie Schlußanträge des
Generalanwalts Mischo in dieser Rechtssache, Slg. 1989, 3149, Nr. 127 a. E.;
Beschluß des Gerichts vom 9. Juni 1997 in der Rechtssache T-9/97, Elf
Atochem/Kommission, Slg. 1997, II-909, Randnr. 25).
- 414.
- Die Klägerinnen können somit ebenfalls Einwände gegen den Ablauf der von der
Kommission durchgeführten Nachprüfungsverfahren erheben.
- 415.
- Somit beschränkt sich die von der Kommission geltend gemachte Unzulässigkeit auf
den Klagegrund von LVM, soweit dieser sich gegen die an LVM gerichtete
Nachprüfungsentscheidung richtet.
- 416.
- Bezüglich des von Enichem vorgetragenen Klagegrundes ist jedoch festzustellen,
daß das Gericht weder anhand der Schriftsätze der Klägerin noch aufgrund der
mündlichen Verhandlung die Nachprüfungsentscheidung ermitteln konnte, deren
Rechtmäßigkeit von der Klägerin verneint wird. Daher ist der Klagegrund, soweit
er von Enichem geltend gemacht wird, für unzulässig zu erklären, da dem Gericht
weder dessen Sinn noch dessen Tragweite erkennbar ist.
ii) Zur Begründetheit des Klagegrundes
- 417.
- Aus den bereits dargelegten Gründen (vorstehend, Randnr. 120) ist der Klagegrund
dahin zu verstehen, daß mit ihm ein Verstoß gegen den allgemeinen Grundsatz des
Gemeinschaftsrechts geltend gemacht wird, der Schutz gegen willkürliche oder
unverhältnismäßige Eingriffe staatlicher Gewalt in die Sphäre der privaten
Betätigung jeder natürlichen oder juristischen Person gewährleistet (Urteile
Hoechst/Kommission, Randnr. 19, Dow Benelux/Kommission, Randnr. 30, und
Urteil des Gerichtshofes vom 17. Oktober 1989 in den Rechtssachen 97/87, 98/87
und 99/87, Dow Chemical Ibérica u. a./Kommission, Slg. 1989, 3165, Randnr. 16).
- 418.
- Dieser Klagegrund besteht aus zwei Teilen: Der eine betrifft die Gültigkeit der
Nachprüfungsanordnungen, der andere die Durchführung dieser Anordnungen.
Zur ersten Rüge bezüglich der Gültigkeit der Nachprüfungsanordnungen
- 419.
- Erstens ist unstreitig, daß die Nachprüfungsentscheidungen, die die Kommission
1987 an einige Unternehmen gerichtet hat, mit der Entscheidung übereinstimmen
oder vergleichbar sind, die am 15. Januar 1987 an Hoechst gerichtet worden war.
Hoechst hatte gegen diese Entscheidung eine Nichtigkeitsklage erhoben, die vom
Gerichtshof abgewiesen wurde (Urteil Hoechst/Kommission). Soweit die heute von
LVM und DSM vorgetragenen Rügen und Argumente mit den seinerzeit von
Hoechst vorgetragenen übereinstimmen oder vergleichbar sind, sieht das Gericht
keinen Grund, von der Rechtsprechung des Gerichtshofes abzuweichen.
- 420.
- Diese Rechtsprechung beruht auf dem vorstehend genannten allgemeinen
gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz, der für juristische Personen gilt. Wenn die
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zur
Anwendbarkeit des Artikels 8 MRK auf juristische Personen sich seit Erlaß der
Urteile Hoechst/Kommission, Dow Benelux/Kommission und Dow Chemical Ibérica
u. a./Kommission weiterentwickelt haben sollte, hätte dies daher keine unmittelbare
Auswirkung auf die Richtigkeit der in diesen Urteilen vertretenen Lösungen.
- 421.
- Zweitens beruhen, wie sich aus Artikel 14 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 ergibt,
die aufgrund eines bloßen Auftrags durchgeführten Nachprüfungen auf der
freiwilligen Mitarbeit der Unternehmen (Urteile Hoechst/Kommission, Randnr. 31,
Dow Benelux/Kommission, Randnr. 42, und Dow Chemical Ibérica
u. a./Kommission, Randnr. 28). Daran ändert auch nichts der Umstand, daß Artikel
15 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung Nr. 17 eine Sanktion vorsieht. Eine
solche Sanktion kommt nämlich nur zur Anwendung, wenn das Unternehmen, das
sich zur Zusammenarbeit bei der Nachprüfung bereit erklärt hat, die angeforderten
Bücher oder sonstigen Geschäftsunterlagen nicht vollständig vorlegt.
- 422.
- Hat ein Unternehmen an einer aufgrund eines Prüfungsauftrags durchgeführten
Nachprüfung tatsächlich mitgewirkt, ist die Rüge eines übermäßigen Eingriffs der
staatlichen Gewalt unbegründet, sofern keine Anhaltspunkte dafür genannt werden,
daß die Kommission über die von dem Unternehmen angebotene Zusammenarbeit
hinausgegangen sei.
- 423.
- Somit ist dieser Teil des Klagegrundes zurückzuweisen.
Zum zweiten Teil dieses Klagegrundes betreffend die Durchführung der
Nachprüfungsanordnungen
- 424.
- Die Klägerinnen tragen dazu lediglich vor, daß die Kommission angesichts des
Umfangs der kopierten und mitgenommenen Schriftstücke das Geschäftsgeheimnis
der Unternehmen verletzt habe.
- 425.
- Die angeblich unverhältnismäßige Menge der von der Kommission kopierten
Schriftstücke, zu der die Klägerinnen im übrigen nichts Näheres vorgetragen haben,
kann als solche keinen Fehler im Ablauf einer Nachprüfung darstellen, zumal wenn
die Kommission wegen eines Kartells sämtlicher europäischer Hersteller eines
bestimmten Sektors ermittelt. Zudem sind die Beamten und sonstigen Bediensteten
der Kommission nach Artikel 20 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 verpflichtet, die
Kenntnisse, die sie in Durchführung dieser Verordnung erlangt haben und die ihrer
Natur nach unter das Berufsgeheimnis fallen, nicht preiszugeben.
- 426.
- Somit sind Unregelmäßigkeiten bei den von der Kommission durchgeführten
Nachprüfungen nicht nachgewiesen.
- 427.
- Aufgrund dessen ist der vorliegende Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
b) Zum Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen das Recht, „die Aussage zu
verweigern“ und sich nicht selbst zu belasten, gerügt wird
Vorbringen der Parteien
- 428.
- Dieser Klagegrund umfaßt zwei Teile.
- 429.
- Mit dem ersten Teil dieses Klagegrundes machen LVM, DSM und ICI geltend, daß
nach Artikel 14 Absatz 3 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische
Rechte sowie nach Artikel 6 MRK in der Auslegung durch den Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte jeder Beschuldigte einschließlich der Unternehmen
von Anfang an das Recht habe, jede Aussage zu verweigern (EuGHMR, Urteil
Funke/Frankreich, Randnr. 44, und Stellungnahme der Europäischen Kommission
für Menschenrechte vom 10. Mai 1994, Saunders/Vereinigtes Königreich, Nrn. 69,
71 und 76; anders das frühere Urteil des Gerichtshofes, Orkem/Kommission,
Randnrn. 30 bis 35 und 37 bis 41; die dort vorgenommene Würdigung, die
erheblich hinter dem Urteil Funke/Frankreich zurückbleibe, habe nun keine
Bedeutung mehr). Die Kommission könne die Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofes für Menschenrechte nicht außer acht lassen (Urteile des
Gerichtshofes vom 18. Juni 1991 in der Rechtssache C-260/89, ERT, Slg. 1991,
I-2925, Randnr. 41, und Orkem/Kommission, Randnr. 30).
- 430.
- Folglich müßten alle Informationen, die die Kommission aufgrund von Artikel 11
der Verordnung Nr. 17 erhalten habe, im Verfahren unberücksichtigt bleiben. Dies
gelte sowohl für die Entscheidungen über die Anforderung von Auskünften gemäß
Artikel 11 Absatz 5 der Verordnung Nr. 17 als auch für die Auskunftsverlangen
nach Artikel 11 Absatz 1 dieser Verordnung; da nämlich die Sanktionen nach
Artikel 15 Absatz 1 Buchstabe b dieser Verordnung sowohl in dem einen als auch
in dem anderen Fall verhängt werden könnten, handle es sich um erzwungene
Auskünfte im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte.
- 431.
- Die Rechte der verletzten Unternehmen könnten nicht mit der Begründung außer
Betracht gelassen werden, daß ein solches Ergebnis die Rechtmäßigkeit des
Artikels 11 der Verordnung Nr. 17 insgesamt in Frage stellen könnte; die
Kommission müsse deshalb den Nachweis der Zuwiderhandlung mit anderen
Mitteln führen, die mit den Artikeln 6 und 8 MRK vereinbar seien.
- 432.
- Somit könne keine der Antworten der Unternehmen auf die Auskunftsverlangen,
die die Kommission an sie gerichtet habe, zur Beweisführung beitragen.
- 433.
- Mit dem zweiten Teil dieses Klagegrundes berufen sich LVM, Elf Atochem, DSM,
ICI und Enichem auf ihr Recht, sich nicht selbst zu belasten.
- 434.
- Infolgedessen müssen nach Ansicht von LVM, Elf Atochem, DSM und ICI die
Antworten auf die Fragen, die in den Urteilen des Gerichtshofes vom 18. Oktober
1989 in den Rechtssachen Orkem/Kommission und 27/88 (Solvay/Kommission, Slg.
1989, 3355) für rechtswidrig erklärt worden seien, im Verfahren unberücksichtigt
bleiben.
- 435.
- Elf Atochem greift auf diese Weise die an sie gerichtete Entscheidung nach Artikel
11 Absatz 5 der Verordnung Nr. 17 an. LVM, DSM und ICI machen dagegen die
Rechtswidrigkeit sämtlicher Auskunftsverlangen geltend, unabhängig davon, an
welches Unternehmen sie gerichtet sind und auf welche Rechtsgrundlage sie sich
stützen.
- 436.
- Nach Ansicht von Enichem hat die Kommission die Unternehmen dazu gebracht,
sich selbst zu belasten, indem sie sie gezwungen habe, Nachprüfungen zu dulden,
obwohl sie nicht den geringsten Anhaltspunkt für die vermuteten Verhaltensweisen
gehabt habe.
- 437.
- Nach Ansicht der Kommission ist die Europäische Konvention für Menschenrechte
auf gemeinschaftsrechtliche Wettbewerbsverfahren nicht anwendbar. Zudem sei der
Klagegrund nicht zulässig, da die Klägerinnen gegen die Entscheidungen über die
Anforderung von Auskünften keine Klage erhoben hätten.
- 438.
- Jedenfalls hätten die Unternehmen im vorliegenden Fall keine Antwort auf
irgendeine der Fragen gegeben, die der Gerichtshof für gemeinschaftsrechtswidrig
gehalten habe (Urteile Orkem/Kommission und vom 18. Oktober 1989,
Solvay/Kommission).
Würdigung durch das Gericht
- 439.
- Im Rahmen ihrer Untersuchung in der vorliegenden Sache hat die Kommission an
die meisten Klägerinnen Auskunftsverlangen nach Artikel 11 der Verordnung Nr.
17 gerichtet. Einige waren Auskunftsverlangen nach Artikel 11 Absatz 1, andere
Entscheidungen gemäß Artikel 11 Absatz 5.
- 440.
- Zunächst ist die Zulässigkeit des Klagegrundes, die von der Kommission verneint
wird, anschließend seine Begründetheit zu prüfen.
Zur Zulässigkeit des Klagegrundes
- 441.
- Aus den vorstehend dargelegten Gründen bezüglich der
Nachprüfungsentscheidungen, die auf die Entscheidungen über die Anforderung
von Auskünften übertragbar sind, sind die Klägerinnen wegen Fristversäumnisses
davon ausgeschlossen, die Rechtswidrigkeit der Entscheidungen über die
Anforderung von Auskünften geltend zu machen, die an sie gerichtet waren und
die sie nicht binnen zwei Monaten ab Zustellung angefochten haben.
- 442.
- Der Klagegrund ist daher unzulässig, soweit er darauf abzielt, die Entscheidungen
über die Anforderung von Auskünften, die an die einzelnen Klägerinnen gerichtet
worden sind, für rechtswidrig zu erklären.
Zur Begründetheit des Klagegrundes
- 443.
- Die Kommission soll durch die ihr in der Verordnung Nr. 17 eingeräumten
Befugnisse in die Lage versetzt werden, die ihr durch den Vertrag übertragene
Aufgabe zu erfüllen, nämlich für die Einhaltung der Wettbewerbsregeln im
Gemeinsamen Markt zu sorgen.
- 444.
- Während der Voruntersuchung erkennt die Verordnung Nr. 17 dem Unternehmen,
auf das sich eine Untersuchungsmaßnahme bezieht, nicht das Recht zu, sich dem
Vollzug dieser Maßnahme mit der Begründung zu entziehen, daß die Ergebnisse
den Beweis für eine von ihm begangene Zuwiderhandlung gegen die
Wettbewerbsregeln erbringen könnten. Sie erlegt ihm im Gegenteil eine
Verpflichtung zur aktiven Mitwirkung auf, aufgrund deren es alle den Gegenstand
der Untersuchung betreffenden Informationen für die Kommission bereithalten
muß (Urteil Orkem/Kommission, Randnr. 27, und Urteil des Gerichts vom 8. März
1995 in der Rechtssache T-34/93, Société générale/Kommission, Slg. 1995, II-545,
Randnr. 72).
- 445.
- In Ermangelung eines in der Verordnung Nr. 17 ausdrücklich verankerten Rechts
zur Verweigerung der Aussage ist zu prüfen, ob sich nicht aus dem Erfordernis der
Wahrung der Rechte der Verteidigung, das der Gerichtshof als fundamentalen
Grundsatz der Gemeinschaftsrechtsordnung angesehen hat, Beschränkungen der
Untersuchungsbefugnisse der Kommission während der Voruntersuchung ergeben
(Urteil Orkem/Kommission, Randnr. 32).
- 446.
- Die Rechte der Verteidigung müssen in Verfahren, die zu Sanktionen führen
können, beachtet werden, doch muß auch verhindert werden, daß diese Rechte in
nichtwiedergutzumachender Weise in Voruntersuchungsverfahren beeinträchtigt
werden, die von entscheidender Bedeutung für den Nachweis rechtswidriger
Verhaltensweisen von Unternehmen sein können (Urteile Orkem/Kommission,
Randnr. 33, und Société générale/Kommission, Randnr. 73).
- 447.
- Um die praktische Wirksamkeit des Artikels 11 Absätze 2 und 5 der Verordnung
Nr. 17 zu sichern, kann die Kommission das Unternehmen jedoch verpflichten, ihr
alle erforderlichen Auskünfte über ihm eventuell bekannte Tatsachen zu erteilen
und ihr erforderlichenfalls die in seinem Besitz befindlichen Schriftstücke, die sich
hierauf beziehen, zu übermitteln, selbst wenn sie dazu verwendet werden können,
den Beweis für ein wettbewerbswidriges Verhalten des Betreffenden oder eines
anderen Unternehmens zu erbringen (Urteile Orkem/Kommission, Randnr. 34, vom
18. Oktober 1989, Solvay/Kommission und Société générale/Kommission, Randnr.
74).
- 448.
- Die Anerkennung eines Rechts auf uneingeschränkte Aussageverweigerung, das die
Klägerinnen geltend machen, ginge tatsächlich über das hinaus, was für die
Wahrung der Rechte der Verteidigung der Unternehmen erforderlich ist, und wäre
eine nicht gerechtfertigte Behinderung der Kommission bei der Erfüllung der ihr
durch Artikel 89 EG-Vertrag übertragenen Aufgabe, über die Einhaltung der
Wettbewerbsregeln im Gemeinsamen Markt zu wachen. Die Unternehmen haben
sowohl bei ihren Antworten auf die Auskunftsverlangen als auch anschließend im
Verwaltungsverfahren, wenn die Kommission die Eröffnung eines solchen
gegebenenfalls beschließt, in jeder Hinsicht Gelegenheit, sich insbesondere zu den
Schriftstücken, die sie vorlegen mußten, oder zu ihren Antworten auf
Auskunftsverlangen der Kommission zu äußern.
- 449.
- Die Kommission darf jedoch durch eine Entscheidung über die Anforderung von
Auskünften nicht die Verteidigungsrechte des Unternehmens beeinträchtigen. Sie
darf daher dem Unternehmen nicht die Verpflichtung auferlegen, Antworten zu
erteilen, durch die es das Vorliegen einer Zuwiderhandlung eingestehen müßte, für
die die Kommission den Beweis zu erbringen hat (Urteile Orkem/Kommission,
Randnrn. 34 a. E. und 35, vom 18. Oktober 1989, Solvay/Kommission und Société
générale/Kommission, Randnr. 74).
- 450.
- In diesem Rahmen ist das Vorbringen der Klägerinnen zu würdigen.
- 451.
- Im vorliegenden Fall ist unstreitig, daß die in den Entscheidungen über die
Anforderung von Auskünften enthaltenen Fragen, die von den Klägerinnen mit
diesem Teil des Klagegrundes beanstandet werden, mit denen übereinstimmen, die
der Gerichtshof in seinen Urteilen Orkem/Kommission und vom 18. Oktober 1989,
Solvay/Kommission für nichtig erklärt hat. Auch diese Fragen sind deshalb
rechtswidrig.
- 452.
- Aus den Akten ergibt sich jedoch, wie die Kommission hervorgehoben hat, daß die
Unternehmen entweder eine Beantwortung dieser Fragen abgelehnt oder die
Tatsachen geleugnet haben, über die sie befragt wurden.
- 453.
- Unter diesen Umständen hat die Rechtswidrigkeit der betreffenden Fragen keine
Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der Entscheidung.
- 454.
- Tatsächlich haben die Klägerinnen weder eine Antwort anführen können, die sie
gerade auf diese Fragen gegeben hätten, noch mitgeteilt, welchen Gebrauch die
Kommission von diesen Antworten in der Entscheidung gemacht haben soll.
- 455.
- Zweitens ist ein Unternehmen anders als bei den Entscheidungen über die
Anforderung von Auskünften zu einer Antwort auf Auskunftsverlangen nach
Artikel 11 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 nicht verpflichtet.
- 456.
- Somit stand es den Unternehmen frei, auf Fragen, die ihnen aufgrund dieser
Vorschrift gestellt wurden, zu antworten oder nicht. Daran ändert auch der
Umstand nichts, daß in Artikel 15 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 17
eine Sanktion vorgesehen ist. Eine solche Sanktion kann nur verhängt werden,
wenn das Unternehmen, das sich zur Beantwortung bereit erklärt hat,
unzutreffende Auskünfte gibt.
- 457.
- Daher erlegt die Kommission mit Auskunftsverlangen nach Artikel 11 Absatz 1 der
Verordnung Nr. 17 einem Unternehmen nicht die Verpflichtung auf, Antworten zu
geben, durch die es das Vorliegen einer Zuwiderhandlung eingestehen müßte, für
die die Kommission den Beweis zu erbringen hat.
- 458.
- Drittens ist zu dem besonderen Argument von Enichem festzustellen, daß die
Frage, ob die Kommission das ihr auferlegte Verbot beachtet hat, die
Unternehmen nicht zur Erteilung von Antworten zu verpflichten, durch die sie das
Vorliegen einer Zuwiderhandlung eingestehen müßten, nur im Hinblick auf die Art
und den Inhalt der gestellten Fragen, nicht aber auf die Anhaltspunkte zu
beurteilen ist, über die die Kommission vorher verfügte. Im übrigen hat der
Gerichtshof im Urteil Hoechst/Kommission bezüglich einer
Nachprüfungsentscheidung, die mit den an die anderen PVC-Hersteller gerichteten
Entscheidungen vergleichbar ist, festgestellt, daß diese Entscheidung die in Artikel
14 Absatz 3 der Verordnung Nr. 17 vorgeschriebenen wesentlichen Angaben
enthielt. Insbesondere hat er darauf hingewiesen, daß in dieser Entscheidung
namentlich Informationen erwähnt wurden, die dafür sprachen, daß zwischen
einigen PVC-Herstellern Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen
bestanden und durchgeführt wurden, die möglicherweise gegen Artikel 85 EG-Vertrag verstießen (Urteil Hoechst/Kommission, Randnr. 42). Somit ist das
Argument von Enichem zurückzuweisen.
- 459.
- Infolgedessen ist der Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
c) Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen Artikel 20 Absatz 1 der Verordnung Nr.
17
Vorbringen der Parteien
- 460.
- LVM, DSM, ICI, Hüls und Enichem verweisen darauf, daß nach Artikel 20 Absatz
1 der Verordnung Nr. 17 rechtmäßig gewonnene Informationen nur zu dem Zweck
verwertet werden dürften, zu dem sie beschafft worden seien (Urteil Dow
Benelux/Kommission, Randnrn. 17 und 18, und zu damit zusammenhängenden
Fragen: Urteile des Gerichtshofes vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C-67/91,
Asociación Española de Banca Privada u. a., Slg. 1992, I-4785, Randnrn. 35 bis 39
und 42 bis 54, und vom 10. November 1993 in der Rechtssache C-60/92, Otto, Slg.
1993, I-5683, Randnr. 20).
- 461.
- Wenn die Kommission im Rahmen einer Untersuchung gesammelte Informationen
als Anhaltspunkte für die Beurteilung der Frage verwenden dürfe, ob es angebracht
sei, ein anderes Untersuchungsverfahren zu eröffnen (Dow Benelux/Kommission,
Randnr. 19), könne sie diese Informationen jedoch nicht als Beweis für diese neue
Zuwiderhandlung verwenden (Urteil Asociación Española de Banca Privada u. a.,
Randnr. 42), für die sie andere Beweismittel finden müsse.
- 462.
- In folgendem Fall habe die Kommission bei den Ermittlungen in der Sache, die
zum Erlaß der Entscheidung 86/398/EWG der Kommission vom 23. April 1986
betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 des EWG-Vertrags (IV/31.149
Polypropylen) (ABl. L 230, S. 1) geführt habe, Schriftstücke aufgefunden, von
denen einige später rechtswidrig als Beweise in der vorliegenden Sache verwandt
worden seien. Im einzelnen handele es sich um die sogenannten
„Planungsdokumente“, ein Schriftstück mit der Bezeichnung „sharing the pain“
[Teilung der Bürde] in den Anlagen 3 bzw. 6 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte
und um einen Vermerk von ICI vom 15. April 1981 in der Anlage zum Schreiben
der Kommission vom 27. Juli 1988. LVM und DSM machen geltend, daß es auch
um Schriftstücke von DSM gehe.
- 463.
- Indem die Kommission diese Schriftstücke als Beweise in der vorliegenden Sache
verwandt habe, habe sie folglich gegen Artikel 20 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17
verstoßen.
- 464.
- Nach Ansicht von Enichem hat die Kommission damit auch gegen Artikel 14
Absätze 2 und 3 der Verordnung Nr. 17 verstoßen, da sie im Rahmen der
Untersuchung des Polypropylen-Marktes Unterlagen gesammelt habe, die nicht von
ihrem Prüfungsauftrag umfaßt gewesen seien.
- 465.
- Die Kommission macht im wesentlichen geltend, daß die streitigen Schriftstücke auf
der Grundlage von PVC betreffenden Prüfungsaufträgen in die Akten des
vorliegenden Verfahrens aufgenommen worden seien. Daher stehe der
Verwendung dieser Unterlagen im vorliegenden Fall nichts entgegen.
Würdigung durch das Gericht
- 466.
- Vor der Prüfung der Begründetheit des Klagegrundes ist der Sachverhalt
klarzustellen.
Sachverhalt
- 467.
- Im vorliegenden Fall ist unstreitig, daß die Kommission die streitigen Schriftstücke
im Rahmen der Untersuchung des Polypropylen-Sektors erlangt und als Beweise
in der angefochtenen Entscheidung verwandt hat.
- 468.
- Ferner ergibt sich aus den Akten, daß die Kommission eine neue Kopie der
streitigen Unterlagen im Rahmen von Prüfungsaufträgen verlangt hat, die sich vor
allem auf PVC bezogen haben.
- 469.
- Die Planungsdokumente hat die Kommission im Rahmen einer späteren
Nachprüfung auf der Grundlage eines insbesondere PVC betreffenden
Prüfungsauftrags erneut kopiert.
- 470.
- Die Anlage 6 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte und den Vermerk von ICI vom
15. April 1981 hat die Kommission unter genauer Bezeichnung bei der
Nachprüfung vom 23. November 1983 auf der Grundlage eines insbesondere PVC
betreffenden Prüfungsauftrags noch einmal angefordert, wie ein Schreiben von ICI
an die Kommission vom 16. März 1984 belegt. ICI kann sich nicht mit Erfolg
darauf berufen, sich in diesem Schreiben trotz allem der Aufnahme dieser
Unterlagen in die PVC-Akten widersetzt zu haben; aus diesem Schreiben ergibt
sich vielmehr ausdrücklich, daß sein Verfasser eine neue Kopie freiwillig zu diesem
Zweck übersandt hat.
- 471.
- Auf die Schriftstücke von DSM verweisen nur dieses Unternehmen und LVM.
Jedoch hat sich weder anhand der Schriftsätze noch durch die in der mündlichen
Verhandlung gestellten Fragen klären lassen, um welche Dokumente es sich
handelt. Aus der Erwiderung dieser beiden Klägerinnen ergibt sich jedenfalls, daß
die Kommission die streitigen Unterlagen erstmals im Rahmen der „Polypropylen-Sache“ erhalten und sie im Dezember 1983 im Rahmen einer Nachprüfung in den
Geschäftsräumen von DSM auf der Grundlage eines insbesondere PVC
betreffenden Prüfungsauftrags erneut angefordert und erhalten hat.
Zur Begründetheit des Klagegrundes
- 472.
- Nach den Artikeln 14 und 20 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 dürfen die bei
Nachprüfungen erlangten Kenntnisse unstreitig nicht zu anderen als den im
Prüfungsauftrag oder in der Nachprüfungsentscheidung angegebenen Zwecken
verwendet werden. Dieses Verbot soll neben dem Berufsgeheimnis die
Verteidigungsrechte der Unternehmen schützen. Diese Rechte würden nämlich in
schwerwiegender Weise beeinträchtigt, wenn die Kommission gegenüber den
Unternehmen bei einer Nachprüfung erlangte Beweise anführen könnte, die inkeinem Zusammenhang mit dem Gegenstand und dem Zweck der Nachprüfung
stehen (Urteile Dow Benelux/Kommission, Randnr. 18).
- 473.
- Dies bedeutet jedoch nicht, daß es der Kommission verwehrt wäre, ein
Untersuchungsverfahren einzuleiten, um Informationen, die sie bei einer früheren
Nachprüfung zufällig erlangt hat, auf ihre Richtigkeit zu überprüfen oder zu
vervollständigen, wenn diese Informationen einen Hinweis auf Verhaltensweisen
liefern, die gegen die Wettbewerbsregeln des Vertrages verstoßen (Urteil Dow
Benelux/Kommission, Randnr. 19).
- 474.
- Im übrigen steht fest (vgl. vorstehend, Randnrn. 467 bis 471), daß die Kommission
sich nicht darauf beschränkt hat, die in einem anderen Verfahren erlangten
Unterlagen von Amts wegen in das vorliegende Verfahren einzuführen, sondern
diese Unterlagen im Rahmen von insbesondere PVC betreffenden
Prüfungsaufträgen erneut angefordert hat.
- 475.
- Daraus folgt, daß es bei diesem Klagegrund nur um die Frage geht, ob die
Kommission von Unterlagen, die sie in einem ersten Verfahren erlangt und als
Indiz zur Rechtfertigung der Eröffnung eines anderen Verfahrens verwendet hat,
auf der Grundlage eines Prüfungsauftrags oder einer Entscheidung, die dieses
zweite Verfahren betreffen, erneut eine Kopie anfordern und diese Unterlagen
dann als Beweismittel in diesem zweiten Verfahren verwenden darf.
- 476.
- Da die Kommission diese Unterlagen auf der Grundlage von insbesondere PVC
betreffenden Aufträgen oder Entscheidungen gemäß Artikel 14 der Verordnung Nr.
17 erneut erlangt und sie zu dem in diesen Aufträgen oder Entscheidungen
angegebenen Zweck verwendet hat, hat sie die Rechte der Unternehmen, wie sie
sich aus dieser Bestimmung ergeben, beachtet.
- 477.
- Die Tatsache, daß die Kommission die Unterlagen in einer bestimmten
Rechtssache zum ersten Mal erlangt hat, begründet keinen uneingeschränkten
Schutz, der so weit ginge, daß diese Unterlagen nicht in einer anderen Rechtssache
rechtmäßig angefordert und als Beweise verwendet werden könnten. Andernfalls
würden die Unternehmen, wie die Kommission ausgeführt hat, bei einer
Nachprüfung in einem ersten Verfahren dazu verleitet, sämtliche Unterlagen, die
den Nachweis für eine andere Zuwiderhandlung liefern könnten, vorzulegen, um
sich dadurch vor einer Verfolgung dieser anderen Zuwiderhandlung zu schützen.
Eine solche Lösung ginge über das hinaus, was zum Schutz des Berufsgeheimnisses
und der Verteidigungsrechte notwendig ist, und würde die Kommission in
unzulässiger Weise bei der Erfüllung ihrer Aufgabe behindern, über die Einhaltung
der Wettbewerbsregeln im Gemeinsamen Markt zu wachen.
- 478.
- Nach alledem ist der Klagegrund zurückzuweisen.
d) Zu dem Klagegrund, mit dem geltend gemacht wird, daß die Weigerung, auf
Auskunftsverlangen zu antworten oder Unterlagen vorzulegen, nicht als Beweis
gewertet werden dürfe
Vorbringen der Parteien
- 479.
- Elf Atochem und BASF sind der Ansicht, daß die Kommission die Tatsache, daß
sie auf Auskunftsverlangen nicht geantwortet oder keine Unterlagen vorgelegt
hätten, nicht als Beweis für die Zuwiderhandlung oder ihre Beteiligung an dieser
werten dürfe. Dies gelte erst recht deshalb, weil für diese Weigerung objektive
Gründe bestanden hätten.
- 480.
- Für die Kommission bietet die Entscheidung keine Grundlage für dieses
Vorbringen.
Würdigung durch das Gericht
- 481.
- Bei der Prüfung dieses Klagegrundes ist zwischen dem Nachweis der
Zuwiderhandlung und dem der Beteiligung bestimmter Unternehmen daran zu
unterscheiden.
Nachweis der Zuwiderhandlung
- 482.
- Die Kommission hat zwar unmittelbar oder mittelbar darauf hingewiesen, daß die
Unternehmen die Beantwortung bestimmter Fragen abgelehnt hätten
(Entscheidung, Randnrn. 6 a. E., 8 a. E., 9, dritter Absatz, 14, erster Absatz, 16,
erster Absatz, 18, erster Absatz, 20, dritter und vierter Absatz, 26, dritter und
fünfter Absatz, 37, zweiter Absatz), doch hat sie diesen Umstand in der
Entscheidung nicht als Beweis für die Zuwiderhandlung gewertet.
- 483.
- Tatsächlich hat sie in diesen einzelnen Punkten nur darauf hingewiesen, daß sie von
den Unternehmen nicht die verlangten Auskünfte habe erhalten können und sich
daher auf andere Umstände zum Nachweis der Zuwiderhandlung habe stützen,
insbesondere in stärkerem Maße Schlußfolgerungen aus den ihr zur Verfügung
stehenden Informationen habe ziehen müssen.
- 484.
- Somit ist dieser Teil des Klagegrundes nicht begründet.
Nachweis der Beteiligung an der Zuwiderhandlung
- 485.
- Da es nur um die Frage der Beteiligung der Unternehmen an dem angeblichen
Kartell geht, kann eine Klägerin nicht die Beweise in Zweifel ziehen, die dem
Nachweis der Beteiligung anderer Unternehmen an der Zuwiderhandlung dienen.
Die Prüfung des Klagegrundes beschränkt sich somit auf die Untersuchung, ob die
Kommission als Beweis für die Teilnahme von ICI und Elf Atochem die Tatsache
gewertet hat, daß diese es abgelehnt haben oder nicht in der Lage waren, die
Auskunftsverlangen zu beantworten.
- 486.
- Auch wenn die Klägerinnen nicht die Stellen in der Entscheidung haben benennen
können, aus denen hervorgehen soll, daß die Kommission ihre Weigerung, auf
Auskunftsverlangen zu antworten, als Beweis für ihre Beteiligung an der
angeblichen Zuwiderhandlung gewertet hat, ergibt sich aus Randnummer 26, erster
Absatz a. E., der Entscheidung doch, daß „die Kommission auch die von jedem
Hersteller gespielte Rolle und die Beweise für die Beteiligung der einzelnen
Unternehmen an dem Kartell berücksichtigt [hat]. Den einzelnen Herstellern
wurden im Laufe des Verwaltungsverfahrens die näheren Angaben mitgeteilt.“
- 487.
- Diese Angaben enthalten die mit „Individuelle Besonderheiten“ überschriebenen
Unterlagen in der Anlage zur Mitteilung der Beschwerdepunkte.
- 488.
- Im Fall von Elf Atochem heißt es im Abschnitt „Hauptsächliche Nachweise für die
Beteiligung an der Zuwiderhandlung“ in dem entsprechenden Schriftstück: „[Das
Unternehmen] lehnt es ab, Angaben nach Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 zu
seiner Beteiligung [an den] Sitzungen zu machen.“
- 489.
- Die Weigerung oder die Unmöglichkeit, auf Auskunftsverlangen zu antworten, kann
als solche keinen Nachweis für die Beteiligung eines Unternehmens an einem
Kartell darstellen.
- 490.
- Bei der Beurteilung der Frage der Beteiligung von Elf Atochem an dem Kartell ist
daher dieser von der Kommission angeführte Umstand unberücksichtigt zu lassen.
- 491.
- Im Fall von ICI fehlt ein ähnlicher Hinweis in den „Individuellen Besonderheiten“.
Da es keinen Hinweis gibt, daß die Kommission die Tatsache, daß dieses
Unternehmen eine Antwort auf Auskunftsverlangen abgelehnt hat oder nicht geben
konnte, als Beweis für die Beteiligung an dem Kartell gewertet hat, ist der
Klagegrund, soweit er von ICI geltend gemacht wird, als unbegründet
zurückzuweisen.
e) Zum Klagegrund der fehlenden Übermittlung von Schriftstücken
Vorbringen der Parteien
- 492.
- Wacker und Hoechst machen erstens geltend, daß die Auszüge aus der Fachpresse
zwar in der Liste der Anlagen zur Mitteilung der Beschwerdepunkte aufgeführt,
aber nicht beigefügt gewesen seien und daher nicht gegen sie verwandt werden
könnten. Zweitens sei der Vermerk von ICI vom 15. April 1981, auf den sich die
Kommission berufe, weder in der Mitteilung der Beschwerdepunkte erwähnt noch
dieser beigefügt gewesen. In der Erwiderung machen sie geltend, daß dieser
Vermerk ihnen niemals mitgeteilt worden sei.
- 493.
- Nach Ansicht von Hüls kann der Vermerk von ICI vom 15. April 1981 nicht als ein
zulässiger Beweis angesehen werden, da er der Mitteilung der Beschwerdepunkte
nicht beigefügt gewesen sei.
- 494.
- Außerdem dürfe die Anlage 15 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte über die
Verkäufe der vier deutschen Hersteller im ersten Quartal 1984 und im gesamten
Jahr 1984 im Verfahren nicht berücksichtigt werden, da sie auf der Grundlage von
Angaben erstellt worden sei, die nicht mitgeteilt worden seien (Urteil
AEG/Kommission, Randnr. 30).
- 495.
- Die Kommission trägt vor, die Auszüge aus der Fachpresse seien der Mitteilung der
Beschwerdepunkte beigefügt gewesen. Wenn der Vermerk von ICI vom 15. April
1981 dieser Mitteilung nicht beigefügt gewesen sei, sei er den Parteien doch am 28.
Juli 1988 mitgeteilt worden. Es lasse sich daraus also nichts für die Frage der
Rechtmäßigkeit der Entscheidung herleiten. Soweit Wacker und Hoechst die
fehlende Mitteilung dieses Schriftstücks rügten, sei dieses Angriffsmittel nach
Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung unzulässig.
Würdigung durch das Gericht
- 496.
- Erstens waren die Auszüge aus der Fachpresse offensichtlich Teil der Mitteilung
der Beschwerdepunkte (Sonderanlage mit der Überschrift: „Bekannte
Preisinitiativen“). Auch wenn Wacker und Hoechst sie dennoch nicht erhalten
haben sollten, handelte es sich dabei doch naturgemäß um allgemein zugängliche
Schriftstücke. Daher kann die fehlende Übermittlung dieser Schriftstücke, selbst
wenn sie bewiesen wäre, die Rechtmäßigkeit der Entscheidung nicht
beeinträchtigen.
- 497.
- Zweitens gibt es keine Bestimmung, die es der Kommission verböte, den Parteien
nach der Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte neue Schriftstücke
zu übermitteln, in denen sie eine Stütze für ihr Vorbringen sieht, sofern sie den
Unternehmen die erforderliche Zeit einräumt, sich hierzu zu äußern (Urteil
AEG/Kommission, Randnr. 29). Daher kann die Tatsache allein, daß ein
Schriftstück in der Mitteilung der Beschwerdepunkte weder erwähnt noch dieser
beigefügt ist, die Rechtmäßigkeit der Entscheidung nicht beeinträchtigen. Zudem
behaupten die Klägerinnen nicht, daß sie, nachdem die Kommission ihnen eine
Kopie dieses Schriftstücks mit Schreiben vom 27. Juli 1988 übersandt und dabei auf
seine Bedeutung für die behauptete Quotenregelung hingewiesen hatte, nicht in der
Lage gewesen seien, gebührend hierzu Stellung zu nehmen. Tatsächlich hatten sie
die Möglichkeit, sich sowohl schriftlich als auch mündlich dazu zu äußern.
- 498.
- Soweit, drittens, dieser Klagegrund darauf gestützt wird, daß dieses Schriftstück
Wacker und Hoechst niemals mitgeteilt worden sei, handelt es sich um ein neues
Angriffsmittel im Rahmen der Erwiderung. Da nicht vorgetragen worden ist, daß
es auf rechtliche oder tatsächliche Gründe gestützt sei, die erst während des
Verfahrens zutage getreten seien, ist es nach Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung
für unzulässig zu erklären.
- 499.
- Viertens stellt die Anlage 15 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte kein
selbständiges Beweismittel dar, sondern gibt, wenn auch in gedrängter Form, die
Grundlagen der Berechnung wieder, die die Kommission zur Bekräftigung ihrer
Schlußfolgerungen aus dem Anhang 10 durchgeführt hat. Diese Schlußfolgerungen
wurden in der Mitteilung der Beschwerdepunkte vollständig dargelegt, und die
Klägerin konnte sich dazu rechtzeitig äußern. Selbst wenn diese Anlage 15
unzulässig sein sollte, weil sie keine ausreichenden Informationen enthielt, müßte
das Gericht jedenfalls die Stichhaltigkeit der Schlußfolgerungen prüfen, die die
Kommission in Randnummer 14 der Entscheidung aus der Anlage 10 zur
Mitteilung der Beschwerdepunkte gezogen hat.
- 500.
- Somit ist der Klagegrund zurückzuweisen.
f) Zum Klagegrund der verspäteten Übermittlung der Schriftstücke
Vorbringen der Parteien
- 501.
- BASF trägt vor, daß die Anlage 3 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte, die ein
ganz wesentliches belastendes Beweismittel darstelle, ihr erst bei der Anhörung am
6. September 1988 vollständig übermittelt worden sei. Trotz entsprechenden
Antrags bei dieser Anhörung sei ihr daher unter Verstoß gegen die Artikel 3, 4 und
7 der Verordnung Nr. 99/63 keine Möglichkeit zu einer Stellungnahme hierzu
gegeben worden.
- 502.
- Die Kommission macht geltend, dieser Klagegrund betreffe nicht die Anlage 3
selbst, sondern die unleserlichen handschriftlichen Notizen darauf. Von diesen
Notizen habe die Klägerin hinreichend Kenntnis gehabt.
Würdigung durch das Gericht
- 503.
- Unstreitig waren die Schriftstücke, die die Anlage 3 zur Mitteilung der
Beschwerdepunkte darstellen, der der Klägerin am 5. April 1988 übersandten
Mitteilung beigefügt. Der Klagegrund beschränkt sich somit auf die angeblichverspätete Übermittlung der Transkription der unleserlichen handschriftlichen
Notizen auf den vier Seiten, aus denen diese Anlage besteht.
- 504.
- Ebenso ist unstreitig, daß die Klägerin eine vollständige Transkription der
handschriftlichen Notizen erst am 6. September 1988 bei der Anhörung erhalten
hat.
- 505.
- Die einzige handschriftliche Notiz, auf die sich die Kommission in der Entscheidung
hat berufen wollen, ist jedoch in der Anlage zur Mitteilung der Beschwerdepunkte
zu den bekannten Preisinitiativen ausführlich wiedergegeben. Somit hatte die
Klägerin in jeder Hinsicht Gelegenheit, sich hierzu zu äußern.
- 506.
- Somit ist der Klagegrund zurückzuweisen.
- 507.
- Nach alledem sind die Klagegründe, mit denen die Unzulässigkeit der Beweise, die
die Kommission gegen die Klägerinnen herangezogen hat, geltend gemacht wird,
unbeschadet der vorstehenden Randnummer 490 zurückzuweisen.
2. Zur Beweisführung
- 508.
- Die Argumentation der Klägerinnen hierzu umfaßt im wesentlichen zwei
Klagegründe oder Gruppen von Klagegründen. Zum einen bestreiten sie den
Beweiswert bestimmter Arten von Beweismitteln, die die Kommission gegen sie
anführt, zum anderen rügen sie, daß die Kommission die Grundsätze der
Beweiserhebung verletzt habe.
a) Zum Klagegrund des fehlenden Beweiswerts bestimmter von der Kommission
angeführter Gruppen von Beweisen
Vorbringen der Parteien
- 509.
- Nach Ansicht von LVM und DSM darf nach den Grundsätzen des niederländischen
Strafverfahrens und nach dem Recht auf ein faires Verfahren (fair trial) im Sinne
des Artikels 6 MRK (EuGHMR, Urteil Kostovski vom 20. November 1989, Serie
A, Nr. 166, Randnrn. 39 und 44, und indirekt Urteile des Gerichts vom 17.
Dezember 1991 in der Rechtssache T-4/89, BASF/Kommission, Slg. 1991, II-1523,
Randnrn. 64 bis 72, und in der Rechtssache T-6/89, Enichem Anic/Kommission, Slg.
1991, II-1623, Randnrn. 69 bis 73) der Nachweis belastender Tatsachen nicht
ausschließlich auf Erklärungen des Angeschuldigten oder auf Erklärungen anderer
beschuldigter Unternehmen, die grundsätzlich als verdächtig gälten, so daß sie nur
ihrem Verfasser entgegengehalten werden dürften, oder auf „offiziöse“ Schreiben
gestützt werden, deren Glaubwürdigkeit und Echtheit naturgemäß ungewiß seien.
- 510.
- Daher sei im vorliegenden Fall die Entscheidung für nichtig zu erklären, soweit sie
ausschließlich auf solche Unterlagen und nicht auf zulässige Beweismittel gestützt
sei.
- 511.
- Die Kommission hält dem entgegen, die Bestimmungen des niederländischen
Strafrechts und die unangemessen weite Auslegung des Urteils Kostovski seien für
die Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsregeln nicht einschlägig.
Sie nähmen den Artikeln 11 und 14 der Verordnung Nr. 17 jede praktische
Bedeutung.
Würdigung durch das Gericht
- 512.
- Erstens gibt es keine Bestimmung und keinen allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen
Grundsatz, die es der Kommission verbieten, sich auf Auskünfte und Schriftstücke
wie die von den Klägerinnen angeführten zu berufen. Zweitens wäre, würde man
der Ansicht der Klägerinnen folgen, die der Kommission obliegende Beweislast für
Verhaltensweisen, die gegen die Artikel 85 und 86 EG-Vertrag verstoßen, nicht
tragbar und mit der durch den Vertrag der Kommission übertragenen Aufgabe der
Überwachung der richtigen Anwendung dieser Bestimmungen unvereinbar.
- 513.
- Die Klägerinnen berufen sich zur Stützung ihrer Auffassung zu Unrecht auf die
Urteile BASF/Kommission und Enichem Anic/Kommission. Aus der Begründung
dieser von den Klägerinnen genannten Urteile ergibt sich nämlich, daß das Gericht
keineswegs den Beweiswert von Erklärungen der Unternehmen grundsätzlich
verneint hat, sondern festgestellt hat, daß in diesem Fall die angeführten
Schriftstücke nicht den Sinn und die Bedeutung hatten, die ihnen die Kommission
beigemessen hatte.
- 514.
- Somit gehen die von den Klägerinnen angeführten Klagegründe in der Frage auf,
ob die Kommission ihre Tatsachenfeststellungen mit den von ihr vorgelegten
Beweismitteln belegen kann.
b) Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen die Regeln der Beweisführung
Vorbringen der Parteien
- 515.
- LVM, Elf Atochem, BASF, DSM, Wacker, Hoechst und ICI machen als besondere
Klagegründe geltend, daß die Kommission gegen den Grundsatz der
Unschuldsvermutung und gegen die ihr obliegende Beweispflicht verstoßen habe.
- 516.
- Die durch Artikel 6 MRK garantierte Unschuldsvermutung sei ein allgemeiner
Grundsatz des Gemeinschaftsrechts und finde im Rahmen der Artikel 85 und 86
EG-Vertrag volle Anwendung (Urteile des Gerichtshofes, ACF
Chemiefarma/Kommission, Randnr. 153, vom 21. Februar 1973 in der Rechtssache
6/72, Europemballage und Continental Can/Kommission, Slg. 1973, 215, vom 16.
Dezember 1975 in den Rechtssachen 40/73 bis 48/73, 50/73, 54/73, 55/73, 56/73,
111/73 und 114/73, Suiker Unie u. a./Kommission, Slg. 1975, 1663, Randnr. 301, und
vom 28. März 1984 in den Rechtssachen 29/83 und 30/83, CRAM und
Rheinzink/Kommission, Slg. 1984, 1679; Urteile BASF/Kommission, Randnrn. 70
und 71, und Enichem Anic/Kommission, Randnr. 70).
- 517.
- Unabhängig von den praktischen Schwierigkeiten, auf die die Kommission bei der
Beweiserhebung stoße, obliege ihr daher die Beweislast für eine angebliche
Zuwiderhandlung als Ausgleich für die ihr eingeräumten weiten
Untersuchungsbefugnisse (Urteile Hoechst/Kommission und Dow
Benelux/Kommission).
- 518.
- Die Kommission könne sich dabei nicht auf Behauptungen, Vermutungen oder
Schlußfolgerungen beschränken. Sie müsse schwerwiegende, klare und schlüssige
Indizien anführen (z. B. Urteil Europemballage und Continental Can/Kommission,
Randnrn. 31 bis 37, United Brands/Kommission, Randnrn. 264 bis 267, und Suiker
Unie u. a./Kommission, Randnr. 166; Schlußanträge des Generalanwalts Sir Gordon
Slynn, Musique Diffusion française u. a./Kommission, Slg. 1983, 1914, und Urteil
des Gerichtshofes vom 31. März 1993 in den Rechtssachen C-89/85, C-104/85,
C-114/85, C-116/85, C-117/85 und C-125/85 bis C-129/85, Ahlström Osakeyhtiö
u. a./Kommission, Slg. 1993, I-1307; im übrigen müsse ein unmittelbarer
Kausalzusammenhang zwischen den Tatsachen und den daraus gezogenen
Schlußfolgerungen bestehen, die objektiv über vernünftige Zweifel erhaben sein
müßten (Urteil des Gerichtshofes vom 30. Juni 1966 in der Rechtssache 56/65,
LTM, Slg. 1966, 281, 305 f.).
- 519.
- Dagegen müßten Zweifel zugunsten der Unternehmen sprechen, denen eine
Zuwiderhandlung gegen Artikel 85 EG-Vertrag vorgeworfen werde. Im übrigen
müßten die Unternehmen die Behauptungen der Kommission nicht unbedingt
entkräften, sondern lediglich dartun, daß sie ungesichert und unzureichend
bewiesen seien (Schlußanträge des Generalanwalts Sir Gordon Slynn, Musique
diffusion française, u. a./Kommission, Slg. 1983, 1931). Andernfalls träfe die
Unternehmen eine unzulässige Beweislastumkehr; sie müßten den negativen Beweis
ihrer Nichtbeteiligung am Kartell erbringen und wären damit zu einer „probatio
diabolica“ gezwungen.
- 520.
- Im vorliegenden Fall habe die Kommission gegen diese Prinzipien und Regeln
verstoßen.
- 521.
- Die Kommission hat nach Ansicht von LVM und DSM keineswegs Tatsachen
bewiesen, sondern lediglich angeführt, was sie als mittelbare Beweise betrachte, was
aber in Wirklichkeit nur Behauptungen, Vermutungen oder Folgerungen seien
(z. B. Randnrn. 9, 16, 20 und 23 der Entscheidung).
- 522.
- Elf Atochem macht geltend, die Kommission, die die Untauglichkeit der Beweise
kenne, über die sie verfüge (Randnrn. 31 und 38 der Entscheidung), habe weder
die Richtigkeit der Daten, auf die sie ihre Analyse stütze, noch die Begründetheit
ihrer Würdigung dargetan. In Wirklichkeit habe sie das Vorliegen eines
Gesamtplans und aufgrund von Sitzungen zwischen einigen Herstellern, über deren
Zweck sie zugestandenermaßen keine Informationen besitze, die Durchführung
eines solchen Plans behauptet, dessen Grundlage die 1980 bei ICI entdeckten
Vorschläge seien. Die Kommission habe jedoch weder die Beteiligung jedes
einzelnen Herstellers an dem, was sie als „gemeinsame Initiativen“ bezeichne, noch
den einheitlichen Willen der Unternehmen nachweisen können, denen sie die
gemeinsame Durchführung einer Zuwiderhandlung vorwerfe.
- 523.
- Nach Ansicht von BASF beruht die Beweisführung der Kommission auf einem
„Zirkelschluß“. So gehe die Kommission zunächst von einem bestimmten
Beweisgehalt der vorliegenden Beweismittel aus und verwende dann dieselben
Beweismittel, um den Nachweis zu führen, daß sie den ihnen schon von vornherein
zugeschriebenen Beweisgehalt hätten. Dies sei eine unzulässige Beweislastumkehr.
Ebenso unzulässig sei es, aus dem Fehlen belastender Schriftstücke, z. B. über die
Sitzungen der Hersteller, eine Schuldvermutung zu konstruieren. Das Fehlen von
Unterlagen sei im übrigen angesichts des zwischen den ersten Ermittlungen und der
Mitteilung der Beschwerdepunkte verstrichenen Zeitraums unvermeidlich.
- 524.
- Wacker und Hoechst machen geltend, die Kommission habe durch eine
mißbräuchliche Ausnutzung des Indizienbeweises gegen die Regeln über die
Beweisführung verstoßen. Sie habe ihre Argumentation so aufgebaut, daß sie aus
den Ausführungshandlungen auf das Vorhandensein einer Grundvereinbarung
schließe und umgekehrt, ohne aber jemals das Vorliegen einer solchen
Vereinbarung oder solcher Handlungen zu beweisen.
- 525.
- Nach Ansicht von SAV hat die Kommission, obwohl sie eingeräumt habe, über
keine entscheidenden Beweise für die Teilnahme bestimmter Unternehmen,
darunter der Klägerin, an dem Kartell zu verfügen, einen solchen Nachweis aus der
Beteiligung jedes angeblichen Teilnehmers „an dem Kartell insgesamt“ hergeleitet.
Die Kommission habe sich in Wirklichkeit darauf beschränkt, die Beteiligung aller
Unternehmen aus der Beteiligung einiger weniger abzuleiten (Randnr. 25 der
Entscheidung). Daher seien die drei Beweise, die die individuelle Beteiligung von
SAV belegen sollten, ohne Beweiswert.
- 526.
- ICI macht geltend, daß die Beweise im vorliegenden Fall nicht ausreichten, um die
Tatsachenbehauptungen der Kommission überzeugend zu belegen. Dies gelte für
den Gegenstand der Sitzungen und die dabei von den Herstellern eingegangenen
Verpflichtungen (Randnr. 9, dritter und vierter Absatz, der Entscheidung), für die
Durchführung einer „Quoten“- und Preisregelung, für die Folgerung, daß die Preise
auf einer Abstimmung beruhten, oder auch für den Kausalzusammenhang zwischen
den Planungsdokumenten und den späteren Feststellungen der Kommission hierzu
(Randnrn. 24, zweiter Absatz, und 30, zweiter Absatz, der Entscheidung).
- 527.
- Jedenfalls genügten diese Tatsachenbehauptungen nicht, um die rechtlichen
Folgerungen zu rechtfertigen, die die Kommission hieraus sowohl in bezug auf das
Bestehen einer Vereinbarung oder einer abgestimmten Verhaltensweise als auch
in bezug auf die Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten ziehe
(Urteil United Brands/Kommission, Randnrn. 248 bis 267, und Schlußanträge des
Generalanwalts Sir Gordon Slynn, Musique diffusion française/Kommission, Slg.
1983, 1930 f.).
- 528.
- Hüls trägt vor, die Kommission habe ohne jede Erklärung in der angefochtenen
Entscheidung etwas als feststehend qualifiziert, was in dem Schreiben der
Kommission vom 24. November 1987, mit dem die Klägerin um Auskünfte gebeten
worden sei, erst bloße Wahrscheinlichkeiten gewesen seien. In Wirklichkeit sei die
Kommission seit dem Auskunftsverlangen von der vorgefaßten Meinung
ausgegangen, daß die Klägerin gegen Artikel 85 des Vertrages verstoßen habe.
- 529.
- Die Kommission hält dem im wesentlichen entgegen, daß sie nicht gegen ihre
Beweispflicht verstoßen habe. Nach ihrer Meinung verfügt sie über hinreichende
Beweise für die Feststellung einer Zuwiderhandlung (Randnr. 23 der
Entscheidung). Falls diese Feststellung falsch sei, sei dies bei der Begründetheit zu
prüfen. Insbesondere seien mittelbare Beweise zulässig (namentlich Urteile vom 14.
Juli 1972, ICI/Kommission, Randnrn. 64 bis 68, CRAM und Rheinzink/Kommission,
Randnrn. 16 bis 20, und Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, Randnr. 71). Dies
sei im übrigen unerläßlich, da sich die europäischen Wirtschaftskreise zunehmend
der Bedeutung des Wettbewerbsrechts bewußt würden. Im übrigen dürften die
Beweise nicht isoliert, sondern müßten zusammen gesehen werden (Urteile vom 14.
Juli 1972, ICI/Kommission, Randnr. 68, CRAM und Rheinzink/Kommission,
Randnr. 20, und Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, Randnr. 163), und die
individuellen Beweise dürften nicht aus ihrem Zusammenhang herausgelöst werden
(Urteil SIV u. a. /Kommission, Randnrn. 91 bis 94).
Würdigung durch das Gericht
- 530.
- Die Prüfung dieses Klagegrundes geht in die Prüfung des auch von diesen gleichenKlägerinnen erhobenen Klagegrundes ein, mit dem sie offenkundige Fehler bei der
Beurteilung des Sachverhalts rügen, die die Kommission beim Nachweis des
Vorliegens der Zuwiderhandlung und der Beteiligung der Unternehmen daran
begangen habe.
- 531.
- Somit ist der vorliegende Klagegrund später zu untersuchen, um ihn gleichzeitig mit
den anderen materiell-rechtlichen Klagegründen zu prüfen.
B Zum Vorliegen eines Verstoßes gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag
- 532.
- Sämtliche Klägerinnen ziehen die Sachverhaltswürdigung der Kommission in
Zweifel. Nur SAV bestreitet lediglich ihre Teilnahme an dem angeblichen Kartell
mit der Begründung, daß sie von diesem keine Kenntnis gehabt habe. Zum
Nachweis dafür, daß sie an diesem Kartell nicht beteiligt gewesen sei, bestreitet sie
jedoch auch, zumindest teilweise, die von der Kommission festgestellten Tatsachen.
Die letztgenannten Einwände sind daher an dieser Stelle zu prüfen.
- 533.
- Darüber hinaus beanstanden die Klägerinnen die rechtliche Qualifizierung des
Sachverhalts durch die Kommission.
- 534.
- Zunächst sind die tatsächlichen und anschließend die rechtlichen Einwände zu
prüfen.
1. Zum Sachverhalt
Zusammenfassung der Entscheidung
- 535.
- In dem mit „Sachverhalt“ überschriebenen ersten Teil der Entscheidung hat die
Kommission in einem ersten einleitenden Abschnitt die Unternehmen bezeichnet,
die von der Entscheidung betroffen sind, und insbesondere das in Rede stehende
Erzeugnis, den PVC-Markt und die in diesem Bereich bestehende Überkapazität
beschrieben.
- 536.
- In einem zweiten Abschnitt ist sie auf die Zuwiderhandlung eingegangen, indem sie
nacheinander folgende fünf Aspekte geprüft hat: den Ursprung des Kartells
(Randnr. 7 der Entscheidung), die Sitzungen der Hersteller (Randnrn. 8 und 9), das
Quotensystem (Randnrn. 10 bis 14), die Überprüfung der Verkäufe auf den
nationalen Märkten (Randnrn. 15 und 16) sowie die Zielpreise und Preisinitiativen
(Randnrn. 17 bis 22).
- 537.
- Bezüglich des Ursprungs des Kartells hat sich die Kommission im wesentlichen auf
zwei Schriftstücke gestützt, die in den Geschäftsräumen von ICI gefunden wurden
und der Mitteilung der Beschwerdepunkte als Anlage 3 beigefügt waren
(nachstehend: Planungsdokumente). Diese beiden Schriftstücke, von denen das
erste mit „checklist“ und das zweite mit „response to proposals“ überschrieben ist,
stellen nach Ansicht der Kommission den Plan für ein Kartell dar.
- 538.
- Bezüglich der Herstellersitzungen hat die Kommission sich insbesondere auf die
Antworten einzelner Hersteller auf die Auskunftsverlangen gestützt, die sie
während des Vorverfahrens an diese gerichtet hatte.
- 539.
- Bei den Quotenregelungen hat die Kommission den den Unternehmen zur Last
gelegten Sachverhalt auf der Grundlage mehrerer Schriftstücke beschrieben. So hat
sie sich auf drei als Anlagen 6, 7 und 9 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte
beigefügte Schriftstücke bezogen, aus denen sich ihrer Meinung nach ergibt, daß
die PVC-Hersteller eine Ausgleichsregelung zur Verstärkung einer Quotenregelung
eingeführt hätten. Das erste Schriftstück mit der Überschrift „sharing the pain“ ist
ein in den Geschäftsräumen von ICI aufgefundenes handschriftliches Dokument,
das zweite Schriftstück stammt von ICI, wurde aber bei einem dritten Hersteller
gefunden (nachstehend: Alcudia-Dokument), und das letzte ist ein internes
Schriftstück von DSM, das in den Geschäftsräumen dieses Unternehmens gefunden
wurde (nachstehend: DSM-Dokument). Die Kommission hat sich auch auf zwei
weitere Schriftstücke gestützt, nämlich einen in den Geschäftsräumen von ICI
gefundenen Vermerk vom 15. April 1981, der die Abschrift einer Mitteilung des
Generaldirektors des petrochemischen Geschäftsbereichs von Montedison darstellt
(nachstehend: Vermerk vom 15. April 1981; den Klägerinnen von der Kommission
mit Schreiben vom 27. Juli 1988 mitgeteilt), und eine in den Geschäftsräumen von
Atochem gefundene Tabelle (nachstehend: Atochem-Tabelle; Anlage 10 zur
Mitteilung der Beschwerdepunkte).
- 540.
- Bezüglich der Regelungen zur Überwachung der Verkäufe, die vorsahen, daß sich
die „inländischen“ Hersteller auf den wichtigsten nationalen Märkten gegenseitig
über die Mengen unterrichteten, die sie auf jedem Markt abgesetzt hatten, hat sich
die Kommission hauptsächlich auf eine Reihe von Tabellen gestützt, die in den
Geschäftsräumen von Solvay gefunden wurden (nachstehend: Solvay-Tabellen) und
die als Anlagen 20 bis 40 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügt waren.
Die Kommission hat weiter auf die Antworten von Solvay vom 25. Februar 1988
und von Shell vom 3. Dezember 1987 auf die Auskunftsverlangen Bezug
genommen. Diese Antworten waren der Mitteilung der Beschwerdepunkte als
Anlagen 41 und 42 beigefügt.
- 541.
- Bei den Preisinitiativen hat sich die Kommission im wesentlichen auf die internen
Unterlagen mehrerer PVC-Hersteller gestützt, die als Anlagen P1 bis P70 der
Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügt waren, sowie auf Artikel der
Fachpresse aus der Zeit von 1980 bis 1984, die als unnumerierte Anlagen der
Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügt waren.
- 542.
- Schließlich hat die Kommission in einem dritten Abschnitt Feststellungen
namentlich zum Nachweis für das Bestehen eines Kartells getroffen (Randnrn. 23
und 24 der Entscheidung). Dort heißt es: „Die in diesem Fall vorliegende
Zuwiderhandlung zeichnet sich dadurch aus, daß jegliche Entscheidung weitgehend
auf durch die Umstände bedingte Beweise gestützt werden muß. Das Bestehen
eines eine Zuwiderhandlung gemäß Artikel 85 darstellenden Sachverhalts wird
möglicherweise, zumindest teilweise, durch eine logische Ableitung aus anderen
bewiesenen Fakten zu belegen sein“ (Randnr. 23 der Entscheidung). Nach der
Aufzählung der ihr zur Verfügung stehenden Hauptbeweise führt die Kommission
aus, „daß die direkten und aus den Umständen abgeleiteten Beweise im
vorliegenden Fall zusammen zu berücksichtigen sind ... Unter Berücksichtigung
dieser Erwägung verstärken die einzelnen Beweismittel einander hinsichtlich des
betreffenden Sachverhalts und führen zu der Schlußfolgerung, daß auf dem PVC-Markt ein Marktaufteilungs- und Preisfestsetzungskartell bestand“ (Randnr. 24 der
Entscheidung).
Vorbringen der Parteien
- 543.
- Nach Ansicht der Klägerinnen ist der Kommission der Nachweis der von ihr
behaupteten Tatsachen nicht gelungen.
Zum Ursprung des Kartells
- 544.
- Die Klägerinnen machen geltend, daß die Planungsdokumente ohne Beweiswert
seien.
- 545.
- Erstens tragen BASF, DSM, Wacker, Hoechst, Hüls und Enichem vor, es sei nicht
bewiesen, daß diese Schriftstücke PVC beträfen; die der Mitteilung der
Beschwerdepunkte als Anlagen 1 und 2 beigefügten Schriftstücke sollten somit
lediglich suggerieren, daß die Planungsdokumente, die in Anlage 3 zur Mitteilung
der Beschwerdepunkte enthalten seien, diesen Tätigkeitsbereich beträfen.
- 546.
- Zweitens ist nach Ansicht von BASF und Enichem nicht bewiesen, daß diese
Schriftstücke andere Märkte als den britischen Markt beträfen.
- 547.
- Drittens machen BASF, DSM, Wacker, Hoechst, SAV, Hüls und Enichem geltend,
die „response to proposals“ stelle keine Entgegnung auf die „checklist“ dar. Das
erste Schriftstück sei nämlich nach dem zweiten entstanden und die in der
„response to proposals“ behandelten Themen entsprächen nicht denen der
„checklist“. Keines der Planungsdokumente enthalte im übrigen eine Bezugnahme
auf das andere. Schließlich könne die Tatsache, daß diese Schriftstücke bei ihrer
Entdeckung miteinander verbunden gewesen seien, das Fehlen einer inhaltlichen
Entsprechung nicht ausgleichen.
- 548.
- Viertens tragen BASF, DSM, Wacker, Hoechst, SAV, Hüls und Enichem vor, daß
nicht bekannt sei, wer die Planungsdokumente erstellt habe und für wen sie
bestimmt gewesen seien; somit sei nicht bewiesen, daß sie nicht nur die Ansichten
verschiedener Angestellter von ICI wiedergäben oder daß sie an andere
Unternehmen gerichtet oder diesen zur Kenntnis gebracht worden seien.
- 549.
- Fünftens gibt es nach Ansicht der Klägerinnen keinen Beweis für einen
Zusammenhang zwischen diesen Dokumenten und den späteren restriktiven
Vereinbarungen, die die Kommission als bewiesen ansehe.
- 550.
- Schließlich machen BASF und DSM geltend, daß die „checklist“ sich zwar auf eine
Sitzung vom 18. September 1980 ohne weitere Angabe beziehe, die
Kommission aber nicht nachgewiesen habe, daß diese Sitzung stattgefunden habe,
daß es sich nicht um eine rein interne Sitzung von ICI gehandelt habe, daß sie zur
Prüfung der „checklist“ stattgefunden habe oder daß sie zu Ergebnissen geführt
habe.
Zu den Herstellersitzungen
- 551.
- BASF verweist darauf, daß die Kommission weder Zeitpunkt noch Ort der
Sitzungen angegeben habe.
- 552.
- Die Klägerinnen sind mit Ausnahme von Shell der Ansicht, daß die Kommission
einen wettbewerbswidrigen Zweck dieser Sitzungen nicht nachgewiesen habe. Wenn
die Kommission aus den Antworten der Unternehmen auf die Auskunftsverlangen
auf den gesetzwidrigen Zweck der Sitzungen schließe, verstehe sie diese Antworten
ohne Grund falsch. Aus den Antworten ergebe sich nämlich, daß die Hersteller
allgemein die Entwicklung des PVC-Marktes erörtert hätten. Diese Erklärung sei
durchaus plausibel, da die Branche sich seinerzeit in einer Krise befunden habe und
umfangreiches Material den Wettbewerb auf dem Markt belege. Nach Ansicht von
BASF kann die Kommission aus dem Fehlen von Protokollen dieser Sitzungen
nicht auf deren Rechtswidrigkeit schließen.
- 553.
- LVM, BASF, DSM und Enichem tragen vor, daß sich zwischen diesen
Herstellersitzungen und einem angeblichen Gesamtplan keine Verbindung
herstellen lasse. Jedenfalls kann nach Ansicht von Hüls der angeblich
wettbewerbswidrige Zweck der Sitzungen nicht anhand der Planungsdokumente
bewiesen werden, da diese ohne Beweiswert seien.
Zu den Quoten- und Ausgleichsregelungen
- 554.
- Nach Ansicht der Klägerinnen haben die Schriftstücke, auf die die Kommission sich
beziehe, keinen Beweiswert.
- 555.
- Erstens könne die Kommission sich nicht mit Erfolg auf die Planungsdokumente
berufen (vorstehend, Randnrn. 544 ff.).
- 556.
- Zweitens sind BASF, Wacker, Hoechst und Hüls der Ansicht, daß das Schriftstück
„sharing the pain“ und das Alcudia-Dokument nicht PVC beträfen und von
branchenfremden Personen erstellt worden seien; deren Meinungen, die sich auf
bruchstückhafte Informationen und Gerüchte stützten, könnten folglich kein Beweis
für eine Zuwiderhandlung sein.
- 557.
- Keines dieser beiden Dokumente beweise, daß eine Ausgleichsregelung tatsächlich
bestanden habe und angewandt worden sei. Im übrigen sei das Alcudia-Dokument
als „Entwurf“ bezeichnet. Darüber hinaus habe ICI in ihrer Antwort vom 9.
Oktober 1987 auf ein Auskunftsverlangen erklärt, daß eine solche Regelung
niemals praktiziert worden sei.
- 558.
- Drittens sei auch das DSM-Dokument nicht beweiskräftig.
- 559.
- So handelt es sich dabei nach Ansicht von DSM, BASF und Hüls in Wirklichkeit
um eine interne Marktstudie, in der die globalen Fides-Zahlen mit den eigenen
Verkaufszahlen von DSM verglichen würden. Nach Ansicht von DSM ist mit dem
Ausdruck Ausgleich in diesem Dokument nur der Ausgleich bezüglich früherer
unzutreffender Angaben von Fides gemeint. Eine Ausgleichsregelung in der von der
Kommission angenommenen Bedeutung ergäbe im übrigen keinen Sinn, da die
Nachfrage nach PVC im ersten Halbjahr 1982 gegenüber dem gleichen Halbjahr
des Vorjahres um 12 % gestiegen sei.
- 560.
- Wacker und Hoechst machen geltend, das DSM-Dokument sei ein Auszug aus
einem umfangreicheren Schriftstück, so daß es für sich genommen unverständlich
sei.
- 561.
- BASF verweist schließlich darauf, daß die Kommission keinen einzigen Fall eines
Ausgleichs zwischen Herstellern nachgewiesen habe; die Anwendung einer solchen
Regelung, deren Funktionsweise nicht dargetan worden sei, sei daher nicht
bewiesen. Die Lieferungen geringer Mengen von Hersteller an Hersteller, um
Engpässe auszugleichen, könnten nicht als Ausgleichslieferungen angesehen werden.
- 562.
- Viertens sei die Atochem-Tabelle nicht beweiskräftig.
- 563.
- Elf Atochem räumt ein, daß dieses Schriftstück in ihren Geschäftsräumen gefunden
worden sei, verweist aber darauf, daß es mit dem Unternehmen nichts zu tun habe
und im Büro einer Person ohne Entscheidungsbefugnisse unter allgemeinen
Planungsunterlagen, die sich nicht auf PVC bezogen hätten, gefunden worden sei.
- 564.
- BASF trägt vor, dieses angeblich von 1984 stammende Dokument sei nachträglich
erstellt worden, was in einem Quotensystem keinen Sinn ergebe. Wacker und
Hoechst verweisen darauf, daß nicht bekannt sei, woher die dort angeführten
Zahlen stammten; diese Angaben könnten jedenfalls aus öffentlichen Quellen
stammen.
- 565.
- Nach Ansicht von BASF, Wacker, Hoechst und Hüls ist die Behauptung, daß die
Abkürzung „% T“ in der Atochem-Tabelle für eine Zielquote stehe, reine
Spekulation; die Angaben für die deutschen Hersteller entsprächen genau dem
Anteil an der Produktionskapazität, so daß „% T“ Anteil an der Gesamtkapazität
bedeuten könne.
- 566.
- Im übrigen verweisen LVM, BASF, DSM und Enichem darauf, daß die
tatsächlichen Absatzmengen nicht den in der Atochem-Tabelle aufgeführten
Mengen entsprächen, was für die Auffassung spreche, daß die angegebenen Zahlen
nur persönliche Schätzungen seien. In Wirklichkeit verfüge die Kommission nur für
drei von dreizehn Unternehmen über die tatsächlichen Absatzzahlen, und nur sechs
von elf Zahlen für diese drei Unternehmen entsprächen den tatsächlichen
Absatzzahlen.
- 567.
- Konkret zu den deutschen Herstellern führen BASF, Wacker, Hoechst und Hüls
aus, daß deren Absätze zusammengefaßt seien, so daß die genaue Bestimmung der
Unternehmen und ihrer Absätze unmöglich sei. Dies spreche gegen eine
Quotenregelung. Im übrigen zeige der Vergleich dieser angeblichen Quoten mit
den tatsächlichen Absatzzahlen von Hoechst, wie sie im Oktober 1988 von einer
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft ermittelt und bestätigt worden seien, erhebliche
Unterschiede in der Größenordnung von 5 %.
- 568.
- Fünftens bestreitet BASF die Erheblichkeit der Schriftstücke, auf die die
Kommission ihre Analyse der Atochem-Tabelle stützt.
- 569.
- So zeigten die Anlagen 13 bis 16, die die statistischen Aufzeichnungen über die
tatsächlichen Absätze beträfen, lediglich, daß die Meldungen der Hersteller an das
System Fides richtig gewesen seien. Die Anlagen 17 und 19 seien nur interne
Schriftstücke, die Absatzziele angäben, die sich die Unternehmen selbst gesetzt
hätten. Die Anlage 18 spreche gegen ein Quotensystem, da ICI dort von einem
Rückgang ihres Marktanteils für die kommenden Monate spreche.
- 570.
- Sechstens machen Wacker, Hoechst und Hüls geltend, daß der Vermerk von ICI
vom 15. April 1981 ebenfalls ohne Beweiswert sei. Er habe nicht nur keinen Bezug
zu PVC, sondern seine Bedeutung bleibe darüber hinaus unklar.
Zur Überwachung der Verkäufe auf den nationalen Märkten
- 571.
- Erstens trägt Hüls vor, die Solvay-Tabellen seien so, wie sie zustande gekommen
seien, ohne Beweiswert. Sie seien auf der Grundlage von Informationen, deren
Quelle unbekannt sei, erst nachträglich für eine Marktstudie erstellt worden. Es
handele sich höchstens um bloße Hypothesen über die Entwicklung der Umsätze,
die im folgenden Jahr niemals erreicht worden seien, und um Schätzungen, wie die
abgerundeten Zahlen belegten. Da diese Schriftstücke auf Französisch und nicht
auf Englisch verfaßt worden seien, könne es sich nur um interne Unterlagen von
Solvay handeln.
- 572.
- Zweitens trägt LVM vor, daß die Solvay-Tabellen nur aussagekräftig wären, wenn
sie exakt wären; sie wiesen aber erhebliche Unterschiede zu den tatsächlichen
Verkäufen auf. Die Kommission habe nämlich nur die vorläufig an Fides
gemeldeten Zahlen und nicht die endgültigen Zahlen von Fides, die allein die
tatsächlichen Verkäufe wiedergäben, berücksichtigt. Angesichts der Lade- und
Lieferzeitpunkte seien Differenzen möglich. Im übrigen verweisen Wacker und
Hoechst darauf, daß die Solvay-Tabellen keine individuellen Daten für die
deutschen Hersteller enthielten, sondern lediglich globale Zahlen.
- 573.
- Drittens hätte nach Ansicht von Hüls die Gesamtzahl der PVC-Verkäufe auf dem
deutschen Markt (Anlage 20 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte), wenn sie mit
den Fides-Meldungen übereinstimmen würde, nach den Regeln des Fides-Systems
nicht die Lieferungen an die Dynamit Nobel AG umfassen dürfen; diese
Unrichtigkeit zeige also, daß die Zahlen in der Anlage 20 nicht mit dem Fides-System übereinstimmten.
- 574.
- Viertens werfen LVM, BASF, DSM, Montedison und Enichem der Kommission
vor, daß sie keinen Beweis für ihre Behauptung erbracht habe, daß die genauen
Absatzzahlen ohne einen freiwilligen Informationsaustausch zwischen den
Herstellern nicht zu erlangen gewesen wären. Solvay habe dagegen erklärt, die
statistischen Unterlagen, auf die die Kommission ihre Anschuldigung stütze, allein
und zu internen Zwecken erstellt zu haben. DSM bestreitet anhand von Beispielen
die Behauptung der Kommission, daß eine genaue Berechnung der Marktanteile
jedes Herstellers ohne einen Informationsaustausch zwischen diesen nicht möglich
gewesen wäre. In Wirklichkeit habe jedes Unternehmen den Absatz der
Konkurrenten ohne irgendeinen unzulässigen Informationsaustausch allein aufgrund
leicht zugänglicher Informationen sehr genau schätzen können. Nach Ansicht von
BASF setzt der Begriff des Austauschs eine Gegenseitigkeit von Leistungen
zwischen Unternehmen voraus; dies sei aber nicht einmal behauptet worden. Auch
wenn, so Enichem, in einem Vermerk, der sich auf die Tabelle der Anlage 34 und
im übrigen nur auf diese beziehe, von einem Informationsaustausch mit Kollegen
die Rede sei, werde dort jedenfalls nicht angegeben, wer diese Kollegen seien;
angesichts der aggressiven Politik der Klägerin könne es sich nur um
Arbeitskollegen bei Solvay und nicht bei der Klägerin handeln. Jedenfalls handele
es sich nur um Daten, die sich auf die Vergangenheit und nicht auf die Zukunft
bezogen hätten.
- 575.
- Schließlich machen BASF und Shell geltend, die Kommission habe den Sinn der
Antwort von Shell auf ein Auskunftsverlangen entstellt. Zum einen habe Shell
nämlich angegeben, daß Solvay keine genauen Informationen mitgeteilt worden
seien; solche Mitteilungen hätten die Absätze in Westeuropa betroffen und könnten
damit nicht die Quelle für die Daten in den Unterlagen von Solvay sein, die eine
Aufteilung nach Ländern enthielten. Solche Informationen seien, wie Shell weiter
ausführt, nur gelegentlich zwischen Januar 1982 und Oktober 1983 mitgeteilt
worden, während die Unterlagen von Solvay die Zahlen für die Zeit von 1980 bis
1984 enthielten. Diese Tatsachen sprächen dafür, daß die Unterlagen von Solvay
auf der Grundlage der veröffentlichten amtlichen Statistiken und der Kontakte mit
den Kunden ausgearbeitet worden seien.
Zu den Preisinitiativen
- 576.
- BASF, Wacker, Hoechst und Montedison bekräftigen, daß die Planungsdokumente
keinen Beweiswert hätten (vgl. vorstehend, Randnrn. 544 ff.).
- 577.
- Nach Ansicht von LVM und DSM waren Zielpreise auf dem PVC-Markt nicht
denkbar; die Preise seien nämlich in jedem einzelnen Fall ausgehandelt worden.
- 578.
- LVM, DSM, Wacker und Hoechst machen geltend, die Anlagen P1 bis P70 zur
Mitteilung der Beschwerdepunkte seien nicht beweiskräftig, da es sich um
nachträglich erstellte unternehmensinterne Berichte handele.
- 579.
- Für LVM, BASF, DSM, Wacker, Hoechst, Montedison, Hüls und Enichem
erlauben diese Anlagen jedenfalls nicht den Schluß, daß die ihnen zur Last gelegten
Initiativen abgestimmt gewesen seien; in Wirklichkeit seien die fraglichen Initiativen
nur das Ergebnis selbständiger Entscheidungen der Unternehmen ohne irgendeine
vorherige Abstimmung. Die Unternehmen hätten sich lediglich klug den
Marktbedingungen angepaßt.
- 580.
- Schließlich tragen die Klägerinnen vor, die Anlagen P1 bis P70 und die ihnen von
der Kommission am 3. Mai 1988 übermittelten Schriftstücke zeigten im Gegenteil
einen vom Wettbewerb geprägten Markt, auf dem sich namentlich die Preise häufig
schnell entwickelt und einige Hersteller ein aggressives Verhalten gezeigt hätten.
- 581.
- Die Artikel aus der Fachpresse könnten kein Beweis und nicht einmal ein Indiz für
eine Zuwiderhandlung sein. Sie seien daher zur Stützung der Auffassung der
Kommission nicht ausreichend.
Würdigung durch das Gericht
- 582.
- Um den Ursprung des Kartells zu ermitteln, hat sich die Kommission auf den
Wortlaut der Planungsdokumente, die Auskünfte, die ICI hierzu als Antwort auf
ein an sie gerichtetes Auskunftsverlangen gegeben hat, und auf die enge
Korrelation gestützt, die zwischen den in diesen Dokumenten beschriebenen
geplanten Verhaltensweisen und den auf dem Markt festgestellten
Verhaltensweisen bestanden habe.
- 583.
- Somit sind zunächst die verschiedenen Verhaltensweisen zu prüfen, die die
Kommission ihrer Ansicht nach auf dem Markt nachgewiesen hat, indem sie sie mit
den in den Planungsdokumenten vorgesehenen Verhaltensweisen verglichen hat.
Zu den Quotenregelungen
- 584.
- Die „checklist“, das erste Planungsdokument, enthält unter Nummer 3 „Vorschläge
für einen neuen Rahmen für die Sitzungen“. Dieser Abschnitt enthält im Anschluß
an eine Aufzählung verschiedener, namentlich in Form von Anfangsbuchstaben
oder Abkürzungen genannter Hersteller, die als mögliche Teilnehmer an diesen
Sitzungen angesehen wurden, einen Unterabschnitt über die „Vorschläge für das
Funktionieren dieser Sitzungen“, der wiederum zwei Teile enthält: „Prozentuale
Marktanteile sowie die zulässigen Abweichungen von diesen Marktanteilen“ und
„Regelung für die Schaffung neuer Kapazitäten“.
- 585.
- Die „response to proposals“, das zweite Planungsdokument, enthält unter Nummer
2 den Vorschlag, „künftig mengenmäßige Quoten auf betrieblicher und nicht wie
früher auf nationaler Basis festzulegen“, zusammen mit dem Kommentar: „[S]tarke
Unterstützung, aber damit ein künftiges Quotensystem realistisch und durchführbar
ist, muß eine Regelung für die Schaffung neuer Kapazitäten und die
Wiederinbetriebnahme von Produktionsanlagen nach einer vorübergehenden
Stillegung“ aufgenommen werden. Nummer 3 dieses Dokuments enthält den
folgenden Vorschlag: „Der Marktanteil der Hersteller müßte auf der Grundlage
des Anteils im Jahre 1979 berechnet werden, wobei offenkundige Anomalien in
diesem Jahr zu berichtigen wären“, zusammen mit dem Kommentar: „Starke
Unterstützung“. Schließlich enthält Nummer 4 folgenden Vorschlag: „Eine flexible
Grenze von +/ 5 % sollte für die nach vorstehend unter Nummer 3 festgelegten
Marktanteile gelten, so daß die tatsächliche Marktstellung des einzelnen Herstellers
sich entsprechend seinem tatsächlichen Potential entwickeln kann“, zusammen mit
folgendem Kommentar: „Viele Bedenken hiergegen, in erster Linie deshalb, weil
es, wenn Marktanteile festgelegt werden sollten, gefährlich wäre, eine Erlaubnis zur
Überschreitung des vereinbarten Anteils aufzunehmen“.
- 586.
- Zum Nachweis einer Quotenregelung hat sich die Kommission in ihrer
Entscheidung auf mehrere Schriftstücke bezogen, die sie sich in Kopie während
ihrer Nachprüfungen verschaffen konnte.
- 587.
- Sie hat sich dabei namentlich auf drei Schriftstücke gestützt, die eine
Ausgleichsregelung belegten, die 1981 zwischen den PVC-Herstellern durchgeführt
worden sei, und damit das Vorliegen von Quotenregelungen bewiesen, deren
notwendige Ergänzung die Ausgleichsregelung sei.
- 588.
- Das in den Geschäftsräumen von ICI aufgefundene Schriftstück „sharing the pain“
betrifft in erster Linie eine Regelung, mit der die Belastung durch die
Absatzbeschränkung für ein anderes thermoplastisches Erzeugnis als PVC geteilt
werden sollte. Dort findet sich jedoch folgende Feststellung: „Die mit
vergleichbaren Regelungen für PVC und LDPE gewonnenen Erfahrungen
verheißen nichts Gutes, doch lassen sich einige Lehren daraus ziehen.“ Nach dem
Hinweis auf die „Zielmenge“ fährt der Verfasser des Schriftstücks fort: „In bezug
auf was werden die Leistungen beurteilt? Die PVC-Hersteller waren in der Lage,
mit vereinbarten Marktteilen für 1981 zu arbeiten.“ Schließlich wird darauf
hingewiesen, daß „die PVC-Regelung nur Berichtigungen zuließ, wenn die
Verkäufe eines Unternehmens oder einer Unternehmensgruppe weniger als 95 %
der Zielmenge erreichten. Dies ermöglichte den Gesellschaften, ihren Marktanteil
ungestraft zu überschreiten ...“
- 589.
- Das Alcudia-Dokument, das von ICI stammt, aber bei einem spanischen Hersteller
gefunden wurde, betrifft den Entwurf einer Regelung eines Ausgleichs zwischen
LDPE-Herstellern, die weniger als eine vorher festgelegte Menge verkauft hatten,und solchen, die mehr als diese Menge verkauft hatten. Dort heißt es: „Die
Regelung ist sehr ähnlich einer Regelung, die unlängst von den PVC-Herstellern
eingeführt und für die Hälfte der Mai- und für die Juni-Verkäufe wirksam wurde.“
Anschließend werden die Hauptmerkmale dieses Systems beschrieben, das dem bei
PVC angewandten entspricht. So verständigen sich die Hersteller über ihre
Absatzziele, die einem bestimmten Prozentsatz ihres Gesamtabsatzes entsprechen.
Sobald die vorläufigen Zahlen von Fides bekannt sind, werden die Zielmengen für
jeden Teilnehmer errechnet und mit den tatsächlichen Verkäufen verglichen, um
die Abweichungen festzustellen. Ein Ausgleich findet zwischen denen statt, die ihre
Quote überschritten haben, und denen, die sie nicht erreicht haben. Zur
Vereinfachung des Verfahrens war auch daran gedacht, die „Hersteller in
.Gruppen' zusammenzufassen, in der Hoffnung, daß innerhalb einer Gruppe
Regelungen gefunden werden können, um die Schwankungen zu beseitigen“.
Weiter wird die Möglichkeit einer alternativen Regelung angeführt, die nur
Schwankungen über 5 % berücksichtigt. In diesem Dokument vergleicht der
Verfasser die vorgeschlagene LDPE-Regelung mit der „PVC-Regelung“ und führt
dazu insbesondere aus: „Kann die Regelung nur mit 2 oder 3 der Hersteller
funktionieren? An der PVC-Regelung ist nur ein Hersteller nicht beteiligt.“
- 590.
- Der Wortlaut dieser Dokumente bestätigt in überzeugender Weise die
Schlußfolgerungen, die die Kommission daraus gezogen hat.
- 591.
- Auch wenn beide Dokumente ein anderes thermoplastisches Erzeugnis betreffen,
beziehen sich die von der Kommission in ihrer Erwiderung genannten Stellen dieses
Dokuments doch ausdrücklich auf PVC.
- 592.
- Zudem ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Unterlagen, daß die streitige
Ausgleichsregelung von allen PVC-Herstellern bis auf einen tatsächlich praktiziert
wurde. Das Alcudia-Dokument im besonderen stellt nur insoweit einen Entwurf
dar, als es ein anderes thermoplastisches Produkt, nämlich LDPE, betrifft.
- 593.
- Schließlich ist der Einwand der Klägerinnen, daß diese Dokumente keine
zuverlässige Quelle seien, da ihr Verfasser nicht im PVC-Sektor tätig gewesen sei,
zurückzuweisen. Beide Dokumente enthalten nämlich genaue Angaben,
insbesondere hinsichtlich der Zeitpunkte, der Prozentsätze und der Zahl der an der
PVC-Regelung Beteiligten, die zu dem Schluß führen, daß die Verfasser die
Regelung, auf die sie sich beziehen und aus der sie angesichts der „gewonnenen
Erfahrungen“ eine Lehre ziehen wollen, genau kannten.
- 594.
- Die Kommission bezieht sich ebenfalls auf das DSM-Dokument vom 12. August
1982.
- 595.
- So stellt der Verfasser des Dokuments, wie die Kommission im vorletzten und
letzten Abschnitt der Randnummer 11 der Entscheidung ausführt, eine erhebliche
Differenz von 12 % zwischen den Verkaufsstatistiken für PVC in Westeuropa im
ersten Halbjahr 1982 und denen im ersten Halbjahr 1981 fest, obwohl die
Nachfrage in diesem Raum in spürbar geringerem Umfang gestiegen war.
Außerdem sieht der Verfasser deutlich unterschiedliche Entwicklungen zwischen
den geographischen Märkten. Nach seiner Meinung können Erklärungen, die sich
auf die normale Marktentwicklung stützten (Rückgang der Einfuhren aus
Drittländern nach Westeuropa, Lagerbestände und Erhöhung der Produktivität),
die ursprünglich in Betracht gezogen worden seien (vgl. dazu Anlage P22 zur
Mitteilung der Beschwerdepunkte, die ein Schriftstück von DSM vom 12. Juli 1982
ist), nicht akzeptiert werden. Der Verfasser fährt fort: „Eine Erklärung könnte in
falschen Angaben über die Verkäufe im ersten Halbjahr 1981 (Ausgleich!)
gefunden werden. Dieser Punkt wird untersucht werden.“
- 596.
- Aus diesem Dokument folgt somit, daß die Marktentwicklung im ersten Halbjahr
1982 gegenüber dem ersten Halbjahr 1981 sich nicht anhand der normalen
Marktbedingungen erklären läßt, sondern durch falsche Absatzmeldungen für das
erste Halbjahr 1981. Grund für diese falschen Meldungen waren die Regelungen
über den Ausgleich zwischen den Herstellern. Wie die Kommission ausgeführt hat,
beweist dieses Dokument, das vor allem zusammen mit den beiden zuvor
behandelten zu lesen ist, die eine Ausgleichsregelung für das erste Halbjahr 1981
belegen, daß einige Hersteller zweifellos für dieses Halbjahr niedrigere als die
tatsächlichen Verkaufszahlen angegeben haben, um dieser Regelung zu entgehen.
- 597.
- Dieses Dokument erlaubt ebenfalls den Schluß, daß diese Regelung wegen des
Verhaltens einiger Hersteller nicht besonders gut funktioniert hat. Dies ist im
übrigen im Zusammenhang mit dem Dokument „sharing the pain“ zu sehen, in
dem es heißt, daß „die mit vergleichbaren Regelungen für PVC und LDPE
gewonnenen Erfahrungen ... nichts Gutes [verheißen]“.
- 598.
- Die von DSM vertretene andere Auslegung des Begriffes „Ausgleich“, die im
übrigen wenig klar ist, ist nicht überzeugend. Es ist nämlich kaum anzunehmen, daß
die Hersteller zur Berichtigung von Fehlern in ihren Meldungen an Fides für ein
bestimmtes Jahr im folgenden Jahr einen Absatz angegeben haben, dem sie die im
vergangenen Jahr weggelassenen Verkäufe hinzugerechnet haben.
- 599.
- Zum Nachweis einer Quotenregelung bezieht sich die Kommission auch auf einen
bei ICI aufgefundenen Vermerk vom 15. April 1981. Dieser Vermerk ist die
Mitteilung des Generaldirektors des Geschäftsbereichs Petrochemie von
Montedison an ICI. Dort heißt es: „ICI könnte z. B. bis Ende 1981 über eine neue
PVC-Kapazität in Deutschland verfügen und hat seit Januar 1981 eine
Quotenerhöhung von 30 KT verlangt.“ ICI plante nämlich, wie die Kommission
ausgeführt hat, zu diesem Zeitpunkt den Bau einer neuen Anlage in Deutschland
und die Stillegung älterer Anlagen an einem anderen Ort.
- 600.
- Wenn dieser Vermerk auch in erster Linie ein anderes thermoplastisches Erzeugnis
betrifft, bezieht er sich in der vorstehend wiedergegebenen Passage doch
ausdrücklich auf PVC.
- 601.
- Im übrigen konnten die Klägerinnen das in diesem Vermerk enthaltene Wort
„Quote“ nicht anders auslegen, als es die Kommission getan hat. Dieser Vermerk
ist die Abschrift einer Mitteilung eines Leiters eines Konkurrenzunternehmens, so
daß man nicht davon ausgehen kann, daß das Wort „Quote“ sich lediglich auf
unternehmensinterne Ziele von ICI bezieht.
- 602.
- Nach Ansicht der Kommission hat die auf diese Weise nachgewiesene
Absatzkontrolle zumindest bis April 1984 bestanden. Die Kommission stützt sich
hierfür auf die Atochem-Tabelle mit der Überschrift „PVC erstes Quartal“.
- 603.
- Diese Tabelle enthält neun Rubriken:
In der ersten werden sämtliche europäischen PVC-Hersteller aufgezählt, die
seinerzeit auf dem Markt tätig waren.
In der zweiten, der dritten und der vierten Rubrik werden für jeden
europäischen Hersteller mit Ausnahme der vier deutschen Hersteller, deren
Absatz zusammengefaßt ist, die jeweils im Januar, Februar und März
erzielten Absätze angegeben. Für die ersten beiden Monate enthält die
Tabelle den Hinweis „FIN“ und für den letzten Monat den Hinweis „Q“.
Es ist nicht bestritten worden, daß diese Hinweise den endgültigen (englisch:
„final“) und sofortigen (englisch: „quick“) Zahlen entsprechen, die an das
Fides-Informationssystem weitergegeben wurden; dies ergibt sich im übrigen
aus der als Anlage 11 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügten
Antwort von Atochem vom 5. Mai 1987 auf ein Auskunftsverlangen der
Kommission. Das Fides-System ist, wie in der Entscheidung (Randnr. 12,
dritter Absatz) ausgeführt wird, ein statistischer Dienst für die Industrie,
der von einem Buchhaltungsunternehmen mit Sitz in Zürich betrieben wird.
Die Hersteller, die Mitglieder dieses Systems sind, liefern ihre
Verkaufszahlen zunächst sofort und dann als endgültige Zahlen an eine
Zentralstelle, die sämtliche Informationen sammelt und für den gesamten
westeuropäischen Markt umfassende, anonyme Statistiken erstellt.
In der fünften Rubrik sind die Gesamtverkäufe für das erste Quartal
angegeben.
Die sechste Rubrik enthält den Prozentsatz der Verkäufe der europäischen
Hersteller im Verhältnis zu deren Gesamtabsatz während der ersten vier
Monate.
Die siebte Rubrik ist überschrieben „% T“.
In der achten Rubrik sind die Verkäufe für den Monat April mit dem
Hinweis „Q“ angegeben.
In der letzten Rubrik findet sich der Anteil der Hersteller im Verhältnis
zum Gesamtabsatz der europäischen Hersteller im ersten Quartal.
- 604.
- Die Kommission ist zu dem Ergebnis gekommen, daß die Abkürzung „% T“
offenkundig ein Hinweis auf einen angestrebten Marktanteil (englisch: „target“) sei.
Sie entnimmt diesem Dokument ebenfalls, daß die genannten Hersteller ihre
Verkaufszahlen außerhalb des offiziellen Fides-Systems untereinander ausgetauscht
hätten, um die Durchführung einer Quotenregelung zu überwachen. Schließlich hat
die Kommission geprüft, inwieweit die Hersteller die ihnen zugewiesene Zielmenge
erreicht haben.
- 605.
- Zunächst ist festzustellen, daß die genaue Identität des Verfassers des Dokuments
nicht entscheidend ist. Von Bedeutung ist allein, ob die Schlußfolgerungen, die die
Kommission aus der Atochem-Tabelle gezogen hat, richtig sind.
- 606.
- Es ist unstreitig, daß diese Tabelle die ersten Monate des Jahres 1984 betrifft, wie
sich auch aus der Antwort von Atochem vom 5. Mai 1987 auf ein
Auskunftsverlangen ergibt. Da die Tabelle für die Monate März und April 1984 nur
„sofortige“ und keine endgültigen Zahlen enthält, kann diese Tabelle im Mai 1984
erstellt worden sein.
- 607.
- Erstens ist die Auslegung der Abkürzung „% T“ durch die Kommission zutreffend.
Es ist nicht denkbar, daß diese Abkürzung nur die rein unternehmensintern
festgesetzten Zielmengen betrifft; dies würde nämlich nicht erklären, wieso der
Verfasser des Dokuments über sämtliche in den einzelnen Unternehmen intern
festgesetzten Ziele verfügte. Zudem läßt sich diese Abkürzung nicht losgelöst vom
Zusammenhang der vorliegenden Rechtssache auslegen, insbesondere nicht ohne
Berücksichtigung der anderen Schriftstücke, die überzeugend das Vorliegen einer
Quotenregelung der PVC-Hersteller belegen. Im übrigen ergibt sich aus der
Tabelle, daß in dem Schriftstück nicht die Marktanteile im Verhältnis zum
Gesamtabsatz in Westeuropa angegeben werden, da die Einfuhren nicht
berücksichtigt worden sind, sondern der jeweilige Marktanteil der Hersteller im
Verhältnis zu dem von diesen in ihrer Gesamtheit repräsentierten Markt, was
bestätigt, daß das Ziel die Kontrolle des Marktanteils im Rahmen der Absprache
war. Schließlich haben die Klägerinnen keine andere plausible Bedeutung der
Abkürzung „% T“ im Kontext dieser Rechtssache angeben können.
- 608.
- Zweitens hat die Kommission versucht, zu überprüfen, ob die in der Tabelle für die
einzelnen Hersteller angegebenen Verkaufsmengen den von den Unternehmen bei
Fides tatsächlich gemeldeten Mengen entsprachen. Nach den Angaben der
Kommission hierzu war es ihr nicht möglich, von allen Herstellern eine Kopie
dieser Meldungen zu erlangen, und sie konnte daher die in der Tabelle
angegebenen Verkaufszahlen nicht systematisch überprüfen. Von einigen
Unternehmen hat die Kommission jedoch die Verkaufszahlen erhalten. Aus diesen
Zahlen ergibt sich, daß zehn der Verkaufszahlen, die sie überprüfen konnte, mit
den Meldungen der Hersteller an Fides identisch sind. Darüber hinaus liegen fünf
weitere Verkaufszahlen, die Solvay und LVM betreffen, nahe bei der in der Tabelle
genannten Zahl.
- 609.
- Schließlich hat sich die Kommission bemüht, die Verkäufe der vier deutschen
Hersteller für das erste Quartal 1984 zu errechnen. Sie hat sich dazu der von drei
dieser Unternehmen (BASF, Wacker und Hüls) an Fides gemeldeten Daten, die
sie in Kopie erhalten konnte, und der von Hoechst in deren Antwort vom 27.
November 1987 auf ein Auskunftsverlangen der Kommission selbst angegebenen
Verkaufszahlen bedient. Auf diese Weise gelangte sie zu einer Gesamtmenge von
198 353 t, die sie mit der Gesamtmenge von 198 226 t, die sich aus der Atochem-Tabelle ergibt, verglich. Der Unterschied zwischen diesen beiden Gesamtmengen
kann in der Tat vernachlässigt werden und bestätigt die Auffassung der
Kommission, daß ein solches Ergebnis ohne einen Informationsaustausch zwischen
den Herstellern nicht möglich gewesen wäre.
- 610.
- Die Kommission hat auf das Ergebnis dieser Berechnung und die
Schlußfolgerungen verwiesen, die sie daraus in der Mitteilung der
Beschwerdepunkte gezogen hat. Bei der Anhörung vor der Kommission hat
Hoechst jedoch die von ihr selbst ursprünglich vorgelegten Zahlen bestritten und
neue Zahlen vorgelegt. Die Kommission hat aber nachweisen können, daß diese
nicht glaubhaft sind. So hat sie in der Entscheidung (Randnr. 14, Fußnote 1)
ausgeführt: „Neue von Hoechst anläßlich der mündlichen Anhörung (aber ohne
Beweismaterial) vorgelegte Zahlen ... sind völlig aus der Luft gegriffen. Sie würden
bedeuten, daß Hoechst eine Kapazitätsauslastung von über 105 % hatte, währenddie Kapazitätsauslastung bei anderen nur 70 % betrug.“ Tatsächlich hat Hoechst
zugegeben, daß diese neuen Zahlen unzutreffend waren, und hat der Kommission
mit Schreiben vom 21. Oktober 1988 eine dritte Serie von Zahlen vorgelegt.
- 611.
- Diese neue Zahlenserie enthält gegenüber den ursprünglich vorgelegten Zahlen
eine unbedeutende Berichtigung der Verkaufszahlen von Hoechst in Europa, die
im übrigen die Richtigkeit der Zahlen in der Atochem-Tabelle nur bestätigt;
hinzugefügt ist dort aber als „Verkäufe an die Verbraucher“ im Sinne der Fides-Meldungen der Eigenverbrauch von Hoechst für ihr Werk Kalle. Angesichts der
Umstände, unter denen diese Zahlen vorgelegt worden sind, können sie aber nicht
als hinreichend glaubhaft angesehen werden, um die von der Klägerin in ihrer
Antwort auf ein Auskunftsverlangen selbst vorgelegten Zahlen in Zweifel zu ziehen.
- 612.
- Die deutschen Hersteller machen jedoch geltend, daß ihre Verkäufe
zusammengefaßt und nicht einzeln ausgewiesen worden seien; infolgedessen genüge
es, daß drei der vier deutschen Hersteller an diesem Informationsaustausch
teilgenommen hätten, um den Anteil des vierten durch einfache Subtraktion von
den offiziellen Gesamtzahlen von Fides zu ermitteln. Daher sei die Atochem-Tabelle für keinen der vier deutschen Hersteller aussagekräftig. Dieses Vorbringen
ist zurückzuweisen. Die Tabellen von Fides zeigen nämlich die Verkäufe aus
Deutschland insgesamt und nicht nur die Verkäufe der vier deutschen Hersteller;
diese Statistiken weisen für das erste Quartal 1984 einen Gesamtabsatz auf, der
erheblich höher ist als der Gesamtabsatz von BASF, Wacker, Hoechst und Hüls
allein. Unter diesen Umständen ließ sich bei Kenntnis der Verkaufszahlen von drei
von ihnen nicht durch Subtraktion ein Gesamtabsatz der vier deutschen Hersteller
ermitteln, der ebenso genau ist wie der in der Atochem-Tabelle ausgewiesene.
- 613.
- Die in der Atochem-Tabelle angeführten Verkaufszahlen sind bis auf die für die
Unternehmen ICI und Shell, die offensichtlich gerundet worden sind, genau; für ICI
enthält die Tabelle in einer Fußnote folgenden Hinweis: „Berechnet auf der
Grundlage der Fides-Daten“. Dies erhärtet den Schluß der Kommission, daß die
Zahlen für die anderen Hersteller nicht bloße Schätzungen aufgrund der offiziellen
Daten seien, sondern Angaben der Hersteller selbst. Wenn die Hersteller ihre
eigenen Verkaufszahlen individuell an Fides melden, so geschieht dies auf
vertraulicher Basis. Die Hersteller erhalten im Gegenzug nur zusammengefaßte
Daten und nicht die von den anderen Herstellern gemeldeten individuellen Daten.
- 614.
- Drittens hat die Kommission geprüft, ob die Marktanteile der Hersteller im
Verhältnis zueinander für 1984 der Zielmenge entsprachen, die in der Atochem-Tabelle angegeben ist. So konnte sie anhand der ihr zur Verfügung stehenden
Informationen feststellen, daß der Marktanteil von Solvay 1984 mit der in der
Atochem-Tabelle genannten Zielmenge übereinstimmte. Zudem konnte sie
feststellen, daß der Marktanteil der vier deutschen Hersteller für 1984 in Höhe von
24 % nahe an die in dieser Tabelle angegebene Zielmenge von 23,9 %
heranreichte. Schließlich belief sich der Marktanteil von ICI für 1984 auf 11,1 %,
während die Zielmenge für dieses Unternehmen in der Atochem-Tabelle mit 11 %
angegeben war. Übrigens ist bezeichnend, wie auch die Kommission hervorgehoben
hat, daß zwei interne Schriftstücke von ICI vom 18. September und vom 16.
Oktober 1984, die als Anlagen 17 und 18 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte
vorgelegt wurden, sich genau auf eine Zielmenge von 11 % für das Unternehmen
beziehen.
- 615.
- Enichem macht geltend, daß ihr Anteil am Absatz 1984 12,3 % betragen habe, was
eindeutig unter dem in der Atochem-Tabelle angegebenen Satz liege. Dieser
Einwand ist zurückzuweisen. Enichem ist aufgefordert worden, anzugeben, auf
welcher Grundlage sie ihren Marktanteil für 1984 ermittelt hat, konnte aber
keinerlei Erklärung zu den von ihr herangezogenen Unterlagen abgeben. Zudem
hat diese Klägerin in den Anlagen zu ihrer Klageschrift (Band III, Anlage 2) eine
Tabelle vorgelegt, die ihre jährlichen Verkäufe für die Zeit von 1979 bis 1986
wiedergibt und der sich entnehmen läßt, daß die Marktanteile für jedes dieser
Jahre auf die gleiche Weise berechnet worden sind. Die Klägerin hat auf eine
entsprechende Aufforderung des Gerichts im Rahmen prozeßleitender Maßnahmen
für die Jahre 1979 bis 1982 zu erklären versucht, wie sie ihren Marktanteil
berechnet hat. Dabei hat sie lediglich für jedes dieser Jahre ihre Verkaufszahlen
angegeben, aber keine Einzelheiten, die dieses Vorbringen stützen könnten.
Darüber hinaus sind diese Verkaufszahlen nicht auf die Verkäufe der europäischen
Hersteller in Westeuropa, sondern auf die Zahlen des europaweiten Verbrauchs
bezogen, der zwangsläufig höher ist, da er die Einfuhren einschließt. Dadurch hat
die Klägerin ihren Marktanteil erheblich herabgesetzt.
- 616.
- Infolgedessen sind die Zahlen, die Enichem vorgelegt hat, nicht als zuverlässig
anzusehen.
- 617.
- Somit sind die tatsächlichen Wertungen, die die Kommission in der Entscheidung
vorgenommen hat, zutreffend.
Zur Überwachung der Verkäufe auf den nationalen Märkten
- 618.
- In der „checklist“ ist im Rahmen der Vorschläge für die Funktionsweise des neuen
Rahmens für die Sitzungen die Rede von einem „Austausch der monatlichen
Verkaufsdaten jedes Herstellers nach Ländern“.
- 619.
- Für den Nachweis einer Regelung, wonach die inländischen Hersteller auf den
wichtigsten nationalen Märkten sich gegenseitig über die Mengen unterrichteten,
die sie auf jedem Markt abgesetzt hatten, hat sich die Kommission vor allem auf
die Tabellen von Solvay gestützt.
- 620.
- Diese Tabellen haben den gleichen Aufbau.
- 621.
- Die Tabellen für den deutschen Markt (Anlagen 20 bis 23 zur Mitteilung der
Beschwerdepunkte) umfassen mehrere Spalten. Die erste enthält folgende
Rubriken: „Verbrauch MN“ (d. h. Verbrauch auf dem nationalen Markt),
„Einfuhren Dritter“ und „Verkauf inländischer Hersteller“; in dieser letzten Rubrik
stehen die Namen der wichtigsten inländischen Hersteller. In den folgenden Spalten
folgt jeweils auf die Spalte „Annahmen“ für ein bestimmtes Jahr eine Spalte
„Realisierung“ für dasselbe Jahr. Jede dieser Spalten ist noch einmal unterteilt, in
der ersten sind die Mengen, in der zweiten ist der Prozentsatz angegeben. Den
Rubriken in der ersten Spalte sind in den anderen Spalten Zahlen zugeordnet.
Angegeben ist der Absatz jedes deutschen Herstellers; daher entspricht das
Argument von Wacker und Hoechst, daß die Verkaufszahlen der deutschen
Hersteller zusammengefaßt und nicht einzelnen aufgeführt seien, nicht den
Tatsachen.
- 622.
- Die anderen Tabellen für den französischen Markt (Anlagen 24 bis 28 zur
Mitteilung der Beschwerdepunkte), für den Benelux-Markt (Anlagen 29 bis 32) und
für den italienischen Markt (Anlagen 33 bis 40) umfassen ebenfalls mehrere
Spalten. Die erste enthält die Namen der inländischen Hersteller mit den Rubriken:
„Gesamtmenge der inländischen Hersteller“, „Einfuhren“, wobei manchmal die
Einfuhren „aus anderen Fides-Ländern“ und aus „Drittländern (nicht Fides)“
getrennt sind, und „Gesamtmarkt“. Die beiden folgenden Spalten geben zwei
aufeinander folgende Jahre wieder; jede dieser Spalten ist noch einmal unterteilt,
die erste für Mengen, die andere für Prozentsätze; den Rubriken der ersten Spalte
entsprechen Zahlen in den anderen Spalten. In einigen Fällen wird in einer
zusätzlichen Spalte die prozentuale Entwicklung von einem Jahr zum anderen
wiedergegeben. Zudem ist in einigen Fällen eine Spalte „Prognosen“ für das
laufende Jahr angefügt.
- 623.
- Wie sich aus der Entscheidung ergibt und wie die Kommission auf eine Frage des
Gerichts bestätigt hat, betrifft die vorliegende Rüge nur den deutschen, den
italienischen und den französischen Markt.
- 624.
- Zunächst enthalten die Solvay-Tabellen nicht nur „Annahmen“, sondern auch die
„Realisierung“. Da der Informationsaustausch auf der „Realisierung“ beruht, kann
es sich nur um Informationen aus der Vergangenheit handeln; das Argument, daß
es sich nur um zukünftige Schätzungen handele, geht daher in tatsächlicher Hinsicht
fehl. Da die Solvay-Tabellen auf Anfang März des Jahres datiert werden können,
das auf das Jahr folgt, für das die Verkaufszahlen nach Hersteller und Land
ausgetauscht worden sind, können sie nicht als so alt angesehen werden, daß sie
nicht mehr vertraulich wären.
- 625.
- Zudem enthalten die Tabellen zwar Zahlen in Kilotonnen, gegebenenfalls bis auf
eine Stelle hinter dem Komma, doch läßt sich daraus nicht ableiten, daß es sich nur
um Schätzungen von Solvay allein handele. Tatsächlich sind die Verkaufszahlen von
Solvay, von der diese Tabellen stammen, selbst nur in Kilotonnen angegeben.
- 626.
- Die Kommission hat geprüft, ob die in den Tabellen angegebenen Verkäufe den
tatsächlichen Verkäufen der dort genannten Hersteller entsprechen. Sie war jedoch
nicht in der Lage, sämtliche dort enthaltenen Zahlen zu überprüfen, da die
Mehrheit der Hersteller erklärt hat, daß sie nicht in der Lage seien, ihre
Verkaufsstatistiken vorzulegen.
- 627.
- Die Überprüfung der Kommission hat zu der Feststellung geführt, daß für den
deutschen Markt die von der Kommission erlangten Absatzzahlen der Hersteller
Hüls, BASF und ICI für die einzelnen Jahre sich genau mit den in den Solvay-Tabellen genannten Zahlen deckten oder diesen sehr nahe kamen (Randnr. 16,
zweiter Absatz, der Entscheidung). BASF hat in diesem Zusammenhang in ihrer
Klageschrift erklärt: „Diese Unterlagen geben ein sehr zuverlässiges Bild von den
Absatzverhältnissen der hauptsächlichen Konkurrenten.“ Hüls trägt jedoch vor, daß
die Solvay-Tabellen für Deutschland für das Jahr 1980 Gesamtverkäufe von 736,7
Kilotonnen auswiesen; im Fall von Wacker und Hüls umfasse dieser Betrag aber
ausweislich einer Fußnote in der Anlage 20 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte
die Verarbeitung für Dynamit Nobel AG („+ travail à façon pour DNAG inclus“),
die in die Fides-Statistiken nicht aufgenommen werde. Dieser Einwand erklärt
jedoch keineswegs, wie Solvay die Verkaufszahlen, die dieser „Verarbeitung“
entsprechen, kennen konnte; diese Kenntnis spricht vielmehr für die
Schlußfolgerung der Kommission, daß die Hersteller sich ihre Verkaufszahlen
außerhalb des Fides-System mitgeteilt haben.
- 628.
- Für den französischen Markt hat die Kommission festgestellt, daß die
Verkaufszahlen von Shell, LVM und Atochem in den Solvay-Tabellen für
bestimmte Jahre sehr nah an die tatsächlichen Verkaufszahlen, die sie habe
erhalten können, heranreichten (Randnr. 16, dritter Absatz, der Entscheidung).
- 629.
- Für den italienischen Markt hat die Kommission keine tatsächlichen
Verkaufszahlen erlangen können. Die Klägerinnen, die in diesen Tabellen
namentlich aufgeführt sind, haben die Richtigkeit der dort genannten Zahlen nicht
bestritten. Zudem enthält die erste Tabelle für den italienischen Markt, wie die
Kommission hervorgehoben hat, folgenden Hinweis: „Die Aufteilung des
italienischen Marktes unter die verschiedenen Hersteller für 80 wurde auf der
Grundlage eines Informationsaustauschs mit unseren Kollegen vorgenommen.“ Im
übrigen enthalten die als Anlagen 37 und 39 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte
beigefügten Tabellen, die die Verkäufe 1983 betreffen, neben dem Namen des
kleinsten Herstellers auf dem italienischen Markt den Hinweis „Schätzungen“.
Schließlich hat Solvay in ihrer Antwort vom 25. Februar 1988 auf ein
Auskunftsverlangen angegeben: „Aufgrund der Besonderheiten des italienischen
Marktes können wir nicht ausschließen, daß bestimmte Verkaufszahlen zwischen
den Konkurrenten ausgetauscht worden sind.“ Unter diesen Umständen kann der
von Enichem vorgeschlagenen Auslegung des Worts „Kollegen“ nicht gefolgt
werden.
- 630.
- Dennoch sind die Klägerinnen der Ansicht, daß diese Zahlen nicht unbedingt das
Ergebnis eines Austauschs unter den Herstellern seien. Sie behaupten in diesem
Zusammenhang nicht, daß die in den Solvay-Tabellen angeführten Zahlen selbst
allgemein zugänglich gewesen seien, sondern machen geltend, daß sie aufgrund von
auf dem Markt verfügbaren Informationen oder bereits allgemein zugänglichen
Informationen hätten ermittelt werden können. Sie stützen sich dabei auf die
Erläuterungen, die Solvay zu der Erstellung der Tabellen gegeben hat und nach
denen diese ohne Kontakte zu den Konkurrenten hätten erstellt werden können.
- 631.
- Shell hat in ihrer Antwort vom 3. Dezember 1987 auf ein Auskunftsverlangen
erklärt, daß „Solvay gelegentlich in der Zeit von Januar 1982 bis Oktober 1983
angerufen hat, um eine Bestätigung ihrer Schätzungen von Shells Verkaufsmengen
zu erhalten“. Shell behauptet jedoch, keine genauen Informationen mitgeteilt zu
haben.
- 632.
- Zum französischen Markt hat Solvay erklärt, daß das Volumen des Gesamtmarktes
sich namentlich aufgrund der Fides-Statistiken genau habe bestimmen lassen. Nach
Abzug ihres eigenen Absatzvolumens habe sie das Gesamtabsatzvolumen ihrer
Konkurrenten auf dem französischen Markt erhalten. Zur Ermittlung des Absatzesjedes einzelnen Herstellers hat Solvay folgendes ausgeführt: „Wenn der Kunde zu
einer Gruppe gehört, die PVC herstellt, aber trotzdem einen Teil von anderen
Herstellern bezieht, wird pauschal geschätzt, daß die Muttergesellschaft 80 % des
Bedarfs ihrer Tochtergesellschaft deckt und der Rest sich auf die Konkurrenten
aufteilt; ist bekannt, daß einer der PVC-Verbraucher sich hauptsächlich bei einem
Hersteller eindeckt, rechnen die französischen Manager [von Solvay] pauschal, daß
dieser Hersteller 50 % des Bedarfs dieses Kunden deckt; deckt sich der Kunde bei
mehreren Herstellern ein und liegt keiner der genannten Fälle vor, erfolgt die
Aufteilung zwischen den verschiedenen Lieferanten linear entsprechend ihrer
Anzahl (Beispiel: bei vier Lieferanten für einen bestimmten Kunden weisen die
französischen Manager jedem von ihnen 25 % der Einkäufe dieses Kunden zu).“
So bestimmt Solvay den Anteil jedes Herstellers bei ihren eigenen Kunden. „Für
die Bestimmung der Gesamtmengen, die die Konkurrenten tatsächlich auf dem
gesamten Markt verkauft haben, wenden die französischen Manager [von Solvay]
die auf diese Weise ermittelten Marktanteile auf den Gesamtverbrauch von PVC
an ... und erhalten auf diese Weise annähernd den Gesamtabsatz [der]
Konkurrenten [von Solvay].“
- 633.
- Hierzu ist festzustellen, daß diese von Solvay angegebene Berechnungsmethode, auf
die sich die anderen Klägerinnen berufen, auf pauschalen Schätzungen beruht und
für Annäherungswerte und Zufälligkeiten weiten Raum läßt. Sie erlaubt es nicht,
den Absatz der einzelnen Hersteller so klar und genau zu bestimmen, wie er sich
aus den Solvay-Tabellen ergibt.
- 634.
- Bezüglich des deutschen Marktes hat Solvay ausgeführt, daß der Anteil der
einzelnen Konkurrenten an den Verkäufen aufgrund von „Gesprächen mit
Kunden“, allgemein zugänglichen Informationen (offizielle Statistiken und
Fachpresse) und der „gründlichen Kenntnis des Marktes der deutschen Manager“
von Solvay bestimmt worden sei. Auch hierzu ist festzustellen, daß Solvay anhand
dieser Methode ebenfalls nicht ohne jeden Informationsaustausch mit den
Konkurrenten zu ebenso genauen Ergebnissen wie denen in den Solvay-Tabellen
kommen konnte. Laut den Antworten der Klägerinnen auf eine Frage des Gerichts
hatte ein einzelner Hersteller manchmal mehrere hundert Kunden.
- 635.
- Beispiele, die DSM als Nachweis dafür angeführt hat, daß die Verkaufszahlen leicht
aufgrund allgemein zugänglicher Informationen hätten errechnet werden können,
liegen neben der Sache. Diese Beispiele beziehen sich nämlich auf die Ermittlung
des Gesamtmarktes und des Marktanteils der Klägerin selbst, um die es in der
Entscheidung nicht geht.
- 636.
- Die von den Klägerinnen vorgetragenen tatsächlichen Rügen sind daher
zurückzuweisen.
Zu den Zielpreisen und den Preisinitiativen
- 637.
- Wie bereits festgestellt (vorstehend, Randnr. 584) enthält die „checklist“ unter
Nummer 3 Vorschläge, wie der geplante neue Rahmen für die Sitzungen
funktionieren sollte. Nach der namentlichen Aufzählung von zehn PVC-Herstellern
in Form von Anfangsbuchstaben oder Abkürzungen enthält das Schriftstück
folgende Punkte: „Wie ist eine bessere Preistransparenz zu erreichen“, „Rabatt für
Importeure (höchstens 2 %?)“, „höhere Preise im Vereinigten Königreich und in
Italien (Anhebung des Preisniveaus?)“ und „Bekämpfung der
Kundenabwanderung“. Das Schriftstück enthält auch eine Rubrik mit der
Überschrift „Preisvorschläge“, in der man u. a. lesen kann: „Periode der Stabilität
(wir sind einverstanden, die Bedingungen des zweiten Quartals 1980 zu akzeptieren,
aber nur für eine begrenzte Zeit)“ und „Preisniveau von Oktober bis Dezember
1980 und Zeitpunkte der Durchführung“. Schließlich enthält die Rubrik, die eine
Sitzung vom 18. September 1980 betrifft, insbesondere den Hinweis: „Verpflichtung
herbeiführen für die Preisbewegungen Oktober/Dezember“.
- 638.
- Die „response to proposals“ enthält zwei Bemerkungen zu den Preisen. Auf den
ersten Vorschlag, wonach „es ein gemeinsames Preisniveau in Westeuropa geben
müßte“, folgt als Antwort: „Vorschlag unterstützt, aber Zweifel hinsichtlich der
Möglichkeit, den traditionellen Rabatt für Importeure fallen zu lassen.“ Nach dem
sechsten Vorschlag sollte „eine Preiserhöhung nicht während [einer]
Stabilisierungsphase von drei Monaten versucht werden“, in der die Lieferanten nur
mit den Kunden in Kontakt treten sollten, die sie in den vorangegangenen drei
Monaten beliefert haben (Nr. 5 der „response to proposals“). Dieser Vorschlag
wurde wie folgt beantwortet: „... aufgrund der aktuellen Verluste sollte die
Möglichkeit einer Erhöhung der Preise zum 1. Oktober nicht ausgeschlossen
werden, obwohl insoweit Schwierigkeiten bestehen, nämlich die einstimmige
Unterstützung zu erreichen und eine entsprechende Steigerung zu einem Zeitpunkt
durchzuführen, zu dem ein Rückgang der Nachfrage in Westeuropa wahrscheinlich
ist.“
- 639.
- Die Kommission hat in ihrer Entscheidung etwa fünfzehn Preisinitiativen festgestellt
(vgl. Tabelle 1 im Anhang der Entscheidung), von denen die erste am 1. November
1980 erfolgt ist.
- 640.
- Im Rahmen der vorliegenden Klagen bestreiten nur LVM und DSM schon das
Bestehen der von der Kommission festgestellten Preisinitiativen mit der
Begründung, daß solche Initiativen im PVC-Sektor nicht denkbar seien. Dazu
genügt der Hinweis, daß die Anlagen P1 bis P70 zur Mitteilung der
Beschwerdepunkte sich gezielt auf Zielpreise und Preisinitiativen beziehen.
Unabhängig von der Frage, ob es sich um individuelle oder abgestimmte
Verhaltensweisen handelt, genügt dies, um das Argument dieser Klägerinnen
zurückzuweisen.
- 641.
- Das Bestehen der Preisinitiativen ist somit als bewiesen anzusehen. Zu prüfen ist
daher, ob diese Initiativen, wie die Kommission behauptet, auf einer Absprache
zwischen den PVC-Herstellern beruhten.
- 642.
- Auch wenn die Anlagen P1 bis P70 für einige Klägerinnen unternehmensinterne
Schriftstücke darstellen, die nach den von der Kommission ermittelten Zeitpunkten
der Preisinitiativen erstellt worden sind, läßt sich daraus nicht schließen, daß sie
allein deshalb kein Beweis dafür sein können, daß die Initiativen abgesprochen
waren. Vielmehr ist der Inhalt der betreffenden Schriftstücke zu untersuchen.
- 643.
- Die Klägerinnen bestreiten nicht, daß die von der Kommission vorgelegten
Schriftstücke zeigen, daß zu den gleichen Zeitpunkten Erhöhungen geplant worden
sind, um den PVC-Preis auf ein gleiches Niveau anzuheben, das im allgemeinen
weit über dem lag, das in den Tagen vor diesen Erhöhungen auf dem Markt
herrschte. Tatsächlich ergibt sich dies für jede der von der Kommission
festgestellten Initiativen bereits aus dem Wortlaut der Anlagen P1 bis P70. Die
Artikel der Fachpresse, die die Kommission als Anlage zur Mitteilung der
Beschwerdepunkte vorgelegt hat, bestätigen im übrigen diese Erhöhungen zu den
von der Kommission ermittelten Zeitpunkten.
- 644.
- Zudem ergibt eine sorgfältige Prüfung der Anlagen P1 bis P70, daß diese Initiativen
nicht als rein individuelle Maßnahmen angesehen werden können. Sowohl aufgrund
des Wortlauts als auch aufgrund einer Prüfung dieser Anlagen unter
Berücksichtigung ihres Zusammenhangs untereinander ist das Gericht zu der
Überzeugung gelangt, daß diese Schriftstücke der materielle Beweis einer
europaweiten Preisabsprache der Hersteller sind.
- 645.
- So heißt es in der Anlage P1, einem Schriftstück von ICI, nach dem Hinweis, daß
„die Nachfrage von PVC auf dem westeuropäischen Markt im Oktober in
Erwartung der Preiserhöhung zum 1. November erheblich gestiegen ist“,
folgendermaßen: „[D]ie für den 1. November angekündigte Preiserhöhung [ist]
darauf angelegt, alle westeuropäischen PVC-Preise (Suspension) auf ein
Mindestniveau von 1,50 DM ... anzuheben ...“ Dieses Schriftstück ist im
Zusammenhang mit den Anlagen P2 und P3 zu sehen, die von Wacker stammen
und in denen eine gleiche Erhöhung zum gleichen Zeitpunkt angekündigt wird,
sowie mit der Anlage P4, die von Solvay stammt und die folgenden Satz enthält:
„[E]inige Importeure bieten im Widerspruch zu dem, was geplant war, Rabatte
zum Nachteil der britischen Hersteller an.“ Auch die Anlage P5, die von DSM
stammt, bezieht sich auf die Preisinitiative vom 1. November.
- 646.
- Auf die zweite Preisinitiative, die für den 1. Januar 1981 vorgesehen war und durch
die der Preis für PVC auf 1,75 DM angehoben werden sollte, wird Bezug
genommen in den Anlagen P2 und P8, die von Wacker stammen, P4, von Solvay
erstellt, P 6 und P7, die von ICI herrühren, und P9, die von DSM stammt.
Insbesondere die Anlage P4 enthält im Anschluß an den in der vorstehenden
Randnummer zitierten Satz den Hinweis: „[D]ie Aussichten für Dezember sind
nicht gut, trotz einer für den 1. Januar 1981 angekündigten weiteren
Preiserhöhung.“ In der Anlage P6 findet sich folgende Stelle: „[E]ine neue
Erhöhung der Preise ... auf 1,75 DM ist für alle westeuropäischen Märkte für den
1. Januar 1981 angekündigt worden.“
- 647.
- Die für den 1. Januar 1982 vorgesehene Preisinitiative zur Anhebung des PVC-Preises auf 1,60 DM wird belegt durch zwei Schriftstücke, die von ICI stammen und
als Anlagen P19 und P22 der Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügt waren,
sowie durch zwei weitere von DSM herrührende Schriftstücke, die als Anlagen P20
und P22 beigefügt waren. Die Anlage P22 enthält folgenden Kommentar: „[D]ie
Initiative der Branche zielt auf eine Erhöhung der Preise auf 1,60 DM/380 UKL/t
ab, erscheint aber nicht erfolgversprechend BP und Shell lehnen eine
Zusammenarbeit ab.“ In der Anlage P21 heißt es: „[D]ie Aussichten für Januar
[1982] sind nicht günstig. Trotz einer angekündigten Preiserhöhung ist derzeit ein
Sinken der Preise gegenüber dem Niveau im Dezember festzustellen. Insbesondere
haben die britischen Lieferanten die britischen Kunden über die Preiserhöhung
nicht einmal informiert.“ Zwar ist denkbar, daß ein Unternehmen z. B. über
Kunden darüber informiert wird, daß ein Mitbewerber eine Preiserhöhung
angekündigt oder nicht angekündigt hat, doch kommt es nicht in Betracht, daß
dieses Unternehmen darüber informiert wird, daß ein Hersteller eine
Preiserhöhung nicht angekündigt hat, die er hätte ankündigen sollen. Dies läßt sich
nur dadurch erklären, daß diese erwartete Erhöhung vorher unter den Herstellern
abgesprochen war.
- 648.
- Die für den 1. Mai 1982 angekündigte Initiative zur Anhebung des Preises auf 1,35
DM wird durch die Anlagen P23 und P26, die von ICI stammen, P24, die von DSM
herrührt, und P25, die von Wacker erstellt worden ist, bestätigt. Insbesondere hat
der Verfasser der Anlage P23 bei der Prüfung des Niveaus der Preise auf dem
europäischen Markt im April 1982, insbesondere auf dem deutschen und dem
französischen Markt, folgendes hinzugefügt: „[D]er Preisrutsch ist Ende des Monats
aufgrund der Ankündigung einer allgemeinen Erhöhung der europäischen Preise
auf 1,35 DM/kg zum 1. Mai zum Stehen gekommen.“ In der Anlage P24, die den
Mai 1982 betrifft, wird darauf hingewiesen, daß „aufgrund der angekündigten
Preiserhöhung“ die Preise von DSM erhöht worden sind, doch heißt es weiter:
„[D]ies liegt noch weit unter der geplanten Anhebung auf 1,35 DM/1,40 DM. Die
hauptsächlichen Gründe hierfür sind die Fehlschläge auf dem deutschen und dem
Benelux-Markt sowie die fehlende Zusammenarbeit der britischen und
skandinavischen Hersteller bei der Preisanhebung. In Frankreich und in Italien war
die Erhöhung erfolgreicher.“
- 649.
- Die Initiative vom 1. September 1982 zur Anhebung der Preise auf 1,50 DM/kg
wird namentlich durch die Anlagen P29, P39, P41, die von DSM stammen, P30 und
P34 von ICI und P31 bis P33, von Wacker erstellt, belegt. In der Anlage P29 vom
12. August 1982 heißt es zu den Preisen von August: „[E]in gewisser Druck ist auf
dem deutschen, belgischen und luxemburgischen Markt spürbar, was eigentlich
überrascht, da eine größere Preiserhöhung für den 1. September geplant ist.“ Unter
der Überschrift „Preise vom September“ heißt es in diesem Schriftstück weiter:
„[E]ine größere Preisanhebung auf ungefähr 1,50 DM/kg ist geplant. Bis jetzt ist
festzustellen, daß alle größeren Hersteller diese Preiserhöhung angekündigt haben
und nur sehr wenige Abweichungen festgestellt wurden.“ Die Anlage P32 enthält
folgenden Kommentar: „Im westeuropäischen Markt bemüht man sich intensiv um
eine Preiskonsolidierung per 1. September.“ Die Anlage P33 enthält folgende
Feststellung: „Die zum 1. September eingeleitete Preiserhöhung für homopolymeres
PVC auf mindestens DM 150, %kg hatte von der Tendenz her Erfolg, jedoch
finden wir im Oktober noch Positionen, die unser Wettbewerb zu DM 135, und
DM 140, %kg bedient.“ Der Verfasser der Anlage P34 hat die Lage auf dem
westeuropäischen Markt allgemein untersucht und im Oktober 1982 eine Erhöhung
der Nachfrage gegenüber dem Vormonat festgestellt; er hat ergänzend ausgeführt:
„Dies beruhte jedoch weitgehend auf den Bemühungen um eine Erhöhung der
Preise zum 1. September, die logischerweise zu Einkäufen vor diesem Zeitpunkt
geführt haben.“ Die Anlage P41 enthält folgenden Kommentar zu der Initiative
vom 1. September: „Der Erfolg der Preiserhöhung hängt jetzt weitgehend von der
Disziplin der deutschen Hersteller ab.“
- 650.
- Hinzuweisen ist noch auf die Preiserhöhung in zwei Abschnitten zum 1. April 1983
und 1. Mai 1983, die zu einer Anhebung der PVC-Preise auf 1,60 DM, mindestens
aber auf 1,50 DM, bzw. auf 1,75 DM, mindestens aber auf 1,65 DM führen sollte.
Shell hat in ihrer Antwort vom 3. Dezember 1987 auf ein Auskunftsverlangen
(Anlage 42 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte) erklärt, daß auf einer Sitzung
der westeuropäischen PVC-Hersteller in Paris am 2. oder 3. März 1983 „von
anderen Herstellern Vorschläge zu Preiserhöhungen und zu einer Absatzkontrolle
gemacht wurden“, allerdings seien keine Verpflichtungen eingegangen worden. ICI
hat die Abhaltung dieser Sitzung bestätigt (Anlage 4 zur Mitteilung der
Beschwerdepunkte). In der Anlage P43, die von ICI stammt, findet sich folgende
Stelle: „Von Montag, dem 7. März [1983] an, sind sämtliche Kunden darüber zu
informieren, daß die Preise auf 1,60 DM angehoben werden, mit einem Rabatt für
Kunden der Kategorie 1 bzw. der Kategorie 2 von 10 bzw. 5 Pfennig.“ Diese
Erhöhung sollte zum 1. April 1983 erfolgen, wie sich im übrigen aus dem
Fernschreiben ergibt. Der Verfasser der von Shell stammenden Anlage P49 vom
13. März 1983 erklärt nach dem Hinweis auf den Preisverfall im März bis auf ein
Niveau von 1,20 DM/kg: „Es ist eine Großinitiative geplant, um diesen Preisverfall
zu bremsen, wobei die Mindestziele für März/April jeweils 1,50 DM/kg und 1,65
DM/kg lauten.“ Ein Fernschreiben von ICI vom 6. April 1983, das als Anlage P45
der Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügt war, enthält folgenden Kommentar:
„Die Marktdaten scheinen klar dafür zu sprechen, daß die Branche insgesamt von
nun an die Preisinitiative zum 1. April 1983 durchführt.“ In einem Schriftstück von
Wacker vom 25. April 1983 (Anlage P46) wird auf die „Bemühungen, die Vinnol-Eck-Preise im April auf DM 150, %kg und im Mai auf DM 165, %kg zu
erhöhen“, hingewiesen. In einem internen Bericht von DSM vom 24. Juni 1983
(Anlage P48) heißt es nach einem Hinweis auf einen Preisrückgang in Westeuropa
im ersten Quartal 1983: „Seit dem 1. April wird der Versuch einer Erhöhung der
Preise in Westeuropa unternommen. Die geplante Anhebung bis auf 1,50 DM zum
1. April und auf 1,65 DM zum 1. Mai ist gescheitert.“
- 651.
- Nach einem Vermerk von ICI vom 31. Januar 1983, als Anlage 44 der Mitteilung
der Beschwerdepunkte beigefügt, waren „die .Zielpreise' in Europa in der
gesamten Industrie ziemlich gut bekannt und somit .Listenpreise'“. Weiter heißt
es dort: „Es wird generell die Auffassung vertreten, daß diese Listenpreise nicht in
einer schwachen Marktsituation verwirklicht werden können ..., doch hat die
Ankündigung eine psychologische Wirkung auf die Abnehmer. Man denke analog
hierzu an den Kauf eines Wagens, für den der .Listenpreis' so angesetzt ist, daß
der Käufer mit einem Rabatt von 10 bis 15 % zufrieden ist und den Eindruck hat,
daß er ein .gutes Geschäft' gemacht hat, während der Hersteller oder
Vertragshändler immer noch eine angemessene Marge hat.“ Der Autor dieses
Vermerks empfahl daher, „daß die PVC-Industrie in großem Umfang Zielpreise
ankündigt, die weit über den Preisen liegen, die wahrscheinlich durchgesetzt werden
können, z. B. 1,65 DM/kg im März“ (Hervorhebungen weggelassen).
- 652.
- Zudem hat die Fachpresse bei verschiedenen Gelegenheiten auf eine Absprache
zwischen den PVC-Herstellern hingewiesen. So konnte man in der Zeitschrift
European Chemical News vom 1. Juni 1981 lesen: „Die wichtigsten europäischen
Kunststoffhersteller versuchen in einer konzertierten Aktion erhebliche
Preiserhöhungen für [PVC] durchzusetzen und erwarten, das Preisniveau von
Anfang 1981 zu erreichen.“ Am 4. April 1983 heißt es in dieser Zeitschrift: „Die
europäischen [PVC-]Hersteller unternehmen eine entschlossenen Versuch, die
Preise Anfang April anzuheben. Sie haben sich im März in Paris getroffen, um über
Preiserhöhungen zu sprechen.“
- 653.
- Nach eingehender Prüfung der von der Kommission in der Anlage zur Mitteilung
der Beschwerdepunkte vorgelegten zahlreichen Schriftstücke, die die PVC-Preise
betreffen und von denen in den vorstehenden Randnummern 645 bis 650 nur einige
Beispiele angeführt worden sind, hält es das Gericht angesichts der von der
Kommission beigebrachten materiellen Beweise für bewiesen, daß die in diesen
Schriftstücken genannten „Preiserhöhungen“, „Preisinitiativen“ oder „Zielpreise“
keine bloßen individuellen Entscheidungen waren, die jeder Hersteller eigenständig
getroffen hat, sondern daß sie unter den Herstellern abgesprochen waren.
- 654.
- Allerdings ist schon hier darauf hinzuweisen, daß mehrere der Anlagen P1 bis P70
von einem Scheitern oder einem gemischten Erfolg einiger Preisinitiativen
berichten, worauf die Kommission in Randnummer 22 der Entscheidung
hingewiesen hat.
- 655.
- Diese gescheiterten Versuche oder gemischten Erfolge erklären sich aus
verschiedenen Umständen, die die Kommission in Randnummer 22 genannt hat
und die ausdrücklich in einigen der Anlagen P1 bis P70 aufgeführt sind. So haben
einige Kunden, um sich zu günstigeren Preisen einzudecken, manchmal in den
Tagen vor dem Inkrafttreten einer angekündigten Preiserhöhung Käufe in
erheblichem Umfang getätigt. Dies ergibt sich namentlich aus den Anlagen P8, P12,
P21, P23, P30 und P39.
- 656.
- Zudem haben die Hersteller, wie sich aus den Anlagen P1 bis P70 ergibt, zumindest
bei manchen Gelegenheiten versucht, einen Mittelweg zu finden zwischen der
Aufrechterhaltung eines bestimmten Niveaus des Absatzes und der Beziehungen
zu einzelnen Kunden auf der einen Seite und der Preiserhöhung auf der anderen
Seite.
- 657.
- So wurden den wichtigen Kunden gelegentlich Nachlässe oder Sonderrabatte
angeboten (z. B. Anlage 17), oder es wurden mit Kunden zeitlich begrenzte
Vereinbarungen über Lieferungen zu den Preisen getroffen, die vor der geplanten
Erhöhung galten (namentlich Anlage P21). Aus mehreren Schriftstücken, die die
Kommission erlangt hat, ergibt sich, daß die Hersteller verschiedentlich ihre
Absicht bekundeten, eine geplante Preisinitiative zu unterstützen, sich dabei aber
vergewisserten, daß dies nicht ihr Auftragsvolumen minderte. So heißt es in einem
Fernschreiben von ICI vom 18. Dezember 1981 an die verschiedenen
Tochtergesellschaften in Europa über die Preisinitiative vom Januar 1982: „Es
bleibt abzuwarten, ob dieses Preisniveau erreicht wird; beobachten Sie daher
aufmerksam die Situation der individuellen Kunden innerhalb von Europa ... Es ist
sehr wichtig, daß wir in dieser schwierigen Zeit ein gutes Gleichgewicht zwischen
der Preiserhöhung und der Aufrechterhaltung des Auftragsvolumens finden.“ Ein
Vermerk von Wacker vom 9. August 1982 (Anlage P31) enthält folgende
Feststellung: „Die Wacker-Strategie der nächsten Monate ist wie folgt: Wir werden
uns im Kielwasser der sich abzeichnenden Preiserhöhungsbemühungen unseres
Wettbewerbs bewegen, keinesfalls aber weitere Mengeneinbußen hinnehmen, d. h.,
sollte der Markt diese Erhöhung nicht annehmen, werden wir zu geeigneter Zeit
die nötige Preisflexibilität exerzieren.“ Ebenso enthält ein nicht datierter Vermerk
von DSM (Anlage P41) folgenden Kommentar zu der Initiative vom 1. Januar
1983: „DSM wird den Versuch einer Preiserhöhung unterstützen, dabei aber nicht
die Rolle des Vorreiters übernehmen. Die Preiserhöhung wird im Rahmen der
Verteidigung unserer Marktanteile unterstützt.“
- 658.
- Umgekehrt belegen mehrere Schriftstücke die feste Absicht der Hersteller, eine
Preisinitiative zu unterstützen, oder die tatsächliche Unterstützung einer solchen
trotz des damit verbundenen Risikos von Absatzeinbußen. So heißt es z. B. im Fall
von DSM in Anlage P13, daß DSM „die Preisinitiative fest unterstützt“ hat, und die
Anlage P41 enthält folgende Stelle: „Die Preiserhöhung im September und die
Entscheidung von DSM, diese Erhöhung fest zu unterstützen, haben zu
Absatzeinbußen geführt, aber zu deutlich besseren Preisen.“ Im Fall von ICI sind
namentlich folgende Anlagen zu nennen: P16 vom 14. Juli 1981 über die
Preisinitiative vom 1. Juni, wo von der Unnachgiebigkeit von ICI bei den Preisen
die Rede ist, P30 vom 20. Oktober 1983, die den Hinweis enthält, daß ICI
„weiterhin eine besonders harte Linie“ zu den Septemberpreisen vertritt, und P34
über die Preisinitiative vom September 1982, wo es heißt: „Erneut haben wir die
Preiserhöhung uneingeschränkt unterstützt.“ Zu erwähnen ist im Fall von Wacker
auch die Anlage P15 zur Preisinitiative vom 1. September 1981 zur Anhebung des
Zielpreises auf 1,80 DM: „Die Wacker-Chemie hat es zu ihrer Politik gemacht, im
Interesse der dringend notwendigen Preiskonsolidierung im September kein
Geschäft unter DM 180, %kg zu machen.“
- 659.
- Wie die Kommission in Nummer 22 der Entscheidung ausgeführt hat, ist einigen
Herstellern gelegentlich ihr aggressives Marktverhalten vorgeworfen worden, das
Preisinitiativen, die andere Hersteller unterstützen wollten, störte oder zum
Scheitern brachte. So weist der Verfasser eines Vermerks von DSM vom 25.
Februar 1981 (Anlage P9) darauf hin, daß „die für den 1. Januar [1981]
angekündigte Preiserhöhung auf 1,75 DM gewiß nicht von Erfolg gekrönt war“, und
er fährt fort: „Die aggressive Haltung einiger französischer und italienischer
Lieferanten in den letzten drei Monaten hat zu einem wilden Wettbewerb um die
Großkunden und damit zu einem Preisrückgang geführt.“ So wird in der von ICI
stammenden Anlage P23 vom 17. Mai 1982 darauf hingewiesen, daß ICI um seine
Marktanteile im Vereinigten Königreich besorgt sei, und es heißt dann weiter:
„Shell, BP und DSM waren besonders aggressiv auf diesem Markt.“ Ein
Schriftstück von DSM vom 1. Juni 1981, das die Kommission den Unternehmen mit
Schreiben vom 3. Mai 1988 übermittelt hat, führt zum belgischen und
luxemburgischen Markt im April 1981 aus: „Der Versuch einer Preiserhöhung ist
nach einem Monat gescheitert. Die Aggressivität von BASF, Solvay, ICI und SAV
hat zu einem Preisniveau geführt, das weder höher noch niedriger als das des
Vormonats ist.“ In einem anderen Schriftstück von DSM vom Oktober 1981 heißt
es zu denselben geographischen Märkten: „Im August wurde Druck auf die Preise
ausgeübt. Ein aggressiveres Verhalten mehrerer Hersteller (BASF, SAV, Solvay,
Anic und ME) machte sich bemerkbar.“ Ein Schriftstück von ICI vom 19. April
1982 enthält die Feststellung: „Es ist schwer, eine Bestätigung zu erhalten, wer die
Hersteller sind, die die Preise nach unten drücken, aber sowohl Shell als auch
Solvay wurden als mögliche Schuldige genannt.“
- 660.
- Tatsächlich konnte eine Preisinitiative nur in einem günstigen Umfeld erfolgreich
sein, das von den Herstellern nicht kontrollierbar war. So ergibt sich aus der
Anlage P52, daß nach Ansicht von ICI mehrere Faktoren zu dem vorhersehbaren
Erfolg der für den 1. Mai 1983 vorgesehenen Initiativen beitrugen, darunter die
abgebauten Lagerbestände, ein Wiederaufleben der Nachfrage, Gerüchte einer
Verknappung, insbesondere für den Export, ein Preisanstieg auf den ausländischen
Märkten und die Wirkung der Rationalisierung innerhalb der Branche. Andere
Schriftstücke heben die Entwicklung der Nachfrage (z. B. Anlagen P27, P31, P45,
P47) oder die der Einfuhren aus Drittländern (z. B. Anlagen P16 und P31) hervor.
Umgekehrt führten Faktoren wie Überkapazität, Erhöhung der Einfuhren,
Preisrückgang auf den Drittlandsmärkten, die große Zahl von PVC-Herstellern in
Westeuropa oder die Inbetriebnahme neuer Anlagen von Shell und ICI zu einer
erhöhten Anfälligkeit des Preisniveaus (Anlage P21, die von DSM stammt, für das
Jahr 1981).
- 661.
- Diese Prüfung zeigt, daß die Kommission im vorliegenden Fall den Sachverhalt
bezüglich der Preisinitiativen zutreffend beurteilt hat.
Zum Ursprung des Kartells
- 662.
- Aus der vorangegangenen Untersuchung ergibt sich, daß sowohl hinsichtlich der
Preise als auch der Quotenregelung, die die beiden wichtigsten Aspekte der
beanstandeten Zuwiderhandlung sind, zwischen den in den Planungsdokumenten
beschriebenen Vorhaben und den auf dem PVC-Markt tatsächlich festgestellten
Verhaltensweisen schon von den ersten Monaten nach der Erstellung dieser
Dokumente an eine Korrelation bestand. Zudem bestand, wenn auch in geringerem
Umfang, eine Korrelation zwischen den in den Planungsdokumenten beschriebenen
Vorhaben und den beanstandeten Verhaltensweisen beim Informationsaustausch
zwischen Herstellern.
- 663.
- Das Vorbringen der Klägerinnen zum Ursprung des Kartells ist unter
Berücksichtigung des Wortlauts der Planungsdokumente, der Angaben von ICI in
ihrer als Anlage 4 der Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügten Antwort vom
30. April 1984 auf ein Auskunftsverlangen der Kommission und dieser Korrelation
zwischen den Planungsdokumenten und den auf dem Markt tatsächlich
festgestellten Verhaltensweisen in den Wochen nach Erstellung dieser Dokumente
zu prüfen.
- 664.
- ICI hat in ihrer Antwort auf das Auskunftsverlangen ausgeführt, wenn man
bedenke, wo die Unterlagen von der Kommission gefunden worden seien, liege es
nahe, daß sich diese auf PVC bezögen. Die Korrelation zwischen den
Planungsdokumenten und den auf dem PVC-Markt tatsächlich festgestellten
Verhaltensweisen bestätigt diese Feststellung.
- 665.
- Die genaue Identität des Verfassers der Planungsdokumente ist nicht entscheidend.
Entscheidend ist allein, ob diese Dokumente als ein Plan für die Bildung eines
Kartells angesehen werden können, wie die Kommission behauptet. Im übrigen
steht auf dem Schriftstück „response to proposals“ der Name des Verfassers;
dieser, Herr Sheaff, war Leiter des Geschäftsbereichs „Kunststoffe“ von ICI Anfang
der 80er Jahre. ICI hat in ihrer Antwort auf ein Auskunftsverlangen angegeben,daß es naheliege, daß Herr Sheaff auch Verfasser der „checklist“ gewesen sei.
- 666.
- Das Gericht kann den Einwand nicht gelten lassen, daß die Planungsdokumente
nur den britischen Markt oder den britischen und den italienischen Markt beträfen.
Zu beachten ist, daß Nummer 1 der „response to proposals“ sich auf ein
„gemeinsames Preisniveau für Westeuropa“ bezieht. Nummer 2 dieser Antwort
betrifft die Möglichkeit eines Quotensystems „auf betrieblicher statt auf nationaler
Basis“, was zumindest die Möglichkeit ausschließt, daß nur ein einziger
geographischer Markt betroffen war. Zudem wird in Nummer 6 der „response to
proposals“ bei der Prüfung der Möglichkeit einer Preiserhöhung im letzten Quartal
1980 auf Schwierigkeiten insbesondere wegen eines Rückgangs „der Nachfrage in
Westeuropa“ insgesamt hingewiesen. Auch wenn die „checklist“ sich speziell in
zwei Punkten auf den britischen und den italienischen Markt bezieht, enthält sie
doch eine Nummer 3 mit der Überschrift „Vorschlag für einen neuen Rahmen für
die Sitzungen“; die Vorschläge dort sind allgemein gefaßt, so daß nichts dafür
spricht, daß sie auf einen oder zwei geographische Märkte beschränkt gewesen
wären. Die Tatsache, daß diese Vorschläge unmittelbar auf die Liste der
wichtigsten europäischen PVC-Hersteller folgen, bestätigt im Gegenteil den Schluß,
daß nicht allein der britische und/oder der italienische Markt gemeint waren.
Schließlich werden in den Planungsdokumente namentlich zwei Verhaltensweisen
erwähnt, von denen die eine Preisinitiativen, deren erste für das letzte Quartal 1980
geplant war, und die andere eine Quotenregelung in Verbindung mit einer
Ausgleichsregelung betraf. Wie die vorangegangene Untersuchung gezeigt hat,
erfolgte eine Initiative zum 1. November 1980, um „alle PVC-Preise der Sorte
Suspension in Westeuropa auf mindestens 1,50 DM anzuheben“, und schon in den
ersten Monaten des Jahres 1981 wurde eine Ausgleichsregelung eingeführt, an der
sämtliche europäischen Hersteller mit Ausnahme von Shell teilnahmen. Diese
Korrelation bestätigt die Feststellung, daß die Planungsdokumente sich nicht bloß
auf einen oder zwei nationale Märkte bezogen.
- 667.
- Die Behauptung der Klägerinnen, daß die Planungsdokumente selbst niemals
außerhalb der Geschäftsräume von ICI verteilt worden seien, ist nicht entscheidend.
Entscheidend ist allein, ob der Inhalt dieser Dokumente ein Vorhaben belegt, das
die Organisation des PVC-Marktes unter Ausschluß des freien Wettbewerbs zum
Ziel hatte.
- 668.
- Das Argument, die beiden Planungsdokumente ständen in keiner Beziehung
zueinander, ist zurückzuweisen. Zunächst wurden diese Dokumente in den
Geschäftsräumen von ICI gefunden und waren körperlich miteinander verbunden.
Sodann sind in der „checklist“ verschiedene Themen aufgezählt, die allgemein
Regelungen zur Kontrolle des Absatzvolumens und zur Preisfestsetzung betreffen.
Diese Themen werden dann genauer in der „response to proposals“ behandelt.
Überdies finden sich bestimmte, im einzelnen dargestellte Punkte in beiden
Schriftstücken, so der Hinweis auf einen Zeitraum der Stabilisierung von drei
Monaten, die Möglichkeit einer Preiserhöhung im letzten Quartal 1980, die
Notwendigkeit, zu einer Einigung zu gelangen, um den neuen
Produktionskapazitäten Rechnung zu tragen, oder die Möglichkeit von
Schwankungen bei den im voraus festgelegten Marktanteilen mit dem gleichen
Hinweis auf eine Schwelle von 5 % und die dazu geäußerten Vorbehalte. Somit ist
die Ansicht nicht haltbar, daß es keine Beziehung zwischen diesen beiden
Schriftstücken gebe.
- 669.
- Die Klägerinnen machen jedoch geltend, daß die Kommission aus den
Planungsdokumenten zu Unrecht geschlossen habe, daß das zweite
Planungsdokument die Antwort der PVC-Hersteller auf die Vorschläge von ICI
(Randnr. 7, letzter Absatz, der Entscheidung) zusammenfasse. Die
Planungsdokumente könnten sehr wohl nur der Ausdruck der Meinungen oder
Feststellungen von Angestellten von ICI oder von Angestellten dieses
Unternehmens und von Solvay sein, die in den Nummern 5 und 6 der „checklist“
konkret genannt sei. Im übrigen sei die „response to proposals“ vor der „checklist“
entstanden, was das Vorbringen der Kommission in sich zusammenfallen lasse.
- 670.
- Der Wortlaut der Planungsdokumente erlaubt nicht den Schluß, den die
Kommission in Randnummer 7, letzter Absatz, und Randnummer 10, erster Absatz,
der Entscheidung gezogen hat, nämlich daß das zweite Planungsdokument die
Antwort der anderen PVC-Hersteller auf die Vorschläge von ICI sei; ebensowenig
läßt sich aus dem Wortlaut aber folgern, daß diese Unterlagen nur die Ansichten
von Angestellten von ICI wiedergäben.
- 671.
- Selbst wenn die Auffassung der Klägerinnen richtig wäre, würde dies die
Beweisführung der Kommission nicht erschüttern. Wie sich nämlich aus der
vorangegangenen Prüfung ergibt, hat die Kommission zahlreiche Schriftstücke
vorgelegt, die die in der Entscheidung beschriebenen Verhaltensweisen belegen.
Zudem bleibt die Tatsache, daß die Planungsdokumente, insbesondere die
„checklist“, die von einem hochgestellten Manager von ICI stammen, klar den Plan
dieses Unternehmens, das zum Zeitpunkt der Ausarbeitung dieser Unterlagen eines
der wichtigsten europäischen PVC-Hersteller war, zur Bildung eines Kartells zum
Ausdruck bringen. Außerdem wurden die in diesen Unterlagen vorgesehenen
Verhaltensweisen in den darauffolgenden Wochen auf dem PVC-Markt in
Westeuropa beobachtet. Somit ergibt sich zumindest, daß diese Planungsdokumente
die Grundlage für die Beratungen und Erörterungen der Hersteller waren und zur
tatsächlichen Umsetzung der geplanten rechtswidrigen Maßnahmen geführt haben.
- 672.
- Die Unterlagen, die die Kommission zur Stützung ihrer tatsächlichen Feststellungen
hinsichtlich der Verhaltensweisen auf dem PVC-Markt vorgelegt hat, enthalten
zwar keinen Hinweis auf die Planungsdokumente, doch beweist die Korrelation
zwischen diesen Verhaltensweisen und den in diesen Unterlagen beschriebenen
doch hinreichend, daß zwischen ihnen eine Verbindung besteht.
- 673.
- Die Kommission ist daher zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die
Planungsdokumente als Ursprung des Kartells angesehen werden können, das in
den Wochen nach deren Ausarbeitung in die Tat umgesetzt wurde.
Zu den Herstellersitzungen
- 674.
- Zunächst ist festzustellen, daß die Klägerinnen nicht bestritten haben, daß
informelle Sitzungen der Hersteller außerhalb des Rahmens von
Wirtschaftsverbänden stattgefunden haben.
- 675.
- Zudem muß die Kommission bei der Würdigung des Sachverhalts im Hinblick auf
Artikel 85 EG-Vertrag nicht unbedingt nachweisen, wann oder gar wo die
Sitzungen der Hersteller stattgefunden haben. Im übrigen ergibt sich aus der
Antwort von ICI vom 5. Juni 1984 auf ein Auskunftsverlangen der Kommission
(Anlage 4 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte), daß diese Sitzungen „ziemlich
regelmäßig auf verschiedenen Verwaltungsebenen, d. h. ungefähr einmal
monatlich“, stattfanden. ICI hat sich namentlich aufgrund der Tatsache, daß keine
Unterlagen über diese Sitzungen auffindbar waren, außerstande gesehen,
Zeitpunkte und Orte der Sitzungen seit August 1980 anzugeben. Dagegen hat sie
Ort und Zeitpunkt von neun informellen Sitzungen der Hersteller in den ersten
zehn Monaten des am kürzesten zurückliegenden Jahres, 1983, angeben können.
Sechs Sitzungen hätten in Zürich am 15. Februar, 11. März, 18. April, 10. Mai, 18.
Juli und 11. August 1983, zwei in Paris am 2. März und 12. September 1983 und
eine in Amsterdam am 10. Juni 1983 stattgefunden. ICI hat darüber hinaus die
Unternehmen genannt, die zumindest an einigen dieser informellen Sitzungen
teilgenommen haben, nämlich, in alphabetischer Reihenfolge: Anic, Atochem,
BASF, DSM, Enichem, Hoechst, Hüls, ICI, Kemanord, LVM, Montedison, Norsk
Hydro, PCUK, SAV, Shell, Solvay und Wacker.
- 676.
- Shell hat in ihrer Antwort vom 3. Dezember 1987 auf ein Auskunftsverlangen
(Anlage 42 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte) ihre Teilnahme an den
Sitzungen in Paris am 2. März 1983 und in Zürich am 11. August 1983 bestätigt,
für die die Kommission Beweise in Form von Angaben in einem Kalender
gefunden hat.
- 677.
- BASF hat in ihrer Antwort vom 8. Dezember 1987 auf ein Auskunftsverlangen der
Kommission (Anlage 5 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte) ebenfalls angegeben,
daß zwischen 1980 und Oktober 1983 „zeitweise wohl bis zu einmal im Monat“
Sitzungen der PVC-Hersteller stattgefunden hätten. Sie hat ebenfalls die
Unternehmen angeführt, die an diesen Sitzungen regelmäßig oder unregelmäßig
teilgenommen haben; dies sind, in alphabetischer Reihenfolge: Anic, Atochem,
Enichem, Hoechst, Hüls, ICI, LVM, Montedison, Norsk Hydro, Shell, Solvay und
Wacker.
- 678.
- Schließlich räumt Montedison im Rahmen der vorliegenden Klagen ein, daß die in
der Fachpresse genannten informellen Herstellersitzungen stattgefunden hätten.
- 679.
- Die Klägerinnen bestreiten zwar diese informellen Herstellersitzungen nicht,
machen jedoch geltend, der ihnen von der Kommission unterstellte Zweck sei nicht
bewiesen.
- 680.
- Trotz der Zahl von Sitzungen, die in dem genannten Zeitraum stattgefunden haben,
und trotz der Untersuchungen gemäß den Artikeln 11 und 14 der Verordnung Nr.
17 hat die Kommission eine Niederschrift oder einen Bericht über diese Sitzungen
nicht finden können. Entgegen der Ansicht der Klägerinnen ergibt sich aus
Randnummer 9 der Entscheidung nicht, daß die Kommission allein daraus den
Schluß gezogen hat, daß diese Sitzungen einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgt
hätten.
- 681.
- ICI hat in ihrer Antwort auf die Auskunftsverlangen erklärt, daß in diesen
Sitzungen eine Vielzahl von Fragen behandelt „und auch über Preise und Mengen
diskutiert“ worden sei. Im einzelnen hat sie ausgeführt, daß „in dem betroffenen
Zeitraum auf diesen Herstellersitzungen sicherlich über das Preisniveau und die
Margen geredet worden ist, die erforderlich sind, um die Verluste der Hersteller
verringern zu können. Jeder Hersteller hat dazu seine Gesichtspunkte vorgetragen,
die erörtert worden sind. Oft hatten die Hersteller unterschiedliche Ansichten über
das angemessene Preisniveau ... Jedoch zeichnete sich eine scheinbare
Übereinstimmung in bezug auf das mögliche Preisniveau ab, das die Hersteller
anstreben könnten. Diese Diskussionen führten jedoch nicht zur Festlegung auf
einen Festpreis. Nach den Einschätzungen von ICI damals und auch noch heute
war eine solche Übereinstimmung mehr Schein als Wirklichkeit. Feststeht, soweit
ICI bekannt ist, daß jedes an diesen Diskussionen beteiligte Unternehmen sich frei
gefühlt hat, eigenständig jede Maßnahme zu treffen, die es im Hinblick auf die
Besonderheiten seiner Lage für angemessen hielt.“
- 682.
- Shell hat in ihrer Antwort vom 3. Dezember 1987 auf ein Auskunftsverlangen ihre
Beteiligung an zwei von ICI aufgeführten Sitzungen eingeräumt. Zu der ersten
Sitzung in Paris am 2. März 1983 hat sie ausgeführt: „Auf dieser Sitzung wurden
die Schwierigkeiten der Branche diskutiert und Vorschläge von anderen Herstellern
für eine Preiserhöhung und eine Mengenkontrolle gemacht. [Der Vertreter von
Shell] hat diese Vorschläge nicht unterstützt. [Er] kann sich nicht erinnern, ob eine
Vereinbarung oder Übereinstimmung über eine Preisinitiative oder Mengen
zustande gekommen ist.“ Zur zweiten Sitzung in Zürich am 11. August 1983 hat
Shell ausgeführt: „Einige Hersteller haben sich zu einer Preisinitiative geäußert.
[Der Vertreter von Shell] hat diese Standpunkte nicht unterstützt. [Er] kann sich
nicht erinnern, ob eine Vereinbarung oder Übereinstimmung zustande gekommen
ist.“
- 683.
- Entgegen der Ansicht der Klägerinnen hat die Kommission den Sinn der Antworten
einiger Unternehmen auf die Auskunftsverlangen nicht entstellt. So hat sie darauf
hingewiesen, daß alle diese Hersteller trotz des Zweckes dieser Sitzungen
behauptet hätten, daß keine „Verpflichtungen“ eingegangen worden seien (vgl.
Randnrn. 8, zweiter Absatz, der Entscheidung für ICI und 9, erster Absatz,
insbesondere für Shell und Hoechst).
- 684.
- Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß die Planungsdokumente ausdrücklich darauf
abzielten, „einen neuen Rahmen für die Sitzungen“ der Hersteller aufzustellen, in
denen über Preisvereinbarungen, Absatzkontrolle und Informationsaustausch
gesprochen werden sollte. Die Kommission hat solche Sitzungen der Hersteller für
den betreffenden Zeitraum nachgewiesen. Wie sich aus der vorangegangenen
Untersuchung ergibt, hat die Kommission für den betreffenden Zeitraum
Quotenregelungen, Preisregulierung und Informationsaustausch der Hersteller
nachgewiesen.
- 685.
- Aus der engen Übereinstimmung zwischen dem, was in den Planungsdokumenten
vorgesehen war, und den tatsächlichen Verhaltensweisen auf dem PVC-Markt hat
die Kommission zutreffend den Schluß gezogen, daß die informellen
Herstellersitzungen tatsächlich die in den Planungsdokumenten genannten Themen
zum Gegenstand hatten.
- 686.
- Nach alledem ist festzustellen, daß die Kommission den Zweck der
Herstellersitzungen, die zwischen 1980 und 1984 stattgefunden haben, zutreffend
ermittelt hat.
- 687.
- Somit sind die Einwände der Klägerinnen bezüglich des Teils „Sachverhalt“ derEntscheidung zurückzuweisen.
2. Rechtliche Würdigung
- 688.
- Die Klägerinnen werfen der Kommission mehrere Rechtsfehler bei der Anwendung
des Artikels 85 EG-Vertrag vor. Erstens habe die Kommission die den
Unternehmen zur Last gelegten Verhaltensweisen rechtsfehlerhaft als Vereinbarung
„und/oder“ abgestimmte Verhaltensweise qualifiziert (a). Zweitens habe die
Kommission im vorliegenden Fall weder den Tatbestand einer Vereinbarung noch
den einer abgestimmten Verhaltensweise zutreffend festgestellt (b). Drittens habe
sie bei der Bestimmung des Zweckes oder der Wirkung der angeblichen Absprache
auch Artikel 85 EG-Vertrag verkannt (c). Schließlich habe sie auch rechtsfehlerhaft
eine Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten festgestellt (d).
a) Zur Qualifizierung als Vereinbarung „und/oder“ abgestimmte Verhaltensweise
Vorbringen der Parteien
- 689.
- Nach Ansicht von LVM, Elf Atochem, DSM, Hüls und Enichem hat die
Kommission gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag verstoßen, indem sie sich im
verfügenden Teil der Entscheidung auf den Hinweis beschränkt habe, daß die
Unternehmen an einer Vereinbarung „und/oder“ aufeinander abgestimmten
Verhaltensweise beteiligt gewesen seien.
- 690.
- Zwar räumen die Klägerinnen ein, daß das Gericht die Möglichkeit einer doppelten
Qualifizierung zuläßt (namentlich Urteil des Gerichts vom 17. Dezember 1991 in
der Rechtssache T-8/89, DSM/Kommission, Slg. 1991, II-1833, Randnrn. 234
und 235).
- 691.
- Nach Ansicht von Enichem ist die Kommission jedoch über diese Rechtsprechung
hinausgegangen, indem sie eine alternative und keine kumulative rechtliche
Qualifizierung vorgenommen habe.
- 692.
- LVM, Elf Atochem, DSM und Hüls machen geltend, daß die genannte
Rechtsprechung nur unter besonderen Umständen übertragbar sei. So sei eine
solche Lösung nur möglich, wenn der Beweis erbracht sei, daß beide Tatbestände
erfüllt seien. Im vorliegenden Fall habe die Kommission aber weder den
Tatbestand einer Vereinbarung noch den einer abgestimmten Verhaltensweise
festgestellt.
- 693.
- LVM, DSM und Enichem tragen vor, die Unterscheidung zwischen diesen beiden
rechtlichen Tatbeständen bedinge auch Unterschiede bei der Beweisführung.
Würdigung durch das Gericht
- 694.
- LVM, Elf Atochem, DSM und Hüls zielen mit ihrer Argumentation nicht darauf
ab, die Qualifizierung des Sachverhalts als Vereinbarung „und/oder“ abgestimmte
Verhaltensweise in Artikel 1 der Entscheidung grundsätzlich in Frage zu stellen,
sondern machen geltend, daß eine solche Qualifizierung im vorliegenden Fall nicht
möglich sei, da weder eine Vereinbarung noch eine abgestimmte Verhaltensweise
bewiesen sei. Die Antwort auf diesen Klagegrund hängt daher von der Beurteilung
des folgenden Klagegrundes ab.
- 695.
- Nur Enichem wendet sich somit schon grundsätzlich gegen eine Qualifizierung als
Vereinbarung „und/oder“ abgestimmte Verhaltensweise.
- 696.
- Bei einer komplexen Zuwiderhandlung, an der mehrere Hersteller über mehrere
Jahre beteiligt waren und deren Ziel die gemeinsame Regulierung des Marktes war,
kann von der Kommission nicht verlangt werden, daß sie die Zuwiderhandlung für
jedes Unternehmen zu den einzelnen Zeitpunkten entweder als Vereinbarung oder
abgestimmte Verhaltensweise qualifiziert, da jedenfalls beide Formen der
Zuwiderhandlung von Artikel 85 EG-Vertrag umfaßt werden.
- 697.
- Die Kommission kann daher eine solche komplexe Zuwiderhandlung zu Recht als
Vereinbarung „und/oder“ abgestimmte Verhaltensweise qualifizieren, wenn diese
Zuwiderhandlung sowohl Einzelakte aufwies, die als „Vereinbarung“ anzusehen
sind, als auch Einzelakte, die „abgestimmte Verhaltensweisen“ dargestellt haben.
- 698.
- In einem solchen Fall ist die doppelte Qualifizierung nicht so zu verstehen, daß für
jeden Einzelakt gleichzeitig und kumulativ der Nachweis erforderlich ist, daß er
sowohl die Tatbestandsmerkmale einer Vereinbarung als auch die einer
abgestimmten Verhaltensweise erfüllt. Sie bezieht sich vielmehr auf einen Komplex
von Einzelakten, von denen einige als Vereinbarung und andere als abgestimmte
Verhaltensweisen im Sinne von Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag anzusehen sind,
der ja für diesen Typ einer komplexen Zuwiderhandlung keine spezifische
Qualifizierung vorschreibt.
- 699.
- Somit ist der Klagegrund von Enichem zurückzuweisen.
b) Zu der im vorliegenden Fall vorgenommenen Qualifizierung als „Vereinbarung“
und/oder „abgestimmte Verhaltensweise“
Vorbringen der Klägerinnen
- 700.
- Nach Ansicht der Klägerinnen hat die Kommission weder eine Vereinbarung noch
eine abgestimmte Verhaltensweise nachgewiesen.
- 701.
- BASF und ICI sind der Ansicht, daß für die Qualifizierung als Vereinbarung im
Sinne des Artikels 85 Absatz 1 EG-Vertrag Anhaltspunkte für das Eintreten für
gemeinsame Ziele und für eine gegenseitige Verpflichtung vorliegen müßten
(Urteile des Gerichtshofes vom 15. Juli 1970 in der Rechtssache 44/69,
Buchler/Kommission, Slg. 1970, 733, Randnr. 25, und Van Landewyck
u. a./Kommission, Randnr. 86). Nach Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag müsse eine
Vereinbarung zwischen mindestens zwei Parteien geschlossen werden, die, selbst
wenn dies nicht verbindlich geschehe, ihren Willen zu einem bestimmten Verhalten
zum Ausdruck gebracht hätten, das den Wettbewerb verfälschen könne (Urteil des
Gerichtshofes vom 20. Juni 1978 in der Rechtssache 28/77, Tepea/Kommission, Slg.
1978, 1391). Somit sei der Nachweis einer gemeinsamen Sicht der Hersteller nicht
ausreichend.
- 702.
- Im vorliegenden Fall sei, wie sich aus der Prüfung des Sachverhalts ergebe, nicht
bewiesen, daß die „checklist“, die nicht erkennen lasse, ob sie an andere
Unternehmen gerichtet oder ihnen wenigstens zur Kenntnis gebracht worden sei,
den Vorschlag einer geheimen Abrede darstelle. Nichts spreche dafür, daß die
„checklist“, die ein Vorschlag sei, erörtert, im Einvernehmen erstellt oder von
anderen Herstellern angenommen worden sei. Schließlich könne die „response to
proposals“ nicht die Zustimmung zu dem angeblichen Kartell sein, wie schon der
Inhalt des Schriftstücks zeige. Ebenfalls sei nicht bewiesen, daß die in der „response
to proposals“ zum Ausdruck gebrachten Ansichten von einem der anderen PVC-Hersteller stammten.
- 703.
- Die Tatsache, daß Sitzungen stattgefunden hätten, erlaubt nach Ansicht der
Klägerinnen keinen Schluß auf deren Zweck. Im übrigen gebe es kein Bindeglied
zwischen diesen Sitzungen und dem angeblichen Gesamtplan. Tatsächlich zeigten
die von der Kommission für die Preisinitiativen herangezogenen Schriftstücke, daß
die Unternehmen eine eigenständige Preispolitik entsprechend der
Marktentwicklung verfolgt hätten. Dagegen gebe es keine Beweise für eine
vorherige Abstimmung der Hersteller.
- 704.
- Elf Atochem macht geltend, die Kommission habe eine Vereinbarung nicht
zweifelsfrei nachgewiesen. Allein die Tatsache, daß Sitzungen stattgefunden hätten,
genüge nicht, um den Zweck solcher Sitzungen oder die Beteiligung der einzelnen
Interessenten aufzuzeigen. Die Kommission könne angesichts von Umständen, die
höchstens Verhaltensweisen zeigten, die weder allgemein noch einheitlich, noch von
Dauer gewesen seien, nicht von einer „fortdauernden umfassenden Vereinbarung“
ausgehen. Allenfalls hätte es dann eine Vielzahl einzelner, aufeinander folgender
Vereinbarungen gegeben.
- 705.
- Die Klägerinnen wenden sich nicht gegen die Definition der abgestimmten
Verhaltensweise in Randnummer 32, dritter Absatz, der Entscheidung (Urteile des
Gerichtshofes vom 14. Juli 1972, ICI/Kommission, Randnr. 112, Suiker Unie
u. a./Kommission, Randnr. 174, vom 14. Juli 1981 in der Rechtssache 172/80,
Züchner, Slg. 1981, 2021, Randnrn. 12 bis 14, und CRAM und
Rheinzink/Kommission, Randnr. 20). Nach Ansicht von Elf Atochem, BASF, ICI
und Hüls enthält der Begriff der abgestimmten Verhaltensweise jedoch zwei
Tatbestandsmerkmale, und zwar ein subjektives (die Abstimmung) und ein
objektives (ein Marktverhalten, d. h. eine Verhaltensweise). Im vorliegenden Fall
habe die Kommission weder das eine noch das andere Merkmal nachgewiesen. Da
die Kommission insbesondere nicht das Marktverhalten der Unternehmen
untersucht habe, habe sie den Nachweis einer abgestimmten Verhaltensweise nicht
erbracht.
- 706.
- LVM und DSM machen geltend, die Kommission habe unter Verstoß gegen Artikel
85 EG-Vertrag, den Versuch einer Zuwiderhandlung ahnden wollen. Da es nämlich
um den Zweck oder die Wirkung gehe, müßten zwangsläufig
Ausführungshandlungen vorliegen. Somit fielen der Versuch oder die Absicht, eine
unzulässige Vereinbarung zu schließen, und naturgemäß jede Form der
Abstimmung, die nicht in Form von „Verhaltensweisen“ zur Ausführung gelangt sei,
nicht unter Artikel 85 EG-Vertrag. Nach Ansicht von LVM und DSM kann somit
die bloße Teilnahme an Sitzungen mit einem unzulässigen Ziel nicht als strafbar
angesehen werden.
- 707.
- Elf Atochem trägt vor, daß die Parallelität von Verhaltensweisen nur ein
unzureichender Beweis einer abgestimmten Verhaltensweise sein könne (Urteil
Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission). Zudem könne die Beweislast nicht allein
durch die Feststellung einer solchen Parallelität umgekehrt werden (Schlußanträge
des Generalanwalts Darmon, Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, Slg. 1993,
I-1445). Im übrigen sei selbst diese Parallelität der Verhaltensweisen bei Preisen,
Quoten und beim Ausgleich von der Kommission nicht nachgewiesen worden.
- 708.
- Nach Ansicht von BASF bedeutet allein die Tatsache, daß konkurrierende
Unternehmen ihre Preise erhöhten, nicht, daß sie sich abgesprochen hätten (Urteil
vom 14. Juli 1972, ICI/Kommission). Die Klägerin verweist dazu auf die
ausschlaggebende Rolle des Preises für den Absatz von PVC, da es sich um ein
austauschbares Massengut handele. Der Preis pendele sich somit auf einem Niveau
ein, auf dem sich Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht befänden. Senke ein
Hersteller den Preis die einzige Möglichkeit für ihn, seine Marktanteile zu
vergrößern , führe dies wegen der geringen Zahl von Anbietern zwangsläufig zu
einem allgemeinen Preisverfall. Umgekehrt sei eine Preiserhöhung nur erfolgreich,
wenn die Marktbedingungen dies zuließen; sei dies nicht der Fall, würden die
anderen Hersteller der Erhöhung nicht folgen, und der Hersteller, der den Vorstoß
unternommen habe, verliere entweder Marktanteile oder sei gezwungen, seine
Preise wieder zurückzunehmen.
- 709.
- Wacker und Hoechst machen geltend, die Kommission habe zu Unrecht darauf
verzichtet, das tatsächliche Marktverhalten der Unternehmen zu untersuchen.
- 710.
- SAV wirft der Kommission vor, gegen ihre Verpflichtung zu einer gründlichen und
objektiven Prüfung des wirtschaftlichen Kontexts des angeblichen Kartells verstoßen
zu haben (Urteile LTM, Suiker Unie u. a./Kommission, Ahlström Osakeyhtiö
u. a./Kommission und SIV u. a./Kommission). Die Kommission habe im
vorliegenden Fall nur einige allgemeine Aussagen über den Markt gemacht
(Randnrn. 5 und 6 der Entscheidung), das tatsächliche Funktionieren des Marktes
aber nicht untersucht.
- 711.
- Nach Ansicht von Montedison hat die Kommission nicht die Bedingungen
berücksichtigt, die für die Festsetzung von Preisen für Erzeugnisse gälten, die für
gewerbliche Abnehmer bestimmt seien. Tatsächlich würden die Preislisten
regelmäßig veröffentlicht, wobei der vom Branchenführer praktizierte Preis den
anderen erlaube, ihre Position festzulegen, ohne daß dies einen Verzicht auf
eigenständiges Verhalten bedeuten würde (Urteil Suiker Unie u. a./Kommission).
Die Kommission führe gegen diese offenkundigen Tatsachen lediglich den Zweck
der Sitzungen, wie er in den Planungsdokumenten beschrieben sei, die Teilnahme
fast aller PVC-Hersteller an diesen Sitzungen und die internen Geschäftsberichte
der Hersteller an (Entscheidung, Randnr. 21). Es gebe keinen Anhaltspunkt dafür,
daß der in einem Unternehmen verfaßte Vorschlag von 1980 akzeptiert und
ausgeführt worden sei, wobei die Klägerin im übrigen dort nicht erwähnt worden
sei; allein die Tatsache, daß fast alle Hersteller an Sitzungen teilgenommen hätten,
sage nichts über den Inhalt dieser Sitzungen aus; schließlich beträfen die
geschäftsinternen Berichte nicht die Klägerin. Selbst wenn man unterstelle, daß
diese Berichte nach den Sitzungen erstellt worden seien, bedeute dies nicht, daß
die Erhöhungen der Listenpreise abgestimmt gewesen seien.
- 712.
- Nach Ansicht von Enichem liegt die Tatsache, daß keine Preisinitiative jemals
erfolgreich gewesen sei, nahe, daß es sich um individuelle Bemühungen gehandelt
habe. Zudem zeigten die von der Kommission aufgefundenen Schriftstücke
(Anlagen P zur Mitteilung der Beschwerdepunkte), wie stark der Wettbewerb auf
dem Markt gewesen sei, was nicht einfach der mangelnden Disziplin eines Kartells
zugeschrieben werden könne; mangels unmittelbarer Beweise müßte die
Behauptung eines Kartells durch das tatsächliche abgesprochene Verhalten dervermuteten Teilnehmer belegt werden, woran es im vorliegenden Fall fehle.
- 713.
- LVM, Elf Atochem, DSM, SAV, ICI, Hüls und Enichem tragen vor, daß die
beschuldigten Unternehmen, selbst wenn man die tatsächlichen Feststellungen der
Kommission als bewiesen unterstellte, nur Umstände nachzuweisen brauchten, die
diesen Sachverhalt in einem anderen Licht erschienen ließen und damit eine andere
Erklärung als die der Kommission ermöglichten (Urteile CRAM und
Rheinzink/Kommission, Randnr. 16, und Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission,
namentlich Randnrn. 70 und 72).
- 714.
- Bei den Preisinitiativen habe die Kommission die Erklärung der Klägerinnen, die
sich auf die wirtschaftliche Theorie der „barometrischen Preisführung“ stütze, ohne
Erhebung irgendwelcher Beweise zurückgewiesen. Nach dieser Theorie seien die
Preisinitiativen jedoch nur die Folge eines normal funktionierenden Marktes ohne
irgendeine Abstimmung der Hersteller.
Würdigung durch das Gericht
- 715.
- Nach ständiger Rechtsprechung reicht es für eine Vereinbarung im Sinne des
Artikels 85 Absatz 1 EG-Vertrag aus, daß die betreffenden Unternehmen ihren
gemeinsamen Willen zum Ausdruck gebracht haben, sich auf dem Markt in
bestimmter Weise zu verhalten (namentlich Urteile ACF
Chemiefarma/Kommission, Randnr. 112, und Van Landewyck u. a./Kommission,
Randnr. 86).
- 716.
- Die Klägerinnen versuchen mit ihrer Argumentation zumindest teilweise
nachzuweisen, daß die Planungsdokumente nicht als Vereinbarung im Sinne des
Artikels 85 Absatz 1 EG-Vertrag angesehen werden können. Diese Argumentation
geht jedoch ins Leere.
- 717.
- Wie sich aus der Begründung der Entscheidung, insbesondere ihren Randnummern
29 bis 31 über die Struktur der Vereinbarung ergibt, hat die Kommission die
Planungsdokumente nicht als Vereinbarung im Sinne dieser Bestimmung
angesehen. Wie bereits festgestellt, hat die Kommission im „Sachverhalt“ der
Entscheidung darauf hingewiesen, daß sie diese Unterlagen als „Plan für das
Kartell“ betrachte.
- 718.
- Zudem wiederholen die Klägerinnen mit ihren Argumenten die von ihnen in
tatsächlicher Hinsicht erhobenen Einwände, die vom Gericht bereits dargestellt und
zurückgewiesen worden sind.
- 719.
- Somit können die Klägerinnen nicht mit Erfolg behaupten, daß die auf den
Herstellersitzungen erfolgte gemeinsame Ausarbeitung von Quoten- und
Ausgleichsregelungen, Preisinitiativen und eines Informationsaustauschs über die
tatsächlichen Verkäufe sowie die gemeinsame Durchführung dieser Maßnahmen
nicht Ausdruck eines gemeinsamen Willens waren, sich auf dem Markt in
bestimmter Weise zu verhalten.
- 720.
- Artikel 85 EG-Vertrag stellt den Begriff „aufeinander abgestimmte
Verhaltensweise“ neben die Begriffe „Vereinbarungen zwischen Unternehmen“
und „Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen“, um durch seine
Verbotsvorschrift eine Form der Koordinierung zwischen Unternehmen zu erfassen,
die zwar noch nicht bis zum Abschluß eines Vertrages im eigentlichen Sinne
gediehen ist, jedoch bewußt eine praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit
Risiken verbundenen Wettbewerbs treten läßt (Urteil vom 14. Juli 1972,
ICI/Kommission, Randnr. 64). Die Kriterien der Koordinierung und der
Zusammenarbeit, auf die in der Rechtsprechung des Gerichtshofes abgestellt wird,
verlangen nicht die Ausarbeitung eines eigentlichen „Plans“; sie sind vielmehr im
Sinne des Grundgedankens der Wettbewerbsvorschriften des Vertrages zu
verstehen, wonach jeder Unternehmer selbständig zu bestimmen hat, welche Politik
er auf dem Gemeinsamen Markt zu betreiben gedenkt. Es ist zwar richtig, daß
dieses Selbständigkeitspostulat nicht das Recht der Unternehmen beseitigt, sich
dem festgestellten oder erwarteten Verhalten ihrer Mitbewerber mit wachem Sinn
anzupassen; es steht jedoch streng jeder unmittelbaren oder mittelbaren
Fühlungnahme zwischen Unternehmen entgegen, die bezweckt oder bewirkt,
entweder das Marktverhalten eines gegenwärtigen oder potentiellen Mitbewerbers
zu beeinflussen oder einen solchen Mitbewerber über das Marktverhalten ins Bild
zu setzen, zu dem man sich selbst entschlossen hat oder das man in Erwägung zieht
(Urteil Suiker Unie u. a./Kommission, Randnrn. 173 und 174).
- 721.
- Die Klägerinnen stellen diese Rechtsprechung, auf die die Kommission in
Randnummer 33 der Entscheidung verwiesen hat, nicht in Frage, wohl aber deren
Übertragung auf den vorliegenden Fall.
- 722.
- Indem die Hersteller aber länger als drei Jahre Sitzungen, deren Zweck von der
Kommission zutreffend festgestellt worden ist, veranstaltet und daran teilgenommen
haben, haben sie sich an einer Abstimmung beteiligt, durch die sie die Risiken des
Wettbewerbs bewußt durch eine praktische Zusammenarbeit untereinander
ausgeschaltet haben.
- 723.
- Damit hat jeder Hersteller nicht nur das Ziel verfolgt, im voraus die Ungewißheit
über das künftige Verhalten seiner Wettbewerber zu beseitigen, sondern er mußte
bei der Festlegung der Politik, die er auf dem Markt verfolgen wollte, zwangsläufig
auch unmittelbar oder mittelbar die in diesen Sitzungen erhaltenen Informationen
berücksichtigen.
- 724.
- Die Klägerinnen führen jedoch gegen die Folgerungen der Kommission die
genannten Urteile CRAM und Rheinzink/Kommission sowie Ahlström Osakeyhtiö
u. a./Kommission an.
- 725.
- Nach dieser Rechtsprechung brauchen, wenn die Kommission bei ihren
Überlegungen unterstellt, daß sich die festgestellten Tatsachen nur mit einer
Abstimmung zwischen den Unternehmen erklären lassen, die Kläger nur Umstände
nachzuweisen, die den von der Kommission festgestellten Sachverhalt in einem
anderen Licht erscheinen lassen und damit eine andere Erklärung dieses
Sachverhalts ermöglichen, als sie die Kommission gegeben hat (Urteile CRAM und
Rheinzink/Kommission, Randnr. 16, sowie Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission,
insbesondere Randnrn. 126 und 127).
- 726.
- Diese Rechtsprechung ist auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar.
- 727.
- Wie die Kommission nämlich in Randnummer 21 der Entscheidung festgestellt hat,
stützt sich der Beweis der Abstimmung der Unternehmen nicht auf die bloße
Feststellung eines parallelen Marktverhaltens, sondern auf Unterlagen, die belegen,
daß die Verhaltensweisen abgesprochen waren (vgl. vorstehend, Randnrn. 582 ff.).
- 728.
- In diesem Fall können sich die Klägerinnen nicht darauf beschränken, eine
vermeintlich andere Erklärung für den von der Kommission festgestellten
Sachverhalt zu geben, sondern müssen diese durch die von der Kommission
vorgelegten Schriftstücke nachgewiesenen Tatsachen entkräften. Wie die Prüfung
des Sachverhalts zeigt, ist dies hier nicht geschehen.
- 729.
- Somit hat die Kommission zu Recht die Zuwiderhandlung hilfsweise als
abgestimmte Verhaltensweise im Sinne des Artikels 85 Absatz 1 EG-Vertrag
qualifiziert.
- 730.
- Wie sich aus Randnummer 31 der Entscheidung ergibt, beruhen die
Verhaltensweisen auf einer Absprache, die mehrere Jahre lang wirksam war, auf
dem gleichen Verfahren beruhte und das gleiche gemeinsame Ziel hatte. Daher ist
die Kommission zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß diese Verhaltensweisen als
eine einzige fortdauernde Absprache und nicht als eine Reihe einzelner
Vereinbarungen anzusehen waren.
- 731.
- Somit ist dieser Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
c) Zur Qualifizierung des Zweckes oder der Wirkung als wettbewerbswidrig
Vorbringen der Parteien
- 732.
- LVM und DSM machen geltend, daß der Begriff der Wettbewerbsbeschränkung
als wesentliche Merkmale für die Feststellung einer Zuwiderhandlung ein
offenkundiges Verhalten und dessen Auswirkung auf den Markt voraussetze. Da
im vorliegenden Fall kein bestimmtes Verhalten nachgewiesen sei, hätte die
Kommission sich darum bemühen müssen, eine Auswirkung auf den PVC-Markt
nachzuweisen. Dies habe die Kommission nicht getan, sondern sich mit im übrigen
rein spekulativen Behauptungen begnügt.
- 733.
- LVM, DSM, Wacker und Hoechst führen aus, die Kommission habe zu Unrecht
keine wirtschaftliche Analyse der Wirkungen des angeblichen Kartells durchgeführt
oder durchführen lassen, obwohl sie verpflichtet sei, die Auswirkungen auf einen
Markt zu beurteilen und dem wirtschaftlichen Kontext Rechnung zu tragen
(namentlich Urteile LTM, und Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, Randnr. 70).
Im übrigen habe sie, ohne irgendwelche Beweise anzuführen, sämtliche
wirtschaftlichen Schlußfolgerungen zurückgewiesen, zu denen ein von den
beschuldigten Unternehmen beauftragter Sachverständiger gelangt sei und nach
denen der PVC-Markt durch einen lebhaften Wettbewerb gekennzeichnet gewesen
sei. Wacker und Hoechst beantragen wegen der von der Kommission
durchgeführten unzureichenden Untersuchung der Kartellwirkungen die Einholung
eines Sachverständigengutachtens hierüber oder die Einräumung einer Frist für die
Vorlage eines solchen Gutachtens. Nach Ansicht von SAV hat sich die Kommission
auf einige allgemeine Feststellungen hinsichtlich des Marktes beschränkt (Randnrn.
5 und 6 der Entscheidung), aber nicht untersucht, wie dieser tatsächlich funktioniert
habe.
- 734.
- ICI macht geltend, die Kommission habe bei der Beurteilung der Wirkungen des
angeblichen Kartells auf die Preise nicht den vorgelegten wirtschaftlichen Beweisen
Rechnung getragen. Diese hätten gezeigt, daß der PVC-Markt durch einen
lebhaften Wettbewerb gekennzeichnet gewesen sei, was bestätige, daß die PVC-Preise keinem anderen Einfluß als dem freien Wettbewerb ausgesetzt gewesen
seien. Die Kommission habe nichts zur Stützung ihrer Auffassung vorgetragen, was
über bloße Behauptungen hinausgegangen sei. Tatsächlich habe, was auch immer
in den Sitzungen vor sich gegangen sei, dies keine Auswirkung auf die Preise
gehabt.
- 735.
- Nach Ansicht von BASF hat die Kommission die Wirkungen des angeblichen
Kartells unzureichend aufgeklärt, wie die Streichung einer Stelle in Randnummer
37 der deutschen Fassung der angefochtenen Entscheidung gegenüber der
Entscheidung 1988 zeige.
- 736.
- Montedison führt aus, daß der PVC-Sektor nach der erheblichen Erhöhung der
Ölpreise 1979 in eine schwere Krise geraten sei. Sämtliche Unternehmen hätten
von 1980 bis 1986 mit Verlust produziert, so daß einige von ihnen gezwungen
gewesen seien, sich vom Markt zurückzuziehen. Angesichts dieser Situation hätten
sie von ihrem Versammlungsrecht und ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung
Gebrauch gemacht. Daher seien die beanstandeten Verhaltensweisen nicht das
Ergebnis rechtswidriger Abstimmungen; sie seien nur der Versuch eines teilweisen
Ausgleichs der Verluste, was das einzig vernünftige Verhalten auf einem von einer
Krise betroffenen Markt darstelle. Im übrigen hätten die beanstandeten
Verhaltensweisen keine Auswirkung auf den Wettbewerb gehabt; die Kommission
habe selbst festgestellt, daß die Preisinitiativen nur teilweise oder überhaupt nicht
erfolgreich gewesen seien.
- 737.
- Hüls macht geltend, die angeblichen Preisinitiativen seien wirkungslos geblieben,
da die Marktpreise die angeblichen Zielpreise nicht erreicht hätten.
- 738.
- Nach Ansicht von Enichem hat die Kommission Auswirkungen auf den Markt nicht
nachweisen können. Der angebliche psychologische Effekt, auf den sich die
Kommission berufe, sei rechtlich nicht genau faßbar. Im übrigen hätten sich die
Preise von Januar 1981 bis Oktober 1984 nur geringfügig entwickelt.
Würdigung durch das Gericht
- 739.
- Die Würdigung des Sachverhalts ergibt, daß die den Unternehmen vorgeworfene
Zuwiderhandlung namentlich in der gemeinsamen Festsetzung der Preise und
Verkaufsmengen für den PVC-Markt bestand. Eine solche Zuwiderhandlung, die
als Beispiel ausdrücklich in Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag genannt ist, verfolgt
einen wettbewerbswidrigen Zweck.
- 740.
- Die Tatsache, daß sich der PVC-Sektor zum Zeitpunkt der
entscheidungserheblichen Ereignisse in einer schweren Krise befand, kann nicht zu
dem Schluß führen, daß die Bedingungen für die Anwendung des Artikels 85
Absatz 1 EG-Vertrag nicht erfüllt waren. Zwar kann diese Marktlage
gegebenenfalls berücksichtigt werden, um ausnahmsweise eine Freistellung nach
Artikel 85 Absatz 3 EG-Vertrag zu erlangen, doch ist festzustellen, daß die PVC-Hersteller niemals einen solchen Freistellungsantrag nach Artikel 4 Absatz 1 der
Verordnung Nr. 17 gestellt haben. Schließlich hat die Kommission bei ihrer
Würdigung die Krise, von der die Branche betroffen war, nicht außer acht gelassen,
wie sich insbesondere aus Randnummer 5 der Entscheidung ergibt; im übrigen hat
sie ihr auch bei der Bemessung der Geldbuße Rechnung getragen.
- 741.
- Nach ständiger Rechtsprechung brauchen bei der Anwendung von Artikel 85
Absatz 1 die tatsächlichen Auswirkungen einer Vereinbarung nicht berücksichtigt
zu werden, wenn sich ergibt, daß diese eine Verhinderung, Einschränkung oder
Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt (namentlich Urteil des Gerichtshofes vom
13. Juli 1966 in den Rechtssachen 56/64 und 58/64, Consten undGrundig/Kommission, Slg. 321, 390). Da der wettbewerbswidrige Zweck der den
Klägerinnen vorgeworfenen Verhaltensweisen bewiesen ist, ist der Klagegrund,
soweit er dahin zu verstehen ist, daß mit ihm der Nachweis tatsächlicher
wettbewerbswidriger Wirkungen verlangt wird, somit zurückzuweisen.
- 742.
- In der deutschen Fassung der angefochtenen Entscheidung sind zwei Sätze der
Randnummer 37 der deutschen Fassung der Entscheidung 1988 über die
Kartellwirkungen gestrichen worden. Da mit dieser Streichung lediglich die
verschiedenen Sprachfassungen der angefochtenen Entscheidung angeglichen
werden sollten, können die Klägerinnen dies nicht als Beweis einer unzureichenden
Untersuchung der Wirkungen der Zuwiderhandlung anführen.
- 743.
- Schließlich hat sich die Kommission entgegen den Behauptungen einiger
Klägerinnen nicht auf Spekulationen über die Wirkungen der beanstandeten
Zuwiderhandlung beschränkt. Sie hat nämlich in Randnummer 37 der Entscheidung
nur festgestellt, daß es eine Frage von Spekulationen bleibe, ob im Fall fehlenden
kollusiven Zusammenwirkens die Preise im Langzeitvergleich niedriger gewesen
wären.
- 744.
- Deswegen ist die Kommission genau zu dem Ergebnis gelangt, daß die
Zuwiderhandlung nicht wirkungslos geblieben ist.
- 745.
- So hat die Festsetzung europäischer Zielpreise den freien Wettbewerb auf dem
PVC-Markt zwangsläufig beeinträchtigt. Die Käufer hatten auf diese Weise nur
einen begrenzten Verhandlungsspielraum hinsichtlich der Preise. Wie im übrigen
bereits festgestellt worden ist (vorstehend, Randnr. 655), belegen mehrere der
Anlagen P1 bis P70, daß die Käufer sich oft vor dem Inkrafttreten einer
Preisinitiative eindeckten. Dies bestätigt die Schlußfolgerung der Kommission, daß
die Käufer sich der Tatsache bewußt waren, daß die Preisinitiativen der Hersteller
ihren Verhandlungsspielraum einschränken und daher nicht wirkungslos bleiben
würden.
- 746.
- Wenn die Hersteller auch einige Initiativen als gescheitert angesehen haben (vgl.
vorstehend, Randnr. 654), was die Kommission in ihrer Entscheidung keineswegs
verkannt hat, wird in mehreren der Anlagen P1 bis P70 doch von einem
vollständigen oder teilweisen Erfolg der Preisinitiativen gesprochen. Tatsächlich
haben die Hersteller selbst verschiedentlich festgestellt, daß eine Preisinitiative
entweder einen Zeitraum des Preisrückgangs beendet oder zu einem Ansteigen der
Marktpreise geführt habe. Als Beispiele hierfür lassen sich anführen die Anlagen
P3 („Der Preiserhöhungsschritt per 1. November [1980] hat sich durchgesetzt,
weshalb ein zweiter Schritt eingeleitet wurde ...“), P5 („Die Preiserhöhungen zum
1. November [1980] waren kein vollständiger Erfolg, doch sind die Preise erheblich
gestiegen“), P17 („Die Preiserhöhungen von Juni [1981] sind allmählich in ganz
Europa akzeptiert worden“), P23 („Der Preisverfall ist zum Ende des Monats
[April 1982] aufgrund der Ankündigung einer allgemeinen Anhebung der
europäischen Preise auf 1,35 DM zum 1. Mai gestoppt worden“) oder P33 („Die
zum 1. September [1982] eingeleitete Preiserhöhung für homopolymeres PVC auf
mindestens DM 150, %kg hatte von der Tendenz her Erfolg ...“).
- 747.
- Somit ergibt sich aus den objektiven Feststellungen der Hersteller im
entscheidungserheblichen Zeitraum selbst, daß die Preisinitiativen die Höhe der
Marktpreise beeinflußt haben.
- 748.
- Wie die Kommission im übrigen festgestellt hat (Randnr. 38 der Entscheidung),
wurden die beanstandeten Verhaltensweisen über mehr als drei Jahre immer
wieder beschlossen. Es ist daher unwahrscheinlich, daß die Hersteller diese
Verhaltensweisen seinerzeit als völlig wirkungs- und nutzlos angesehen haben.
- 749.
- Infolgedessen hat die Kommission die Wirkungen der den Klägerinnen zur Last
gelegten Zuwiderhandlung zutreffend beurteilt. Unter Berücksichtigung der
objektiven Feststellungen der Hersteller selbst im entscheidungserheblichen
Zeitraum war die Kommission somit nicht verpflichtet, eine eingehende
Wirtschaftsstudie über die Auswirkungen des Kartells auf den Markt zu erstellen.
Somit ist dem Antrag von Wacker und Hoechst, die Einholung eines solchen
Gutachtens anzuordnen, nicht stattzugeben.
- 750.
- Daher ist dieser Klagegrund zurückzuweisen.
d) Zur Feststellung einer Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten
Vorbringen der Parteien
- 751.
- Nach Ansicht von LVM und DSM hat die Kommission nicht nachgewiesen, daß die
von ihr beanstandeten Verhaltensweisen den Handel zwischen Mitgliedstaaten
beeinträchtigt hätten. So sei für die Beeinträchtigung des Handels zwischen
Mitgliedstaaten nicht entscheidend, daß die Vereinbarung „geeignet“ gewesen sei,
den Handel zu beeinflussen, sondern maßgeblich sei die wirtschaftliche Auswirkung
der Vereinbarung; diese Auswirkung oder die Möglichkeit einer solchen müsse
bewiesen werden (Urteile des Gerichtshofes LTM, und vom 11. Juli 1985 in der
Rechtssache 42/84, Remia u. a./Kommission, Slg. 1985, 2545, Randnr. 22).
- 752.
- Nach Ansicht von ICI hat sich die Kommission bei der Prüfung der Spürbarkeit der
Beeinträchtigung mit unbewiesenen Behauptungen begnügt. Sie habe die Beweise
wirtschaftlicher Art, die die Klägerin in ihrer Antwort auf die Mitteilung der
Beschwerdepunkte vorgelegt habe, nicht berücksichtigt. Tatsächlich hätte, was auch
immer sich in den Herstellersitzungen möglicherweise zugetragen habe, dies den
Handel zwischen Mitgliedstaaten nicht beeinflussen können.
Würdigung durch das Gericht
- 753.
- Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag verlangt, daß die Vereinbarungen und
abgestimmten Verhaltensweisen geeignet sind, den Handel zwischen
Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Daher muß die Kommission nicht nachweisen,
daß eine solche Beeinträchtigung tatsächlich stattgefunden hat (Urteil des
Gerichtshofes vom 17. Juli 1997 in der Rechtssache C-219/95 P, Ferriere
Nord/Kommission, Slg. 1997, I-4411, Randnrn. 19 und 20).
- 754.
- Zudem fallen nach der Rechtsprechung Vereinbarungen, Beschlüsse von
Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen nicht
unter die Verbotsvorschrift des Artikels 85, wenn sie den Markt mit Rücksicht auf
die schwache Stellung der Beteiligten auf dem Markt der fraglichen Erzeugnisse
nur geringfügig beeinträchtigen (Urteil des Gerichtshofes vom 9. Juli 1969 in der
Rechtssache 5/69, Völk, Slg. 1969, 295, Randnr. 7).
- 755.
- Wie die Kommission in Randnummer 39 ihrer Entscheidung festgestellt hat,
erstreckten sich die beanstandeten Verhaltensweisen auf alle Mitgliedstaaten und
deckten praktisch den gesamten innergemeinschaftlichen Handel mit diesem
Industrieerzeugnis ab. Zudem verkauften die meisten Hersteller ihre Erzeugnisse
in mehr als einem Mitgliedstaat. Schließlich ist unbestritten, daß wegen des
Ungleichgewichts von Angebot und Nachfrage auf den verschiedenen nationalen
Märkten ein reger innergemeinschaftlicher Handel herrschte.
- 756.
- Somit ist die Kommission in Randnummer 39 der Entscheidung zu Recht zu dem
Ergebnis gelangt, daß die beanstandeten Verhaltensweisen geeignet waren, den
Handel zwischen Mitgliedstaaten spürbar zu beeinträchtigen.
e) Zu den anderen Klagegründen rechtlicher Art
Zum Klagegrund eines Ermessensmißbrauchs
- 757.
- Nach Ansicht von BASF hat die Kommission ermessensmißbräuchlich gehandelt,
indem sie nicht die erforderlichen Nachprüfungen durchgeführt habe, um ihre
Behauptungen hinsichtlich der Marktauswirkungen des Kartells, des wirtschaftlichen
Zusammenhangs, der Dauer der Zuwiderhandlung und der Beschränkung des
freien Spiels der Marktkräfte zu belegen. Damit habe sie das ihr durch Artikel 15
Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 eingeräumte Ermessen mißbraucht.
- 758.
- Die Kommission macht geltend, dieser Klagegrund sei nur eine Wiederholung
vorangegangener Klagegründe und müsse daher aus den gleichen Gründen
zurückgewiesen werden. Jedenfalls habe sie von ihren Befugnissen nicht zu anderen
als den angegebenen Zwecken Gebrauch gemacht.
- 759.
- Da keine objektiven, überzeugenden und schlüssigen Anhaltspunkte dafür
vorliegen, daß die Kommission die Entscheidung ausschließlich oder überwiegend
zu anderen als den angegebenen Zwecken erlassen hat, ist dieser Klagegrund
zurückzuweisen.
Zum Klagegrund der fehlenden Übereinstimmung zwischen dem verfügenden Teil
und der Begründung der Entscheidung
- 760.
- Shell rügt die mangelnde Übereinstimmung zwischen Artikel 1 des verfügenden
Teils der Entscheidung und deren Begründung. In der Begründung der
Entscheidung sei Shell erstens nur wegen einer abgestimmten Verhaltensweise und
nicht wegen einer Vereinbarung zwischen Unternehmen gerügt worden
(Entscheidung, Randnr. 34), zweitens sei dort ihre Teilnahme bei der Ausarbeitung
der Planungsdokumente ausgeschlossen worden (Randnr. 48), drittens habe sich die
Teilnahme von Shell von Januar 1982 bis Oktober 1983 erstreckt (Randnrn. 48 und
54) und schließlich werde ihre Beteiligung dort als begrenzt bezeichnet (Randnrn.
48 und 53). Alle diese Punkte würden im verfügenden Teil anders behandelt.
- 761.
- Der verfügende Teil einer Entscheidung ist unter Berücksichtigung der ihn
tragenden Gründe auszulegen.
- 762.
- Im vorliegenden Fall besteht zwischen Artikel 1 des verfügenden Teils, da er sich
nicht nur auf eine Vereinbarung, „sondern auch auf“ eine abgestimmte
Verhaltensweise bezieht, und Randnummer 34 der Entscheidung kein Widerspruch.
Da dieser Artikel Zuwiderhandlungen „in den in dieser Entscheidung genannten
Zeiträumen“ betrifft, kann Shell sich nicht mit Erfolg auf einen Widerspruch zur
Begründung der Entscheidung berufen, soweit es um ihre fehlende Beteiligung an
dem Plan für ein Kartell 1980 und die Dauer ihrer Beteiligung geht. Schließlich
enthält der verfügende Teil keinen Anhaltspunkt dafür, daß die Kommission der
begrenzten Rolle der Klägerin, wie sie in den Randnummern 48 und 53 der
Entscheidung beschrieben wird, nicht Rechnung getragen hätte.
- 763.
- Somit ist der Klagegrund zurückzuweisen.
C Zur Beteiligung der Klägerinnen an der festgestellten Zuwiderhandlung§
- 764.
- Die Klägerinnen werfen der Kommission erstens vor, vom Grundsatz einer
kollektiven Verantwortlichkeit ausgegangen zu sein (1). Zweitens machen sie
geltend, daß ihre Beteiligung an der Zuwiderhandlung jedenfalls nicht bewiesen
sei (2).
1. Zu der angeblichen Zurechnung einer kollektiven Verantwortlichkeit
Vorbringen der Parteien
- 765.
- Elf Atochem, BASF, SAV, ICI und Enichem sind der Ansicht, daß die
Verantwortlichkeit eines Unternehmens nach einem weltweit anerkannten
Grundsatz nur individuell sein könne.
- 766.
- Im vorliegenden Fall habe die Kommission gegen diesen Grundsatz verstoßen. In
Randnummer 25 der Entscheidung vertrete sie nämlich die Ansicht, es brauche
nicht nachgewiesen zu werden, daß jedes Kartellmitglied an jeder Veranstaltung
teilgenommen habe; vielmehr reiche es aus, die Beteiligung der Unternehmen an
dem Kartell „insgesamt“ zu würdigen.
- 767.
- Die Kommission entgegnet, sie sei sich, wie sich insbesondere aus den
Randnummern 25, zweiter Absatz, 26, erster Absatz, und 31 a. E. der Entscheidung
ergebe, durchaus der Notwendigkeit bewußt gewesen, die individuelle Beteiligung
der einzelnen Klägerinnen an dem beanstandeten Kartell nachzuweisen.
Würdigung durch das Gericht
- 768.
- In Randnummer 25, zweiter Absatz, der Entscheidung hat die Kommission
folgendes festgestellt: „Hinsichtlich der praktischen Verwertbarkeit der Beweise ist
die Kommission der Auffassung, daß neben dem Hinweis des Bestehens eines
Kartells durch überzeugende Beweise auch bewiesen werden muß, daß alle
verdächtigen Teilnehmer der gemeinsamen Regelung beigetreten waren. Dies
bedeutet jedoch nicht, daß schriftliches Beweismaterial dafür beigebracht werden
muß, daß jeder Teilnehmer an allen die Zuwiderhandlung darstellenden Sitzungen
usw. teilnahm ... Im vorliegenden Fall war es wegen des Fehlens von Unterlagen
über die Preise nicht möglich, die tatsächliche Beteiligung aller Hersteller an
abgestimmten Preisinitiativen nachzuweisen. Die Kommission hat deshalb bei den
einzelnen verdächtigen Teilnehmern geprüft, ob ausreichend zuverlässige Beweise
für ihre Beteiligung an dem Kartell insgesamt vorliegen, anstatt nach Nachweisen
für seine Teilnahme an den einzelnen Veranstaltungen zu fahnden.“
- 769.
- In Randnummer 31 der Entscheidung heißt es am Ende: „Entscheidend ist im
vorliegenden Fall das lange Zeit andauernde Zusammenwirken der Hersteller in
Richtung auf ein gemeinsames gesetzwidriges Ziel. Jeder Teilnehmer ist nicht nur
für seine eigene unmittelbare Rolle, sondern auch für die Durchführung des
Kartells insgesamt verantwortlich.“
- 770.
- Wie sich insbesondere aus der Randnummer 25, zweiter Absatz, erster Satz, der
Entscheidung ergibt, hat die Kommission die Notwendigkeit des Nachweises der
Beteiligung jedes einzelnen Unternehmens an dem beanstandeten Kartell durchaus
erkannt.
- 771.
- Sie hat dazu auf den Begriff des „Kartells insgesamt“ zurückgegriffen. Daraus läßt
sich aber nicht herleiten, daß sie vom Grundsatz einer kollektiven
Verantwortlichkeit in dem Sinne ausgegangen ist, daß sie einigen Unternehmen die
Beteiligung an Handlungen, zu denen sie keinen Beitrag geleistet haben, nur
zugerechnet hätte, weil die Beteiligung anderer Unternehmen an diesen
Handlungen bewiesen ist.
- 772.
- Der Begriff des „Kartells insgesamt“ ist nämlich untrennbar mit dem Wesen der
fraglichen Zuwiderhandlung verbunden. Diese besteht, wie die
Sachverhaltswürdigung ergeben hat, in der über mehrere Jahre andauernden
regelmäßigen Veranstaltung von Sitzungen konkurrierender Hersteller mit dem Ziel
der Festlegung unzulässiger Praktiken zur künstlichen Regulierung des PVC-Marktes.
- 773.
- Ein Unternehmen kann für ein solches Gesamtkartell zur Verantwortung gezogen
werden, auch wenn es nachweislich nur an einem oder mehreren Bestandteilen
dieses Kartells unmittelbar mitgewirkt hat, sofern es wußte oder zwangsläufig
wissen mußte, daß die Absprache, an der es insbesondere durch die Teilnahme an
regelmäßig über mehrere Jahre stattfindenden Sitzungen beteiligt war, Teil eines
Gesamtsystems war, das auf die Verfälschung des normalen Wettbewerbs gerichtet
war, und daß sich dieses System auf sämtliche Bestandteile des Kartells erstreckte.
- 774.
- Auch wenn die Kommission im vorliegenden Fall wegen des Fehlens von
Unterlagen die Beteiligung jedes einzelnen Unternehmens an der Durchführung
der Preisinitiativen, einer der Erscheinungsformen des Kartells, nicht nachweisen
konnte, meinte sie doch, beweisen zu können, daß jedes Unternehmen jedenfalls
an den Herstellersitzungen teilgenommen hatte, die namentlich die gemeinsame
Preisfestlegung zum Ziel hatten.
- 775.
- In Randnummer 20, vierter und fünfter Absatz, heißt es: „Die Kommission kann
daher wegen der fehlenden Preisunterlagen der Hersteller nicht beweisen, daß alle
Hersteller gleichzeitig identische Preislisten einführten oder die .europäischen'
DM-Ziele anwandten. Es kann jedoch nachgewiesen werden, daß eines der
Hauptziele der Sitzungen, an denen alle Hersteller teilnahmen, darin bestand,
Preisziele zu setzen und die Preisinitiativen zu koordinieren.“
- 776.
- Die gleiche Auffassung kommt in Randnummer 26, fünfter Absatz, zum Ausdruck:
„Das Maß an Verantwortung jedes Teilnehmers hängt jedoch nicht von den
Unterlagen ab, die zufällig oder auf andere Weise bei dem betreffenden
Unternehmen aufgefunden werden, sondern eher von seiner Beteiligung an dem
Kartell insgesamt. Die Tatsache, daß die Kommission keine Beweise für das
Preisverhalten einiger Unternehmen erlangte, vermindert somit nicht den Umfang
ihrer Beteiligung, da sie als Vollmitglieder eines Kartells ausgewiesen wurden, bei
dem Preisinitiativen geplant waren.“
- 777.
- Die Kommission macht somit in der Entscheidung geltend, daß sie die Teilnahme
jedes einzelnen Unternehmens an bestimmten Veranstaltungen des Kartells und
aufgrund einer Vielzahl schlüssiger Indizien auch an den Herstellersitzungen, in
denen sich die Unternehmen vor allem über die in den folgenden Tagen
anzuwendenden Preise verständigten, habe nachweisen können. Die Kommission
hat sich dabei zulässigerweise darauf gestützt, daß das jeweilige Unternehmen in
den Planungsdokumenten erwähnt wird, in denen Maßnahmen vorgesehen waren,
die in den Wochen nach der Erstellung dieser Dokumente durchgeführt und auf
dem PVC-Markt festgestellt wurden, daß die Beteiligung des Unternehmens an den
anderen Veranstaltungen des Kartells nachgewiesen ist oder daß das Unternehmen
von BASF und ICI als Teilnehmer an den Herstellersitzungen genannt wurde.
- 778.
- Aus alledem ergibt sich, daß die Kommission dem einzelnen Unternehmen keine
kollektive Verantwortlichkeit oder eine Verantwortlichkeit für eine Veranstaltung
des Kartells, zu der das Unternehmen keinen Beitrag geleistet hat, angelastet hat,
sondern es nur für die Handlungen verantwortlich gemacht hat, an denen es
beteiligt war.
2. Zur individuellen Beteiligung der Klägerinnen an der Zuwiderhandlung
- 779.
- Alle Klägerinnen in den vorliegenden Rechtssachen mit Ausnahme von ICI
bestreiten entweder im Rahmen eines besonderen Klagegrundes oder im Rahmen
anderer Klagegründe, die z. B. die Sachverhaltsfeststellung oder die Regeln der
Beweislast betreffen, daß ihre Teilnahme an der beanstandeten Zuwiderhandlung
bewiesen sei.
- 780.
- Somit ist nacheinander der Fall jeder einzelnen Klägerin mit Ausnahme von ICI
zu prüfen. Diese Prüfung läßt sich nicht von der des Beweiswerts der von der
Kommission angeführten Unterlagen und der von ihr daraus gezogenen rechtlichen
Folgerungen, die bereits untersucht worden sind, trennen.
a) DSM
Vorbringen der Klägerinnen
- 781.
- Erstens bestreiten die Klägerinnen, an Herstellersitzungen teilgenommen zu haben,
auf denen Preise und Marktanteile erörtert worden seien. Die Beweismittel der
Kommission hierfür seien nämlich offenkundig unzureichend. So beweise die
Erwähnung des Namens DSM in der „checklist“, deren Beweiswert bereits in Frage
gestellt worden sei, weder, daß die dort vorgesehene Sitzung stattgefunden, noch
daß DSM daran teilgenommen habe. Die Erklärungen von ICI, die im übrigen mit
allem Vorbehalt abgegeben worden seien, beträfen Ereignisse aus dem Jahr 1983,
dem Jahr, in dem DSM den PVC-Markt verlassen habe. Schließlich sei DSM von
BASF nicht als einer der Teilnehmer an den Sitzungen genannt worden.
- 782.
- Zweitens sei für das angebliche Quotensystem das Schriftstück von DSM, das allein
von der Kommission gegen die Klägerinnen verwertet worden sei und in dem der
Begriff „Ausgleich“ erscheine, ohne Beweiswert. Selbst wenn der Begriff die
Bedeutung hätte, die die Kommission ihm beilege, hieße dies nicht, daß die
Klägerinnen sich an einem solchen System beteiligt hätten.
- 783.
- Drittens habe die Kommission das Bestehen einer Regelung für die Überwachung
der Verkäufe nicht nachgewiesen.
- 784.
- Was schließlich die Zielpreise und Preisinitiativen betreffe, so sei nicht bewiesen,
daß es abgestimmte Preisinitiativen überhaupt gegeben habe.
Würdigung durch das Gericht
- 785.
- DSM ist von ICI als Teilnehmer an den Herstellersitzungen genannt worden (vgl.
vorstehend, Randnr. 675), deren Rechtswidrigkeit die Kommission nachgewiesen
hat (vgl. vorstehend, Randnrn. 679 bis 686). Entgegen der Auffassung der
Klägerinnen betreffen die Erklärungen von ICI nicht nur den Zeitraum nach
Januar 1983, sondern vielmehr die informellen Sitzungen, die „von August 1980“
an fast einmal monatlich, wie BASF bestätigt hat, stattgefunden haben (vgl.
vorstehend, Randnrn. 675 und 677).
- 786.
- Zudem erscheint DSM in den Planungsdokumenten ausdrücklich als möglicher
Teilnehmer an dem von ICI geplanten „neuen Rahmen für die Sitzungen“.
Aufgrund der engen Korrelation zwischen den in diesen Dokumenten geplanten
Verhaltensweisen und den in den folgenden Wochen auf dem PVC-Markt
festgestellten Verhaltensweisen (vorstehend, Randnrn. 662 ff.) kann die Erwähnung
des Namens von DSM als Indiz für ihre Beteiligung an der beanstandeten
Zuwiderhandlung gewertet werden.
- 787.
- Mehrere Schriftstücke, die von der Kommission zu Recht als Beweis für die
gemeinsamen Preisinitiativen herangezogen worden sind (vgl. vorstehend, Randnrn.
637 bis 661), stammen von DSM. Mehrere dieser Unterlagen, insbesondere die
Anlagen P5, P13, P28 und P41, verweisen zudem darauf, daß DSM diese
Preisinitiativen „fest unterstützt“ hat.
- 788.
- Das Alcudia-Dokument, das neben anderen Unterlagen das Bestehen einer
Regelung zur Überwachung der Verkaufsmengen der PVC-Hersteller belegt, führt
indirekt DSM an, da es dort heißt: „An der PVC-Regelung [über den Ausgleich]
ist nur ein Hersteller nicht beteiligt“ (vgl. vorstehend, Randnr. 589). ICI hat in ihrer
Antwort auf ein Auskunftsverlangen angegeben, daß dieser Hersteller Shell
gewesen sei. Zudem ist das Schriftstück von DSM, das die Kommission zu Recht
als Beweis für eine Ausgleichsregelung zwischen den Herstellern angesehen hat
(vgl. vorstehend, Randnrn. 594 bis 598), ein Monatsbericht über die Marktsituation,
der von einer Abteilung von DSM erstellt worden ist.
- 789.
- Bezüglich der Überwachung der Verkäufe ziehen die Klägerinnen nur das Bestehen
einer solchen Regelung in Zweifel. Dieser Einwand ist vom Gericht bereits geprüft
und zurückgewiesen worden (vgl. vorstehend, Randnrn. 618 bis 636).
- 790.
- Nach alledem ist die Kommission zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß DSM an
der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung beteiligt war.
b) Atochem
Vorbringen der Klägerin
- 791.
- Nach Ansicht der Klägerin hat die Kommission nicht bewiesen, daß Elf Atochem
dem beanstandeten Kartell zugestimmt oder sich daran beteiligt habe.
- 792.
- Zu den Preisinitiativen trägt die Klägerin vor, daß ihr Name oder der Name der
in ihr zusammengeschlossenen Gesellschaften in keinem Schriftstück erwähnt sei.
Die Akten enthielten keinen Anhaltspunkt dafür, daß Elf Atochem sein Verhalten
dem der anderen PVC-Hersteller angeglichen hätte. Mehrere Unterlagen zeigten
im Gegenteil ein wettbewerbsorientiertes und nicht abgestimmtes Verhalten von
ihrer Seite.
- 793.
- Was die angebliche Quoten-, Ausgleichs- und Marktüberwachungsregelung angehe,
so seien die beiden Schriftstücke, auf die sich die Vorwürfe gegen Atochem stützten
(Atochem-Tabelle und Solvay-Tabellen), ohne Beweiswert. Die Kommission räume
in Randnummer 11 der Entscheidung selbst ein, daß von einer Disziplin kaum die
Rede gewesen sein könne. Die sich ständig verändernden Marktanteile von Elf
Atochem seien mit einer solchen Regelung, an der das Unternehmen beteiligt
gewesen sein solle, ganz offenkundig unvereinbar.
- 794.
- Die Kommission habe weder die Anwesenheit der Klägerin bei den
Herstellersitzungen noch deren aktive oder passive Teilnahme an den dort
möglicherweise getroffenen Entscheidungen bewiesen.
Würdigung durch das Gericht
- 795.
- Atochem wird von ICI als Teilnehmer an den Herstellersitzungen genannt (vgl.
vorstehend, Randnr. 675), deren Rechtswidrigkeit die Kommission bewiesen hat
(vgl. vorstehend, Randnrn. 679 bis 686).
- 796.
- Die Anwesenheit der Klägerin auf diesen Sitzungen ist von BASF bestätigt worden
(vgl. vorstehend, Randnr. 677).
- 797.
- Zudem wird in den Planungsdokumenten unter den von ICI für die Teilnahme am
„neuen Rahmen für die Sitzungen“ in Betracht gezogenen Mitgliedern die „neue
französische Gesellschaft“ aufgeführt, bei der es sich unstreitig um das
Unternehmen Chloé handelte, das später Atochem geworden ist.
- 798.
- Aus den bereits genannten Gründen (vgl. vorstehend, Randnr. 788) führt das
Alcudia-Dokument indirekt Atochem an.
- 799.
- Die Atochem-Tabelle, die den Absatz der einzelnen im ersten Halbjahr 1984 noch
produzierenden Unternehmen und die entsprechenden Ziele wiedergibt (vgl.
vorstehend, Randnrn. 602 ff.), ist am Hauptsitz dieses Unternehmens entdeckt
worden. Selbst wenn die Behauptung der Klägerin, daß diese Tabelle nicht von
einer ihrer Abteilungen erstellt worden sei, zuträfe, bleibt die Tatsache bestehen,
daß in ihr sowohl ein Absatzziel als auch Verkaufszahlen für dieses Unternehmen
angegeben sind.
- 800.
- Das Argument von Atochem, daß „in der Entwicklung der Produktion sich die
angeblichen Quoten nicht widerspiegeln“ (Klageschrift, S. 12), gründet sich auf eine
Tabelle, die die Anlage 1 zu der Antwort der Klägerin auf die Mitteilung der
Beschwerdepunkte war. Dazu genügt die Feststellung, daß diese Tabelle die Jahre
1986 und 1987 betrifft, um die es in der vorliegenden Rechtssache nicht geht.
- 801.
- Schließlich betrifft eine der Absatzzahlen in den Solvay-Tabellen, die die
Kommission überprüfen konnte, Atochem und ist zutreffend (vgl. vorstehend,
Randnr. 628).
- 802.
- Wenn die Kommission auch keine Preislisten von Atochem erlangen konnte, die
die Feststellung erlaubt hätten, daß dieses Unternehmen die gemeinsamen
Preisinitiativen durchgeführt hat, zeigen die Anlagen P1 bis P70 doch, daß die
französischen Hersteller sich von diesen Maßnahmen des Kartells nichtferngehalten haben. So wird, abgesehen von den Schriftstücken wie den Anlagen
P1, P6, P15, P19, P22, P26, P29, P32, P45 und P48, in denen auf „allgemeine
Initiativen“ zur Anhebung „sämtlicher europäischer Preise“ oder auch auf
„Initiativen der Branche“ Bezug genommen wird, in einigen Anlagen speziell der
französische Markt aufgeführt, so daß der Schluß zulässig ist, daß die
Preisinitiativen dort angekündigt und durchgeführt wurden. Dies ergibt sich
namentlich aus den Anlagen P21, P23, P24, P30, P31 und P38.
- 803.
- Zwar wird in zwei Schriftstücken das aggressive Preisverhalten französischer
Hersteller angeführt, doch kann dies die Schlußfolgerungen der Kommission nicht
erschüttern. Erstens hat diese dem nämlich bei der Sachverhaltsprüfung namentlich
in Randnummer 22, dritter Absatz, der Entscheidung Rechnung getragen: „Es ist
auch zutreffend, daß eine Reihe der an den Sitzungen teilnehmenden Hersteller
von anderen Herstellern auf einigen Märkten als .aggressiv' oder .zerstörerisch'
bezeichnet wurden. Diese anderen Hersteller betrachteten sich selbst als starke
Verteidiger von Preisinitiativen und waren bereit, zur Durchsetzung einer
Preiserhöhung Einbußen des Auftragsvolumens hinzunehmen.“ Die Kommission
hat auf diesen Umstand auch bei ihrer rechtlichen Würdigung namentlich in
Randnummer 31, erster Absatz, der Entscheidung verwiesen: „Außerdem kann es
sein, daß ein bestimmter Hersteller oder eine Gruppe von Herstellern von Zeit zu
Zeit in bezug auf den einen oder anderen Aspekt der Vereinbarung Vorbehalte
erhob oder in einem spezifischen Punkt unzufrieden war ...“ Das gelegentlich
aggressive Verhalten einiger Hersteller trug zum Scheitern einiger Initiativen bei,
wie sich aus den Randnummern 22, 37 und 38 der Entscheidung ergibt. Zweitens
entkräftet der Umstand, daß die Klägerin gelegentlich eine Preisinitiative nicht
durchgeführt hat, nicht die Schlußfolgerung der Kommission; diese hat sich nämlich
bei den Unternehmen, für die sie keine Preislisten erlangen konnte, auf die
Feststellung beschränkt, daß diese Unternehmen jedenfalls an den
Herstellersitzungen teilgenommen haben, die in erster Linie der Festsetzung von
Preiszielen (vgl. vorstehend, Randnrn. 774 ff.) und nicht der tatsächlichen
Durchführung dieser Initiativen dienten (Urteil Atochem/Kommission,
Randnr. 100).
- 804.
- Aufgrund all dessen ist die Kommission zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die
Klägerin sich an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung beteiligt hat.
c) BASF
Vorbringen der Klägerin
- 805.
- Nach Ansicht der Klägerin liegen keine hinreichenden Beweise dafür vor, daß sie
dem Kartell insgesamt beigetreten sei. Im vorliegenden Fall beschränkten sich diese
Beweise auf die Planungsdokumente, auf die Beteiligung an regelmäßigen
Sitzungen, auf die Atochem-Tabelle und die Tabellen von Solvay.
- 806.
- Erstens sei der Beweiswert der Planungsdokumente bereits bestritten worden. In
Ermangelung eines Beweises, daß die Klägerin diese Dokumente gekannt und
gebilligt habe, könnten sie nicht als Beweis für ihre Beteiligung am Kartell dienen.
- 807.
- Zweitens rechtfertige keines der Beweismittel den Schluß, daß die Klägerin an
wettbewerbswidrigen Absprachen während einer dieser Sitzungen beteiligt gewesen
sei, was sich jedenfalls nicht aus der bloßen Tatsache herleiten lasse, daß Sitzungen
stattgefunden hätten. Jedenfalls habe die Klägerin in ihrer Antwort vom 8.
Dezember 1987 auf ein Auskunftsverlangen bereits darauf hingewiesen, daß sie
nach Oktober 1983 an keiner Sitzung mehr teilgenommen habe, falls solche
Zusammenkünfte überhaupt noch stattgefunden hätten.
- 808.
- Drittens genüge die bloße Erwähnung des Namens der Klägerin in der Atochem-Tabelle, die ohne ihr Wissen erfolgt sei, nicht als Beweis für ihre Beteiligung an
einem rechtswidrigen Kartell. Dieses Schriftstück belege weder, daß BASF eine
eigene Quote zugeteilt worden sei, noch, daß sie einem Quotensystem beigetreten
sei. Die Tabellen von Solvay ließen nicht die Feststellung zu, daß die Klägerin an
einem Informationsaustausch mit ihren Konkurrenten beteiligt gewesen sei.
Würdigung durch das Gericht
- 809.
- Die Klägerin hat eingeräumt, an den informellen Herstellersitzungen teilgenommen
zu haben, deren Rechtswidrigkeit nach Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag von der
Kommission nachgewiesen worden ist (vgl. vorstehend, Randnrn. 679 bis 686).
- 810.
- Die Anwesenheit der Klägerin in den Sitzungen ist von ICI bestätigt worden (vgl.
vorstehend, Randnr. 675).
- 811.
- Die Klägerin ist in den Planungsdokumenten als möglicher Teilnehmer an dem
„neuen Rahmen für die Sitzungen“ genannt worden. Wenn diese Dokumente, wie
bereits festgestellt, auch höchstens „einen Plan für ein Kartell“ (vgl. vorstehend,
Randnrn. 670 bis 673) darstellen und daher nicht als Beweis für die Beteiligung der
Klägerin an der beanstandeten Zuwiderhandlung betrachtet werden können, kann
die Erwähnung der Klägerin in diesen Schriftstücken doch als Indiz für diese
Teilnahme gewertet werden.
- 812.
- Aus den bereits genannten Gründen (vgl. vorstehend, Randnr. 788) führt das
Alcudia-Dokument indirekt BASF an.
- 813.
- BASF wird auch in der Atochem-Tabelle genannt, die, wenn auch zusammengefaßt,
die Absatzdaten und die prozentualen Verkaufsziele der vier deutschen Hersteller
enthält (vgl. vorstehend, Randnr. 612).
- 814.
- BASF wird auch in den Tabellen von Solvay genannt. Von den aufgeführten
Verkaufszahlen, die die Kommission überprüfen konnte, betreffen zwei die
Klägerin und sind zutreffend (vgl. vorstehend, Randnr. 627).
- 815.
- Auch wenn die Kommission keine Preislisten von BASF erlangen konnte, die die
Feststellung erlaubt hätten, daß dieses Unternehmen die gemeinsamen
Preisinitiativen durchgeführt hat, zeigen die Anlagen P1 bis P70 doch, daß die
deutschen Hersteller diesen Maßnahmen des Kartells nicht ferngeblieben sind. So
wird, abgesehen von den Schriftstücken wie den Anlagen P1, P6, P15, P19, P22,
P26, P29, P32, P45 und P48, in denen auf „allgemeine Initiativen“ zur Anhebung
„sämtlicher europäischer Preise“ oder auch auf „Initiativen der Branche“ Bezug
genommen wird, in einigen Anlagen speziell der deutsche Markt aufgeführt, so daß
der Schluß zulässig ist, daß die Preisinitiativen dort angekündigt und durchgeführt
wurden. Dies ergibt sich namentlich aus den Anlagen P23, P24, P26, P29, P30, P41
und P58.
- 816.
- Aufgrund all dessen ist die Kommission zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die
Klägerin an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung beteiligt war.
d) Shell
Vorbringen der Klägerin
- 817.
- Mit der ersten Rüge im Rahmen dieses Klagegrundes wirft die Klägerin der
Kommission vor, die besondere Struktur der Shell-Gruppe außer Betracht gelassen
zu haben. Zwar sei Shell Adressat der Entscheidung, doch sei sie weder Hersteller
noch Lieferant von PVC. Sie sei nur eine Dienstleistungsgesellschaft, die in ihrer
Beraterrolle nicht die Möglichkeit gehabt habe, die Produktionsgesellschaften von
Shell zur Durchführung eines Preis- und Quotenkartells zu zwingen. Zudem sei die
Kommission nicht zu der Annahme berechtigt gewesen, daß die
Produktionsgesellschaften der Gruppe, soweit sie von der Klägerin vielleicht den
Rat erhalten hätten, in einem bestimmten Fall einen besonderen Preis anzustreben,
sich auch tatsächlich entsprechend verhalten hätten.
- 818.
- Mit der zweiten Rüge im Rahmen dieses Klagegrundes macht die Klägerin geltend,
daß der Nachweis ihrer Teilnahme an den Herstellersitzungen sich weitgehend auf
das Eingeständnis ihrer Vertreter gründe, an zwei Sitzungen teilgenommen zu
haben.
- 819.
- Ziel der ersten Sitzung in Paris am 2. März 1983 sei es lediglich gewesen, die Krise
in der europäischen petrochemischen Industrie und die Notwendigkeit einer
Neuordnung dieses Sektors zu erörtern, insbesondere unter Berücksichtigung des
ersten Entwurfs eines Berichts der Arbeitsgruppe Gatti/Grenier, der nach Sitzungen
mit der Kommission erstellt worden sei. Eine gemeinsame Initiative könne auf
dieser Sitzung nicht beschlossen worden sein, da die Fachpresse zwei Wochen
vorher über die Preiserhöhung berichtet habe; so sei in der Ausgabe der European
Chemical News vom 21. Februar 1983 zu lesen gewesen: „Die Hersteller planen
offensichtlich eine Anhebung der Preise auf 1,50 bis 1,65 DM/kg, doch stehen die
Termine noch nicht fest.“ Jedenfalls habe der Vertreter von Shell keine der
angeblichen Initiativen unterstützt, wie sich aus der Tatsache ergebe, daß weniger
als vier Wochen nach der Sitzung die Gesellschaften des Shell-Konzerns einen
Zielpreis von 1,35 DM/kg festgelegt hätten, der eindeutig unter dem angeblichen
Zielpreis von 1,60 DM/kg oder dem angeblichen Mindestpreis der Branche von
1,50 DM/kg liege.
- 820.
- In der zweiten Sitzung in Zürich im August 1983 seien die Bedingungen des
Absatzes von PVC, die seinerzeitigen Marktpreise und die Notwendigkeit einer
Preisanhebung für die Branche erörtert worden. Der Vertreter von Shell habe
keine dieser Meinungen unterstützt. Es gebe kein internes Schriftstück der
Klägerin, das als Beleg für irgendeinen Zielpreis in diesem Zeitraum dienen könne,
und alle in den Unterlagen der Klägerin in diesem Zeitraum aufgeführten
Branchenpreise stammten offenkundig aus unabhängigen Wirtschaftsquellen.
- 821.
- Mit der dritten Rüge im Rahmen dieses Klagegrundes macht die Klägerin geltend,
daß die einzigen Beweismittel für das Quotensystem die Planungsdokumente von
1980 und die Atochem-Tabelle seien; letztere beziehe sich eindeutig auf 1984. Laut
der Entscheidung habe Shell an der Ausarbeitung des Planes 1980 nicht mitgewirkt,
und ihre angebliche Teilnahme sei im Oktober 1983 beendet gewesen. Daß Shell
an der Ausgleichsregelung nicht teilgenommen habe, werde in der Entscheidung
(Randnr. 26, zweiter Absatz a. E.) ausdrücklich anerkannt.
- 822.
- Mit der vierten Rüge im Rahmen dieses Klagegrundes trägt die Klägerin zu den
Regelungen über die Überwachung der Verkäufe auf den inländischen Märkten
vor, daß der Nachweis dieser Regelungen sich zum einen auf die Tabellen von
Solvay und zum anderen auf Telefongespräche zwischen Solvay und Shell gründe,
die letztere in ihrer Antwort auf ein Auskunftsverlangen eingeräumt habe.
- 823.
- Die Tabellen von Solvay beträfen folgende großen nationalen Märkte: Deutschland,
Italien, Benelux und Frankreich. Im vorliegenden Fall könnten nur die beiden
letztgenannten Märkte von Bedeutung sein, da Shell in Deutschland und in Italien
nicht als inländischer Hersteller vertreten sei. In bezug auf Benelux räume die
Kommission jedoch selbst ein, daß die angegebenen Zahlen nicht den individuellen
Fides-Meldungen entsprächen. In bezug auf Frankreich unterschieden sich die
Zahlen, die Shell in den Solvay-Tabellen zugeordnet seien, entgegen der
Behauptung der Kommission klar von denen in den Meldungen von Shell an Fides.
- 824.
- Im übrigen habe die Kommission die Antwort von Shell auf das Auskunftsverlangen
entstellt. Zum einen seien Solvay keine genauen Informationen mitgeteilt worden;
diese Mitteilungen hätten nur die Verkäufe in Westeuropa betroffen und könnten
somit nicht die Quelle für die Tabellen von Solvay sein, die eine Aufteilung nach
Ländern enthielten. Zum anderen seien diese Informationen nur gelegentlich
zwischen Januar 1982 und Oktober 1983 übermittelt worden, während die Tabellen
von Solvay die Zahlen für den Zeitraum von 1980 bis 1984 enthielten. Dies
bestätige, daß diese Tabellen nur aufgrund der veröffentlichten offiziellen
Statistiken und aufgrund von Kontakten mit Kunden erstellt worden seien.
- 825.
- Mit der fünften Rüge im Rahmen dieses Klagegrundes macht die Klägerin zu den
Preisinitiativen geltend, daß die Entscheidung widersprüchliche Aussagen zum
Umfang der Beteiligung von Shell enthalte. Dort werde nämlich gleichzeitig
behauptet, daß Shell an diesen Preisinitiativen teilgenommen habe (Randnr. 20),
daß sie über diese unterrichtet gewesen sei (Randnr. 26) und daß sie lediglich
Kenntnis davon gehabt habe (Randnr. 48).
- 826.
- Abgesehen von zwei Einzelfällen habe die Klägerin an den Herstellersitzungen
nicht teilgenommen.
- 827.
- Die Gesellschaften der Shell-Gruppe hätten ihre Preise unabhängig festgesetzt. Was
die vier Initiativen angehe, für die die Kommission Unterlagen besitze, die von
Shell stammten, so seien die Initiativen der Branche stets vorher in der Fachpresse
angekündigt worden. Zudem hätten die von Shell festgesetzten Zielpreise nicht den
angeblichen Zielpreisen der Branche entsprochen. Nur einmal, am 1. September
1982, hätten die Zahlen übereingestimmt; in diesem Fall habe Shell jedoch ihren
Zielpreis erst am 9. September 1982 festgesetzt, und dieser Zielpreis habe erst am
1. Oktober 1982 wirksam werden sollen; schon im November 1982 habe Shell ihren
Zielpreis wieder gesenkt (1,40 DM/kg statt 1,50 DM/kg).
- 828.
- Mit der sechsten Rüge im Rahmen dieses Klagegrundes macht die Klägerin
geltend, daß eine abgestimmte Verhaltensweise mit der Strategie von Shell
unvereinbar gewesen wäre, da das Unternehmen 1981 eine neue PVC-Fabrik in
Betrieb genommen habe, deren sofortige Kapazität von 100 kt je Jahr habe voll
ausgenutzt werden müssen. Die beiden PVC-Fabriken von Shell seien stärker
ausgelastet gewesen als der Durchschnitt der Branche, und die Marktanteile von
Shell seien daher stark gewachsen. Unter diesen Bedingungen hätte die Annahme
einer Quote, der die 1979 erreichte Stellung zugrunde gelegen hätte, keinen Sinn
gehabt. Tatsächlich hätte kein Jahr als akzeptabler Bezugspunkt dienen können, da
Shell eine neue Fabrik in Betrieb genommen habe.
Würdigung durch das Gericht
- 829.
- Mit der ersten Rüge im Rahmen dieses Klagegrundes macht die Klägerin geltend,
daß sie wegen der Besonderheiten der Royal-Dutch-Shell-Gruppe den
Produktionsgesellschaften dieser Gruppe kein bestimmtes Verhalten, auch kein
wettbewerbswidriges, habe vorschreiben können.
- 830.
- Die Kommission hat in Randnummer 46 der Entscheidung bei der Untersuchung
der Besonderheiten der Royal-Dutch-Shell-Gruppe durchaus zur Kenntnis
genommen, daß „die einzelnen Produktions- und Absatzunternehmen auf dem
Chemiesektor in Fragen des Managements allem Anschein nach autonom sind“
und daß die Klägerin „eine .Dienstleistungs'-Gesellschaft“ ist.
- 831.
- Sie hat jedoch darauf hingewiesen, daß die Klägerin unstreitig „für die
Koordinierung und strategische Planung im Thermoplast-Sektor des ... Konzerns
zuständig ist“. Somit kommt der Klägerin die Aufgabe der Beratung der
Produktionsgesellschaften der Gruppe zu.
- 832.
- Weiter hat die Kommission in Randnummer 46 der Entscheidung ausgeführt, daß
die Klägerin „mit dem Kartell in Verbindung stand“ und „an den Sitzungen im
Jahre 1983 teilnahm“. Mehrere Anlagen zur Mitteilung der Beschwerdepunkte über
die Preisinitiativen stammen von der Klägerin (Anlagen P35, P36, P49, P50, P51,
P53, P54, P55 und P59). Vor allem diese Anlagen sind der Beweis für zwischen den
Herstellern abgestimmte Initiativen (vgl. vorstehend, Randnrn. 637 ff.) und zeigen,
daß die Klägerin zumindest über die festgesetzten Zielpreise und die dafür
vorgesehenen Termine genau unterrichtet war. Zudem wurde Shell auf den beiden
Sitzungen, an denen die Klägerin 1983 nach ihrem eigenen Eingeständnis
teilgenommen hat, von ihrem damaligen stellvertretenden Generaldirektor Lane
vertreten.
- 833.
- Nach Ansicht der Kommission läßt sich die „Definition des Gerichtshofes einer
.aufeinander abgestimmten Verhaltensweise' ... besonders gut auf die Beteiligung
des Unternehmens Shell anwenden, das mit dem Kartell zusammengearbeitet hat,
ohne Vollmitglied zu sein, und so in der Lage war, sein eigenes Marktverhalten
aufgrund seiner Kontakte zum Kartell entsprechend anzupassen“ (Entscheidung,
Randnr. 34). Auch wenn die Klägerin ihren Verkaufsgesellschaften keine Preise
vorschreiben konnte, stand sie aufgrund ihrer Verbindung zu dem Kartell und
durch die Übermittlung der auf diese Weise erlangten Informationen an ihre
Tochtergesellschaften als treibende Kraft hinter der Beteiligung der Shell-Gruppe
an der abgestimmten Verhaltensweise. Die genannten Anlagen zur Mitteilung der
Beschwerdepunkte, die von der Klägerin stammen und in denen sowohl die
Zielpreise als auch der Zeitpunkt ihrer Durchführung aufgeführt sind, waren ihrem
Wortlaut nach an sämtliche Tochtergesellschaften der Gruppe in Europa gerichtet.
- 834.
- Somit steht die geltend gemachte besondere Struktur der Royal-Dutch-Shell-Gruppe als solche nicht der Feststellung entgegen, daß es der Klägerin möglich
war, sich an einer Verhaltensweise zu beteiligen, die gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag verstieß, und daß sie damit erst recht Adressat der Entscheidung sein
konnte.
- 835.
- Was die Beteiligung der Klägerin an dem Kartell betrifft, so hat die Kommission
namentlich in den Randnummern 48 und 53 der Entscheidung die geringere
Bedeutung der Rolle der Klägerin bei der beanstandeten Zuwiderhandlung
eingeräumt. Somit ist zu prüfen, ob die Kommission hinreichend Beweise für die
Feststellung erbracht hat, daß die Klägerin „nur am Rande beteiligt war“ (Randnr.
53 der Entscheidung).
- 836.
- ICI und BASF haben die Klägerin als Teilnehmer an den informellen
Herstellersitzungen genannt (vgl. vorstehend, Randnrn. 675 und 677). Shell räumt
ein, an zwei Sitzungen teilgenommen zu haben, für die die Kommission den Beweis
in Form von Angaben in einem Kalender gefunden hat (vorstehend, Randnr. 676).
Allerdings bestreitet Shell, daß diese Sitzungen einen wettbewerbswidrigen Zweck
gehabt hätten oder daß sie an irgendeiner Absprache bei dieser Gelegenheit
beteiligt gewesen sei.
- 837.
- Bezüglich der ersten Sitzung in Paris am 2. März 1983 hat das Gericht festgestellt,
daß die Kommission deren wettbewerbswidrigen Zweck nachgewiesen hat (vgl.
vorstehend, Randnrn. 650 und 652).
- 838.
- Daran ändert auch der von der Klägerin angeführte Presseartikel in der Zeitschrift
European Chemical News vom 21. Februar 1983 nichts. Der von der Klägerin
zitierte Artikel ist nämlich insoweit unklar, als er nicht den Schluß auf individuelle
Initiativen zuläßt. Außerdem ist der Zeitpunkt der Initiativen in dem Artikel nur
vage angegeben; dagegen enthalten die einige Tage später nach der Sitzung vom
2. März 1983 verfaßten Schriftstücke, die die Kommission in den Geschäftsräumen
der Unternehmen, namentlich bei Shell gefunden hat, den genauen Zeitpunkt der
Initiativen.
- 839.
- Schließlich behauptet Shell, jedenfalls keine Preisinitiative unterstützt zu haben. Sie
führt dazu aus, daß sie am 31. März 1983 ihren Zielpreis auf 1,35 DM/kg
festgesetzt habe, d. h. unterhalb des von den Herstellern einvernehmlich
festgesetzten Niveaus. Es bleibt aber die Tatsache bestehen, daß Shell über den
von den Herstellern am 2. März 1983 beschlossenen Preis und über den Zeitpunkt
der Durchführung dieser Initiative unterrichtet war, wie sich aus der Anlage P49
vom 13. März 1983 ergibt. Angesichts der Ungewißheit über das Verhalten ihrer
Konkurrenten konnte die Klägerin ihre Preispolitik keineswegs selbständig
bestimmen, sondern mußte daher aufgrund ihrer Teilnahme an der Sitzung vom 2.
März 1983 zwangsläufig die dort erlangten Informationen unmittelbar oder
mittelbar berücksichtigen.
- 840.
- Bezüglich der zweiten Sitzung in Zürich im August 1983 hat die Klägerin in ihrer
Antwort auf ein Auskunftsverlangen der Kommission eingeräumt, daß dort „einige
Hersteller sich zu einer Preisinitiative geäußert haben“. Wie mehrere Anlagen zur
Mitteilung der Beschwerdepunkte, etwa die Anlagen P53, P54, P55, P56, P57, P58
und P60 belegen, wurde eine Initiative tatsächlich für September 1983 vorgesehen
und auch durchgeführt. Den Anlagen P53, P54 und P55, die von der Klägerin
stammen, läßt sich entnehmen, daß diese entgegen ihrer Behauptung an diesen
Initiativen teilgenommen hat. Sie hatte von der Initiative Kenntnis, bevor diese in
der Öffentlichkeit bekanntgegeben wurde. Die Fachpresse, auf die sich die Klägerin
in ihrer Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte beruft, berichtete erst
Ende September hierüber.
- 841.
- Das Alcudia-Dokument über die Ausgleichsregelung hat im Hinblick auf die
Klägerin keinen Beweiswert, da Shell nach der Antwort von ICI auf ein
Auskunftsverlangen der einzige Hersteller war, der daran nicht teilnahm (vgl.
vorstehend, Randnr. 788). Wie sich namentlich aus Randnummer 48 der
Entscheidung ergibt, hat dies die Kommission in ihrer Ansicht bestärkt, daß die
Klägerin nur am Rande am Kartell beteiligt war.
- 842.
- Die Atochem-Tabelle betrifft das erste Quartal 1984 und stammt möglicherweise
vom Mai 1984 (vgl. vorstehend, Randnr. 606); Shell zog sich dagegen nach
Randnummer 54, dritter Absatz, der Entscheidung im Oktober 1983 vom Kartell
zurück. Tatsächlich enthält die Atochem-Tabelle nur abgerundete Zahlen über den
Absatz von Shell. Da diese Tabelle jedoch ein prozentuales Ziel für die Klägerin
angibt, das nicht vor dem ersten Quartal 1984 beschlossen worden sein konnte,
spricht dies dafür, daß Shell sich Ende 1983 von der Quotenregelung nicht
ferngehalten hatte.
- 843.
- Was die Regelung der Überwachung der Verkäufe (vgl. vorstehend, Randnrn. 618
bis 636) betrifft, so sind nur zwei der in den Tabellen von Solvay aufgeführten
geographischen Märkte im Hinblick auf Shell von Bedeutung, nämlich der Benelux-Markt und Frankreich.
- 844.
- Die Kommission hat in Beantwortung einer Frage des Gerichts bestätigt, daß der
Vorwurf der Überwachung der Verkäufe nicht den Benelux-Markt betreffe, wie
sich bereits aus der Mitteilung der Beschwerdepunkte ergebe.
- 845.
- Dagegen ist die Genauigkeit der Zahlen zu beachten, die den Absatz von Shell für
1982 und für 1983 auf dem französischen Markt betreffen (vgl. vorstehend, Randnr.
628). Diese Genauigkeit bestätigt, daß Shell zumindest bezüglich des französischen
Marktes an dem Informationsaustausch teilgenommen hat. Die Klägerin hat in
ihrer Antwort auf ein Auskunftsverlangen vom 3. Dezember 1987 erklärt, daß
„Solvay sie zwischen Januar 1982 und Oktober 1983 gelegentlich anrief, um eine
Bestätigung ihrer Schätzungen von Shells Verkaufstonnagen zu erhalten“. Die
Klägerin verweist darauf, daß sie auch erklärt habe, „keine genauen Angaben
gemacht zu haben“. Die Genauigkeit der Absatzzahlen für den französischen Markt
widerlegt jedoch diese Behauptung.
- 846.
- Zu dem angeblichen Widerspruch in der Entscheidung über den Umfang der
Beteiligung von Shell an den Preisinitiativen ist festzustellen, daß Randnummer 20
der Entscheidung nur den Nachweis des gemeinsamen Vorgehens bei den
Preisinitiativen betrifft. In Randnummer 26 der Entscheidung wird darauf
hingewiesen, daß die Klägerin von diesen Initiativen gewußt habe, und in
Randnummer 48 heißt es, daß sie von den Initiativen gewußt und sie unterstützt
habe. Randnummer 48 ergänzt also die Randnummer 26 und steht somit nicht im
Widerspruch zu dieser.
- 847.
- Wie bereits festgestellt, beweisen die von der Kommission vorgelegten
Schriftstücke, daß die Klägerin an den Preisinitiativen beteiligt war, die auf den
Herstellersitzungen vom 2. März 1983 und 11. August 1983 beschlossen wurden
(vgl. vorstehend, Randnrn. 836 bis 840). Ebenso zeigt die Anlage P59, ein
Schriftstück der Klägerin vom 28. Oktober 1983, daß diese über die für den 1.
November 1983 beschlossene Initiative zur Anhebung der PVC-Preise auf 1,90
DM/kg vollständig unterrichtet war. Was die für September 1982 vorgesehene
Initiative betrifft, so hatte die Zeitschrift European Chemical News zwar schon im
Juli 1982 die Preisinitiative sowie Höhe und Zeitpunkt angekündigt. Dieser Artikel
stützt jedoch nicht die Behauptung, daß es sich um individuelle Initiativen
gehandelt habe. So heißt es dort u. a.: „Die [PVC-]Hersteller diskutieren eine
Preiserhöhung im September und Oktober (die Spalte .Herstellerpreis' in der
nachstehenden Tabelle gibt die vorgesehenen Zielpreise wieder).“ Tatsächlich
sprechen, wie bereits festgestellt (vorstehend, Randnr. 649), die von der
Kommission vorgelegten Schriftstücke dafür, daß diese Initiative auf einer
Abstimmung der Hersteller dieser Branche beruhte. Die Tatsache, daß Shell erst
Anfang September beschloß, den vereinbarten Zielpreis anzunehmen und im
Oktober 1982 anzuwenden, ist unter diesen Umständen nicht von Bedeutung. Die
Anlage P34 und P39, die von ICI bzw. DSM stammen, zeigen, daß „die
Preisinitiative im Oktober fortgesetzt worden ist“.
- 848.
- Nach alledem ist festzustellen, daß die Klägerin sich von den Regelungen, die die
PVC-Hersteller abgesprochen haben, nicht ferngehalten hat. Die Kommission hat
die Beteiligung der Klägerin an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung zutreffend
festgestellt.
- 849.
- Somit kann das Argument der Klägerin, das sich auf ihre Verkaufsstrategie zu
Beginn der achtziger Jahre bezieht, nicht überzeugen. Tatsächlich konnte die
Klägerin durch ihre Teilnahme an der beanstandeten Zuwiderhandlung ihr
Geschäftsverhalten aufgrund ihrer Kenntnis der Haltung der anderen Hersteller
entsprechend anpassen.
e) LVM
Vorbringen der Klägerin
- 850.
- Erstens bestreitet die Klägerin, an den Herstellersitzungen teilgenommen zu haben,
auf denen die Marktpreise und -anteile erörtert worden seien. Die Beweismittel der
Kommission seien offenkundig unzureichend. So seien zunächst die
Planungsdokumente etwa 30 Monate vor der Gründung von LVM erstellt worden.
Die Erwähnung des Namens von DSM und von SAV, der Muttergesellschaften der
Klägerin, sage nicht das geringste über LVM aus. Die Erklärungen von ICI und
BASF, in denen LVM als Teilnehmer an den Herstellersitzungen genannt werde,
seien unter Vorbehalt abgegeben worden. Es treffe nicht zu, daß die Klägerin in
ihrem Schreiben vom 28. Januar 1988 eine Antwort auf das Auskunftsverlangen
vom 23. Dezember 1987 gemäß Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 abgelehnt habe;
jedenfalls sei dies kein Beweis für ihre Teilnahme an den Sitzungen.
- 851.
- Was zweitens das angebliche Quotensystem betreffe, so sei das einzige Schriftstück,das die Kommission gegen sie angeführt habe, die Atochem-Tabelle, nicht
beweiskräftig. Die Tabelle enthalte nämlich Verkaufszahlen, die erheblich von den
tatsächlichen Verkäufen abwichen.
- 852.
- Drittens wären die Solvay-Tabellen nur dann ein Beweis für die Überwachung der
Verkäufe, wenn sie zutreffend wären, was aber nicht der Fall sei.
- 853.
- Schließlich verweist die Klägerin bezüglich der Zielpreise und Preisinitiativen
darauf, daß schon das Bestehen abgestimmter Preisinitiativen nicht bewiesen sei.
In Wirklichkeit habe sie sich nur vernünftig den Marktbedingungen angepaßt (vgl.
Anlagen P13, P21 und P29 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte).
Würdigung durch das Gericht
- 854.
- LVM ist erst Anfang 1983 gegründet worden. Daher ist die Tatsache, daß der
Name der Klägerin in den früheren Schriftstücken, die die Kommission zur
Stützung ihrer Schlußfolgerungen vorgelegt hat, z. B. in den Planungsdokumenten,
nicht erwähnt ist, ohne Bedeutung für die Beurteilung der Frage, ob dieses
Unternehmen an der Zuwiderhandlung beteiligt war. Die Klägerin kann sich zur
Rechtfertigung ihrer Behauptungen nicht mit Erfolg auf die Anlagen P13, P21 und
P29 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte berufen, die sich auf Ereignisse
beziehen, die vor der Gründung von LVM liegen und DSM betreffen.
- 855.
- LVM ist von ICI als Teilnehmer an den informellen Herstellersitzungen genannt
worden (vgl. vorstehend, Randnr. 675). Die Kommission hat nachgewiesen, daß
diese Sitzungen einen Zweck verfolgten, der gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag
verstieß (vgl. vorstehend, Randnrn. 679 bis 686).
- 856.
- Die Anwesenheit der Klägerin bei diesen Sitzungen ist von BASF bestätigt worden
(vgl. vorstehend, Randnr. 677).
- 857.
- Einige Schriftstücke, die von der Kommission zu Recht als Nachweis für
gemeinsame Preisinitiativen herangezogen worden sind, z. B. die Anlagen P57, P58
und P64, stammen von diesem Unternehmen.
- 858.
- Die Atochem-Tabelle enthält den Namen der Klägerin und die ihr zugeteilten
prozentualen Verkaufsziele; die dort angegebenen Verkaufszahlen kommen den
tatsächlichen Verkaufszahlen dieses Unternehmens sehr nahe (vgl. vorstehend,
Randnr. 608).
- 859.
- Die Tabellen von Solvay verweisen ausdrücklich auf LVM. Von den dort genannten
Zahlen, die die Kommission überprüfen konnte, betreffen zwei die Klägerin und
entsprechen abgerundet in Kilotonnen den tatsächlichen Verkaufszahlen (vgl.
vorstehend, Randnrn. 625 und 628).
- 860.
- Aufgrund all dessen ist die Kommission zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die
Klägerin sich an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung beteiligt hat.
f) Wacker
Vorbringen der Klägerin
- 861.
- Nach Ansicht der Klägerin läßt sich den Planungsdokumenten nicht entnehmen,
daß sie an Diskussionen, Verhandlungen oder Sitzungen teilgenommen habe, auf
die sich die Vorwürfe der Kommission bezögen. Die Auskünfte von ICI und BASF,
in denen sie als Teilnehmer an den Herstellersitzungen genannt werde, seien weder
genau noch glaubwürdig.
- 862.
- Die Klägerin sei weder an einer Quotenregelung noch an einer Ausgleichsregelung,
noch an einem Preiskartell beteiligt gewesen. Es gebe keine Unterlagen, die die
entsprechenden Behauptungen der Kommission bestätigten.
Würdigung durch das Gericht
- 863.
- Wacker ist von ICI als Teilnehmer an den informellen Herstellersitzungen genannt
worden (vgl. vorstehend, Randnr. 675). Die Kommission hat nachgewiesen, daß
diese Sitzungen einen Zweck verfolgten, der gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag
verstieß (vgl. vorstehend, Randnummern 679 bis 686).
- 864.
- Die Anwesenheit der Klägerin bei diesen informellen Sitzungen ist von BASF
bestätigt worden (vgl. vorstehend, Randnr. 677).
- 865.
- Wacker wird in den Planungsdokumenten als möglicher Teilnehmer an dem „neuen
Rahmen für die Sitzungen“ mit dem Anfangsbuchstaben „W“ genannt. Im
entscheidungserheblichen Zeitraum begann nur die Firma Wacker mit diesem
Anfangsbuchstaben.
- 866.
- Mehrere Schriftstücke, die die Kommission zu Recht für den Nachweis
gemeinsamer Preisinitiativen herangezogen hat (vgl. vorstehend, Randnrn. 637 bis
661), z. B. die Anlagen P2, P3, P8, P15, P25, P31, P32, P33, P47, P62 und P65,
stammen von diesem Unternehmen. In diesen Unterlagen wird ausführlich auf
Preisinitiativen, Beschlüsse über Preisanhebungen und intensive Bemühungen der
Branche zur Konsolidierung der Preise Bezug genommen.
- 867.
- Aus den gleichen Gründen, wie sie bereits dargelegt worden sind (vgl. vorstehend,
Randnr. 788), führt das Alcudia-Dokument indirekt Wacker an.
- 868.
- Die Klägerin wird in der Atochem-Tabelle genannt, die, wenn auch
zusammengefaßt, die Absatzdaten und die prozentualen Verkaufsziele der vier
deutschen Hersteller enthält (vgl. vorstehend, Randnr. 612).
- 869.
- Die Tabellen von Solvay enthalten die Verkaufszahlen der Klägerin, die nicht
bestritten worden sind.
- 870.
- Aufgrund all dessen ist die Kommission zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die
Klägerin sich an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung beteiligt hat.
g) Hoechst
Vorbringen der Klägerin
- 871.
- Nach Ansicht der Klägerin ergibt sich aus den Planungsdokumenten nicht, daß sie
an den Diskussionen, Verhandlungen oder Sitzungen teilgenommen habe, auf die
sich die Vorwürfe der Kommission bezögen. Die Auskünfte von ICI und BASF, die
die Klägerin als Teilnehmer an den Herstellersitzungen genannt hätten, seien weder
genau noch glaubwürdig.
- 872.
- Die Klägerin sei weder an einem Quotensystem noch an einer Ausgleichsregelung
noch an einem Preiskartell beteiligt gewesen. Es gebe keine Unterlagen, die die
entsprechenden Behauptungen der Kommission bestätigten.
Würdigung durch das Gericht
- 873.
- Hoechst ist von ICI als Teilnehmer an den informellen Herstellersitzungen genannt
worden (vgl. vorstehend, Randnr. 675). Die Kommission hat nachgewiesen, daß
diese Sitzungen einen Zweck verfolgten, der gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag
verstieß (vgl. vorstehend, Randnrn. 679 bis 686).
- 874.
- Die Anwesenheit der Klägerin bei diesen informellen Sitzungen ist von BASF
bestätigt worden (vgl. vorstehend, Randnr. 677).
- 875.
- Aus den bereits genannten Gründen (vgl. vorstehend, Randnr. 788) führt das
Alcudia-Dokument indirekt Hoechst an.
- 876.
- Die Klägerin wird in der Atochem-Tabelle genannt, die, wenn auch
zusammengefaßt, die Absatzdaten und die prozentualen Verkaufsziele der vier
deutschen Hersteller enthält (vgl. vorstehend, Randnr. 612).
- 877.
- Die Solvay-Tabellen enthalten die Verkaufszahlen der Klägerin, die nicht bestritten
worden sind.
- 878.
- Wenn die Kommission auch keine Preislisten von Hoechst hat erhalten können, die
die Feststellung erlaubt hätten, daß dieses Unternehmen die gemeinsamen
Preisinitiativen durchgeführt hat, zeigen die Anlagen P1 bis P70 doch, daß die
deutschen Hersteller sich von diesen Maßnahmen des Kartells nicht ferngehalten
haben. So wird, abgesehen von den Schriftstücken, wie den Anlagen P1, P6, P15,
P19, P22, P26, P29, P32, P45 und P48, in denen auf „allgemeine Initiativen“ zur
Anhebung „sämtlicher europäischer Preise“ oder auf „Initiativen der Branche“
Bezug genommen wird, in einigen Anlagen speziell der deutsche Markt aufgeführt,
so daß der Schluß zulässig ist, daß die Preisinitiativen dort angekündigt und
durchgeführt wurden. Dies ergibt sich namentlich aus den Anlagen P23, P24, P26,
P29, P30, P41 und P58.
- 879.
- Aufgrund all dessen ist die Kommission zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die
Klägerin sich an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung beteiligt hat.
h) SAV
Vorbringen der Klägerin
- 880.
- Die Klägerin bestreitet, daß es Beweise für ihre Beteiligung an dem angeblichen
Kartell gebe. Die drei Schriftstücke, die die Kommission gegen sie herangezogen
habe, seien nicht beweiskräftig.
- 881.
- Die „checklist“, eines der Planungsdokumente, sei nur ein internes Schriftstück von
ICI. Es handele sich nur um einen einseitigen Vorschlag dieses Unternehmens. Die
Klägerin werde dort nur als PVC-Hersteller oder Unternehmen, dessen Teilnahme
an der in diesem Dokument genannten Gruppe von Unternehmen von ICI für
möglich gehalten worden sei, nicht aber als Teilnehmerin an dem Kartell genannt.
Es gebe keinen Beweis dafür, daß dieser Vorschlag an andere Hersteller gerichtet
oder von diesen angenommen worden sei. Die „response to proposals“ könne keine
Antwort auf die „checklist“ sein, da sie vor dieser erstellt worden sei. Jedenfalls
beweise die „response to proposals“ nicht, daß SAV sich daran beteiligt habe, da
ihr Name dort nicht genannt werde.
- 882.
- In der Antwort von ICI vom 5. Juni 1984 auf das Auskunftsverlangen der
Kommission vom 30. April 1984 werde nur für das Jahr 1983 genau angegeben,
wann und wo die Sitzungen stattgefunden hätten; SAV habe aber jede unmittelbare
Produktions- und Vertriebstätigkeit auf dem PVC-Markt zum 1. Januar 1983
eingestellt. Zudem sei diese Antwort unbestimmt formuliert und unter Vorbehalt
abgegeben worden. Die Klägerin habe dagegen stets bestritten, an Sitzungen
teilgenommen zu haben, und sei von BASF nicht als Teilnehmer an den Sitzungen
genannt worden (Entscheidung, Randnr. 26, Fußnote 10). Unterstellt, daß SAV an
einigen Sitzungen teilgenommen hätte, sei jedenfalls nicht bewiesen, daß dort über
Preise oder Mengen diskutiert worden sei. Die Kommission habe im übrigen die
Ausführungen von ICI entstellt, die stets erklärt habe, daß die Sitzungen keinen
wettbewerbswidrigen Zweck verfolgt hätten.
- 883.
- Was die Solvay-Tabellen betreffe, so seien die der Klägerin für den französischen
Markt zugewiesenen Verkaufszahlen keineswegs genau, wie die Kommission
behaupte, sondern wichen um 8 % bis 25 % von den tatsächlichen Verkäufen der
Klägerin ab. Somit sei nicht bewiesen, daß die Klägerin an einem
Informationsaustausch, der eine eigene Zuwiderhandlung darstelle, oder an einer
Absprache beteiligt gewesen sei, die sich auf den Informationsaustausch gestützt
habe.
- 884.
- Eine Teilnahme der Klägerin an dem angeblichen Kartell wäre jedenfalls nicht
einleuchtend. Seit 1977 als Neuling auf dem PVC-Markt habe sie unter den
ungünstigen Bedingungen eines durch Überkapazität gekennzeichneten Marktes
eine aggressive Politik geführt, die durch eine Erhöhung der verkauften Mengen
und ihrer Marktanteile zum Ausdruck gekommen sei. Tatsächlich habe die Klägerin
kein Interesse an einer Teilnahme an einem Kartell wie dem von der Kommission
behaupteten gehabt. Die Kommission könne sich im übrigen nicht hinter der
Behauptung verschanzen, daß die Herstellersitzungen jedenfalls einen
wettbewerbswidrigen Zweck verfolgten, da gerade kein oder kein ausreichender
Beweis für die Teilnahme von SAV an diesen Sitzungen vorliege.
Würdigung durch das Gericht
- 885.
- Die Klägerin ist von ICI als Teilnehmer an den informellen Herstellersitzungen
genannt worden (vgl. vorstehend, Randnr. 675). Die Kommission hat nachgewiesen,
daß diese Sitzungen einen Zweck verfolgten, der gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag verstieß (vgl. vorstehend, Randnrn. 679 bis 686). Zwar hat ICI nur für das
Jahr 1983 genau angegeben, wann und wo die Sitzungen stattgefunden haben, doch
hat sie auch erklärt, daß informelle Sitzungen „vom August 1980 an“ ungefähr
monatlich stattgefunden haben (vgl. vorstehend, Randnr. 675). Die Kommission
sieht daher zu Recht in der Antwort von ICI einen Beleg für die Teilnahme der
Klägerin an der Zuwiderhandlung.
- 886.
- Die Klägerin erscheint in den Planungsdokumenten als möglicher Teilnehmer an
dem geplanten „neuen Rahmen für die Sitzungen“. Wie sich aus der Entscheidung
ergibt, sind die Planungsdokumente nur ein „Plan für ein Kartell“ und können
daher nicht als Beweis für die Teilnahme der Klägerin an der beanstandeten
Zuwiderhandlung angesehen werden. Die Tatsache, daß die Klägerin dort genannt
wird, stellt jedoch angesichts der engen Korrelation zwischen den dort
beschriebenen Verhaltensweisen und den in den folgenden Wochen auf dem Markt
festgestellten Verhaltensweisen (vgl. vorstehend, Randnrn. 662 bis 673) ein Indizfür die Teilnahme dar.
- 887.
- Aus den vorstehend dargelegten Gründen (vgl. vorstehend, Randnr. 788) führt das
Alcudia-Dokument, das zusammen mit anderen Unterlagen Regelungen über den
Ausgleich zwischen den PVC-Herstellern belegt, indirekt die Klägerin an.
- 888.
- Was die Solvay-Tabellen angeht, so hat SAV eine Tabelle vorgelegt, bei der es sich
um einen Auszug aus ihrer Buchführung handelt und die belegen soll, daß die für
die Klägerin genannten Verkaufszahlen, d. h. die für den französischen Markt
zwischen 1980 und 1982, erheblich und zwar in einer Größenordnung von 8 % bis
25 % von den tatsächlichen Verkaufszahlen abweichen. Zwar läßt sich nicht
feststellen, ob die von SAV vorgelegten Zahlen, die aus ihrer Buchführung
stammen, in der gleichen Weise wie die in den Solvay-Tabellen berechnet sind. Da
die Kommission die Zahlen jedoch nicht ernsthaft bestritten hat, können die
Solvay-Tabellen nicht als Beweis gegenüber der Klägerin angesehen werden.
- 889.
- Wenn die Kommission auch keine Preislisten von SAV hat erlangen können, die
die Feststellung erlaubt hätten, daß dieses Unternehmen die gemeinsamen
Preisinitiativen durchgeführt hat, zeigen die Anlagen P1 bis P70 doch, daß die
französischen Hersteller diesen Maßnahmen des Kartells nicht ferngeblieben sind.
So wird, abgesehen von den Dokumenten, wie den Anlagen P1, P6, P15, P19, P22,
P26, P29, P32, P45 und P48, in denen auf „allgemeine Initiativen“ zur Anhebung
„sämtlicher europäischer Preise“ oder auch auf „Initiativen der Branche“ Bezug
genommen wird, in einigen Anlagen speziell der französische Markt aufgeführt, so
daß der Schluß zulässig ist, daß die Preisinitiativen dort angekündigt und
durchgeführt wurden. Dies ergibt sich namentlich aus den Anlagen P21, P23, P24,
P30, P31 und P38.
- 890.
- Zwar ist in zwei Schriftstücken von dem aggressiven Preisverhalten französischer
Hersteller die Rede, doch kann dies die Feststellung der Kommission nicht
entkräften. Erstens hat die Kommission dem nämlich bei ihrer Prüfung des
Sachverhalts und ihrer rechtlichen Würdigung Rechnung getragen (vgl. vorstehend,
Randnr. 801). Zweitens entkräftet die Tatsache, daß die Klägerin gelegentlich eine
Preisinitiative nicht durchgeführt hat, nicht die Schlußfolgerung der Kommission;
diese hat sich nämlich bei den Unternehmen, für die sie keine Preislisten erlangen
konnte, auf die Feststellung beschränkt, daß diese Unternehmen jedenfalls an den
Herstellersitzungen teilgenommen haben, die in erster Linie der Festsetzung von
Preiszielen (vgl. vorstehend, Randnrn. 774 ff.) und nicht der tatsächlichen
Durchführung dieser Initiativen dienten (Urteil Atochem/Kommission,
Randnr. 100).
- 891.
- Aufgrund all dessen ist festzustellen, daß die von der Kommission vorgelegten
Unterlagen hinreichend beweisen, daß sich die Klägerin entgegen ihren
Behauptungen an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung beteiligt hat. Das
Gericht wird jedoch zu prüfen haben, ob die vorstehenden Ausführungen
insbesondere zu den Solvay-Tabellen die Feststellungen der Kommission zur Dauer
der Beteiligung der Klägerin an der Zuwiderhandlung berühren.
i) Montedison
Vorbringen der Klägerin
- 892.
- Die Klägerin verweist zunächst darauf, daß sie weder in den Planungsdokumenten
noch in der Atochem-Tabelle genannt sei.
- 893.
- Zudem seien die gegen sie verwendeten Beweismittel nicht beweiskräftig.
- 894.
- Erstens beweise die Tatsache, daß sie von ICI und BASF als Teilnehmer zumindest
an einigen Sitzungen genannt worden sei, nichts, was vorwerfbar wäre. Zudem sei
nur Montedison und nicht Montedipe von ICI und BASF aufgeführt worden, da
Montedison ihre PVC-Produktion zum 1. Januar 1981 eingestellt habe; dies
bedeute, daß ihre Teilnahme vor diesem Zeitpunkt beendet gewesen sei.
- 895.
- Was zweitens den Austausch von im übrigen allgemein zugänglichen Informationen
über den italienischen Markt angehe, so habe die Kommission nicht die
Anmerkungen am Ende der Seite des von ihr herangezogenen Schriftstücks
wiedergegeben, wo ausdrücklich der lebhafte Wettbewerb auf dem Markt erwähnt
werde.
- 896.
- Drittens beweise das Alcudia-Dokument nicht die Teilnahme an einer
Ausgleichsregelung. Die Klägerin bestreitet, daß eine solche Regelung jemals
angewandt worden sei; kein italienisches Unternehmen sei einer solchen Regelung
einzeln beigetreten, wie die Tatsache belege, daß das streitige Schriftstück die
italienischen Hersteller nur allgemein erwähne. Selbst wenn eine solche Regelung
tatsächlich angewandt worden wäre, hätte es sich nur um eine dieser aufgrund
zweiseitiger Vereinbarungen getroffenen Rationalisierungsmaßnahmen gehandelt,
die die Kommission selbst anstelle des Krisenkartells empfohlen habe.
- 897.
- Viertens betreffe keine der von der Kommission festgestellten Preisinitiativen
Montedipe, die damalige Eigentümerin des Unternehmens. Jedenfalls hätten die
begangenen Zuwiderhandlungen nur darin bestanden, einen Idealpreis zu finden,
der die Verluste der Hersteller habe verringern sollen. Tatsächlich sei der von
Montedipe tatsächlich verlangte Preis stets eindeutig niedriger als der Zielpreis
gewesen und sei auch stets vom Marktpreis abgewichen, was offenkundig belege,
daß die Klägerin völlig selbständig gehandelt habe.
Würdigung durch das Gericht
- 898.
- Tatsächlich wird, wie die Klägerin ausgeführt hat, Montedison weder in den
Planungsdokumenten noch in der Atochem-Tabelle genannt. Letztere betrifft einen
Zeitraum, in dem Montedison den PVC-Markt bereits verlassen hatte. Dies ergibt
sich namentlich aus den Randnummern 7 und 13 der Entscheidung.
- 899.
- Montedison ist von ICI als Teilnehmer an den informellen Herstellersitzungen
genannt worden (vgl. vorstehend, Randnr. 675). Die Klägerin hat diese Sitzungen
bestätigt, und die Kommission hat nachgewiesen, daß deren Zweck gegen Artikel
85 Absatz 1 EG-Vertrag verstieß (vgl. vorstehend, Randnrn. 679 bis 686).
- 900.
- Die Anwesenheit von Montedison bei diesen Sitzungen ist von BASF bestätigt
worden (vgl. vorstehend, Randnr. 677).
- 901.
- Zwar haben ICI und BASF Montedison und nicht Montedipe angeführt, die die
PVC-Produktion von Montedison vom 1. Januar 1981 an übernommen hatte. Dies
rechtfertigt jedoch nicht den Schluß, daß sich Montedison schon vom 1. Januar
1981 an von der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung ferngehalten hat.
- 902.
- Auch wenn Montedison ihre Produktionstätigkeit auf Montedipe im Januar 1981
übertragen hatte, stellte sie doch erst 1983 jede Tätigkeit im PVC-Bereich ein (vgl.
namentlich Randnr. 13, erster Absatz, der Entscheidung). Die Klägerin hat zudem
auf eine Frage des Gerichts eingeräumt, daß sie in diesem gesamten Zeitraum
unmittelbar oder über von ihr kontrollierte Gesellschaften das gesamte
Gesellschaftskapital von Montedipe in Besitz hatte. Schließlich ist der Vermerk von
ICI vom 15. April 1981, der zusätzlich ein Beleg für die Regelungen zur
Überwachung der Verkaufsmengen der Hersteller ist, die Abschrift einer Mitteilung
des Leiters des petrochemischen Geschäftsbereichs von Montedison (vgl.
vorstehend, Randnrn. 599 bis 601), was bestätigt, daß dieses Unternehmen
entgegen seiner Behauptung der ihm vorgeworfenen Zuwiderhandlung nicht
ferngeblieben ist.
- 903.
- Aus den bereits dargestellten Gründen (vgl. vorstehend, Randnr. 788) führt das
Alcudia-Dokument, das einer der Belege für die Durchführung einer
Ausgleichsregelung der PVC-Hersteller ist, indirekt Montedison an. Die Klägerin
kann nicht mit Erfolg behaupten, daß die Kommission eine solche Regelung im Juli
1982 bei Gesprächen mit neun europäischen Herstellern über die Umstrukturierung
des petrochemischen Sektors empfohlen habe. Die Kommission hat bei dieser
Gelegenheit nämlich nicht nur jede Preis- oder Verkaufsquotenregelung der
Hersteller abgelehnt, sondern diese Gespräche haben darüber hinaus stattgefunden,
nachdem die von der Kommission im vorliegenden Fall nachgewiesene
Ausgleichsregelung angewandt worden war.
- 904.
- Zudem wird in dem Vermerk von ICI vom 15. April 1981 auf die Quotenregelung
verwiesen. Dieser Vermerk ist die Abschrift einer Mitteilung von Herrn Diaz, dem
ehemaligen Generaldirektor des Geschäftsbereichs Petrochemie von Montedison,
an ICI (vgl. vorstehend, Randnrn. 599 bis 601).
- 905.
- Was die Solvay-Tabellen bezüglich des italienischen Marktes betrifft (Anlagen 33
bis 41 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte), kann die Klägerin aus den bereits
genannten Gründen (vgl. vorstehend, Randnrn. 629 bis 635) nicht behaupten, daß
die dort enthaltenen Verkaufszahlen anhand allgemein zugänglicher Informationen
hätten bestimmt werden können. Zwar weist die zweite Fußnote in der Anlage 34
auf einen lebhaften Wettbewerb hin, doch erklärt dies noch nicht, wie Solvay die
Verkaufszahlen jedes ihrer Konkurrenten kennen konnte. In der ersten Fußnote
in diesem Schriftstück heißt es: „Die Aufteilung des nationalen Marktes unter die
verschiedenen Hersteller für 1980 wurde auf der Grundlage eines
Informationsaustauschs mit unseren Kollegen vorgenommen“ (vgl. vorstehend,
Randnr. 629).
- 906.
- Bezüglich der Preisinitiativen, die, wie die Kommission nachgewiesen hat, unter
Verstoß gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag abgesprochen waren (vgl.
vorstehend, Randnrn. 637 bis 661), hat die Klägerin eine Tabelle vorgelegt, in der
die von der Kommission behaupteten Zielpreise mit den tatsächlich von
Montedison verlangten Preisen verglichen werden (Nr. 10 der Klageschrift). Die
Klägerin schließt aus dem Unterschied zwischen diesen, daß sie an den
Preisinitiativen nicht habe beteiligt sein können. Sie gibt jedoch weder die Quelle
der Zahlen, die angeblich die tatsächlich von ihr verlangten Preise darstellen, noch
den genauen Zeitpunkt an, für den diese tatsächlich verlangten Preise belegt sind.
Jedenfalls zeigt diese Tabelle, daß die tatsächlich von der Klägerin verlangten
Preise, selbst wenn man sie als richtig unterstellt, unter den Zielpreisen lagen; die
Kommission hat aber stets eingeräumt, daß es den Unternehmen nicht gelungen
ist, die Zielpreise auch zu erreichen. Schließlich wird der Klägerin ebenso wie
anderen Herstellern nicht die Durchführung der Preisinitiativen vorgeworfen, da
die Kommission von ihr keine Unterlagen über die Preise hat erlangen können,
sondern die Beteiligung an den informellen Herstellersitzungen, auf denen die
Festsetzung von Zielpreisen beschlossen wurde (vgl. vorstehend, Randnrn. 774 bis
777).
- 907.
- Im übrigen zeigen die Anlagen P1 bis P70, daß die italienischen Hersteller diesen
Maßnahmen des Kartells nicht ferngeblieben sind. So wird, abgesehen von den
Schriftstücken, wie den Anlagen P1, P6, P15, P19, P22, P26, P29, P32, P45 und P48,
in denen auf „allgemeine Initiativen“ zur Anhebung „sämtlicher europäischer
Preise“ oder auch auf „Initiativen der Branche“ Bezug genommen wird, in einigen
Anlagen speziell der italienische Markt aufgeführt, so daß der Schluß zulässig ist,
daß die Preisinitiativen in Italien durchgeführt werden sollten, selbst wenn diese
Anlagen zeigen, daß die vorgesehene Erhöhung gelegentlich ausblieb, was zu
kritischen Äußerungen der Konkurrenten führte. Dies ergibt sich namentlich aus
den Anlagen P9, P24, P26 und P28.
- 908.
- Aufgrund all dessen ist die Kommission zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die
Klägerin sich an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung beteiligt hat.
j) Hüls
Vorbringen der Klägerin
- 909.
- Die Klägerin macht erstens geltend, es lasse sich nicht die geringste Verbindung
zwischen ihr und den Planungsdokumenten herstellen. So sei nicht bewiesen, daß
die „checklist“, die von einem Dritten erstellt worden sei, die Klägerin erreicht
habe oder daß diese an der Ausarbeitung der „response to proposals“ mitgewirkt
und damit den angeblichen Planungen zugestimmt habe. Die Abkürzung „H“ auf
diesen Schriftstücken bedeute nicht zwangsläufig „Hüls“: Zum einen seien Hüls und
Hoechst 1984 zwei ungefähr gleich große deutsche Hersteller gewesen, und zum
anderen sei der Buchstabe H 1980 der Anfangsbuchstabe von fünf PVC-Herstellern
gewesen. Die Vermutung der Kommission falle somit in sich zusammen, zumal bis
1985 die Firma der Klägerin nicht Hüls AG, sondern Chemische Werke Hüls AG,
allgemein bekannt unter der Abkürzung CWH, gewesen sei.
- 910.
- Zweitens sei der Beweis für die Teilnahme der Klägerin an rechtswidrigen
Sitzungen und für die Regelmäßigkeit dieser Beteiligung nicht erbracht, da es keine
Protokolle gebe. Die Erklärungen von ICI und BASF seien nicht beweiskräftig, da
diese beiden Unternehmen stets einen rechtswidrigen Zweck der Sitzungen
bestritten hätten.
- 911.
- Drittens sei die Beteiligung der Klägerin an den Preisinitiativen nicht bewiesen, da
keine unternehmensinternen Preisunterlagen vorlägen. Eine solche Beteiligung
könne auch nicht aus der Beteiligung an den Sitzungen hergeleitet werden, da die
Klägerin an den rechtswidrigen Sitzungen gerade nicht teilgenommen habe.
- 912.
- Viertens sei der Vermerk von ICI vom 15. April 1981 kein Beleg für die
Beteiligung der Klägerin an einem Quotensystem. Die Beteiligung an der
angeblichen Ausgleichsregelung zur Verstärkung der Quotenregelung sei ebenfalls
nicht bewiesen. Im übrigen sei die Atochem-Tabelle nicht beweiskräftig, da die dort
aufgeführten Zahlen erheblich von den tatsächlichen Verkäufen abwichen.
- 913.
- Schließlich habe die Kommission nicht den Beweis erbracht, daß die Klägerin an
dem angeblichen Informationsaustausch beteiligt gewesen sei. Die Solvay-Tabellen
seien nämlich nicht beweiskräftig.
Würdigung durch das Gericht
- 914.
- Hüls ist von ICI als Teilnehmer an den informellen Herstellersitzungen genannt
worden (vgl. vorstehend, Randnr. 675), deren wettbewerbswidrigen Zweck die
Kommission nachgewiesen hat (vgl. vorstehend, Randnrn. 679 bis 686).
- 915.
- Die Anwesenheit von Vertretern der Klägerin bei den Sitzungen ist von BASF
bestätigt worden (vgl. vorstehend, Randnr. 677).
- 916.
- Nach den Planungsdokumenten sollte die „Planungsgruppe der 6“ sich aus „S“,
„ICI“, „W“, „H“ und „der neuen französischen Gesellschaft“ zusammensetzen.
Nach dem Hinweis, daß ICI es abgelehnt habe, die Identität der auf diese Weise
bezeichneten Unternehmen zu bestätigen, führt die Kommission in der
Entscheidung (Randnr. 7) aus, daß „sich aus dem Kontext und aus der Liste der
voraussichtlichen Teilnehmer [ergab], daß ... .H' aller Wahrscheinlichkeit nach
Hüls, der größte westdeutsche PVC-Hersteller (Hoechst als der einzige andere in
Frage kommende Hersteller war nur ein unbedeutender PVC-Produzent)“,
bedeute.
- 917.
- Die Klägerin bestreitet zunächst, daß „H“ Hüls bedeuten kann. Bis 1985 sei
nämlich die vollständige Bezeichnung der Klägerin Chemische Werke Hüls AG und
die entsprechende Abkürzung CWH gewesen. Dieses Argument greift nicht durch.
In den Planungsdokumenten werden nämlich die voraussichtlichen Teilnehmer an
dem „neuen Rahmen für die Sitzungen“ mit bloßen Anfangsbuchstaben und nicht
unter der offiziellen, anerkannten Abkürzung genannt. Zudem beziehen sich sowohl
die Atochem-Tabelle als auch die Antwort von ICI auf ein Auskunftsverlangen, die
aus dem Jahr 1984 stammen, auf Hüls. Ebenso zeigen mehrere Anlagen zur
Klageschrift, die vom Beginn der achtziger Jahre stammen, ein Geschäftspapier, auf
dem in Großbuchstaben der Name Hüls und in Kleinbuchstaben die Abkürzung
„CWH“ stehen. Wenn „Hüls“ somit nicht die offizielle Bezeichnung der Klägerin
war, war sie offenkundig doch die gebräuchliche.
- 918.
- Wie die Kommission in ihrer Entscheidung ausgeführt hat, war Hüls zum Zeitpunkt
der Ausarbeitung der Planungsdokumente der wichtigste deutsche Hersteller und
Verkäufer von PVC und einer der größten Hersteller in Europa. Dies wird durch
die Antworten der Klägerinnen auf eine Frage des Gerichts bestätigt. Zudem waren
die vier anderen als mögliche Teilnehmer an der „Planungsgruppe“ genannten
Unternehmen ebenfalls die wichtigsten europäischen PVC-Hersteller im Jahr 1980.
- 919.
- Aus den bereits genannten Gründen (vgl. vorstehend, Randnummer 788) führt das
Alcudia-Dokument über die Ausgleichsregelungen indirekt Hüls an.
- 920.
- Die Klägerin wird in der Atochem-Tabelle genannt, die, wenn auch
zusammengefaßt, die Absatzdaten und die prozentualen Verkaufsziele der vier
deutschen Hersteller enthält (vgl. vorstehend, Randnr. 612).
- 921.
- Hüls wird auch in den Solvay-Tabellen genannt. Von den angeführten
Verkaufszahlen, die die Kommission überprüfen konnte, betreffen drei die
Klägerinnen und sind zutreffend (vgl. vorstehend, Randnr. 627).
- 922.
- Wenn die Kommission auch keine Preislisten von Hüls hat erlangen können, die
die Feststellung erlaubt hätten, daß dieses Unternehmen die gemeinsamen
Preisinitiativen durchgeführt hat, zeigen die Anlagen P1 bis P70 doch, daß die
deutschen Hersteller dieser Maßnahme des Kartells nicht ferngeblieben sind. So
wird, abgesehen von den Schriftstücken, wie den Anlagen P1, P3, P15, P19, P22,
P26, P29, P32, P45 und P48, in denen auf „allgemeine Initiativen“ zur Anhebung
„sämtlicher europäischer Preise“ oder auf „Initiativen der Branche“ Bezug
genommen wird, in einigen Anlagen speziell der deutsche Markt angeführt, so daß
der Schluß zulässig ist, daß die Preisinitiativen dort angekündigt und angewandt
wurden. Dies ergibt sich namentlich aus den Anlagen P23, P24, P26, P29, P30, P41
und P58.
- 923.
- Aufgrund all dessen ist die Kommission zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die
Klägerin sich an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung beteiligt hat.
k) Enichem
Vorbringen der Klägerin
- 924.
- Nach Ansicht der Klägerin hat die Kommission nicht bewiesen, daß sie an einer der
Maßnahmen des Kartells beteiligt gewesen sei.
- 925.
- Erstens könne der Klägerin keinerlei Verantwortung für den Ursprung des Kartells
angelastet werden. Sie habe nämlich an der Abfassung der Planungsdokumente
nicht mitgewirkt. Allein die Tatsache, daß sie ohne ihr Wissen von dritten
Unternehmen, die sie zur Teilnahme an den Sitzungen hätten einladen wollen,
genannt worden sei, könne eine solche Verantwortung nicht begründen. Schließlich
sei nicht bewiesen, daß die „response to proposals“ tatsächlich die Antwort der
Adressaten der „checklist“ gewesen sei.
- 926.
- Was zweitens die Herstellersitzungen angehe, so hätten ICI und BASF die Namen
von Anic oder Enichem angeführt. Von Oktober 1981 bis Februar 1983 habe es
keine Produktionsgesellschaft gegeben, die vollständig oder teilweise so geheißen
habe. Jedenfalls hätte die Kommission noch nachweisen müssen, wer die
Teilnehmer gewesen seien und mit welcher Regelmäßigkeit sie
zusammengekommen seien.
- 927.
- Drittens gebe es keinen Beweis dafür, daß die Klägerin an den Preisinitiativen
beteiligt gewesen sei. Das Fehlen interner Preisunterlagen von Enichem brauche
nicht, wie die Kommission meine, zu bedeuten, daß diese Unterlagen, weil
belastend, versteckt oder zerstört worden seien. Dieses Argument, das reine
Spekulation sei, verstoße gegen den Grundsatz, nach dem die Kommission die
Beweislast trage. Im übrigen gebe es nicht einmal einen Anhaltspunkt für eine
Beteiligung der Klägerin an den Sitzungen, die nach Meinung der Kommission den
Preiserhöhungen vorangegangen seien. Vielmehr zeigten mehrere Schriftstücke, daß
Enichem auf dem italienischen Markt eine aggressive Preispolitik verfolgt habe.
- 928.
- Was viertens die Quoten betreffe, so würden Enichem oder Anic nur in der
Atochem-Tabelle erwähnt. Dieses Schriftstück allein sei aber nicht nur
unzureichend, um die Beteiligung der Klägerin zu belegen, sondern darüber hinaus
auch ohne Beweiswert, wenn man den erheblichen Unterschied zwischen den dort
genannten Verkaufszahlen (alle über 14 %) und den tatsächlichen Zahlen (12,3 %)
betrachte. Unter diesen Umständen zeige die Feststellung, wonach während des
Untersuchungszeitraums sich die Marktanteile erheblich geändert hätten, daß es
kein Quotenkartell gegeben habe.
- 929.
- Fünftens seien das einzige Beweismittel für die Beteiligung von Enichem an der
Absatzkontrolle die Solvay-Tabellen. Diese seien aber nicht beweiskräftig.
- 930.
- Da es keine Beweise gegen Enichem gebe, sei es ohne Bedeutung, daß diese
Beweise in ihrer Gesamtheit und nicht einzeln zu würdigen seien. Jedenfalls seien
die vier Schriftstücke, in denen der Name der Klägerin auftauche (Anlagen 3, 10
und 34 sowie die Erklärungen von BASF und ICI) zu vereinzelt, um die anhaltende
Beteiligung der Klägerin an einem komplexen Kartell zu belegen, zumal die
aggressive Politik von Enichem bewiesen sei.
Würdigung durch das Gericht
- 931.
- Sowohl Anic als auch Enichem, der das Verhalten von Anic zugerechnet worden
ist, sind von ICI als Teilnehmer an den Sitzungen genannt worden (vgl. vorstehend,
Randnr. 675). Die Kommission hat nachgewiesen, daß diese Sitzungen einen
wettbewerbswidrigen Zweck verfolgten (vgl. vorstehend, Randnrn. 679 bis 686).
- 932.
- Die Anwesenheit von Anic und Enichem bei den Sitzungen ist von BASF bestätigt
worden (vgl. vorstehend, Randnr. 677).
- 933.
- Enichem trägt jedoch vor, daß es zwischen Oktober 1981 und Februar 1983 keine
PVC-Produktionsgesellschaft mit dem Namen Anic oder Enichem gegeben habe,
so daß die Antworten von ICI und BASF einen Schluß auf die Teilnahme der
Klägerin in dieser Zeit nicht zuließen. Dieses Argument ist zurückzuweisen.
Tatsächlich hatte, wie die Kommission ausgeführt hat, die Gruppe, zu der die
Klägerin gehört, den PVC-Bereich in dieser Zeit nicht verlassen, sondern ihre
Tätigkeiten in diesem Sektor auf ein gemeinsames Unternehmen übertragen.
Sämtliche Tätigkeiten dieses Unternehmens im PVC-Bereich stammten von der
Gruppe ENI und wurden von dieser im Februar 1983 wieder übernommen. Im
übrigen zeigen die Solvay-Tabellen für das Jahr 1982 für den italienischen Markt,
daß dieses gemeinsame Tochterunternehmen die Teilnahme an der beanstandeten
Zuwiderhandlung fortgesetzt hat. Schließlich war Anic selbst nicht verschwunden,
da sie erst Ende 1982 das Kapital einer anderen Gesellschaft der Gruppe ENI,
nämlich SIL, die selbst Produktionsanlagen für PVC in Italien besaß, auf das
betreffende Gemeinschaftsunternehmen übertragen hatte.
- 934.
- Anic ist eines der Unternehmen, die in den Planungsdokumenten genannt werden.
Angesichts der engen Korrelation zwischen den in diesen Dokumenten
beschriebenen Verhaltensweisen und den in den darauf folgenden Wochen auf dem
PVC-Markt festgestellten sind diese Schriftstücke, auch wenn es sich, wie die
Klägerinnen behaupten, um interne Unterlagen von ICI handeln sollte, ein Indiz
für die Beteiligung der Klägerin an der beanstandeten Zuwiderhandlung.
- 935.
- In der Atochem-Tabelle, die ein zusätzlicher Beleg für eine Quotenregelung ist,
sind sowohl der Name der Klägerin als auch ihre Verkaufszahlen für das erste
Quartal 1984 sowie ein ihr zugewiesenes prozentuales Verkaufsziel angegeben. Die
Behauptung der Klägerin, daß die sie betreffenden Verkaufszahlen nicht richtig
seien, ist bereits geprüft und zurückgewiesen worden (vgl. vorstehend,
Randnr. 615).
- 936.
- Aus den bereits dargelegten Gründen (vgl. vorstehend, Randnr. 788) führt das
Alcudia-Dokument über die Ausgleichsregelungen der Hersteller indirekt Enichem
an.
- 937.
- Das Argument, daß die Marktanteile der Hersteller sich im Untersuchungszeitraum
grundlegend geändert hätten, was gegen eine Quotenregelung spreche, wird auf den
bloßen Hinweis auf die „tatsächlichen Gegebenheiten“ gestützt (Erwiderung, S. 23),
ohne daß ein Beweismittel hierfür angeführt wird. Jedenfalls lassen, wie sich aus
der Entscheidung selbst ergibt, die Schriftstücke, die Ausgleichsregelungen der
Hersteller belegen, auch die Schlußfolgerung zu, daß diese Regelungen nicht richtig
funktioniert haben (vgl. vorstehend, Randnr. 588 und 597). Schließlich ist die
Entwicklung der Marktanteile in dem besonderen Fall von Enichem ohne
Bedeutung, da die Gruppe in dem Zeitraum der Zuwiderhandlung durch den
Erwerb der Geschäftstätigkeiten von Konkurrenten im PVC-Sektor oft
umstrukturiert worden ist.
- 938.
- In den Solvay-Tabellen werden der Name der Klägerin und ihr Absatz auf dem
italienischen Markt genannt. Zudem enthält die Tabelle, die als Anlage 34 der
Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügt war, folgenden Kommentar: „Die
Aufteilung des nationalen Marktes unter die verschiedenen Hersteller für 1980
wurde auf der Grundlage eines Informationsaustauschs mit unseren Kollegen
vorgenommen ...“ Da das Kartell seinen Ursprung in den Planungsdokumenten hat,
die vom August 1980 stammen, konnte der Austausch gerade für dieses Jahr 1980
erstmals wirksam werden (vgl. vorstehend, Randnr. 629).
- 939.
- Die Klägerin macht noch geltend, die Kommission hätte angeben müssen, welche
Unternehmen an den einzelnen Sitzungen teilgenommen hätten, und folglich dartun
müssen, mit welcher Regelmäßigkeit jedes Unternehmen daran teilgenommen
habe. Die Feststellung, mit welcher Regelmäßigkeit ein Unternehmen an den
Herstellersitzungen teilgenommen hat, berührt nicht dessen Beteiligung an der
Zuwiderhandlung, sondern den Grad seiner Beteiligung. Zu verlangen, daß die
Kommission nachweist, mit welcher Regelmäßigkeit ein Unternehmen an derartigen
Sitzungen teilgenommen hat, würde die Ahndung eines Unternehmenskartells
praktisch unmöglich machen, wenn nicht gerade Protokolle oder Berichte über
rechtswidrige Sitzungen gefunden würden, in denen die Teilnehmer namentlich
aufgeführt sind. Schließlich trifft es zwar zu, daß ICI und BASF in ihren Antworten
auf die Auskunftsverlangen angegeben haben, daß die von ihnen genanntenUnternehmen teils regelmäßiger, teils weniger regelmäßig an den Sitzungen
teilgenommen hätten (vgl. vorstehend, Randnrn. 675 und 677), doch hat die
Kommission dem gebührend Rechnung getragen (namentlich Randnr. 8, dritter
Absatz, und Randnr. 26, dritter Absatz, der Entscheidung). Sie hat diesen Umstand
auch bei der Bemessung der Geldbußen berücksichtigt (Randnr. 53 der
Entscheidung), unbeschadet der Prüfung der Lage der Unternehmen, deren
führende oder umgekehrt begrenzte Rolle zutage getreten ist. Hätte die
Kommission den Beweis für die Teilnahme jedes Unternehmens an sämtlichen
Herstellersitzungen erlangen können, in denen fast vier Jahre lang abgestimmte
Preisinitiativen und Quotenregelungen festgelegt wurden, erschienen die verhängten
Geldbußen, die 3 200 000 ECU nicht übersteigen, verhältnismäßig gering angesichts
der Schwere der Zuwiderhandlung.
- 940.
- Schließlich zeigen die Anlagen P1 bis P70, daß die italienischen Hersteller den
Preisinitiativen nicht ferngeblieben sind. So wird, abgesehen von den Schriftstücken,
wie den Anlagen P1, P6, P15, P19, P22, P26, P29, P32, P45 und P48, in denen auf
„allgemeine Initiativen“ zur Anhebung „sämtlicher europäischer Preise“ oder aber
auf „Initiativen der Branche“ Bezug genommen wird, in einigen Anlagen speziell
der italienische Markt aufgeführt, so daß der Schluß zulässig ist, daß die
Preisinitiativen in Italien durchgeführt werden sollten, selbst wenn die Anlagen
zeigen, daß die vorgesehene Erhöhung gelegentlich ausblieb, was zu kritischen
Äußerungen der Konkurrenten führte. Dies ergibt sich namentlich aus den Anlagen
P9, P24, P26, P28 und P58.
- 941.
- Aufgrund all dessen ist die Kommission zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die
Klägerin an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung beteiligt war.
D Zur Zurechenbarkeit der Zuwiderhandlung und zur Frage des richtigen Adressaten
der Entscheidung
1. Zur Zurechenbarkeit der Zuwiderhandlung
Vorbringen der Klägerinnen
- 942.
- Elf Atochem wendet sich gegen die Begründung der Entscheidung für ihre fehlende
Verantwortlichkeit für die Handlungen von PCUK, deren Tätigkeit im
Chemiebereich zum größten Teil auf Atochem bei deren Gründung im Jahr 1983
übertragen wurde. Diese Begründung gehe nämlich davon aus, daß Elf Atochem
„für ATO Chimie, Chloe, Orgavyl verantwortlich ist“ (Randnr. 42, sechster Absatz,
der Entscheidung), und nicht von dem Grundsatz, daß dann, wenn das eine
Tätigkeit veräußernde Unternehmen nach der Übertragung als getrennte Einheit
fortbestehe, der Erwerber für eventuelle wettbewerbswidrige Handlungen des
Veräußerers vor der Übertragung nicht hafte.
- 943.
- DSM verweist darauf, daß die PVC-Tätigkeiten von DSM NV zum 1. Januar 1983
auf LVM übertragen worden seien, eine gemeinsame Tochtergesellschaft der DSM
NV und der EMC Belgique SA, und daß LVM als für ihre Handlungen
verantwortlich angesehen worden sei. Im vorliegenden Fall stelle sich somit nur für
die Zeit davor die Frage der Zurechenbarkeit der Zuwiderhandlung. Mit Urkunde
vom 19. Dezember 1984 sei die DSM Kunststoffen BV, eine 100%ige
Tochtergesellschaft der DSM NV, gegründet worden. Die bis dahin dem
Geschäftszweig „Kunststoffe“ von DSM zugeordneten Rechte und Pflichten seien
auf DSM Kunststoffen übertragen worden. Obwohl diese eine selbständige
Tochtergesellschaft von DSM NV sei, sei letzterer die Zuwiderhandlung
zugerechnet worden.
- 944.
- Damit habe die Kommission die Rechtsvorschriften der Gemeinschaft unzutreffend
angewendet. Grundsätzlich müsse, wenn die Rechte und Pflichten sowie die
Wirtschaftstätigkeiten, auf die sich die Zuwiderhandlung beziehe, auf ein anderes
Unternehmen übertragen worden seien, die Zuwiderhandlung diesem anderen
Unternehmen zugerechnet werden, das Rechtsnachfolger des ersten und damit
Adressat der Entscheidung sei (CRAM und Rheinzink/Kommission, Randnrn. 6 bis
9; Urteil des Gerichts vom 28. April 1994 in der Rechtssache T-38/92, AWS
Benelux/Kommission, Slg. 1994, II-211, Randnr. 30). Entscheidend für die
Zurechnung einer Zuwiderhandlung sei das selbständige Marktverhalten des
Unternehmens und nicht seine rechtliche Struktur (Urteil vom 14. Juli 1972,
ICI/Kommission, Randnr. 133, Urteil des Gerichts vom 10. März 1992 in der
Rechtssache T-11/89, Shell/Kommission, Slg. 1992, II-757, Randnrn. 311 und 312).
Die Klägerinnen hätten stets das selbständige Verhalten von DSM Kunststoffen
herausgestellt, ohne daß die Kommission, die die Beweislast trage (Urteil
AEG/Kommission, Randnr. 50), dem widersprochen hätte. Für den Zeitraum vom
Beginn der Zuwiderhandlung bis zum Beginn des Jahres 1983 hätte die
Zuwiderhandlung somit DSM Kunststoffen zugerechnet werden müssen.
- 945.
- Montedison erklärt, sie sei eine Einheit, die nur eine Vermittlerrolle zwischen der
Holdinggesellschaft und der Produktionsgesellschaft gespielt habe, da sie ihre PVC-Produktion zum 31. Dezember 1980 eingestellt habe. In den folgenden beiden
Jahren sei die Tochtergesellschaft Montedipe für diese Produktionstätigkeit
zuständig gewesen, und 1983 sei dieser Unternehmenszweig endgültig der Kontrolle
von Enichem unterstellt worden. Die Kommission habe niemals nachgewiesen, daß
Montedipe bei ihrer Geschäftsführung nicht autonom gegenüber Montedison
gewesen sei.
- 946.
- Enichem macht geltend, daß nach Ansicht der Kommission für die Frage, wer für
eine Zuwiderhandlung verantwortlich sei, zunächst das zuwiderhandelnde
Unternehmen zu bestimmen und dann zu ermitteln sei, was aus ihm geworden sei;
wenn das Unternehmen, das die Zuwiderhandlung begangen habe, seinen PVC-Geschäftsbereich einfach auf einen Dritten übertrage, als unabhängiges
Rechtssubjekt aber fortbestehe, bleibe es weiterhin für die Zuwiderhandlung
verantwortlich; wenn dagegen das zuwiderhandelnde Unternehmen in einem
anderen Unternehmen aufgehe und damit zu bestehen aufhöre, dann müsse der
Erwerber die Verantwortung für die vergangenen Zuwiderhandlungen übernehmen.
Dieses Konzept hat nach Ansicht der Klägerin zwei Seiten, da es je nach Lage des
Falles eine rechtliche oder eine wirtschaftliche Prüfung verlange.
- 947.
- Sowohl der PVC-Geschäftsbereich von Enichem als auch allgemein der PVC-Sektor
in Italien seien während und nach dem Untersuchungszeitraum tiefgreifenden
Änderungen unterworfen gewesen.
- 948.
- So habe das Unternehmen, das derzeit die Firma Enichem Anic führe und der
Adressat der Entscheidung hätte sein müssen, bis Ende 1981 und dann erneut von
Anfang 1983 bis zur Übertragung der Geschäftstätigkeiten auf EVC, eine im
Oktober 1986 gegründete gemeinsame Tochtergesellschaft von Enichem und ICI,
PVC produziert. In der Zwischenzeit sei Enoxy, eine gemeinsame
Tochtergesellschaft von ENI und der amerikanischen Firma Occidental, auf dem
PVC-Markt tätig gewesen.
- 949.
- Enichem habe dagegen in diesem gesamten Zeitraum unter verschiedenen
Firmennamen nur die Rolle einer Holdinggesellschaft für die Beteiligungen des
italienischen Staates an den einzelnen Produktionsgesellschaften, die einander im
PVC-Sektor abgelöst hätten, gespielt.
- 950.
- Schließlich seien die Unternehmenstätigkeiten im PVC-Bereich, die 1986 auf EVC
übertragen worden seien, in dem von der Kommission berücksichtigten Zeitraum
von mehreren selbständigen Unternehmen verwaltet worden (Anic; Occidental;
Montedison, deren von ihrer Tochtergesellschaft Montedipe betriebenes PVC-Geschäft im März 1983 auf Enoxy übergegangen sei, ein Unternehmen, das nach
der Veräußerung der Anteile von Occidental ebenfalls im März 1983 ganz in den
Besitz von Enichem übergegangen sei; Sir, deren Tätigkeiten im Dezember 1981
auf die Gruppe ENI übergegangen seien, und Rumianca, einer Tochtergesellschaft
von Sir, deren Chemiegeschäft ebenfalls auf die Gruppe ENI übertragen worden
sei), die alle als Rechtssubjekte fortbestünden.
- 951.
- Die Kommission habe jedoch in Randnummer 43 der Entscheidung die Klägerin,
Enichem, für die im Untersuchungszeitraum begangenen Zuwiderhandlungen
verantwortlich gemacht, also für die Handlungen aller Unternehmen einschließlich
von Sir, Rumianca und Enoxy (mit Ausnahme von Montedipe). Sir und Rumianca
gehörten zur Gruppe Sir Finanziaria, die auch heute noch bestehe und die folglich
weiterhin die Verantwortung für die Teilnahme ihrer ehemaligen
Tochtergesellschaften tragen müsse. Ebenso müsse Occidental, die es als juristische
Person immer noch gebe, die Mitverantwortung für die Zuwiderhandlung in der
Zeit von Dezember 1981 bis Februar 1983 tragen, in der sie Enoxy
gemeinschaftlich geleitet habe; statt dessen werde Occidental in der Entscheidung
überhaupt nicht als verantwortlich angesehen, was gegen das
Diskriminierungsverbot verstoße. Tatsächlich könne Enichem Anic nur für die
Zuwiderhandlungen verantwortlich gemacht werden, die Anic bis Ende 1981 und
Enoxy Chimica seit Februar 1983 begangen hätten (Urteile Suiker Unie
u. a./Kommission, Randnrn. 74 bis 88, CRAM und Rheinzink/Kommission, und
Enichem Anic/Kommission, Randnrn. 228 ff.).
Würdigung durch das Gericht
- 952.
- Elf Atochem wendet sich nicht gegen das Ergebnis, zu dem die Kommission gelangt
ist, nämlich sie für Handlungen von PCUK nicht verantwortlich zu machen, sondern
rügt nur die Begründung hierfür. Somit kann die Prüfung dieses Klagegrundes nicht
zu einer auch nur teilweisen Nichtigerklärung einer Bestimmung der
Entscheidung führen. Daher ist der Klagegrund mangels Rechtschutzinteresses
zurückzuweisen.
- 953.
- Nach der Rechtsprechung ist, wenn eine Zuwiderhandlung bewiesen ist, die
natürliche oder juristische Person zu ermitteln, die für den Betrieb des
Unternehmens zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung verantwortlich war, damit sie
zur Rechenschaft gezogen werden kann. Hat jedoch zwischen dem Zeitpunkt der
Zuwiderhandlung und dem Zeitpunkt, zu dem das betreffende Unternehmen zur
Rechenschaft gezogen werden soll, die für den Betrieb dieses Unternehmens
verantwortliche Person aufgehört, rechtlich zu existieren, so ist zunächst die
Gesamtheit der materiellen und personellen Faktoren festzustellen, die an der
Zuwiderhandlung beteiligt waren, um sodann zu ermitteln, wem die Verantwortung
für den Betrieb dieser Gesamtheit übertragen worden ist, damit sich das
Unternehmen seiner Verantwortlichkeit für die Zuwiderhandlung nicht deshalb
entziehen kann, weil die zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung für seinen Betrieb
verantwortliche Person nicht mehr besteht.
- 954.
- Die von der Kommission in Randnummer 41, zweiter Absatz ff., der Entscheidung
genannten Regeln entsprechen offensichtlich diesen Grundsätzen.
- 955.
- Somit ist nacheinander im Fall von DSM, Montedison und Enichem zu prüfen, wie
die Kommission diese Grundsätze angewandt hat.
- 956.
- Das Vorbringen von DSM bezieht sich nur darauf, daß die beanstandete
Zuwiderhandlung DSM zugerechnet worden ist, betrifft also nur die Zeit vor der
Gründung von LVM (vgl. vorstehend, Randnr. 943).
- 957.
- Anders als in den Fällen, die in den von der Klägerin angeführten Urteilen geprüft
worden sind, ist im vorliegenden Fall nicht bestritten, daß DSM das Unternehmen
ist, das die beanstandete Zuwiderhandlung vor der Gründung von LVM begangen
hat, und daß sie trotz ihrer Umstrukturierung, die sie nach den ihr vorgeworfenen
Handlungen durch die Verlagerung ihres Geschäftsbereichs „Kunststoffe“ auf eine
Tochtergesellschaft vorgenommen hat, rechtlich fortbesteht. Daher ist die
Kommission nach den vorstehend genannten Grundsätzen zu Recht von der
Verantwortlichkeit von DSM für den streitigen Zeitraum ausgegangen.
- 958.
- Somit hat die Übertragung des Geschäftsbereichs keine Bedeutung für die
Bestimmung des für die Zuwiderhandlung verantwortlichen Unternehmens.
- 959.
- Daher ist der Klagegrund von DSM zurückzuweisen.
- 960.
- Nach ständiger Rechtsprechung genügt der Umstand, daß eine Tochtergesellschaft
eine eigene Rechtspersönlichkeit besitzt, nicht, um auszuschließen, daß ihr
Verhalten der Muttergesellschaft zugerechnet werden kann, namentlich, wenn die
Tochtergesellschaft trotz eigener Rechtspersönlichkeit ihr Marktverhalten nicht
selbständig bestimmt, sondern im wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft
befolgt (Urteil vom 14. Juli 1972, ICI/Kommission, Randnrn. 132 und 133).
- 961.
- Im vorliegenden Fall hat Montedison bestätigt, daß sie das gesamte Kapital an
Montedipe und Montepolimeri hielt, so daß davon auszugehen ist, daß diese
Tochtergesellschaften zwangsläufig eine Politik verfolgten, die von den
satzungsmäßigen Organen vorgezeichnet wurde, die auch die Politik der
Muttergesellschaft festlegten (Urteil AEG/Kommission, Randnr. 50).
- 962.
- Daher ist der Klagegrund von Montedison zurückzuweisen.
- 963.
- Der von Enichem geltend gemachte Klagegrund besteht hinsichtlich der
Zurechenbarkeit der beanstandeten Zuwiderhandlung aus zwei Teilen. Der erste
betrifft die Zurechenbarkeit der Handlungen, die die beiden Firmen Sir und
Rumianca vor ihrer Eingliederung in den Konzern, dem die Klägerin angehört,
begangen hatten. Der zweite betrifft die Zurechenbarkeit der Handlungen, die
Enoxy von Januar 1982 bis Februar 1983 begangen hat.
- 964.
- Erstens rügt die Klägerin, die Kommission habe sie für Handlungen von Sir und
Rumianca verantwortlich gemacht, deren PVC-Geschäft von der Gruppe ENI im
Dezember 1981 über Anic erworben worden sei; da die ehemalige
Muttergesellschaft dieser beiden Unternehmen fortbestehe, hätte diese die
Verantwortung für die Zuwiderhandlung tragen müssen. Zur Stützung ihrer
Auffassung beruft sich die Klägerin auf Randnummer 43 der Entscheidung, wo es
heißt: „Enichem stellt einen Zusammenschluß des staatseigenen italienischen
Chemiesektors dar, der zuvor unter der Bezeichnung Anic tätig war ... Enichem
trägt daher für die Aktivitäten von Anic [und damit aller anderen mit dieser
Gesellschaft verbundenen Unternehmen] die Verantwortung.“
- 965.
- Daraus folgt aber nicht, daß die Kommission die Verantwortlichkeit von Enichem
mit den Handlungen begründet hat, die Sir und Rumianca vor ihrer Eingliederung
in den Konzern begangen haben, zu dem die Klägerin gehört.
- 966.
- Sir und Rumianca sind von der Entscheidung nämlich nicht betroffen. Da gegen sie
keine Vorwürfe erhoben worden sind, kann die Verantwortung für von ihnen
begangene Zuwiderhandlungen nicht der Klägerin aufgebürdet worden sein.
Randnummer 43 der Entscheidung bedeutet allenfalls, daß namentlich für die
Berechnung des Marktanteils zum Zweck der Bemessung der Geldbußen die
Tätigkeiten im PVC-Bereich von Sir und Rumianca der Klägerin erst von dem Tag
an zugerechnet werden können, an dem die beiden genannten Unternehmen in das
Unternehmen Anic eingegliedert wurden. Dagegen läßt sich dieser Randnummer
nicht entnehmen, daß Enichem für eventuelle Zuwiderhandlungen, die Sir und
Rumianca vor ihrer Eingliederung begangen haben, verantwortlich gemacht worden
ist.
- 967.
- Was den zweiten Teil betrifft, so ergibt sich aus den Akten und den Antworten der
Klägerin auf die Fragen des Gerichts in der Sitzung, daß ENI und Occidental am
29. Dezember 1981 ein Gemeinschaftsunternehmen, Enoxy, gegründet haben, auf
das über Anic das gesamte von ENI kontrollierte PVC-Geschäft übertragen
wurde; Occidental übertrug auf Enoxy andere Tätigkeiten als den PVC-Bereich. Im
Februar 1983 übernahm ENI die Beteiligung von Occidental an Enoxy; einige Tage
später veräußerte ENI ihre sämtlichen Anteile an der Gruppe Enoxy an die
Enichimica SpA (heute Enichem SpA).
- 968.
- Die Klägerin wirft der Kommission zunächst vor, sie für Handlungen von
Occidental, der anderen Muttergesellschaft von Enoxy, verantwortlich gemacht zu
haben. Diese Rüge ist jedoch eine bloße Behauptung, die durch nichts in der
Entscheidung gestützt wird.
- 969.
- Sodann wirft die Klägerin der Kommission vor, daß sie nicht auch Occidental für
die Handlungen von Enoxy zur Verantwortung gezogen habe, obwohl diese eine
der beiden Muttergesellschaften dieses Unternehmens gewesen sei. Da jedoch die
Gruppe, zu der die Klägerin gehört, von Januar 1982 bis Oktober 1983 auf dem
PVC-Markt über ein Gemeinschaftsunternehmen, dem Enichem ihr PVC-Geschäft
übertragen hatte, verblieben war, schließt der Umstand, daß die Kommission nicht
auch Occidental verfolgt hat, die Verantwortlichkeit der Gruppe, zu der die
Klägerin gehört, nicht aus (Urteil Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission,
Randnr. 197).
- 970.
- Somit ist der Klagegrund von Enichem ebenfalls zurückzuweisen.
2. Zur Frage des richtigen Adressaten der Entscheidung
Vorbringen der Klägerinnen
- 971.
- Erstens macht DSM geltend, die Kommission habe einen Rechtsfehler begangen,
indem sie die Entscheidung an DSM NV statt an DSM Kunststoffen gerichtet habe.
Für die vor 1983 von DSM NV begangene Zuwiderhandlung sei allein DSM
Kunststoffen, eine mit Urkunde vom 19. Dezember 1984 gegründete 100%ige
Tochtergesellschaft von DSM NV, verantwortlich zu machen. Diese Gesellschaft
hätte daher Adressat der Entscheidung sein müssen.
- 972.
- Zweitens tragen die Klägerinnen vor, daß sie diskriminiert worden seien. Die
Kommission habe nämlich ein dem ihren vergleichbares Argument im Falle von
Shell akzeptiert (Entscheidung, Randnr. 46). Dagegen habe die Kommission
Enichem und Montedison gleich behandelt, obwohl die Sachverhalte verschieden
gewesen seien (Entscheidung, Randnr. 45).
- 973.
- Drittens hat die Kommission nach Ansicht der Klägerinnen gegen ihre
Begründungspflicht verstoßen. Auch wenn sie nicht auf alle tatsächlichen
Argumente der beschuldigten Unternehmen eingehen müsse (Urteil ACF
Chemiefarma/Kommission, Randnr. 77), habe sie doch auf ähnliche Rügen anderer
Unternehmen geantwortet (Entscheidung, Randnrn. 45 und 46). Die Begründung
hätte im Fall der Klägerinnen im übrigen um so ausführlicher ausfallen müssen, als
diese diesen Klagegrund im Verwaltungsverfahren ausdrücklich vorgetragen hätten
(Urteil AWS Benelux/Kommission, Randnr. 27).
- 974.
- Enichem macht geltend, daß eine Unternehmensgruppe nur dann der richtige
Adressat einer Entscheidung sei, wenn sie eine einzige einheitliche Organisation
persönlicher, materieller und immaterieller Mittel darstelle, die dauerhaft u. a. den
Zweck verfolge, ein bestimmtes Erzeugnis herzustellen und zu verkaufen (Urteil
Shell/Kommission, Randnrn. 312 und 313). Im vorliegenden Fall gebe es keinen
Beweis dafür, daß Enichem an der Spitze all dieser Gesellschaften gestanden habe
(Entscheidung, Randnr. 45 a. E.).
- 975.
- In Wirklichkeit habe Enichem als Holdinggesellschaft keine Verantwortung für die
Tätigkeit des thermoplastischen Sektors, darunter PVC, getragen. Die
Randnummern 43 und 45 der Entscheidung seien insoweit widersprüchlich, da nicht
behauptet werden könne, daß Enichem als Holdinggesellschaft einer Gruppe und
zugleich als Nachfolger der Produktionsgesellschaft derselben Gruppe
verantwortlich sei.
- 976.
- In Wirklichkeit sei Enichem Anic, wie die Firma seit dem 27. Mai 1985 laute, das
einzige Rechtssubjekt, das die Kontinuität zwischen den einzelnen
Konzerngesellschaften verkörpern könne, die unter verschiedenen Firmen im PVC-Sektor tätig gewesen seien, bis dieser Bereich 1986 auf die mit ICI gegründete
gemeinsame Tochtergesellschaft EVC übertragen worden sei. Enichem Anic (unter
ihren verschiedenen Firmen) habe den gesamten Produktionszyklus im
thermoplastischen Bereich und den unmittelbaren Vertrieb in Italien geleitet und
sei dabei gegenüber Enichem selbständig gewesen. Im übrigen seien sämtliche
Gesellschaften, die für den Vertrieb der Erzeugnisse von Enichem Anic im Ausland
zuständig gewesen seien, einschließlich der Tochtergesellschaften von Enichem
International, die keine 100%ige Tochtergesellschaft von Enichem sei, auf der
Grundlage von Vertriebs- oder Vertretungsverträgen mit Enichem Anic tätig
gewesen. Nur Enichem Anic hätte daher Adressat der Entscheidung sein können.
- 977.
- Zur Unterstützung ihrer Auffassung verweist die Klägerin darauf, daß die
Entscheidung vom 24. November 1987, die nach Artikel 11 Absatz 5 der
Verordnung Nr. 17 ergangen sei, an Enichem Anic (seinerzeit Enichem Base)
gerichtet gewesen sei. Die Nachprüfung vom 21. Januar 1987 sei in den
Geschäftsräumen dieses Unternehmens erfolgt. Wenn die Mitteilung der
Beschwerdepunkte an Enichem gerichtet worden sei, so nur deshalb, weil die
Kommission geglaubt habe, daß dieses Unternehmen die Produktionsgesellschaft
der Gruppe gewesen sei, und nicht, weil es die Holdinggesellschaft gewesen sei.
Schließlich sei die Entscheidung 86/398 vom 23. April 1986 in der Polypropylen-Sache an Anic SpA, d. h. Enichem Anic, gerichtet gewesen, da dies die Firma der
Gesellschaft seit dem 27. Mai 1985 gewesen sei.
Würdigung durch das Gericht
- 978.
- Wie die Kommission in Randnummer 44 der Entscheidung ausgeführt hat, fällt der
Begriff des Unternehmens im Sinne des Artikels 85 Absatz 1 EG-Vertrag zwar
nicht unbedingt mit dem Begriff der rechtsfähigen Gesellschaft zusammen, doch
muß für die Anwendung und den Vollzug der Entscheidungen eine Einheit mit
Rechtspersönlichkeit bestimmt werden, die Adressat der Handlung ist.
- 979.
- Da DSM die Zuwiderhandlung allein begangen hat und daher die einzige
Gesellschaft mit Rechtspersönlichkeit ist, der die Zuwiderhandlung zugerechnet
worden ist, stellt sich die Frage der Bestimmung des Adressaten nicht einmal.
Adressat konnte nur die DSM NV sein, die allein die Zuwiderhandlung begangen
hat.
- 980.
- Dies ergibt sich aus der unmittelbaren Anwendung der in Randnummer 44 der
Entscheidung angeführten Grundsätze; der Hinweis auf diese stellt im Falle der
Klägerin eine ausreichende Begründung dar.
- 981.
- Im Falle von DSM hat ein einziges Unternehmen, das rechtlich fortbesteht, die
Zuwiderhandlung begangen. Weder Shell noch Enichem noch Montedison befinden
sich in der gleichen Lage. Daher kann die andere Behandlung, die die Kommission
diesen drei Unternehmen bei der Bestimmung des Adressaten der Entscheidung
angeblich hat zuteil werden lassen, keine Diskriminierung von DSM darstellen.
- 982.
- Die Klagegründe und Argumente von DSM sind daher zurückzuweisen.
- 983.
- In Randnummer 45 der Entscheidung hat die Kommission festgestellt: „Enichem
und Montedison machen geltend, daß der Adressat einer Entscheidung die
Gesellschaft innerhalb des Konzerns sein soll, die zu der Zeit für die Thermoplast-Aktivitäten verantwortlich ist. Die Kommission stellt jedoch fest, daß sich in beiden
Fällen andere Konzernunternehmen die Verantwortung für den PVC-Absatz
teilten. Während beispielsweise Enichem Anic SpA für den PVC-Absatz von
Enichem in Italien verantwortlich ist, leitet eine in Zürich ansässige Gesellschaft,
Enichem International S.A., die internationalen Marketingaktivitäten des
Unternehmens. In jedem Mitgliedstaat bestehen darüber hinaus entsprechende
nationale Tochtergesellschaften von Enichem, die PVC vertreiben. Die Kommission
hält es für sachgerecht, diese Entscheidung an die Holdinggesellschaft zu richten,
die an der Spitze der Konzerne Enichem und Montedison steht.“
- 984.
- Montedison hat bestätigt, daß sie in dem Zeitraum der Zuwiderhandlung das
gesamte Kapital an Montedipe und Montepolimeri hielt. Somit erübrigt sich die
Prüfung, ob die Klägerin das geschäftliche Verhalten ihrer Tochtergesellschaften
entscheidend beeinflussen konnte (Urteil AEG/Kommission, Randnr. 50).
- 985.
- Die Kommission hat daher die Entscheidung zu Recht an Montedison gerichtet.
- 986.
- Wie Enichem einräumt, stellt der von ihr geltend gemachte Klagegrund „keinen
Zweck an sich dar, sondern ist die entscheidende Grundlage für die späteren
Ausführungen zur Höhe der Geldbuße, die offenkundig nach Maßgabe des
Umsatzes der Holdinggesellschaft berechnet worden ist, der weit höher als der der
Produktionsgesellschaft ist“ (Erwiderung, S. 15). Im vorliegenden Fall hat die
Kommission, wozu sie berechtigt ist (namentlich Urteile des Gerichtshofes vom 15.
Juli 1970, Boehringer/Kommission, Randnr. 55, und vom 8. November 1983 in den
Rechtssachen 96/82 bis 102/82, 104/82, 105/82, 108/82 und 110/82, IAZ
u. a./Kommission, Slg. 1983, 3369, Randnrn. 51 bis 53), vorab den Gesamtbetrag
der Geldbußen bestimmt, den sie dann auf die einzelnen Unternehmen
entsprechend dem durchschnittlichen Marktanteil jedes Herstellers und unter
Berücksichtigung der im Einzelfall vielleicht gegebenen mildernden oder
erschwerenden Umstände aufgeteilt hat. Daher ist unbeschadet der Anwendung des
Artikels 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 über die Höchstgrenze der Geldbuße,
die von der Kommission verhängt werden kann, der Umsatz der
Holdinggesellschaft bei der Bemessung der gegen die Klägerin verhängten
individuellen Geldbuße nicht berücksichtigt worden. Folglich fehlt der Klägerin das
Interesse an der Geltendmachung dieses Klagegrundes.
- 987.
- Wie sich aus Randnummer 45 der Entscheidung ergibt, war Enichem Anic im
übrigen nur eine der Produktionsgesellschaften für PVC innerhalb der Gruppe
ENI. Als solche kontrollierte sie Produktionsbetriebe in Italien und war für den
Vertrieb in Italien zuständig. Andere Konzerngesellschaften, die über die Enichem
International SA, eine Gesellschaft schweizerischen Rechts, kontrolliert wurden,
waren dagegen für den Vertrieb außerhalb dieses geographischen Marktes
zuständig. Daher ist die Ansicht nicht haltbar, daß eine Gesellschaft wie Enichem
Anic, die nur für einen Teil des PVC-Geschäfts der Gruppe zuständig war, allein
der Adressat der Entscheidung hätte sein müssen.
- 988.
- Zudem ist unbestritten, daß die Klägerin nur eine Holdinggesellschaft ohne
operative Aufgaben ist. Die Klägerin hat bestätigt, daß „während des gesamten
Untersuchungszeitraums Enichem SpA [unter verschiedenen Firmennamen] stets
nur die Rolle einer Holdinggesellschaft für die staatlichen Beteiligungen an den
einzelnen Produktionsgesellschaften, die einander im PVC-Sektor abgelöst haben,
gespielt hat“ (vgl. Klageschrift, S. 57).
- 989.
- In einem solchen Fall, in dem es eine Vielzahl operativer Gesellschaften sowohl im
Produktions- als auch im Vertriebsbereich gibt, die zudem auf bestimmte
geographische Märkte verteilt sind, begeht die Kommission keinen Rechtsfehler,
wenn sie ihre Entscheidung an die Holdinggesellschaft der Gruppe und nicht, wiedie Klägerin will, an eine der Produktionsgesellschaften der Gruppe richtet.
- 990.
- Es ist richtig, daß die Kommission in der Polypropylen-Sache die Entscheidung an
Enichem Anic und nicht an die Klägerin gerichtet hat. Diese Feststellung allein
rechtfertigt jedoch nicht die Schlußfolgerung, daß die Wahl der Klägerin als der
Rechtsperson, an die die Entscheidung zu richten war, unbedingt falsch ist. Zum
einen steht nämlich nicht fest, daß die Gruppe ENI seinerzeit im Polypropylen-Sektor genauso organisiert war wie im PVC-Sektor. Zum anderen kann jedenfalls
die Tatsache, daß die Kommission in einer Sache die Entscheidung an eine
bestimmte Gesellschaft gerichtet hat, sie in anderen Sachen nicht binden.
- 991.
- Der Umstand, daß eine Entscheidung über die Anforderung von Auskünften an
Enichem Anic gerichtet und eine Nachprüfung am Sitz dieses Unternehmens
durchgeführt worden ist, ist für die Bestimmung des Adressaten der Entscheidung
nicht ausschlaggebend, da nach den Artikeln 11 und 14 der Verordnung Nr. 17 von
jedem Unternehmen Auskünfte angefordert oder dort auch Nachprüfungen
durchgeführt werden können.
- 992.
- Somit ist der Klagegrund zurückzuweisen.
III Zu den Klagegründen, die die Akteneinsicht betreffen
A Zu den Bedingungen, unter denen die Kommission im Verwaltungsverfahren
Einsicht in ihre Akten gewährt hat
Vorbringen der Parteien
- 993.
- Einige Klägerinnen werfen der Kommission vor, ihnen keine Einsicht in einen Teil
ihrer Verfahrensakten gewährt zu haben.
- 994.
- Diese Klägerinnen bekräftigen in ihrer Erwiderung unter Berufung auf die Urteile
des Gerichts vom 29. Juni 1995 in den Rechtssachen T-30/91 (Solvay/Kommission,
Slg. 1995, II-1775) und T-36/91 (ICI/Kommission) ihren in der Klageschrift
vertretenen Standpunkt, daß die begrenzte Akteneinsicht ein Verstoß gegen eine
wesentliche Formvorschrift sei und sie in ihren Verteidigungsrechten verletzte.
Allein die Möglichkeit, daß entlastende Unterlagen vorhanden seien, genüge
nämlich für die Feststellung einer Verletzung der Verteidigungsrechte, die vom
Gericht im Rahmen seiner richterlichen Kontrolle nicht mehr geheilt werden könne
(Urteile vom 29. Juni 1995 in den Rechtssachen T-30/91, Solvay/Kommission,
Randnr. 98, und T-36/91, ICI/Kommission, Randnr. 108). Daher sei die
Entscheidung für nichtig zu erklären.
- 995.
- Die Kommission hat in ihrer Klagebeantwortung in den einzelnen Rechtssachen auf
Randnummer 27 der Entscheidung verwiesen, in der sie erläutert habe, warum sie
den Anträgen der Unternehmen im Verwaltungsverfahren auf vollständige
Akteneinsicht nicht stattgegeben habe.
- 996.
- Unter Bekräftigung der dort angeführten Gründe macht die Kommission geltend,
den Unternehmen ordnungsgemäß Einsicht in ihre Verfahrensakten gewährt zu
haben.
- 997.
- So gebe es nach der Rechtsprechung kein uneingeschränktes Recht auf Einsicht in
diese Akten (Urteile des Gerichtshofes VBVB und VBBB/Kommission, vom 3. Juli
1991 in der Rechtssache C-62/86, AKZO/Kommission, Slg. 1991, I-3359, Urteil des
Gerichts vom 1. April 1993 in der Rechtssache T-65/89, BPB Industries und British
Gypsum/Kommission, Slg. 1993, II-389). Soweit die Klägerinnen mit ihrem
Klagegrund vollständige Akteneinsicht verlangten, sei dieser nicht begründet.
- 998.
- Die Kommission sei nur verpflichtet, Einsicht in all diejenigen Schriftstücke zu
gewähren, auf die sie ihre Feststellungen gründe. Sie habe im vorliegenden Fall
nicht nur dies getan, sondern sei über diese Anforderungen noch hinausgegangen,
indem sie diesen Unternehmen am 3. Mai 1988 zusätzliche Unterlagen, die sie für
die Verteidigung für hilfreich angesehen habe, übersandt habe (Entscheidung,
Randnr. 27, letzter Absatz a. E.).
- 999.
- In einigen Rechtssachen zieht die Kommission den Grundsatz in Zweifel, den das
Gericht in dem Urteil vom 17. Dezember 1991 in der Rechtssache T-7/89 (Hercules
Chemicals/Kommission, Slg 1991 II-1711) aufgestellt hat und nach dem sie
verpflichtet ist, die von ihr im Zwölften Bericht über die Wettbewerbspolitik selbst
festgelegten Grundsätze zu beachten und folglich über die belastenden
Schriftstücke hinaus die in ihren Verfahrensakten enthaltenen Schriftstücke mit
gewissen Einschränkungen zu übermitteln.
- 1000.
- Die Klägerinnen hätten eine Bösgläubigkeit der Bediensteten der Kommission nicht
dargetan.
- 1001.
- Wenn für die Verteidigung nützliche Unterlagen in den Akten der anderen
Unternehmen vorhanden gewesen wären, hätte sich das Unternehmen, von dem
sie stammten, auf sie berufen.
- 1002.
- Zudem sei den Unternehmen erlaubt worden, auf der Grundlage eines
gegenseitigen Verzichts auf die Vertraulichkeit Schriftstücke untereinander
auszutauschen, jedoch unter dem Vorbehalt, daß dieser Austausch keine sensiblen
Geschäftsinformationen umfasse, deren Weitergabe eine Wettbewerbsbeschränkung
darstellen könnte (vgl. Entscheidung, Randnr. 27, dritter Absatz).
- 1003.
- Schließlich seien die Schriftstücke in den Verfahrensakten der Kommission
vertraulich. Da es sich um interne Geschäftspapiere der einzelnen Unternehmen
handele, sei die Kommission sowohl nach Artikel 214 EG-Vertrag als auch nach
Artikel 20 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 gehalten gewesen, sie nicht zu
übermitteln. Im übrigen habe die Kommission im Verwaltungsverfahren ein
Verzeichnis der in den Akten enthaltenen Schriftstücke vorgelegt.
- 1004.
- Die Unternehmen müßten zumindest die Schriftstücke angeben, die sie als für ihre
Verteidigung möglicherweise nützlich ansähen.
- 1005.
- In ihrer Gegenerwiderung trägt die Kommission vor, daß die Urteile vom 29. Juni
1995 in den Rechtssachen T-30/91, Solvay/Kommission, und T-36/91,
ICI/Kommission, bestätigten, daß ein uneingeschränktes Recht auf Akteneinsicht
nicht bestehe. Insbesondere hätten die Unternehmen kein Recht auf Einsicht in
Schriftstücke, die Geschäftsgeheimnisse oder andere vertrauliche Informationen
enthielten, oder in kommissionsinterne Schriftstücke. Somit habe die Kommission
zu Recht den Klägerinnen die Geschäftsunterlagen der einzelnen Unternehmen
nicht übermittelt.
- 1006.
- Die Unterscheidung zwischen belastenden und entlastenden Schriftstücken sei von
grundlegender Bedeutung. Während der etwaige Nichtzugang zu belastenden
Schriftstücken nur zum Ausschluß der betreffenden Schriftstücke als Beweismittel
führe (Urteil vom 29. Juni 1995 in der Rechtssache T-37/91, ICI/Kommission,
Randnr. 71), ziehe die Verweigerung des Zugangs zu entlastenden Schriftstücken
die Rechtswidrigkeit der Entscheidung nach sich, da das Gericht die Verletzung der
Verteidigungsrechte im Verwaltungsverfahren nicht heilen könne (Urteil vom 29.
Juni 1995 in der Rechtssache T-30/91, Solvay/Kommission, Randnr. 98).
- 1007.
- Um jedoch zu entscheiden, ob in den nicht übermittelten Dokumenten entlastende
Schriftstücke enthalten gewesen seien, genüge es nicht, daß eine derartige
Möglichkeit behauptet werde, sondern es sei eine Art Plausibilitätsprüfung
anzustellen. Da die Umstände, die für die Urteile vom 29. Juni 1995 in den
Rechtssachen T-30/91 und T-36/91 maßgebend gewesen seien die Feststellung der
Verstöße habe sich auf das Parallelverhalten und nicht auf unmittelbare Beweise
gestützt, und den nach Artikel 85 EG-Vertrag betroffenen Unternehmen sei
zusätzlich ein Mißbrauch ihrer beherrschenden Stellung vorgeworfen worden , hier
nicht vorlägen, spreche nichts dafür, daß sich in den nicht übermittelten Unterlagen
eventuell entlastende Schriftstücke finden könnten.
- 1008.
- Die Tatsache, daß Schriftstücke im Verwaltungsverfahren nicht übermittelt worden
seien, könne somit allein nicht zur Nichtigerklärung der Entscheidung führen.
Würdigung durch das Gericht
- 1009.
- Montedison hat in ihrer Klageschrift keinen die Akteneinsicht betreffenden
Klagegrund geltend gemacht.
- 1010.
- Zwischen den Parteien ist unstreitig, daß die Kommission den Unternehmen im
Verwaltungsverfahren Einsicht nur in einen Teil ihrer Verfahrensakten gewährt hat.
So verfügte jede Klägerin neben den aus ihrem eigenen Unternehmen stammenden
Unterlagen über sämtliche Schriftstücke, auf die die Kommission ihre
Feststellungen gestützt hat, sowie über eine Reihe anderer, mit Schreiben vom 3.
Mai 1988 übermittelter Schriftstücke.
- 1011.
- In Wettbewerbssachen soll die Akteneinsicht den Adressaten der Mitteilung der
Beschwerdepunkte in die Lage versetzen, von den in den Akten der Kommission
vorhandenen Beweisstücken Kenntnis zu nehmen, um aufgrund dieser Beweisstücke
in zweckmäßiger Weise zu den Schlußfolgerungen Stellung nehmen zu können, zu
denen die Kommission in der Mitteilung ihrer Beschwerdepunkte gelangt ist. Die
Akteneinsicht gehört somit zu den Verfahrensgarantien, die die Verteidigungsrechte
schützen sollen. Die Wahrung dieser Verteidigungsrechte stellt in allen Verfahren,
die zu Sanktionen führen können, einen fundamentalen Grundsatz des
Gemeinschaftsrechts dar, der unter allen Umständen, auch in einem
Verwaltungsverfahren, beachtet werden muß. Die tatsächliche Beachtung dieses
allgemeinen Grundsatzes erfordert es, dem betroffenen Unternehmen bereits im
Verwaltungsverfahren Gelegenheit zu geben, zum Vorliegen und zur Erheblichkeit
der von der Kommission angeführten Tatsachen, Rügen und Umstände gebührend
Stellung zu nehmen (Urteile des Gerichts vom 29. Juni 1995 in den Rechtssachen
T-30/91, Solvay/Kommission, Randnr. 59, T-36/91, ICI/Kommission, Randnr. 69,
T-37/91, ICI/Kommission, Randnr. 49, und die dort zitierte Rechtsprechung).
- 1012.
- Im Rahmen eines nach der Verordnung Nr. 17 durchgeführten kontradiktorischen
Verfahrens kann die Kommission nicht allein entscheiden, welche Schriftstücke der
Verteidigung dienlich sind (Urteile vom 29. Juni 1995 in den Rechtssachen T-30/91,
Solvay/Kommission, Randnr. 81, und T-36/91, ICI/Kommission, Randnr. 91).
Angesichts des allgemeinen Grundsatzes der Waffengleichheit kann nicht
zugelassen werden, daß die Kommission allein entscheidet, ob sie Schriftstücke
gegen die Klägerinnen verwendet, während diese keinen Zugang zu den
Schriftstücken haben und somit die entsprechende Entscheidung, ob sie von ihnen
für ihre Verteidigung Gebrauch machen sollen, nicht treffen können (Urteile vom
29. Juni 1995 in den Rechtssachen T-30/91, Solvay/Kommission, Randnr. 83, und
T-36/91, ICI/Kommission, Randnr. 93).
- 1013.
- Eine eventuelle Verletzung der Verteidigungsrechte stellt einen objektiven
Tatbestand dar und hängt nicht von der Gut- oder Bösgläubigkeit der Beamten der
Kommission ab (Urteile vom 29. Juni 1995 in den Rechtssachen T-30/91,
Solvay/Kommission, Randnr. 84, und T-36/91, ICI/Kommission, Randnr. 94).
- 1014.
- Die Verteidigung eines Unternehmens kann nicht vom guten Willen eines anderen
Unternehmens abhängen, das als sein Konkurrent gilt und gegen das die
Kommission gleichartige Vorwürfe erhebt. Die ordnungsgemäße Durchführung
eines Wettbewerbsverfahrens ist Aufgabe der Kommission, und sie kann diese nicht
den Unternehmen übertragen, deren wirtschaftliche und verfahrensrechtliche
Interessen oft entgegengesetzt sind. Infolgedessen ist es im Hinblick auf einen
Verstoß gegen die Verteidigungsrechte ohne Bedeutung, daß den beschuldigten
Unternehmen ein Austausch von Unterlagen erlaubt wurde. Eine solche im übrigen
zufallsbedingte Zusammenarbeit zwischen Unternehmen kann die Kommission
nicht von ihrer Pflicht entbinden, im Rahmen der Aufklärung eines
wettbewerbsrechtlichen Verstoßes die Einhaltung der Verteidigungsrechte der
betroffenen Unternehmen selbst zu gewährleisten (Urteile Solvay/Kommission in
den Rechtssachen T-30/91, Randnrn. 85 und 86, und T-36/91, ICI/Kommission,
Randnrn. 95 und 96).
- 1015.
- Die Akteneinsicht kann sich jedoch, wie die Kommission hervorgehoben hat, nicht
auf interne Schriftstücke des Organs, auf Geschäftsgeheimnisse anderer
Unternehmen oder auf andere vertrauliche Informationen erstrecken (Urteil BPB
Industries und British Gypsum/Kommission, Randnr. 29).
- 1016.
- Nach einem allgemeinen Grundsatz, der auf das Verwaltungsverfahren Anwendung
findet und in Artikel 214 EG-Vertrag sowie in verschiedenen Bestimmungen der
Verordnung Nr. 17 zum Ausdruck kommt, haben die Unternehmen ein Recht auf
Schutz ihrer Geschäftsgeheimnisse. Dieses Recht muß jedoch mit der
Gewährleistung der Verteidigungsrechte in Einklang gebracht werden (Urteile vom
29. Juni 1995 in den Rechtssachen T-30/91, Solvay/Kommission, Randnr. 88 und
T-36/91, ICI/Kommission, Randnr. 98).
- 1017.
- Somit kann die Kommission die völlige Verweigerung der Übermittlung der
Schriftstücke in ihren Akten nicht mit dem allgemeinen Hinweis auf die
Vertraulichkeit rechtfertigen. Im vorliegenden Fall behauptet sie zudem nicht
ernsthaft, daß sämtliche Informationen in diesen Schriftstücken vertraulich seien.
Daher hätte die Kommission eine nichtvertrauliche Fassung der betreffendenSchriftstücke anfertigen oder anfertigen lassen oder, wenn dies zu schwierig
gewesen wäre, ein hinreichend genaues Verzeichnis der betreffenden Schriftstücke
erstellen können, um das Unternehmen in die Lage zu versetzen, in Kenntnis der
Sachlage zu entscheiden, ob die angeführten Schriftstücke für seine Verteidigung
von Bedeutung sein könnten (Urteile vom 29. Juni 1995 in den Rechtssachen
T-30/91, Solvay/Kommission, Randnrn. 89 bis 95, und T-36/91, ICI/Kommission,
Randnrn. 99 bis 105).
- 1018.
- Im vorliegenden Fall ist keine nichtvertrauliche Fassung der betreffenden
Schriftstücke angefertigt worden. Zwar hat die Kommission den Klägerinnen
tatsächlich ein Verzeichnis der in ihren Akten enthaltenen Schriftstücke übermittelt,
doch war dieses Verzeichnis für die Klägerinnen völlig wertlos. Die Kommission hat
sich nämlich mit dem pauschalen Hinweis auf das Unternehmen begnügt, von dem
die entsprechenden Seiten der Verfahrensakte stammten.
- 1019.
- Nach alledem ist festzustellen, daß die Kommission den Unternehmen im
Verwaltungsverfahren der vorliegenden Rechtssache keine ordnungsgemäße
Akteneinsicht gewährt hat.
- 1020.
- Dieser Umstand kann jedoch allein nicht zur Nichtigerklärung der Entscheidung
führen.
- 1021.
- Ob eine Verletzung der Verteidigungsrechte vorliegt, ist vielmehr anhand der
Umstände jedes einzelnen Falles zu prüfen, da dies im wesentlichen von den
Vorwürfen abhängt, die die Kommission bei der Feststellung einer den betroffenen
Unternehmen zur Last gelegten Zuwiderhandlung erhoben hat. Somit ist zu prüfen,
ob die Verteidigungsmöglichkeiten der Klägerinnen durch die Bedingungen
beeinträchtigt worden sind, unter denen sie Einsicht in die Verfahrensakte der
Kommission erhalten haben. Für die Feststellung einer Verletzung der
Verteidigungsrechte genügt der Nachweis, daß die Nichtübermittlung der
betreffenden Schriftstücke den Verfahrensablauf und den Inhalt der Entscheidung
zuungunsten der Klägerin hat beeinflussen können (Urteile vom 29. Juni 1995 in
den Rechtssachen T-30/91, Solvay/Kommission, Randnrn. 60 und 68, und T-36/91,
ICI/Kommission, Randnrn. 70 und 78; vgl. auch für staatliche Beihilfen Urteil vom
11. November 1987, Frankreich/Kommission, Randnr. 13).
- 1022.
- Wäre dies der Fall, wäre das Verwaltungsverfahren rechtswidrig und die
Entscheidung müßte für nichtig erklärt werden. Die Verletzung der
Verteidigungsrechte im Verwaltungsverfahren kann nämlich im gerichtlichen
Verfahren nicht mehr geheilt werden, das sich auf eine richterliche Kontrolle
beschränkt, die nur im Rahmen der geltend gemachten Angriffs- und
Verteidigungsmittel erfolgt, und das daher eine vollständige Aufklärung des Falles
im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens nicht ersetzen kann. Wenn die
Klägerinnen im Verwaltungsverfahren sich auf möglicherweise entlastende
Schriftstücke hätten berufen können, hätten sie nämlich eventuell die
Feststellungen des Kollegiums der Kommissionsmitglieder beeinflussen können
(Urteile vom 29. Juni 1995 in den Rechtssachen T-30/91, Solvay/Kommission,
Randnr. 98, und T-36/91, ICI/Kommission, Randnr. 108).
- 1023.
- Mit Schreiben vom 7. Mai 1997 hat das Gericht im Rahmen prozeßleitender
Maßnahmen und vorbehaltlich der Würdigung der von den Klägerinnen
angeführten Angriffsmittel entschieden, jeder Klägerin Zugang zu den Akten der
Kommission mit Ausnahme der kommissionsinternen Schriftstücke und der
Schriftstücke, die Geschäftsgeheimnisse oder andere vertrauliche Angaben
enthalten, zu gewähren. Es hat die Parteien aufgefordert, jede vertrauliche
Information anzugeben, die in den Akten verbleiben kann. Schließlich ist den
Klägerinnen Gelegenheit gegeben worden, bis zum 31. Juli 1997 in einer genauen,
begründeten und möglichst kurzen Stellungnahme darzutun, inwiefern sie ihre
Verteidigung durch die Nichtübermittlung dieser Schriftstücke beeinträchtigt sehen.
Die Klägerinnen sollten eine Kopie der Schriftstücke vorlegen, auf die sie sich
beziehen.
- 1024.
- Keine der Klägerinnen hat wegen der Vertraulichkeit Bedenken geäußert.
- 1025.
- Um der Kommission die erforderliche Zeit zu geben, sich bei Drittunternehmen
zu vergewissern, daß die von diesen stammenden Schriftstücke nicht vertraulich
waren, und unter Berücksichtigung des auf zwingende persönliche Gründe
gestützten Antrags des Prozeßbevollmächtigten von BASF hat das Gericht die Frist
vom 31. August 1997, die es den Klägerinnen für die Abgabe ihrer Stellungnahmen
zu den von ihnen eingesehenen Schriftstücken gesetzt hatte, bis zum 22. September
1997 verlängert.
- 1026.
- Wie bereits festgestellt, haben nur Wacker und Hoechst auf die Aufforderung des
Gerichts nicht geantwortet und somit keine Stellungnahme bei der Kanzlei des
Gerichts eingereicht. In der Sitzung hat der Prozeßbevollmächtigte dieser beiden
Klägerinnen angegeben, daß zwingende Gründe persönlicher Art ihn daran
gehindert hätten, Einsicht in die Akten der Kommission zu nehmen und eine
Stellungnahme abzugeben. Beim Gericht ist jedoch ein entsprechender Antrag auf
Fristverlängerung nicht eingegangen, und Wacker und Hoechst haben keine
Stellungnahme eingereicht. Unter diesen Umständen haben diese beiden
Klägerinnen nicht nachweisen können, daß die Nichtübermittlung von
Schriftstücken im Verwaltungsverfahren ihre Verteidigungsrechte verletzt hat.
- 1027.
- Die Kommission hat ihre Stellungnahme am 12. Dezember 1997 eingereicht.
- 1028.
- Montedison hatte, wie bereits festgestellt, keinen die Einsicht in die
Verfahrensakten betreffenden Klagegrund geltend gemacht. Daher ist die von
dieser Klägerin eingereichte Stellungnahme nicht zu berücksichtigen.
- 1029.
- Unter diesen Umständen ist zu prüfen, welche Bedeutung den Stellungnahmen
zukommt, die die neun anderen Klägerinnen auf die vom Gericht verfügte
prozeßleitende Maßnahme hin eingereicht haben.
B Zu den im Rahmen der prozeßleitenden Maßnahme eingereichten Stellungnahmen
Vorbringen der Parteien
- 1030.
- Die neun Klägerinnen, deren Stellungnahmen zulässig sind, haben eine Reihe von
Schriftstücken vorgelegt, deren Nichtmitteilung nach ihrer Ansicht ihre
Verteidigungsrechte möglicherweise verletzt hat.
- 1031.
- Einige Klägerinnen machen geltend, daß die Kommission ihnen im
Verwaltungsverfahren nicht nur Einsicht in die Akten verweigert habe, sondern
darüber hinaus einige Stellen in den von ihr übermittelten Schriftstücken vorsätzlich
geschwärzt habe. Diese Stellen enthielten Bemerkungen, die die Auffassung der
Klägerinnen hätten stützen können.
- 1032.
- Einige Klägerinnen machen ebenfalls geltend, daß wegen der Länge des
verstrichenen Zeitraums eine sachgerechte Prüfung der eingesehenen Schriftstücke
nicht mehr möglich gewesen sei.
- 1033.
- Andere tragen vor, daß die von ihnen angeführten Schriftstücke bereits hinreichend
bewiesen, inwiefern ihre Verteidigungsrechte möglicherweise verletzt worden seien,
daß aber auch andere Schriftstücke zur Stützung dieser Feststellung hätten
vorgelegt werden können.
- 1034.
- DSM und LVM haben zudem beantragt, die Vorlage der Berichte über die
Nachprüfungen anzuordnen, die die Kommission am Sitz der Unternehmen
durchgeführt hat.
Würdigung durch das Gericht
- 1035.
- Vorab ist darauf hinzuweisen, daß mit dieser Prüfung festgestellt werden soll, ob
die Nichtübermittlung von Schriftstücken oder Auszügen daraus die
Verteidigungsmöglichkeiten der Klägerinnen hat beeinträchtigen können. Die
Tatsache, daß nunmehr offen gelegte Stellen in den Schriftstücken ursprünglich im
Verwaltungsverfahren von der Kommission geschwärzt waren, ändert nichts am
Umfang der Prüfung durch das Gericht. Eine eventuelle Verletzung der
Verteidigungsrechte ist ein objektiver Tatbestand, der nicht von der Gut- oder
Bösgläubigkeit der Beamten der Kommission abhängt.
- 1036.
- Die Klägerinnen haben über eine Frist von fast drei Monaten verfügt, um Einsicht
in die Akten der Kommission zu nehmen und ihre Stellungnahme abzugeben. Da
die Unternehmen, die eine unzureichende Einsicht in die Verfahrensakten gerügt
haben, dartun müssen, inwiefern ihre Verteidigungsrechte beeinträchtigt worden
sind, und da sie hierfür hinreichend Zeit gehabt haben, sind nur die von ihnen
vorgelegten Schriftstücke zu berücksichtigen. Die Klägerinnen können sich nicht mit
Erfolg auf den Hinweis beschränken, daß die Zahl der von ihnen in ihrer
Stellungnahme angegebenen und auch beigefügten Schriftstücke nicht abschließend
sei.
- 1037.
- Schließlich hat die vorzunehmende Prüfung im Hinblick auf die Feststellungen, die
die Kommission in ihrer Entscheidung getroffen hat, objektiven Charakter. Das
Alter der fraglichen Schriftstücke kann daher für die Ermittlung einer eventuellen
Verletzung der Verteidigungsrechte kein Hindernis sein.
- 1038.
- Im vorliegenden Fall sind die Stellungnahmen der Klägerinnen zusammen zu
untersuchen.
- 1039.
- Erstens können sich die Klägerinnen nicht auf Schriftstücke oder Auszüge daraus
berufen, über die sie schon im Verwaltungsverfahren verfügten. Dies gilt
insbesondere für die Schriftstücke in der Anlage zur Mitteilung der
Beschwerdepunkte oder zum Schreiben der Kommission vom 3. Mai 1988. Zweck
der vom Gericht verfügten prozeßleitenden Maßnahme war nämlich die Prüfung,
ob Schriftstücke, die den Klägerinnen im Verwaltungsverfahren nicht übermittelt
worden sind, die Feststellungen der Kommission, wenn sie denn übermittelt worden
wären, hätten beeinflussen können. Dieser Vorbehalt gilt jedoch nicht für die
bereits übermittelten Schriftstücke, soweit die Klägerinnen sich auf Stellen berufen,
die geheimgehalten worden waren. Somit sind auszuschließen die Anlagen 9, 10,
11, 15, 21 und 23 zur Stellungnahme von DSM und LVM, 4 und 6 zu der von Elf
Atochem, 134 zu der von BASF, 10 zu der von SAV, 13 zu der von ICI, 12, 15 und
26 zu der von Hüls sowie 9, 26 und 28 zu der von Enichem.
- 1040.
- Zweitens müssen für die vorliegende Prüfung auch die von den Klägerinnen geltend
gemachten Schriftstücke und Auszüge daraus unberücksichtigt bleiben, die einen
Zeitraum betreffen, der vor dem Beginn des Kartells oder nach dem Zeitpunkt der
Beendigung der Zuwiderhandlung liegt, den die Kommission für die Bemessung der
Geldbuße zugrunde gelegt hat. Dabei ist nicht das Datum des Schriftstücks
maßgeblich, sondern die Bedeutung der von den Klägerinnen angeführten Stelle
für den Zeitraum der Zuwiderhandlung. Somit müssen unberücksichtigt bleiben die
Anlagen 8, 16 bis 18 und 23 bis 29 zur Stellungnahme von DSM und LVM, 2 und
3 zu der von Elf Atochem, 132 bis 138, 141 und 142 zu der von BASF, 1, 2, 6 bis
9 und 11 zu der von SAV, 18, 25, 27 und 34 zu der von Hüls sowie 1, 11, 15, 26,
32 (4), 40, 45, 54 (2) und (3) zu der von Enichem.
- 1041.
- Drittens haben einige der von den Klägerinnen angeführten Schriftstücke keinen
Bezug zu den von der Kommission erhobenen Vorwürfen. Die Nichtübermittlung
dieser Schriftstücke kann daher die Verteidigungsmöglichkeiten der Unternehmen
nicht beeinflußt haben. Dies gilt für die Unterlagen, die die Drittlandsmärkte (vgl.
Entscheidung, Randnr. 39, Fußnote 1) oder die Verkäufe von Nebenprodukten
betreffen (namentlich Anlagen 7 zu der Stellungnahme von Elf Atochem sowie 3
und 4 zu der von SAV).
- 1042.
- Die Klägerinnen führen auch einige Schriftstücke an, in denen auf mündlich erteilte
Preisanweisungen verwiesen wird. Dies widerlege die Behauptung der Kommission,
gerade die Tatsache, daß bei mehreren Herstellern schriftliche Anweisungen
fehlten, beweise, daß diese „etwas“ zu verbergen hätten. Zwar hat die Kommission
tatsächlich festgestellt, daß bei einigen Unternehmen keine Preisunterlagen
vorhanden waren, und bezweifelt, daß kein Preisziel schriftlich festgesetzt werden
konnte, doch hat sie daraus nicht den Schluß gezogen, daß das Fehlen solcher
Anweisungen die Beteiligung dieser Unternehmen an den Preisinitiativen beweist
(vgl. Entscheidung, Randnr. 20). Die von den Klägerinnen in diesem
Zusammenhang angeführten Schriftstücke sind somit nicht erheblich. Im übrigen
geben die Klägerinnen diese Schriftstücke nur unvollständig wieder, da dort
ausdrücklich darauf hingewiesen wird, daß die mündlichen Anweisungen durch die
Übersendung schriftlicher Listen ergänzt würden (insbesondere Anlagen 30 zu der
Stellungnahme von DSM und LVM und 41 zu der von Enichem).
- 1043.
- Somit sind die übrigen von den Klägerinnen vorgelegten Schriftstücke zu prüfen.
- 1044.
- Allgemein weisen einige Klägerinnen darauf hin, daß die von ihnen vorgelegten
Schriftstücke keinen Hinweis auf eine Vereinbarung oder abgestimmte
Verhaltensweise zwischen den Unternehmen enthielten (Anlagen 19 und 31 zu der
Stellungnahme von DSM und LVM und 135 zu der von BASF). Daß Schriftstückekeinen solchen Hinweis enthalten, kann jedoch an den Schlußfolgerungen der
Kommission, die auf schriftliche Beweise gestützt sind, nichts ändern. Dies gilt
insbesondere für Pressekomminiqués oder Schreiben eines Herstellers an seine
Kunden zur Ankündigung einer Preiserhöhung. In solchen Schriftstücken ist
nämlich ein Hinweis, daß diese Erhöhung in Absprache mit anderen Herstellern
erfolgt, nicht zu erwarten.
- 1045.
- Die Klägerinnen beziehen sich weiterhin auf drei interne Schriftstücke von Shell
vom 12. Juli 1982, 19. April 1983 und 4. November 1983, die mit „business plans“
überschrieben sind und die Zeiträume 1982/86, 1983/87 und 1984/87 erfassen
(Anlagen 1 bis 3 zu der Stellungnahme von DSM und LVM sowie 1 und 2 zu der
von ICI). Unabhängig davon, daß diese Schriftstücke zur Zeit des
Verwaltungsverfahrens vertraulich waren, kann die Tatsache, daß in diesen
Schriftstücken von einer Zuwiderhandlung gegen Artikel 85 EG-Vertrag nicht die
Rede ist, die von der Kommission vorgelegten schriftlichen Beweise nicht
erschüttern. Diese Schriftstücke betreffen ihrem Wesen nach Marktprognosen für
die Zukunft. Die Hinweise auf einen zu erwartenden „Konkurrenzdruck“ oder die
Annahme („underlying assumption“) einer ganz auf Wettbewerb ausgerichteten
Preispolitik können die Schlußfolgerungen der Kommission nicht beeinträchtigen,
die sich auf spätere Unterlagen stützen, die aus der Zeit der beanstandeten
Handlungen stammen und für 1983 und 1984 Preisinitiativen belegen, an denen
u. a. Shell teilgenommen hat.
- 1046.
- Einige Klägerinnen verweisen darauf, daß einige Schriftstücke die durch
Überkapazität gekennzeichnete Marktlage, die den Herstellern im
entscheidungserheblichen Zeitraum entstandenen Verluste und die
Umstrukturierung einiger Unternehmen veranschaulichten (z. B. Anlagen 139 zu
der Stellungnahme von BASF und 13 zu der von Hüls).
- 1047.
- Die Kommission hat jedoch der Lage des Marktes und der Unternehmen in vollem
Umfang Rechnung getragen (Entscheidung, Randnrn. 5 und 36), auch bei der
Bemessung der Geldbuße (Entscheidung, Randnr. 52, zweiter Absatz). Wie bereits
festgestellt, sind diese Umstände als solche nicht geeignet, die Anwendung des
Artikels 85 EG-Vertrag auszuschließen (vgl. vorstehend, Randnr. 740).
- 1048.
- LVM und DSM berufen sich auf ein handschriftliches Dokument von 1983, das die
Abschrift der handschriftlichen Anmerkungen auf den Planungsdokumenten
enthalte (Anlage 6 zu ihrer Stellungnahme). Sie führen aber nicht näher aus,
inwiefern diese Anmerkungen, die den Klägerinnen bei der Anhörung vor der
Kommission im September 1988 übergeben wurden (vgl. vorstehend, Randnrn. 503
bis 505), den Sinn der Planungsdokumente verändern.
- 1049.
- Die Klägerinnen berufen sich sodann auf Schriftstücke, die den von der
Kommission zur Stützung ihrer Feststellungen vorgelegten Schriftstücken
unmittelbar die Beweiskraft nähmen.
- 1050.
- So sei einigen Schriftstücken zu entnehmen, daß der Begriff „Ausgleich“ nicht den
Sinn habe, den die Kommission ihm in der Entscheidung beimesse (namentlich
Anlage 5 zu der Stellungnahme von Elf Atochem und 11 zu der von ICI). Die
Verwendung desselben Begriffes in offenkundig anderen Zusammenhängen kann
jedoch die Feststellungen der Kommission nicht erschüttern. Das Vorliegen einer
Ausgleichsregelung, wie sie die Kommission in der Entscheidung angeführt hat,
ergibt sich ausdrücklich aus dem Schriftstück „sharing the pain“ und dem Alcudia-Dokument (vgl. vorstehend, Randnrn. 588 bis 593). Es ergibt sich auch aus dem
DSM-Dokument und aus dem Vergleich dieses Dokuments mit den beiden
vorangegangenen (vgl. vorstehend, Randnrn. 594 bis 598).
- 1051.
- Elf Atochem verweist auf ein Schriftstück, das die Entwicklung der Marktanteile
von Shell 1981 zeige, die mit einem Ausgleichssystem der Hersteller nicht vereinbar
sei (Anlage 1 zu der Stellungnahme der Klägerin). Aus der Entscheidung ergibt sich
jedoch, daß Shell gerade der einzige Hersteller gewesen ist, der nicht an dieser
Regelung teilgenommen hat, und daß die Kommission eine Beteiligung von Shell
an der Zuwiderhandlung erst von 1982 an angenommen hat.
- 1052.
- DSM, LVM und Enichem berufen sich auch auf Tabellen in der Anlage zu der
Antwort von ICI auf ein Auskunftsverlangen (Anlagen 37 zu der Stellungnahme
von DSM und LVM sowie 37 bis 39 zu der von Enichem). Zwar sei diese Antwort
vom 5. Juni 1984 als Anlage 4 der Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügt
gewesen, jedoch ohne die betreffenden Tabellen, die die internen Zielpreise von
ICI von September 1980 bis Dezember 1983 für den jeweiligen nationalen Markt
enthielten. Diese Tabellen zeigten andere Zielpreise, als sie die Kommission in
ihrer Entscheidung ermittelt habe. Die Unterschiede zwischen diesen Preisen
sprächen gegen eine Absprache der Preisinitiativen.
- 1053.
- Diese Tabellen waren jedoch für das Verfahren zur Feststellung der
Zuwiderhandlung erstellt worden. Die Behauptung von ICI, daß es sich um
unternehmensinterne Preisinitiativen handele, kann daher die Feststellungen der
Kommission bezüglich der von ihr vorgelegten Schriftstücke nicht beeinträchtigen.
Unabhängig von der Frage der Wechselkurse, die Enichem für die Umrechnung
der von ICI mitgeteilten Preisziele, die in nationaler Währung ausgedrückt waren,
in Deutsche Mark, die Währung, in der die Preisinitiativen in den Tabellen in der
Anlage zur Entscheidung ausgedrückt sind, zugrunde gelegt hat, ist festzustellen,
daß die Klägerinnen die Anmerkungen und Vorbehalte von ICI selbst zu diesen
Tabellen außer acht lassen. So hat ICI erklärt, daß es sich um die Preise handele,
die für „zweitrangige“ Kunden gegolten hätten, und daß das Fehlen eines
Hinweises auf eine Preisinitiative für einen bestimmten Monat nicht bedeute, daß
es eine solche nicht gegeben habe, sondern daß hierüber keine schriftlichen
Aufzeichnungen vorlägen. Tatsächlich enthalten diese Tabellen keinen Hinweis auf
Preisinitiativen, die sich aber ausdrücklich aus Unterlagen dieses Unternehmens
ergeben, die der Mitteilung der Beschwerdepunkte als Anlage beigefügt waren. Die
von Enichem angeführten Unterschiede beruhen darauf, daß ICI die Preise für die
„zweitrangigen“ Kunden angegeben hat, bestehen aber nicht mehr, wenn man die
Preise für die Hauptkunden berücksichtigt, wie sie in den Anlagen zur Mitteilung
der Beschwerdepunkte angegeben sind.
- 1054.
- Hüls führt ein Schreiben von ICI vom 7. März 1983 an, das die Auslegung der
Anlage P45 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte vom 6. April 1983 über die in
zwei Phasen, zum 1. April und zum 1. Mai 1983, erfolgte Preisinitiative in Frage
stelle (Anlage 11 zur Stellungnahme von Hüls). Dieses Schreiben zeige nämlich,
daß ICI ihre Preise individuell entsprechend der Nachfrage auf dem Markt selbst
auf die Gefahr des Verlustes von Kunden festgesetzt habe.
- 1055.
- Die streitige gemeinsame Initiative wird durch mehrere Schriftstücke (u. a. die
Anlagen 42 und P42 bis P53 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte) und nicht nur
durch die Anlage P45 belegt. Die Kommission hat bewiesen, daß am 2. März 1983
eine Herstellersitzung in Paris stattgefunden hat, auf der sowohl die Absatzmengen
als auch die Höhe der Preise erörtert wurden. Im übrigen hat Hüls auch ein
Fernschreiben von ICI vom 4. März 1983 (Anlage 10 zur Stellungnahme dieser
Klägerin) vorgelegt, aus dem sich ergibt, daß ICI ein energisches Vorgehen zur
Anhebung der Preise auf 1,50 DM/kg zum 1. April beschlossen hatte. Zwei Tage
nach der Sitzung in Paris hatte ICI also eine Preisanhebung beschlossen, deren
Zeitpunkt und Höhe mit der von der Kommission in der Entscheidung
festgestellten Initiative übereinstimmten. Schließlich bezieht sich ein anderes
Fernschreiben von ICI von Anfang März 1983 (Anlage 19 zur Stellungnahme von
Hüls) nicht nur auf die Preisinitiative vom 1. April 1983, sondern auch auf die vom
1. Mai 1983 zur Anhebung der Preise auf mindestens 1,65 DM/kg. Dies ist auch im
Zusammenhang mit der Anlage P43 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte zu
sehen, die zwar kein Datum trägt, ihrem Inhalt nach aber vor Montag, dem 7. März
1983, verfaßt worden sein muß. In diesem Schriftstück wird bereits der Beschluß
einer Anhebung der Preise zum 1. April und 1. Mai 1983 unter Angabe der
Zielpreise angeführt.
- 1056.
- Unter diesen Umständen stellt das Schreiben von ICI vom 7. März 1983, das von
dem Vertreter von ICI auf den Herstellersitzungen unterzeichnet ist, nicht nur die
Feststellungen der Kommission nicht in Frage, sondern bestätigt sie vielmehr.
Wenn sich der Verfasser angesichts des Scheiterns der vorangegangenen Initiative
vom 1. Januar 1983, die ebenfalls von der Kommission in der Entscheidung
angeführt worden ist, fragt, ob diese neue Initiative Erfolg haben werde, spricht
dies nicht gegen die Tatsache, daß sie das Ergebnis einer Abstimmung der
Hersteller fünf Tage früher in Paris war.
- 1057.
- DSM, LVM (Anlage 30 zu ihrer Stellungnahme) und Hüls (Anlage 20 zu ihrer
Stellungnahme) führen auch ein Schriftstück von ICI vom 19. April 1983 an, das
belege, daß ICI von der Preisinitiative erst aufgrund von Informationen erfahren
habe, die sie auf dem Markt erlangt habe. Die Klägerinnen lassen aber die
Tatsache außer acht, daß ICI schon in den ersten Tagen des März, d. h.
unmittelbar nach der Herstellersitzung vom 2. März 1983 in Paris, über den
Zeitpunkt und die Höhe der Preisinitiative vom 1. Mai 1983 unterrichtet war (vgl.
vorstehend, Randnr. 1055). Das Schriftstück vom 19. April 1983 verweist im übrigen
selbst auf ein früheres Schreiben vom 10. März 1983.
- 1058.
- Enichem legt zudem eine Reihe von Schriftstücken vor, die die Feststellung der
Kommission in Frage stellten, daß die Initiativen in Deutscher Mark festgesetzt und
anschließend in die nationale Währung umgerechnet worden seien. Dieser Streit
hat jedoch keine Bedeutung. Zum einen ergibt sich aus den Anlagen P1 bis P70,
daß die europäischen Zielpreise tatsächlich in Deutscher Mark vereinbart wurden.
Die Klägerin hat sich im übrigen selbst auf Auszüge zahlreicher Schriftstücke
bezogen, die diesen Sachverhalt bestätigen (z. B. Anlagen 2 und 36 zu ihrer
Stellungnahme). Zum anderen ist offenkundig, daß diese Preise zu ihrer
Durchsetzung in die nationale Währung umgerechnet werden mußten. Schließlich
hat die Kommission niemals behauptet, daß die Preisinitiativen die völlige
Übereinstimmung der auf den nationalen Märkten tatsächlich angewandten Preise
gewährleistet hätten.
- 1059.
- Einige Schriftstücke sollen belegen, daß die Unternehmen von ihren Kunden oder
der Fachpresse über die Preisinitiativen der anderen Hersteller unterrichtet worden
seien (Anlagen 31 und 33 zu der Stellungnahme von DSM und LVM, 140 zu der
von BASF, 9 und 33 zu der von Hüls, 3 bis 6 und 10 bis 12 zu der von Enichem).
Diese Unterlagen lassen jedoch nicht den Schluß zu, daß die Unternehmen nur
über diese Kanäle von einer Preisinitiative erfahren haben. Dagegen ist mit ihnen
die Auffassung vereinbar, daß die Klägerinnen bei den Kunden oder über die
Fachpresse zu überprüfen versuchten, ob die Konkurrenten eine Preiserhöhung
tatsächlich angekündigt und zum vorgesehenen Zeitpunkt durchgeführt hatten
was sich auch aus Schriftstücken ergibt, die bereits in den Anlagen P1 bis P70
übermittelt wurden. Da diese Initiativen oft nicht in dem verlangten Umfang
befolgt wurden, erlaubte diese Information vor allem jedem Unternehmen, sich
über die Folgen einer Initiative zu vergewissern und seine Politik je nach dem
Erfolg oder dem völligen oder teilweisen Mißerfolg einer Initiative anzupassen.
- 1060.
- Die anderen von den Klägerinnen angeführten Schriftstücke sollen beweisen, daß
in der Zeit der Zuwiderhandlung auf dem PVC-Markt ein lebhafter Wettbewerb
geherrscht habe, was in völligem Gegensatz zu den Folgerungen der Kommission
stehe. Die Klägerinnen beziehen sich insbesondere auf Schriftstücke, die
„aggressive“ Konkurrenten anführen oder auf für eine Preiserhöhung günstige oder
ungünstige wirtschaftliche Bedingungen hinweisen, was nach Ansicht der
Unternehmen bedeutet, daß die Initiativen nicht abgesprochen, sondern einseitig
entsprechend der Marktlage beschlossen worden seien.
- 1061.
- Diese Unterlagen sollen nicht unmittelbar die von der Kommission zur Stützung
ihrer Schlußfolgerungen vorgelegten Schriftstücke widerlegen, sondern einen
lebhaften Wettbewerb beweisen, der im Gegensatz zu diesen Folgerungen steht.
- 1062.
- Wie sich jedoch aus der Entscheidung ergibt, sind diese Umstände in vollem
Umfang berücksichtigt worden. So behauptet die Kommission nicht, daß die Preise
in dem Zeitraum der Zuwiderhandlung ständig gestiegen oder auch nur stabil
geblieben seien. Die Tabellen in der Anlage zu der Entscheidung zeigen vielmehr,
daß die Preise ständig geschwankt und ihren Tiefststand im ersten Quartal 1982
erreicht haben. Die Kommission hat somit ausdrücklich anerkannt, daß die
Preisinitiativen einen gemischten Erfolg hatten und gelegentlich als gescheitert
angesehen wurden (Entscheidung, Randnrn. 22 und 36 bis 38). Sie hat auch einige
Gründe hierfür genannt: Neben den nicht von den Herstellern beeinflußten
Faktoren (vorgezogene Käufe der Verbraucher, Einfuhren aus Drittländern,
Rückgang der Nachfrage insbesondere 1981 und 1982, Sonderrabatte) hat die
Kommission darauf hingewiesen, daß einige Hersteller gelegentlich ihrem
Auftragsvolumen den Vorrang vor den Preisen eingeräumt haben (Entscheidung,
Randnrn. 22 und 38) und daß es angesichts der Besonderheiten des Marktes
aussichtslos gewesen wäre, konzertierte Preisinitiativen zu vereinbaren, wenn die
Bedingungen für einen Preisanstieg ungünstig gewesen wären (Entscheidung,Randnr. 38). Die Kommission hat zudem das „aggressive“ Verhalten einiger
Unternehmen nicht außer acht gelassen (Entscheidung, Randnr. 22). Ebenso hat
sie festgestellt, daß das Schriftstück „sharing the pain“ sowie die Dokumente von
Alcudia und DSM zwar eine Ausgleichsregelung der Hersteller belegten, aber auch
die Schlußfolgerung erlaubten, daß diese Regelungen nicht richtig funktioniert
hätten (Entscheidung, Randnr. 11). Die Kommission hat die Höhe der gegen die
Klägerinnen verhängten Geldbußen aufgrund all dieser Erwägungen festgesetzt.
- 1063.
- Sowohl die Anlagen P1 bis P70 als auch die von der Kommission den Parteien im
Mai 1988 übermittelten Unterlagen lieferten bereits eine Fülle von Informationen,
auf deren Grundlage die Klägerinnen, wie sie es im übrigen auch getan haben, die
Umstände geltend machen konnten, auf die sie sich heute berufen.
- 1064.
- Beschränkt man sich bei einigen der vorgelegten Schriftstücke nicht auf die von den
Klägerinnen angeführten Stellen, sondern liest sie als Ganzes oder in Verbindung
mit anderen Anlagen zur Mitteilung der Beschwerdepunkte, so bestätigen diese
Schriftstücke sogar die Schlußfolgerungen der Kommission.
- 1065.
- So unterstützten Konkurrenten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt als aggressiv
bezeichnet wurden, im Gegensatz dazu eine frühere oder folgende Preisinitiative.
ICI beruft sich z. B. auf ein Schriftstück von Shell vom Juli 1982, in dem sie als
voraussichtlich aggressiver Wettbewerber beschrieben wird (Anlage 4 zur
Stellungnahme); die Anlage P37 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte, die von ICI
stammt, bezeugt jedoch deren starke Unterstützung für die Preisinitiative von
September 1982. Gleiches ist festzustellen, wenn man die Anlage 12 der
Stellungnahme von ICI mit den Anlagen P38 und P40 zur Mitteilung der
Beschwerdepunkte vergleicht. Die gleiche Schlußfolgerung ergibt sich auch für
DSM namentlich aus den Anlagen P5, P13, P28 und P41 zur Mitteilung der
Beschwerdepunkte.
- 1066.
- In einem internen Vermerk von Wacker vom 7. Juni 1982 (Anlagen 7 zu der
Stellungnahme von Shell, 5 zu der von SAV und 14 zu der von ICI) heißt es nach
dem Hinweis auf den katastrophalen Preisverfall an einer Stelle, auf die sich die
Klägerinnen beziehen: „Starke Marktanteilgewinne [in Deutschland für den
Zeitraum Januar bis Mai 1982]: Shell und Enoxy; mittlere Marktanteilgewinne:
DSM, SAV, PCUK; überdurchschnittliche Verluste neben Wacker Hoechst,
Orgavyl und CWH sowie BASF.“ In der folgenden Zeile fährt der Verfasser jedoch
fort: „Seit Mai sind Bestrebungen im Gange, die Preise für homopolymeres PVC
zu sanieren.“ Diese angeblich individuellen Bestrebungen auf einem vom
Wettbewerb geprägten Markt bestanden in der Festlegung eines Zielpreises für den
1. Mai 1982, der um 35 % über dem Marktpreis lag, und eines neuen Zielpreises
für den 1. Juni 1982, der um mehr als 10 % über dem vorangegangenen Zielpreis
lag (d. h. Preise von 1,35 DM/kg bzw. 1,50 DM/kg, die den Zielpreisen
entsprechen, die die Kommission zu dem jeweiligen Zeitpunkt ermittelt hat). Dies
ist im Zusammenhang mit der ebenfalls von Wacker stammenden Anlage P25 zur
Mitteilung der Beschwerdepunkte zu sehen, in der der Verfasser trotz dieser
erheblichen Erhöhung in der von den Klägerinnen beschriebenen
Wettbewerbssituation bemerkt: „Dadurch dürften die Lieferungen im Mai gut ...
sein.“ Ebenso heißt es in der Anlage P23 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte
nach der Feststellung, daß die Preise im April auf 1 DM/kg gesunken seien: „[D]er
Preisrutsch ist Ende des Monats aufgrund der Ankündigung einer allgemeinen
Erhöhung der europäischen Preise auf 1,35 DM/kg zum 1. Mai zum Stehen
gekommen.“ Sowohl aufgrund des Vermerks von Wacker vom 3. März 1982, den
die Kommission den Parteien am 3. Mai 1988 übermittelt hatte, als auch aufgrund
der Anlage P25 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte hätte das gleiche Argument
geltend gemacht werden können, das die Klägerinnen aufgrund des Vermerks von
Wacker vom 7. Juni 1982 angeführt haben.
- 1067.
- Ebenso enthält ein Vermerk von Solvay vom 22. März 1983 (Anlage 43 zur
Stellungnahme von Enichem) nach dem Hinweis auf die besorgniserregende
Preissituation und die Aggressivität einiger Hersteller folgenden Kommentar:
„Heute stehen wir wieder einmal kurz vor dem Versuch einer Preiserhöhung.“ In
diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß die Kommission aufgrund von
Schriftstücken, die von anderen Unternehmen stammen, eine Initiative festgestellt
hat, die am 1. April 1983 erfolgt ist. Das genannte Schriftstück erwähnt darüber
hinaus die Preisinitiativen von Mai, Juni und September 1982, die alle drei von der
Kommission in der Entscheidung angeführt worden sind.
- 1068.
- Schließlich verweisen sehr viele von den Klägerinnen vorgelegte Schriftstücke
ausdrücklich auf „Preisinitiativen“, deren Zeitpunkt und Höhe genau mit denen
übereinstimmen, die die Kommission in der Entscheidung angeführt hat.
- 1069.
- Shell beruft sich auch auf Unterlagen von ICI, die bestätigten, was sie stets geltend
gemacht habe, nämlich daß sie als Dienstleistungsgesellschaft nicht in der Lage
gewesen sei, den Vertriebsgesellschaften der Gruppe in den verschiedenen
Mitgliedstaaten irgendein Verhalten vorzuschreiben (Anlagen 2 und 3 zu der
Stellungnahme von Shell). Darauf hat die Kommission in der Entscheidung jedoch
ausdrücklich hingewiesen (Randnr. 46), auch wenn sie trotzdem die Meinung
vertreten hat, daß die Entscheidung vor allem deshalb an die Klägerin zu richten
sei, weil diese die Einheit gewesen sei, die mit dem Kartell in Verbindung
gestanden habe. In einem dieser Schriftstücke (Anlage 3 zu der Stellungnahme von
Shell), einem Bericht über die Sitzung von ICI und Shell, hat letztere angegeben,
„welchen Weg ICI innerhalb von Shell gehen muß“, um eine Koordinierung
innerhalb der Gruppe zu erreichen.
- 1070.
- Speziell zu den Herstellersitzungen und der Regelung zur Überwachung der
Verkäufe sind keine Unterlagen vorgelegt worden.
- 1071.
- Die Berichte über die am Sitz der Unternehmen durchgeführten Nachprüfungen,
deren Vorlage einige Klägerinnen beantragt haben, sind kommissionsinterne
Schriftstücke. Als solche sind sie den Klägerinnen nicht zugänglich (vgl. vorstehend,
Randnr. 1015). Die Tatsache, daß zwei Berichte trotzdem übermittelt worden sind,
kann hieran nichts ändern.
- 1072.
- Diese beiden Berichte müssen ungeachtet ihres Inhalts unberücksichtigt bleiben, da
sie zu Recht bei der Akteneinsicht nicht vorgelegt worden wären, wenn diese 1988
stattgefunden hätte. Im übrigen sind diese Schriftstücke, die am nächsten Tag oder
einige Tage später nach der am 20. und 21. Januar 1987 in den Geschäftsräumen
von BASF durchgeführten Nachprüfung verfaßt wurden und aus denen sich ergibt,
daß keine Indizien für eine abgestimmte Verhaltensweise gefunden werden
konnten, nicht geeignet, den Beweiswert der Unterlagen zu erschüttern, die die
Kommission zur Stützung ihrer endgültigen Schlußfolgerungen zusammengetragen
hat.
- 1073.
- Hüls und Enichem haben darauf hingewiesen, daß neben den kommissionsinternen
Schriftstücken und Schriftstücken, auf deren vertrauliche Behandlung das
Unternehmen, von dem sie stammten, nicht verzichtet habe, einige Seiten der
Akten den Klägerinnen nicht mitgeteilt worden seien; sie haben jedoch keinen
förmlichen Antrag auf Vorlage dieser Schriftstücke gestellt. Dabei handelt es sich
um ein Auskunftsverlangen, das im Untersuchungsverfahren an die Kemanord
gestellt wurde; ein solches Verlangen kann seinem Wesen nach keine für die
Verteidigung der Klägerinnen nützlichen Hinweise enthalten. Die anderen
Unterlagen bestehen in Anschreiben oder Deckblättern von Fernkopien, die
Drittunternehmen an die Kommission oder umgekehrt gesandt haben. Wie die
Kommission ausgeführt hat, stand es ihr nicht zu, diese Unterlagen herauszugeben,
da die betreffenden Unternehmen auf die vertrauliche Behandlung nicht verzichtet
hatten. Im übrigen spricht nichts dafür, daß diese Unterlagen im Rahmen der
vorliegenden Prüfung irgendwie nützlich sein könnten. Enichem hat ebenfalls auf
ein Schreiben von Wacker verwiesen, das ihr nicht mitgeteilt worden sei. Aus dem
Schreiben der Kommission an die Kanzlei des Gerichts vom 17. Juli 1997 ergibt
sich jedoch, daß dieses Schriftstück den Klägerinnen zugänglich war und blieb.
- 1074.
- Aus der erschöpfenden Prüfung der von den Klägerinnen angeführten Schriftstücke
durch das Gericht ergibt sich, daß keine Klägerin den Nachweis erbracht hat, daß
durch die Nichtübermittlung eines Schriftstücks, das sie hätten kennen müssen, der
Ablauf des Verfahrens und die Entscheidung zu ihren Ungunsten beeinflußt
werden konnte.
- 1075.
- Nach alledem sind die Klagegründe bezüglich der Einsicht in die Verfahrensakten
der Kommission zurückzuweisen.
Geldbußen
- 1076.
- Alle Klägerinnen haben hilfsweise beantragt, die verhängten Geldbußen für nichtig
zu erklären oder herabzusetzen. Ihre Argumentation gliedert sich in fünf Teile.
Erstens führen sie Klagegründe an, die mit der Länge des verstrichenen Zeitraums
und den Verjährungsvorschriften der Verordnung Nr. 2988/74 zusammenhängen (I).
Zweitens rügen sie einen Verstoß gegen Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr.
17 (II). Drittens werfen sie der Kommission eine unzureichende Begründung vor
(III). Viertens machen sie geltend, die Kommission habe verschiedene
Beurteilungsfehler begangen (IV). Fünftens rügen sie den Verstoß gegen einige
allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts (V).
I Zu den Klagegründen, die sich auf die Länge des verstrichenen Zeitraums und die
Verjährung stützen
- 1077.
- Zur Stützung ihrer Anträge auf Nichtigerklärung oder Herabsetzung der Geldbußen
tragen die Klägerinnen zunächst die gleichen Klagegründe vor, die sie zur Stützung
ihres Antrags auf Nichtigerklärung der Entscheidung (vgl. vorstehend, Randnrn. 100
bis 119) wegen der Länge des verstrichenen Zeitraums angeführt haben.
- 1078.
- Aus den bereits dargelegten Gründen (vgl. vorstehend, Randnrn. 120 bis 136) sind
diese Klagegründe zurückzuweisen.
- 1079.
- Somit sind die Klagegründe zu prüfen, mit denen ein Verstoß gegen die
Verordnung Nr. 2988/74 gerügt wird.
Vorbringen der Parteien
- 1080.
- Die Klägerinnen machen geltend, daß die Befugnis zur Festsetzung von Geldbußen
nach der Verordnung Nr. 2988/74 verjährt sei. Dazu tragen sie acht Argumente vor.
- 1081.
- Erstens konnten nach Ansicht von BASF die verschiedenen Abschnitte des
Verwaltungsverfahrens vor dem Erlaß der Entscheidung von 1988 die Verjährung
nicht unterbrechen, da diese Abschnitte durch das Urteil vom 15. Juni 1994 für
unwirksam erklärt worden seien.
- 1082.
- Zweitens waren nach der Ansicht von drei Klägerinnen in ihrem Fall die
Handlungen bei Erlaß der Entscheidung 1988 zumindest teilweise bereits
verjährt. So führen Montedison und Hüls aus, daß die Handlungen vor November
1982 für erstere und vor Dezember 1982 für letztere verjährt seien, da die erste
Handlung, die das Verfahren gegen sie unterbrochen habe, im November bzw. im
Dezember 1987 vorgenommen worden sei. Um zu beweisen, daß sie am 1.
November 1982 keine Verbindung mehr zu dem Kartell gehabt hat, hat
Montedison beantragt, das geschäftsführende Mitglied des Verwaltungsrats und den
für ihre Tochtergesellschaft Montedipe zuständigen Manager, die am 1. November
1982 diese Funktionen innegehabt hätten, als Zeugen zu vernehmen. DSM meint,
ihre Handlungen seien seit Januar 1988 verjährt, da sie sich im Januar 1983 vom
Markt zurückgezogen habe.
- 1083.
- Drittens machen BASF und ICI geltend, die Entscheidung 1988 sei keine
verjährungsunterbrechende Handlung im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 der
Verordnung Nr. 2988/74. Jedenfalls sei sie für nichtig erklärt worden und habe
folglich keine Rechtswirkungen mehr, auch nicht im Bereich der Verjährung.
- 1084.
- Viertens tragen LVM, BASF, DSM, ICI und Hüls vor, die Klagen gegen die
Entscheidung 1988 hätten nicht zum Ruhen der Verjährung geführt. Eine
Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt und eine Geldbuße
verhängt werde, falle nicht unter Artikel 3 der Verordnung Nr. 2988/74.
- 1085.
- Fünftens machen ICI und Hüls geltend, selbst wenn die Klagen gegen eine
Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt und eine Geldbuße
verhängt werde, zum Ruhen der Verjährung führen könnten, sei dies bei den
Klagen gegen die Entscheidung 1988 nicht der Fall. Die Länge des verstrichenen
Zeitraums könne nur der Kommission angelastet werden, die allein für die
Nichtigkeit der Entscheidung von 1988 verantwortlich sei.
- 1086.
- Sechstens tragen LVM und DSM vor, wenn die Klage gegen die Entscheidung 1988
zum Ruhen der Verjährung geführt haben sollte, ergebe sich daraus eine
Ungleichbehandlung von Solvay und Norsk Hydro auf der einen und den anderen
Unternehmen auf der anderen Seite. Da die Entscheidung 1988 vom Gerichtshof
mit Wirkung erga omnes für nichtig erklärt worden sei, könne sie gegenüber denbeiden erstgenannten Unternehmen nicht mehr vollzogen werden.
- 1087.
- Siebtens konnte nach Ansicht von LVM, DSM und ICI die Klage von Solvay gegen
ein Auskunftsverlangen, über die mit Urteil vom 18. Oktober 1989 in der
Rechtssache Solvay/Kommission entschieden worden sei, nicht zum Ruhen der
Verjährung im Falle der anderen Unternehmen führen.
- 1088.
- LVM, BASF, DSM und ICI machen achtens geltend, daß die Befugnis der
Kommission zur Verhängung der Geldbußen aufgrund der unbedingten Frist in
Artikel 2 Absatz 3 Satz 2 der Verordnung Nr. 2988/74 jedenfalls zum Zeitpunkt des
Erlasses der zweiten Entscheidung am 27. Juli 1994 verjährt gewesen sei.
Würdigung durch das Gericht
- 1089.
- Nach Artikel 1 der Verordnung Nr. 2988/74 verjährt die Befugnis der Kommission,
wegen Zuwiderhandlungen gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag Geldbußen
festzusetzen, in fünf Jahren. Die Verjährung beginnt mit dem Tag, an dem die
Zuwiderhandlung begangen worden ist, bei dauernden oder fortgesetzten
Zuwiderhandlungen mit dem Tag, an dem die Zuwiderhandlung beendet ist. Sie
kann jedoch nach den Artikeln 2 und 3 der Verordnung Nr. 2988/74 unterbrochen
werden oder ruhen.
- 1090.
- Wie bereits festgestellt (vorstehend, Randnrn. 183 bis 193), ist die Rechtsgültigkeit
der Handlungen zur Vorbereitung des Erlasses der Entscheidung 1988 durch die
Nichtigerklärung aufgrund des Urteils des Gerichtshofes vom 15. Juni 1994 nicht
in Frage gestellt worden. Daher haben diese Handlungen die Verjährung wirksam
im Sinne des Artikels 2 der Verordnung Nr. 2988/74 unterbrochen.
- 1091.
- Wie sich aus der Entscheidung ergibt (Randnr. 6), wurden am 21., 22. und 23.
November 1983 in den Geschäftsräumen von ICI und Shell und am 6. Dezember
1983 in denen von DSM Nachprüfungen durchgeführt. Ein schriftliches
Auskunftsverlangen wurde aufgrund einer Entscheidung vom 30. April 1984 an ICI
gerichtet. Nachprüfungen wurden am 20. und 21. Januar 1987 in den
Geschäftsräumen u. a. von Atochem, Enichem und Solvay und später im selben
Jahr in denen von Hüls, Wacker und LVM durchgeführt. Schließlich wurde den
Unternehmen am 5. April 1988 die Mitteilung der Beschwerdepunkte zugestellt.
- 1092.
- Erstens hat jede dieser Handlungen gemäß Artikel 2 Absatz 1 Buchstaben a, b und
d der Verordnung Nr. 2988/74 die Verjährung unterbrochen. Zweitens hat die
Verjährung nach jeder Unterbrechung gemäß Artikel 2 Absatz 3 Satz 1 dieser
Verordnung von neuem begonnen. Drittens wirkt die Verjährung gemäß Artikel 2
Absatz 2 der Verordnung gegenüber allen an der Zuwiderhandlung beteiligten
Unternehmen.
- 1093.
- Daher war die Befugnis der Kommission, Geldbußen für Handlungen zu verhängen,
die frühestens im August 1980 begangen wurden, nicht verjährt, als sie die
Entscheidung 1988 erließ. Unter diesen Umständen besteht kein Grund, dem
Antrag von Montedison auf Zeugenvernehmung stattzugeben.
- 1094.
- Die Klägerinnen bestreiten weiter, daß die Klagen gegen die Entscheidung 1988,
die alle erhoben hatten, zum Ruhen der Verjährung geführt hätten.
- 1095.
- Artikel 3 der Verordnung Nr. 2988/74 lautet: „Die Verfolgungsverjährung ruht,
solange wegen der Entscheidung der Kommission ein Verfahren vor dem
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften anhängig ist.“
- 1096.
- Nach Ansicht der Klägerinnen bezeichnet der Begriff „Entscheidung“ in Artikel 3
die in Artikel 2 dieser Verordnung aufgezählten Handlungen. Da die endgültige
Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt und eine Geldbuße
festgesetzt werde, dort nicht aufgezählt sei, hätten die Klagen gegen die
Entscheidung 1988 nicht zum Ruhen der Verjährung führen können.
- 1097.
- Nicht alle in Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung aufgeführten Handlungen sind
jedoch als Entscheidung zu qualifizieren. Dies gilt insbesondere für die schriftlichen
Auskunftsverlangen nach Artikel 11, die Prüfungsaufträge nach Artikel 14 der
Verordnung Nr. 17 oder auch die Mitteilung der Beschwerdepunkte, die nur
vorbereitende Handlungen sind. Daher läßt sich nicht die Ansicht vertreten, daß
der Begriff „Entscheidung“ in Artikel 3 der Verordnung auf die in Artikel 2 dieser
Verordnung aufgezählten Handlungen verweist.
- 1098.
- Der eigentliche Zweck des Artikels 3 ist vielmehr, die Verjährung ruhen zu lassen,
wenn die Kommission aus einem objektiven, von ihr nicht zu vertretenden Grund
wegen der Anhängigkeit einer Klage an einem Tätigwerden gehindert ist. Eine
Entscheidung, mit der die Kommission eine Geldbuße festsetzt, kann nämlich
solange nicht als bestandskräftig angesehen werden, als die gesetzliche Frist zur
Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen diese Entscheidung läuft oder solange
gegebenenfalls eine Klage anhängig ist. Endet diese Klage mit der Nichtigerklärung
der Entscheidung, kann sich die Kommission veranlaßt sehen, eine neue
Entscheidung zu erlassen. Artikel 2 der Verordnung über die Unterbrechung und
Artikel 3 über das Ruhen der Verjährung verfolgen insoweit unterschiedliche Ziele.
Während die erstgenannte Bestimmung die Konsequenz aus dem Erlaß von Ermittlungs- und Verfolgungshandlungen der Kommission ist, soll die zweite demgegenüber
einen Ausgleich in einer Situation schaffen, in der die Kommission am Handeln
gehindert ist.
- 1099.
- Die Klägerinnen können sich nicht mit Erfolg darauf berufen, daß die Klagen
gegen die Entscheidung 1988 nicht zum Ruhen der Verjährung hätten führen
können, weil die genannte Entscheidung wegen eines der Kommission
anzulastenden Verstoßes gegen wesentliche Formvorschriften für nichtig erklärt
worden sei.
- 1100.
- Artikel 3 der Verordnung, wonach die Verjährung ruht, solange ein Verfahren vor
dem Gerichtshof anhängig ist, hat nämlich nur Sinn, wenn eine mit einer Klage
angefochtene Entscheidung über die Feststellung einer Zuwiderhandlung und
Festsetzung einer Geldbuße für nichtig erklärt wird. Wie die Kommission
ausgeführt hat, ist die Nichtigerklärung eines von ihr erlassenen Rechtsakts ihr
zwangsläufig in dem Sinne zuzurechnen, daß dadurch zum Ausdruck gebracht wird,
daß sie einen Fehler begangen hat. Würde man der Auffassung der Klägerinnen
folgen, daß eine Klage die Verjährung nicht zum Ruhen bringe, wenn sie zur
Feststellung eines der Kommission zuzurechnenden Fehlers führe, hätte Artikel 3
der Verordnung keinen Sinn mehr. Allein die Anhängigkeit einer Klage vor dem
Gericht oder dem Gerichtshof und nicht das Ergebnis, zu dem diese
Rechtsprechungsorgane in ihrem Urteil kommen, rechtfertigt das Ruhen der
Verjährung.
- 1101.
- Somit hat die Verjährung solange geruht, wie die Entscheidung 1988 Gegenstand
eines Verfahrens vor dem Gericht und dem Gerichtshof war, an dem die
Klägerinnen beteiligt waren. Selbst wenn nur der Zeitpunkt der letzten, am 24.
April 1989 beim Gericht eingereichten Klage zu berücksichtigen wäre und der
Zeitraum zwischen der Verkündung des Urteils des Gerichts und der Anrufung des
Gerichtshofes außer Betracht bleiben müßte, hätte die Verjährung mindestens vier
Jahre elf Monate und zweiundzwanzig Tage geruht. Daher wäre selbst dann, wenn
die am 5. April 1988 zugestellte Mitteilung der Beschwerdepunkte, wie die
Klägerinnen meinen, die letzte verjährungsunterbrechende Handlung gemäß Artikel
2 Absatz 1 Buchstabe d der Verordnung Nr. 2988/74 gewesen wäre, die Befugnis
der Kommission zur Verhängung der Geldbußen am 27. Juli 1994, dem Zeitpunkt
des Erlasses der Entscheidung, nicht verjährt gewesen.
- 1102.
- Die Klägerinnen machen allerdings geltend, daß sie gegenüber Solvay und Norsk
Hydro diskriminiert würden, wenn die Klagen gegen die Entscheidung 1988 die
Verjährung zum Ruhen gebracht hätten.
- 1103.
- Diese Argumentation beruht jedoch auf der Annahme, daß die Nichtigerklärung
der Entscheidung 1988 durch den Gerichtshof erga omnes wirkt. Dazu genügt der
Hinweis, daß dies, wie bereits entschieden (vorstehend, Randnrn. 167 bis 174), nicht
der Fall ist.
- 1104.
- Selbst wenn die Auffassung der Klägerinnen zuträfe, würde dies nichts an der
objektiven Feststellung ändern, daß die Befugnis der Kommission, gegen sie
Geldbußen festzusetzen, nicht verjährt war.
- 1105.
- Die in Artikel 2 Absatz 3 Satz 2 der Verordnung Nr. 2988/74 vorgesehene
Höchstfrist von zehn Jahren für die Verjährung verlängert sich um den Zeitraum,
in dem die Verjährung aufgrund der Anhängigkeit von Klagen vor dem Gericht
oder Gerichtshof ruht (Artikel 2 Absatz 3 a. E. der Verordnung). Wie bereits
festgestellt, ruhte die Verjährung mindestens vier Jahre elf Monate und
zweiundzwanzig Tage. Daher war die Befugnis der Kommission zur Festsetzung von
Geldbußen für die höchstens bis August 1980 zurückreichenden Handlungen nach
Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung Nr. 2988/74 am 27. Juli 1994, dem Zeitpunkt
des Erlasses der Entscheidung, noch nicht verjährt.
- 1106.
- Nach alledem ist festzustellen, daß die Befugnis der Kommission zur Festsetzung
der Geldbußen nicht verjährt war, als sie die Entscheidung erließ. Daher erübrigt
sich die Prüfung, ob der Erlaß der Entscheidung 1988 ebenfalls die Verjährung
unterbrochen hat oder ob die Klage von Solvay gegen eine an sie gerichtete
Entscheidung über die Anforderung von Auskünften die Verjährung gegenüber den
anderen Unternehmen zum Ruhen gebracht hat. Selbst wenn dies alles zuträfe,
würde dadurch nämlich nur das Ergebnis bestätigt, daß keine Verjährung
eingetreten war.
II Zu den Klagegründen, mit denen ein Verstoß gegen Artikel 15 Absatz 2 der
Verordnung Nr. 17 gerügt wird
- 1107.
- Die Klägerinnen wenden sich gegen die Feststellung der Vorsätzlichkeit und der
Dauer der Zuwiderhandlung. Sie bestreiten auch den Umsatz, der für die
Bemessung der Geldbuße zugrunde gelegt worden ist. Schließlich werfen sie der
Kommission vor, verschiedene mildernde Umstände nicht berücksichtigt zu haben.
Zur Vorsätzlichkeit der Zuwiderhandlung
- 1108.
- LVM, DSM, Wacker, Hoechst und Enichem bestreiten, daß die Kommission eine
vorsätzlich begangene Zuwiderhandlung im Sinne des Artikels 15 Absatz 2 der
Verordnung Nr. 17 nachgewiesen habe.
- 1109.
- Diese Bestimmung lautete in der bei Erlaß der Entscheidung geltenden Fassung:
„Die Kommission kann gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen
durch Entscheidung Geldbußen in Höhe von eintausend bis zu einer Million ECU
oder über diesen Betrag hinaus bis zu zehn vom Hundert des von dem einzelnen
an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen im letzten Geschäftsjahr
erzielten Umsatzes festsetzen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig ... gegen Artikel
85 Absatz 1 ... des Vertrages verstoßen.“
- 1110.
- Im vorliegenden Fall ist die Kommission unstreitig von der Vorsätzlichkeit und
nicht von einer bloßen Fahrlässigkeit der Zuwiderhandlung ausgegangen (Randnr.
51, zweiter Absatz, der Entscheidung).
- 1111.
- Für eine vorsätzlich begangene Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln des
Vertrages ist es nicht erforderlich, daß sich das Unternehmen des Verstoßes gegen
diese Regeln bewußt gewesen ist, sondern es genügt, daß es sich nicht in
Unkenntnis darüber befinden konnte, daß sein Verhalten eine Einschränkung des
Wettbewerbs bezweckte (Urteil des Gerichtshofes vom 6. April 1995 in der
Rechtssache T-143/89, Ferriere Nord/Kommission, Slg. 1995, II-917, Randnr. 41).
- 1112.
- Im vorliegenden Fall ist angesichts der besonderen Schwere des in diesem Urteil
beschriebenen und untersuchten wiederholten Verstoßes gegen Artikel 85 Absatz
1 EG-Vertrag, insbesondere dessen Buchstaben a und c, offenkundig, daß die
Klägerinnen nicht nur unüberlegt und auch nicht fahrlässig, sondern sehr wohl
vorsätzlich gehandelt haben.
- 1113.
- Daher ist der Klagegrund zurückzuweisen.
Zur Dauer der Zuwiderhandlung
Vorbringen der Parteien
- 1114.
- Die Klägerinnen machen geltend, die Entscheidung sei, zumindest teilweise, für
nichtig zu erklären oder die Geldbuße sei für nichtig zu erklären oder
herabzusetzen, da bei der Bestimmung der Dauer der Zuwiderhandlung
verschiedene Fehler unterlaufen seien (Urteile Hoffmann-La Roche/Kommission,
Randnrn. 140 und 141, Musique Diffusion française u. a./Kommission, Randnrn.
129 und 130, Petrofina/Kommission, Randnrn. 249 ff., vom 17. Dezember 1991,
BASF/Kommission, Randnrn. 64 bis 72 und 259 bis 262, und Dunlop
Slazenger/Kommission).
- 1115.
- LVM und DSM werfen der Kommission vor, den Zeitpunkt des Beginns und der
Beendigung der ihnen vorgeworfenen Zuwiderhandlung nicht hinreichend genau
angegeben zu haben (Randnrn. 48 bzw. 54 der Entscheidung).
- 1116.
- Konkret rügt DSM, daß die Randnummern 42, 48 und 54 der Entscheidung überdie Beendigung der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung widersprüchlich seien, da
die Verantwortlichkeit von DSM nach dem Wortlaut der Entscheidung mit der
Gründung von LVM am 1. Januar 1983 geendet habe.
- 1117.
- Nach Ansicht von Elf Atochem ist die Kommission nicht in der Lage gewesen, die
Dauer der angeblichen Zuwiderhandlung nachzuweisen. Weder der Beginn noch
die Beendigung der Zuwiderhandlung seien genau belegt.
- 1118.
- BASF ist der Ansicht, daß es keinen Beweis dafür gebe, daß sie dem Kartell 1980
beigetreten sei. Ihre Beteiligung an der Zuwiderhandlung bis Mai 1984 stehe
ebenfalls nicht fest. Diese Behauptung beruhe nämlich auf der Atochem-Tabelle,
deren Beweiswert bereits entkräftet sei. Jedenfalls habe die Klägerin nicht an
Sitzungen nach Oktober 1983, dem Zeitpunkt der ersten Ermittlungen der
Kommission im Polypropylen-Bereich, teilgenommen. Zumindest hätte dies zu einer
Herabsetzung der Geldbuße führen müssen.
- 1119.
- Wacker und Hoechst machen in der Erwiderung geltend, die Entscheidung enthalte
keine ausreichende Begründung für die Feststellung der Dauer der
Zuwiderhandlung. Entgegen dem Grundsatz der individuellen Schuld sei die Dauer
der Beteiligung jedes einzelnen Adressaten der Entscheidung mit Ausnahme von
Shell und ICI nicht angegeben worden. Tatsächlich gebe es keinen Anhaltspunkt
dafür, daß beide Klägerinnen an der Zuwiderhandlung schon im August 1980, dem
angeblichen Kartellbeginn, bis zum Mai 1984, dem angeblichen Kartellende,
beteiligt gewesen seien.
- 1120.
- Für Montedison enthält die Entscheidung eine widersprüchliche Begründung. In
Randnummer 43, letzter Absatz, der Entscheidung räume die Kommission nämlich
ein, daß die Klägerin sich im März 1983 vom PVC-Markt zurückgezogen habe. Wie
sich jedoch aus den Randnummern 26 und 51 der Entscheidung ergebe, habe die
Kommission den Zeitraum nach dem März 1983 berücksichtigt.
- 1121.
- Nach Ansicht von Hüls werden in der Entscheidung nicht die Gründe dargelegt, die
die festgesetzte Geldbuße rechtfertigten. Insbesondere habe die Kommission nicht
dargelegt, von welchem Zeitpunkt an die Klägerin sich an dem Kartell beteiligt und
wann sie ihre Teilnahme beendet habe, da die Kommission nur die für die
Mehrzahl der Unternehmen zutreffende Dauer des Kartells angegeben habe. Die
Kommission habe somit gegen ihre Begründungspflicht verstoßen.
- 1122.
- Enichem macht im Rahmen eines Klagegrundes, der sich auf die unzureichende
Begründung bezieht, geltend, daß die Kommission unter Verstoß gegen Artikel 15
Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 weder die Dauer der Zuwiderhandlung noch die
Dauer der Beteiligung jedes einzelnen Unternehmens daran nachgewiesen habe.
Würdigung durch das Gericht
- 1123.
- Zunächst sind die vorstehend wiedergegebenen Argumente zu untersuchen, die
allein die Frage betreffen, ob gegen die Begründungspflicht verstoßen worden ist.
- 1124.
- Abgesehen vom Fall von DSM, der anschließend zu prüfen sein wird (Randnr.
1127 ff.), hat die Kommission in den Randnummern 48 und 54 der Entscheidung
zum einen die Dauer der Zuwiderhandlung, die sie jeder einzelnen Klägerin
angelastet hat, und zum anderen die Schriftstücke oder Grundlagen, auf die sie sich
zum Nachweis dieser Dauer stützt, klar angegeben. Somit sind sowohl die
Klägerinnen als auch das Gericht in der Lage, zu überprüfen, ob die Feststellungen
der Kommission richtig sind.
- 1125.
- Die Verordnung Nr. 17 schreibt der Kommission zwar vor, die Dauer der
Zuwiderhandlung zu bestimmen, die für die Bemessung der Geldbuße zu
berücksichtigen ist, verlangt aber nicht, daß die Kommission bestimmt, zu welchem
späteren Zeitpunkt die Zuwiderhandlung tatsächlich beendet worden ist. Somit
kann der Kommission keine unzureichende Begründung hinsichtlich des Zeitpunkts
der tatsächlichen Beendigung der Zuwiderhandlung vorgeworfen werden.
Unterstellt, daß die Zuwiderhandlung tatsächlich beendet worden ist, würde dies
nicht zur Nichtigerklärung des Artikels 2 der Entscheidung führen, sondern diese
Bestimmung lediglich insoweit wirkungslos machen, als den Unternehmen dort
aufgegeben wird, die ihnen vorgeworfenen Verhaltensweisen abzustellen.
- 1126.
- Bei der Untersuchung der Dauer der Zuwiderhandlung hat die Kommission
festgestellt, daß Montedison seine Tätigkeiten im März 1983 auf Enichem
übertragen hatte (Randnr. 43, letzter Absatz, der Entscheidung). Diese Feststellung
steht nicht im Gegensatz zu den Randnummern 26, vierter Absatz, und 51, dritter
Absatz, der Entscheidung. Die beiden letztgenannten betreffen nämlich spätere
Zeiträume und nur die Unternehmen, die auf dem PVC-Markt noch tätig waren,
d. h. offenkundig nicht die Klägerin. Der Klagegrund einer widersprüchlichen
Begründung ist insoweit zurückzuweisen.
- 1127.
- Als Zeitpunkt, der für die Beendigung der Teilnahme von DSM an der ihr
vorgeworfenen Zuwiderhandlung zugrunde gelegt worden ist, wird in der
Entscheidung „Anfang 1983“ (Randnr. 42, siebter Absatz), „April 1983“ (Randnr.
48, vierter Absatz) und „Mitte 1983“ (Randnr. 54, zweiter Absatz a. E.) genannt.
Auch wenn der Standpunkt der Kommission nicht klar erkennbar ist, wobei aber
nur die Randnummern 48 und 54 die gleiche Frage betreffen, ist jedenfalls der
April 1983 der einzige Zeitpunkt, der in dem ausdrücklich der „Dauer der
Zuwiderhandlung“ gewidmeten Abschnitt der Entscheidung genannt wird.
- 1128.
- Die Kommission hat in ihren Schriftsätzen in dieser Rechtssache bestätigt, daß sie
den Monat April 1983 zugrunde gelegt habe, da kaum vorstellbar sei, daß DSM
ihre Bedeutung im PVC-Sektor am 1. Januar 1983 von einem Tag auf den anderen
völlig verloren habe.
- 1129.
- Im Rahmen seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung der Entscheidung
stellt das Gericht fest, daß EMC Belgique (für SAV handelnd) und DSM mit
Vereinbarung vom 22. Februar 1983 ihre jeweilige PVC-Produktion mit Wirkung
zum 1. Januar 1983 auf LVM übertragen haben.
- 1130.
- Wie sich aus der von DSM stammenden Anlage P41 zur Mitteilung der
Beschwerdepunkte ergibt, wollte dieses Unternehmen „den Versuch einer
Anhebung der Preise ... zum 1. Januar [1983] unterstützen“, und es war eine
weitere Erhöhung für den Fall vorgesehen, daß die vorangegangene erfolgreich sein
sollte. Dieses Schriftstück bestätigt die Auffassung der Kommission, daß die
Entscheidungen von DSM vor ihrem Rückzug vom Markt noch in den Monaten
nach diesem Zeitpunkt Wirkungen entfalten konnten. Da die zweite von der
Kommission für 1983 festgestellte Preisinitiative am 1. April 1983 erfolgte, ist für
die Bemessung der Geldbuße davon auszugehen, daß die Wirkungen der
Beteiligung von DSM an dem Kartell bis zu diesem Zeitpunkt fortgedauert haben.
- 1131.
- Daher sind die Klagegründe, die sich auf Begründungsmängel der Entscheidung
bezüglich der Dauer der Zuwiderhandlung stützen, zurückzuweisen.
- 1132.
- Einige Klägerinnen machen geltend, daß die Kommission die Dauer ihrer
Beteiligung an der beanstandeten Zuwiderhandlung nicht nachgewiesen habe.
- 1133.
- Wie jedoch festgestellt, werden in der Entscheidung die Dauer der den einzelnen
Klägerinnen vorgeworfenen Zuwiderhandlung und die zum Nachweis hierfür von
der Kommission herangezogenen Schriftstücke hinreichend genau angegeben.
Offensichtlich wollen die Klägerinnen mit ihrem Vorbringen den Beweiswert dieser
Schriftstücke anzweifeln, der bereits eingehend im Teil „Sachverhalt“ dieses Urteils
(Randnrn. 535 ff.) geprüft worden ist.
- 1134.
- In den Planungsdokumenten wurden verschiedene Unternehmen, darunter die
„neue französische Gesellschaft“, BASF und Wacker, als Teilnehmer an dem neuen
Rahmen für die Sitzungen genannt. Der in diesen Dokumenten enthaltene Plan für
das Kartell wurde in den folgenden Wochen namentlich durch eine allgemeine
Preisinitiative zum 1. November 1980 durchgeführt, die sich in den
Planungsdokumenten abgezeichnet hat. Sowohl ICI als auch BASF haben
eingeräumt, daß von August 1980 an Herstellersitzungen stattgefunden haben,
deren wettbewerbswidrigen Zweck die Kommission nachgewiesen hat. Die
Kommission hat in Randnummer 48, dritter Absatz, der Entscheidung festgestellt,
daß Hoechst in den Planungsdokumenten nicht genannt war. Schon für Beginn
1981 enthalten die Solvay-Tabellen jedoch Angaben über die Absatzzahlen dieser
Klägerin für den deutschen Markt im Jahr 1980.
- 1135.
- Ebenso hat das Gericht den Beweiswert der Atochem-Tabelle bestätigt, und die
letzte Preisinitiative, die die Kommission in dem für die Bemessung der Geldbuße
zugrunde gelegten Zeitraum festgestellt hat, erfolgte am 1. April 1984. Mit
Ausnahme von ICI und Shell (vgl. Randnr. 54, dritter Absatz, der Entscheidung
und vorstehend, Randnr. 613) waren sämtliche Unternehmen im ersten Quartal
1984 im PVC-Sektor noch aktiv, darunter Elf Atochem, BASF, Wacker und
Hoechst, die in der Atochem-Tabelle aufgeführt werden.
- 1136.
- Nach alledem sind die Klagegründe bezüglich der Dauer der Zuwiderhandlung
zurückzuweisen.
- 1137.
- Die Solvay-Tabellen können jedoch gegenüber SAV nicht als beweiskräftig
angesehen werden (vgl. vorstehend, Randnr. 888).
- 1138.
- Somit ist das letzte Schriftstück, das die Klägerin als Teilnehmer an der
beanstandeten Zuwiderhandlung nennt, das Alcudia-Dokument (vgl. vorstehend,
Randnr. 887). Die dort ebenso wie in anderen Schriftstücken beschriebene
Ausgleichsregelung betrifft konkret nur das erste Halbjahr 1981 (vgl. vorstehend,
Randnrn. 587 bis 601).
- 1139.
- Die vorstehend in Randnummer 889 angeführten Preisunterlagen können als solche
nicht als ausreichend angesehen werden, um die Beteiligung der Klägerin an der
Zuwiderhandlung über das erste Halbjahr 1981 hinaus zu belegen. Zwar können
diese Schriftstücke ein zusätzliches Indiz sein und zusammen mit anderen
Schriftstücken die Schlußfolgerung bestätigen, daß ein Unternehmen an der
Zuwiderhandlung teilgenommen hat, doch sind sie für den Zeitraum, für den sie
nicht durch zusätzliche Beweismittel bestätigt werden, nicht ausreichend, um die
Beteiligung eines Unternehmens an der Zuwiderhandlung nachzuweisen.
- 1140.
- Somit ist festzustellen, daß der Beweis nicht erbracht ist, daß SAV an der
Zuwiderhandlung nach dem ersten Halbjahr 1981 beteiligt war, da die Solvay-Tabellen im Falle dieses Unternehmens nicht beweiskräftig sind.
- 1141.
- Folglich ist die Beteiligung der Klägerin an der Zuwiderhandlung im Hinblick auf
die Bemessung der Geldbuße nur für die Zeit von August 1980 bis Juni 1981 und
nicht bis April 1983, wie es in der Entscheidung heißt, nachgewiesen.
- 1142.
- Artikel 1 der Entscheidung ist daher für nichtig zu erklären, soweit SAV dort unter
Hinweis auf die Gründe der Entscheidung vorgeworfen wird, an der streitigen
Zuwiderhandlung nach dem ersten Halbjahr 1981 beteiligt gewesen zu sein.
- 1143.
- Die Geldbuße ist folglich unter Berücksichtigung der auf diese Weise festgestellten
Dauer und Schwere der Zuwiderhandlung, an der dieses Unternehmen beteiligt
war, herabzusetzen. Ausgedrückt in Euro gemäß Artikel 2 Absatz 1 der
Verordnung (EG) Nr. 1103/97 des Rates vom 17. Juni 1997 über bestimmte
Vorschriften im Zusammenhang mit der Einführung des Euro (ABl. L 162, S. 1)
ist die gegen SAV festgesetzte Geldbuße auf 135 000 Euro herabzusetzen.
Zum berücksichtigten Umsatz
Vorbringen der Parteien
- 1144.
- Enichem macht geltend, Umsatz im Sinne des Artikels 15 Absatz 2 der Verordnung
Nr. 17 sei der Umsatz in dem der Entscheidung vorangegangenen Steuerjahr, d. h.
im Jahr 1993. Obwohl das Verhältnis zwischen Geldbuße und diesem Umsatz
zwangsläufig ein anderes sei als das zwischen der Geldbuße und dem Umsatz im
Jahr 1987, habe die Kommission eine Geldbuße in absolut gleicher Höhe
festgesetzt. Dabei sei der Umstand, daß die festgesetzte Geldbuße unterhalb der
in Artikel 15 festgelegten Höchstgrenze von 10 % bleibe, ohne Bedeutung.
- 1145.
- Da Enichem 1986 alle ihre PVC-Tätigkeiten eingestellt habe, so daß sie weder 1987
noch 1993 Umsätze in diesem Bereich erzielt habe, sei es ungerecht, den
Gesamtumsatz von Enichem zugrunde zu legen, auch wenn dies möglich sei (Urteil
Parker Pen/Kommission, Randnr. 94). Dies gelte um so mehr, als der Umsatz von
Enichem, die der falsche Adressat der Entscheidung sei, und nicht der Umsatz der
Produktionsgesellschaft Enichem Anic zugrunde gelegt worden sei.
Würdigung durch das Gericht
- 1146.
- Der in Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 (zitiert vorstehend, Randnr.
1109) genannte Umsatz dient der Bestimmung des Höchstbetrags der Geldbuße,
die gegen ein Unternehmen wegen Verstoßes gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag festgesetzt werden kann.
- 1147.
- Somit führt die Tatsache allein, daß das Verhältnis zwischen der mit der
Entscheidung 1988 festgesetzten Geldbuße und dem in dem Geschäftsjahr zuvor,
also 1987, erzielten Umsatz ein anderes gewesen ist als das Verhältnis zwischen der
mit der zweiten Entscheidung in gleicher Höhe in Ecu festgesetzten Geldbuße und
dem in dem Geschäftsjahr zuvor, also 1993, erzielten Umsatz, nicht zu einem
Verstoß gegen Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17. Dies wäre nur der Fall,
wenn die 1994 festgesetzte Geldbuße aufgrund dieser Veränderung die in dieser
Bestimmung festgelegte Höchstgrenze überschritten hätte. Es ist aber unstreitig,
daß die festgesetzte Geldbuße erheblich unter diesem Höchstsatz liegt.
- 1148.
- Die Kommission hat für die Bemessung der gegen die Klägerin tatsächlich
festgesetzten Geldbuße insbesondere der jeweiligen Bedeutung jedes an der
Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmens auf dem PVC-Markt (Randnr. 53,
erster Absatz, der Entscheidung) Rechnung getragen. Diese Bedeutung ist anhand
des durchschnittlichen Marktanteils und nicht des Umsatzes der einzelnen
Klägerinnen allein im Zeitraum der Zuwiderhandlung beurteilt worden.
- 1149.
- Somit sind die Klagegründe zurückzuweisen.
Zur fehlenden Berücksichtigung einer Reihe mildernder Umstände
Vorbringen der Klägerinnen
- 1150.
- Zur Begründung ihres Antrags auf Herabsetzung der gegen sie festgesetzten
Geldbuße berufen sich die Klägerinnen auf folgende Umstände, die die
Kommission außer Betracht gelassen habe.
- 1151.
- BASF und ICI heben die Verzögerung beim Erlaß der Entscheidung und die von
der Kommission zu vertretende Untätigkeit hervor, die erst 1987 die 1983
eingeleiteten Ermittlungen fortgeführt habe. Wäre die Kommission eher tätig
geworden, wären die Zuwiderhandlungen zweifellos vor dem Mai 1984 eingestellt
worden (Urteile Istituto Chemioterapico und Commercial Solvents/Kommission,
Randnr. 51, und Dunlop Slazenger/Kommission, Randnr. 167).
- 1152.
- Wacker, Hoechst und SAV verweisen auf die Krise, in der sich der PVC-Sektor
befunden habe, und die erheblichen Verluste in dem von der Entscheidung
erfaßten Zeitraum.
- 1153.
- Wacker und Hoechst führen ihr seit 1988 untadeliges Verhalten, die
Präventivwirkung, die bereits mit der ursprünglichen Entscheidung verbunden
gewesen sei, und ihren Rückzug vom Markt im Jahr 1993 an.
- 1154.
- Hoechst und SAV weisen darauf hin, daß sie zur Zeit der beanstandeten
Handlungen eine geringe Bedeutung für den Markt gehabt hätten und
Auswirkungen ihres Verhaltens auf dem Markt nicht spürbar gewesen seien.
- 1155.
- SAV beruft sich darauf, daß sie ein Neuling auf dem PVC-Markt gewesen sei und
vorher keine Verstöße gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft begangen
habe.
- 1156.
- ICI hebt hervor, daß sich Auswirkungen auf den Markt nicht gezeigt hätten
(namentlich Urteil Suiker Unie u. a./Kommission, Randnrn. 612 ff.), daß sie durch
die Beantwortung der Fragen der Kommission gemäß Artikel 11 der Verordnung
Nr. 17 ihren Willen zur Zusammenarbeit gezeigt habe und daß sie sich
entsprechend verhalten habe, um die zukünftige Beachtung des Wettbewerbsrechts
der Gemeinschaft sicherzustellen (vgl. namentlich Entscheidung 88/86/EWG der
Kommission vom 18. Dezember 1987 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85
EWG-Vertrag (V/31.017 Fisher-Price/Quaker Oats Ltd Toyco) (ABl. 1988,
L 49, S. 19).
Würdigung durch das Gericht
- 1157.
- Die Schwere der Zuwiderhandlung ist anhand einer Vielzahl von Gesichtspunkten
zu ermitteln, zu denen u. a. die besonderen Umstände der Rechtssache, ihr Kontext
und die Abschreckungswirkung der Geldbußen gehören, ohne daß es eine
zwingende oder abschließende Liste von Kriterien gäbe, die auf jeden Fall
berücksichtigt werden müßten (Beschluß des Gerichtshofes vom 25. März 1996 in
der Rechtssache C-137/95 P, SPO u. a./Kommission, Slg. 1996, I-1611, Randnr. 54).
- 1158.
- Erstens hat der Gerichtshof festgestellt, daß zwar die Schwere des Verstoßes eine
erhebliche Geldbuße rechtfertigt, daß aber berücksichtigt werden muß, daß die
Dauer der Zuwiderhandlung hätte kürzer sein können, wenn die Kommission
schneller eingeschritten wäre (Urteil Istituto Chemioterapico und Commercial
Solvents/Kommission, Randnr. 51). Im vorliegenden Fall hat die Kommission erste
Bedenken wegen eines Verstoßes im Oktober 1983 gehabt. Für die Zeit nach Mai
1984 ist keine Geldbuße verhängt worden. Somit ist zu prüfen, ob die Kommission
wegen der angeblich schleppenden Behandlung der Sache in dieser Zeit
möglicherweise indirekt dazu beigetragen hat, daß die Zuwiderhandlung länger
gedauert hat. Die Kommission hat schon im November 1983 Nachprüfungen
durchgeführt und im Dezember 1983 ein Auskunftsverlangen sowie im April 1984
eine Entscheidung über die Anforderung von Auskünften an ICI gerichtet. Unter
diesen Umständen kann der Kommission keine schleppende Behandlung der Sache
vorgeworfen werden, die dazu hätte beitragen können, daß die für die Bemessung
der Geldbußen berücksichtigte Zuwiderhandlung länger gedauert hat. Dies gilt erst
recht im Fall von ICI, in dem sogar für die Zeit nach Oktober 1983 keine
Geldbuße festgesetzt wurde.
- 1159.
- Zweitens hat die Kommission in Randnummer 52, zweiter Absatz, der
Entscheidung als mildernden Umstand angesehen, daß die Unternehmen in dem
von dieser Entscheidung erfaßten Zeitraum wegen der damaligen Krise der
Branche erhebliche Verluste im PVC-Sektor hinnehmen mußten. Dies genügt, um
das Vorbringen der Klägerinnen zurückzuweisen, das auf die Krise des PVC-Marktes und die erheblichen Verluste der Hersteller in dieser Zeit gestützt wird
(vgl. Urteil DSM/Kommission, Randnr. 304).
- 1160.
- Drittens machen die Klägerinnen, wie bereits festgestellt (vorstehend, Randnrn. 744
bis 749), zu Unrecht geltend, daß die Zuwiderhandlung keine Auswirkungen
entfaltet habe, selbst wenn die Preisinitiativen nur teilweise zum Erfolg geführt
haben, wie die Kommission in der Entscheidung selbst eingeräumt hat. Die
Klägerinnen können daher nicht behaupten, daß das Fehlen von Auswirkungen ein
mildernder Umstand sei.
- 1161.
- Viertens ist die Mitwirkung von ICI im Verwaltungsverfahren nicht über das
hinausgegangen, wozu dieses Unternehmen nach Artikel 11 Absätze 4 und 5 der
Verordnung Nr. 17 verpflichtet war. Daher kann ihre Mitwirkung kein mildernder
Umstand sein (Urteil des Gerichts vom 10. März 1992 in der Rechtssache T-12/89,
Solvay/Kommission, Slg. 1992, II-907, Randnr. 341). Im übrigen hat ICI mit ihren
Argumenten in der Sache im wesentlichen nachzuweisen versucht, daß die
Kommission ihre Antworten auf die Auskunftsverlangen falsch verstanden habe.
- 1162.
- Fünftens ist zwar die Tatsache, daß ICI Maßnahmen getroffen hat, um neue
Verstöße ihrer Angestellten gegen das Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft zu
verhindern, bedeutsam, doch ändert dies nichts daran, daß im vorliegenden Fall die
festgestellte Zuwiderhandlung tatsächlich begangen worden ist. Allein der Umstand,
daß die Kommission in einigen Fällen in ihrer früheren Entscheidungspraxis die
Aufstellung eines Informationsprogramms als mildernden Umstand angesehen hat,
verpflichtet sie nicht dazu, im vorliegenden Fall ebenso zu verfahren. Dies gilt vor
allem deshalb, weil die betreffende Zuwiderhandlung ein offenkundiger Verstoß
gegen Artikel 85 Absatz 1 Buchstaben a und c EG-Vertrag war. Wie die
Kommission in Randnummer 51, zweiter Absatz, der Entscheidung festgestellt hat,
gehörte ICI im übrigen zu den Unternehmen, gegen die bereits wegen Absprachen
im Chemiebereich Geldbußen festgesetzt worden waren (Entscheidung
69/243/EWG der Kommission vom 24. Juli 1969 über ein Verfahren nach Artikel
85 des EWG-Vertrags [IV/26.267 Farbstoffe] [ABl. L 195, S. 11]).
- 1163.
- Sechstens wirkt sich weder das seit Erlaß der Entscheidung 1988 nicht zu
beanstandende Verhalten eines Unternehmens noch das Fehlen früherer
Zuwiderhandlungen mildernd gegenüber der Begehung und der Schwere der
Zuwiderhandlung aus. Tatsächlich handelt es sich dabei nicht um besondere
Umstände, die die Kommission als mildernd berücksichtigen müßte (namentlich
Urteil DSM/Kommission, Randnr. 317).
- 1164.
- Siebtens ändert die Tatsache, daß ein Unternehmen sich vor Erlaß der
Entscheidung vom PVC-Markt zurückgezogen hat, nichts an der Begehung, der
Schwere oder der Dauer der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung. Sie rechtfertigt
daher keine Herabsetzung der Geldbuße.
- 1165.
- Achtens kann der Umstand, daß ein Unternehmen ein Neuling auf einem Markt
ist, sich nicht mildernd auf die Schwere der vorstehend beschriebenen
Zuwiderhandlung, an der es beteiligt war, auswirken (Urteil vom 10. März 1992,
Solvay/Kommission, Randnr. 339).
- 1166.
- Neuntens hat der Erlaß der Entscheidung 1988 als solcher keine abschreckende
Wirkung. Abschreckend und vorbeugend wirkt allein die Geldbuße. Die
Entscheidung 1988 ist aber für nichtig erklärt worden, und dies erfaßt auch die dort
festgesetzten Geldbußen.
- 1167.
- Schließlich ergibt sich aus Randnummer 53, erster Absatz, der Entscheidung, daß
die Kommission bei der Bemessung der gegen die einzelnen Unternehmen
festzusetzenden Geldbußen deren jeweiliger Bedeutung auf dem PVC-Markt
Rechnung getragen hat. Daher können sich die Klägerinnen nicht auf ihre geringe
Bedeutung für den Markt berufen, um eine Herabsetzung der Geldbuße zu
erreichen.
- 1168.
- Nach alledem werfen die Klägerinnen der Kommission zu Unrecht vor, die
behaupteten mildernden Umstände nicht berücksichtigt zu haben.
III Zu den Klagegründen, mit denen ein Verstoß gegen die Begründungspflicht gerügt
wird
Vorbringen der Parteien
- 1169.
- LVM, Elf Atochem, DSM, Wacker, Hoechst, Hüls und Enichem sind der Meinung,
daß die Entscheidung keine besonderen Gesichtspunkte enthalte, die die Höhe der
gegen sie festgesetzten Geldbuße verständlich mache (Urteile ACF
Chemiefarma/Kommission, Randnr. 176, und Suiker Unie u. a./Kommission,
Randnrn. 622 und 623).
- 1170.
- Die Kommission habe zudem weder mitgeteilt, welche objektiven Parameter sie für
die Beurteilung der Verantwortlichkeit der Unternehmen herangezogen habe, noch,
welche Bedeutung sie ihnen beigemessen habe. Weder die allgemeine Aufzählung
der verwendeten Kriterien noch das Vorliegen unterschiedlicher Geldbußen für die
einzelnen Unternehmen genügten, um diese Lücke zu füllen.
- 1171.
- Nach Ansicht der Klägerinnen ist die Mitteilung dieser Angaben nicht nur
wünschenswert (Urteil Enichem Anic/Kommission, Randnr. 274, und
Tréfilunion/Kommission, Randnr. 142), sondern geboten. Andernfalls werde gegen
Artikel 6 MRK verstoßen, der jedem Angeklagten das Recht garantiere, die
Begründung der gegen ihn festgesetzten Sanktion einschließlich der für deren
Bemessung herangezogenen Kriterien und der „Berechnungsschlüssel“ genau und
detailliert zu erfahren.
Würdigung durch das Gericht
- 1172.
- Nach ständiger Rechtsprechung muß die nach Artikel 190 EG-Vertrag
vorgeschriebene Begründung, die eine wesentliche Formvorschrift im Sinne des
Artikels 173 EG-Vertrag darstellt, der Natur des betreffenden Rechtsakts angepaßt
sein und die Überlegungen des Gemeinschaftsorgans, das den Rechtsakt erlassen
hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, daß die Betroffenen ihr die
Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige
Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. Das Begründungserfordernis ist
nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts,
der Art der angeführten Gründe und nach dem Interesse zu beurteilen, das die
Adressaten oder andere durch den Rechtsakt unmittelbar und individuell
betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen
nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu
werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen des
Artikels 190 EG-Vertrag genügt, nicht nur anhand ihres Wortlauts zu beurteilen ist,
sondern auch anhand ihres Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem
betreffenden Gebiet (namentlich Urteil des Gerichtshofes vom 2. April 1998 in der
Rechtssache C-367/95 P, Kommission/Sytraval und Brink's France, Slg. 1998, I-1719,
Randnr. 63).
- 1173.
- Im Fall einer Entscheidung, mit der gegen mehrere Unternehmen wegen Verstoßes
gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft Geldbußen verhängt werden, ist
der Umfang der Begründungspflicht unter Berücksichtigung des Erfordernisses zu
beurteilen, die Schwere der Zuwiderhandlungen anhand einer Vielzahl von
Gesichtspunkten zu ermitteln, zu denen u. a. die besonderen Umstände der
Rechtssache, ihr Kontext und die Abschreckungswirkung der Geldbußen gehören,
ohne daß es eine zwingende oder abschließende Liste von Kriterien gäbe, die aufjeden Fall berücksichtigt werden müßten (Beschluß SPO u. a./Kommission, Randnr.
54). Zudem verfügt die Kommission bei der Bemessung der einzelnen Geldbuße
über einen Ermessensspielraum und kann nicht als verpflichtet angesehen werden,
dabei eine genaue mathematische Formel anzuwenden (Urteil des Gerichts vom
6. April 1995 in der Rechtssache T-150/89, Martinelli/Kommission, Slg. 1995,
II-1165, Randnr. 59).
- 1174.
- Im vorliegenden Fall hat die Kommission in den Randnummern 51 bis 54 der
Entscheidung erläutert, welchen Gesichtspunkten sie bei der Bemessung der
Geldbuße Rechnung getragen hat. Insbesondere aus den Randnummern 52 und 53
der Entscheidung ergibt sich, daß die Kommission bei der von ihr im vorliegenden
Fall angewandten Methode in zwei Schritten vorgeht, wie die einleitende
Formulierung dieser Randnummern und die Aufzählung der dort aufgeführten,
zunächst allgemeinen und dann individuellen Kriterien zeigen.
- 1175.
- In einem ersten Schritt hat die Kommission einen Gesamtbetrag festgesetzt, wozu
sie berechtigt ist (namentlich Urteile vom 15. Juli 1970, Boehringer/Kommission,
Randnr. 55, und IAZ u. a./Kommission, Randnrn. 51 bis 53). Für die Bemessung
der festzusetzenden Geldbußen hat die Kommission, wie sich aus Randnummer 52
der Entscheidung ergibt, verschiedene Kriterien berücksichtigt, nämlich die Art und
die Schwere der beanstandeten Zuwiderhandlung, die Bedeutung des betreffenden
Industrieerzeugnisses, den Wert des damit erzielten Umsatzes nahezu 3
Milliarden ECU jährlich in Westeuropa und die Gesamtgröße der betroffenen
Unternehmen.
- 1176.
- Als mildernde Umstände hat sie ebenfalls berücksichtigt, daß die Unternehmen in
dem von der Entscheidung erfaßten Zeitraum erhebliche Verluste hinnehmen
mußten und daß gegen die Mehrheit der Unternehmen wegen ihrer Beteiligung an
einer Zuwiderhandlung im Sektor Thermoplastik (Polypropylen) im praktisch
gleichen Zeitraum bereits erhebliche Geldbußen verhängt worden waren.
- 1177.
- Der auf diese Weise ermittelte Gesamtbetrag der Geldbußen belief sich in der
Entscheidung 1988, d. h. unter Einbeziehung von Solvay und Norsk Hydro, auf
23 500 000 ECU.
- 1178.
- In einem zweiten Schritt hat die Kommission diesen Gesamtbetrag auf die
Unternehmen aufgeteilt, gegen die eine Geldbuße verhängt worden ist. Bei der
Bemessung der gegen die einzelnen Unternehmen festzusetzenden Geldbußen hat
die Kommission, wie sich aus den Randnummern 53 und 54 der Entscheidung
ergibt, den Grad der Beteiligung jedes Unternehmens, dessen Rolle dabei (soweit
sich dies feststellen ließ) und seine jeweilige Bedeutung auf dem PVC-Markt
berücksichtigt. Sie hat sich dabei bemüht, festzustellen, inwieweit bestimmte
Unternehmen als Hauptverantwortliche angesehen werden können, was ihr nicht
gelungen ist, oder umgekehrt, ob andere, wie z. B. Shell, nur am Rande an der
Zuwiderhandlung beteiligt waren; sie hat ebenfalls bei jedem Unternehmen die
Dauer seiner Beteiligung an der beanstandeten Zuwiderhandlung berücksichtigt,
wie sich aus Randnummer 54 der Entscheidung ergibt.
- 1179.
- Sieht man die Randnummern 51 bis 54 der Entscheidung im Zusammenhang mit
der eingehenden Darstellung der tatsächlichen Feststellungen, die in der
Entscheidung im Falle eines jeden Adressaten der Entscheidung getroffen worden
sind, so geben diese Randnummern ausreichend und schlüssig die
Beurteilungskriterien wieder, die für die Bestimmung der Schwere und Dauer der
von den betreffenden einzelnen Unternehmen begangenen Zuwiderhandlung
herangezogen worden sind.
- 1180.
- Sicherlich ist es wünschenswert, daß die Unternehmen um ihren Standpunkt in
voller Kenntnis der Sache festlegen zu können nach jedem von der Kommission
als angemessen betrachteten System die Berechnungsweise der gegen sie in einer
Entscheidung wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft
verhängten Geldbuße in Erfahrung bringen können, ohne zu diesem Zweck
gerichtlich gegen die Entscheidung der Kommission vorgehen zu müssen (Urteil
Tréfilunion/Kommission, Randnr. 142).
- 1181.
- Solche rechnerischen Daten sind jedoch keine zusätzliche Begründung nach Erlaß
der Entscheidung, sondern die Umsetzung der in der Entscheidung aufgeführten
Kriterien, soweit diese quantifizierbar sind, in Zahlen.
- 1182.
- Dabei ist es Sache des Gerichts, wenn es dies für die Prüfung der Klagegründe für
erforderlich hält, nach den Artikeln 64 und 65 der Verfahrensordnung von der
Kommission im einzelnen eine Erläuterung der verschiedenen Kriterien zu
verlangen, die sie in der Entscheidung zugrunde gelegt und dargestellt hat.
- 1183.
- Tatsächlich hatte das Gericht im Zusammenhang mit den Klagen gegen die
Entscheidung 1988 der Kommission aufgegeben, in der Sitzung die Berechnung der
verhängten Geldbußen im einzelnen darzulegen. Die Kommission hatte zu diesem
Zweck eine Tabelle vorgelegt, die den Klageschriften im vorliegenden Verfahren
beigefügt worden sind.
- 1184.
- Somit sind die Klagegründe, mit denen die unzureichende Begründung der
Entscheidung bezüglich der für die Bemessung der Geldbuße herangezogenen
Kriterien gerügt wird, zurückzuweisen.
IV Zu den Rechtsfehlern und den offenkundigen Beurteilungsfehlern
Vorbringen der Klägerinnen
- 1185.
- Erstens machen LVM und DSM geltend, unter den in der Entscheidung für die
Bemessung der Geldbuße aufgezählten Kriterien seien die der Bedeutung des
betreffenden Erzeugnisses und der Marktstellung aller Unternehmen zusammen
(Entscheidung, Randnr. 52) schwer zu verstehen und erst recht schwer zu messen.
Das Kriterium der wirtschaftlichen Bedeutung des Zuwiderhandelnden sei
unzulässig. Dies würde nämlich dazu führen, daß die Höhe der Geldbuße nach den
Ressourcen des einzelnen Unternehmens und nicht nach der Schwere seines
Verhaltens festgesetzt würde.
- 1186.
- Zweitens verweisen die Klägerinnen darauf, daß die Kommission in der mündlichen
Verhandlung vor dem Gericht im Rahmen der gegen die Entscheidung 1988
erhobenen Klagen eine Tabelle vorgelegt habe, um zu erläutern, wie sie die
Geldbußen berechnet habe. Diese Tabelle zeige, daß die Kommission den
durchschnittlichen Marktanteil des einzelnen Unternehmens im PVC-Sektor in der
Zeit von 1980 bis 1984 zugrunde gelegt habe. Die für einige Klägerinnen
angenommenen Marktanteile seien offenkundig falsch. Die Geldbußen müßten
entsprechend herabgesetzt werden.
- 1187.
- Elf Atochem führt aus, daß die Kommission bei der Bemessung der gegen sie
festgesetzten Geldbuße bei ihr für die Zeit von 1980 bis 1984 einen
durchschnittlichen Marktanteil von 13 % angesetzt habe, d. h. einen höheren als
den tatsächlichen Anteil.
- 1188.
- ICI macht geltend, ihr durchschnittlicher Marktanteil in der Zeit von 1980 bis 1984
habe 8,1 % oder sogar 7,4 % betragen, wenn nur die Zeit von 1980 bis 1983
berücksichtigt werde, für die allein Vorwürfe gegen sie erhoben worden seien. Die
von der Kommission vorgelegte Tabelle setzte für das Unternehmen dagegen einen
durchschnittlichen Marktanteil von 11 % an.
- 1189.
- Schließlich trägt Enichem vor, die Kommission habe bei ihr für die Zeit von 1980
bis 1984 einen durchschnittlichen Marktanteil von 15 % angesetzt, der erheblich
über dem tatsächlichen Durchschnittsanteil und sogar noch über dem Marktanteil
von 1984 (12,3 %) liege.
Würdigung durch das Gericht
- 1190.
- Entgegen den Ausführungen von LVM und DSM ist festzustellen, daß die
Kommission sowohl den Umsatz und den Wert der Waren, auf die sich die
Zuwiderhandlung bezieht, als auch die Größe und die wirtschaftliche Macht der
betroffenen Unternehmen berücksichtigen kann (Urteile vom 15. Juli 1970,
Boehringer/Kommission, Randnr. 55, und IAZ u. a./Kommission, Randnr. 52).
- 1191.
- Die Kommission hatte auf eine Frage des Gerichts bei der Prüfung der Klagen
gegen die ursprüngliche Entscheidung in der mündlichen Verhandlung eine Tabelle
mit den Zahlen für die Bemessung der Geldbußen vorgelegt. Aus dieser Tabelle,
die von den Klägerinnen im vorliegenden Verfahren vorgelegt worden ist, ergibt
sich, daß für die Aufteilung der Gesamtgeldbuße zwischen den Unternehmen das
in der Entscheidung (Randnr. 53) genannte Kriterium der Bedeutung des einzelnen
Unternehmens auf dem PVC-Markt zahlenmäßig entsprechend dessen
durchschnittlichem Marktanteil von 1980 bis 1984 auf dem westeuropäischen PVC-Markt im Sinne von Fides ausgedrückt wurde. Tatsächlich war dieser Marktanteil
das entscheidende Kriterium, da gegen ein Unternehmen mit einem bestimmten
Marktanteil ein gleich hoher Teil an der Gesamtgeldbuße festgesetzt wurde. An
diesem „Leitkurs“ nahm die Kommission nach oben oder unten Änderungen
vor, die in der Entscheidung z. B. entsprechend der Dauer der Beteiligung oder der
Feststellung der geringeren Rolle einer Klägerin festgelegt wurden. So wurde gegen
ein Unternehmen, das während der gesamten Dauer der Zuwiderhandlung
Vollmitglied des Kartells war, ein Anteil an der Gesamtgeldbuße festgesetzt, der
etwa 110 % seines durchschnittlichen Marktanteils betrug.
- 1192.
- Die Argumente der Klägerinnen sind unter diesen Gesichtspunkten zu prüfen.
- 1193.
- Atochem hat auf eine Frage des Gerichts seinen durchschnittlichen Marktanteil in
der Zeit von 1980 bis 1984 mit 10,5 % angegeben.
- 1194.
- ICI hat Zahlen vorgelegt, nach denen ihr durchschnittlicher Marktanteil für den
Zeitraum 1980 bis 1983, für den allein ihre Beteiligung in der Entscheidung
festgestellt worden ist, 7 % betrug.
- 1195.
- Die Kommission hat diese Zahlen nicht ernsthaft bestritten. Sie hat daher, indem
sie bei Elf Atochem von einem Marktanteil von 13 % und bei ICI von einem Anteil
von 11 % ausgegangen ist, die Marktanteile dieser beiden Unternehmen zu hoch
angesetzt und diesen Klägerinnen folglich einen zu hohen Anteil an der Geldbuße
auferlegt.
- 1196.
- Daher ist der Anteil der Geldbuße, der gegen Elf Atochem und ICI festgesetzt
worden ist, herabzusetzen.
- 1197.
- Die gegen Elf Atochem verhängte Geldbuße ist auf einen Teil der Gesamtgeldbuße
herabzusetzen, der ihrem durchschnittlichen Marktanteil entspricht, erhöht um
einen Zuschlag, weil die Klägerin während der von der Kommission festgestellten
Gesamtdauer des Kartells an der Zuwiderhandlung beteiligt war und keine
besonderen mildernden Umstände vorliegen. Die Geldbuße ist folglich auf 11 %
der Gesamtgeldbuße, d. h. abgerundet auf 2 600 000 Euro, herabzusetzen.
- 1198.
- Die gegen ICI verhängte Geldbuße ist auf einen Teil der Gesamtgeldbuße
herabzusetzen, der ihrem durchschnittlichen Marktanteil entspricht, vermindert um
einen Abschlag, weil die Klägerin sich von Oktober 1983 an nicht mehr an der
Zuwiderhandlung beteiligt hat. Die Geldbuße ist daher auf 6,6 % der
Gesamtgeldbuße, d. h. abgerundet auf 1 550 000 Euro, festzusetzen.
- 1199.
- Enichem macht geltend, daß ihr Marktanteil 1980 und 1981 2,7 %, 1982 5,5 %,
1983 12,8 % und 1984 12,3 % betragen habe, so daß sich ihr durchschnittlicher
Marktanteil für den gesamten Zeitraum auf etwas mehr als 7 % belaufe.
- 1200.
- Erstens sind aber, wie bereits festgestellt (vorstehend, Randnr. 615), die von der
Klägerin vorgelegten Zahlen nicht hinreichend zuverlässig.
- 1201.
- Zweitens hat die Kommission im Falle der Klägerin entgegen deren Behauptungen
keinen durchschnittlichen Marktanteil von 15 % für die Zeit von 1980 bis 1984
angesetzt. In der von der Kommission vorgelegten Tabelle wird ausdrücklich darauf
hingewiesen, daß sich dieser Marktanteil auf 1984 bezieht. Zudem heißt es in einer
Fußnote, daß dieser Anteil durch den Erwerb des PVC-Geschäfts von Montedison
im März 1983 erzielt worden sei, durch den sich der Marktanteil der Klägerin
unstreitig erheblich erhöht hat. Hätte die Kommission für den gesamten Zeitraum
einen durchschnittlichen Marktanteil von 15 % angenommen, hätte die gegen die
Klägerin verhängte Geldbuße höher sein müssen als die gegen Elf Atochem und
Solvay verhängten Geldbußen, die sich sowohl bezüglich der Dauer der
Zuwiderhandlung als auch ihrer Beteiligung daran in einer vergleichbaren Situation
wie die Klägerin befanden, aber einen Marktanteil, wie ihn die Kommission
zugrunde gelegt hatte, von unter 15 % besaßen; die gegen Enichem verhängte
Geldbuße ist jedoch erheblich niedriger als die dieser beiden Unternehmen.
- 1202.
- Drittens steht der in der Anlage „Individuelle Besonderheiten“ zur Mitteilung der
Beschwerdepunkte angegebene Marktanteil von 12 % nicht im Widerspruch zu
dem Anteil, der in der von der Kommission vorgelegten Tabelle genannt wird. Der
erstgenannte Marktanteil betrifft nämlich das Jahr 1983 insgesamt, während der
zweite nur den Marktanteil nach dem Erwerb des PVC-Geschäfts von Montedison
betrifft.
- 1203.
- Schließlich ist gegen die Klägerin eine Geldbuße verhängt worden, die 10,6 % derGesamtgeldbuße ausmacht. Unter Berücksichtigung der von der Kommission
zugrunde gelegten Art und Weise der Berechnung ergibt sich somit, daß im Falle
der Klägerin ein durchschnittlicher Marktanteil in Westeuropa von weniger als
10 % angesetzt worden ist.
- 1204.
- Da die Klägerin einen solchen Marktanteil nicht ernsthaft bestritten hat, besteht
kein Grund, die gegen sie verhängte Geldbuße herabzusetzen.
- 1205.
- Unter diesen Umständen sind die von den Klägerinnen geltend gemachten
Klagegründe unbeschadet dessen, was vorstehend im Fall von Elf Atochem und ICI
(vgl. vorstehend, Randnrn. 1193 bis 1198) entschieden worden ist, zurückzuweisen.
- 1206.
- Das Gericht ist sich der Tatsache bewußt, daß, da die Kommission zuvor einen
Gesamtbetrag festgelegt hatte, den sie dann auf die Unternehmen aufgeteilt hat,
die Herabsetzung der gegen einige Unternehmen verhängten Geldbuße zu einer
entsprechenden Erhöhung der gegen die anderen Unternehmen verhängten
Geldbußen führen müßte, um zu demselben Gesamtbetrag zu gelangen. Unter den
Umständen des vorliegenden Falles hält das Gericht in Ausübung der ihm nach
Artikel 172 EG-Vertrag eingeräumten Befugnis zu unbeschränkter
Ermessensnachprüfung eine solche Erhöhung jedoch für nicht angebracht.
V Zum Verstoß gegen allgemeine Rechtsgrundsätze
- 1207.
- Die Klägerinnen rügen einen Verstoß gegen verschiedene allgemeine Grundsätze,
nämlich den der individuellen Strafzumessung, den der Verhältnismäßigkeit und
schließlich den der Gleichbehandlung.
Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der individuellen
Strafzumessung
- 1208.
- Nach Ansicht von Elf Atochem, Wacker, Hoechst, SAV, Hüls und Enichem hat die
Kommission mit der Feststellung, daß jeder Hersteller nicht nur für die ihm
zuzurechnenden individuellen Entscheidungen, sondern auch für die Durchführung
des Kartells insgesamt verantwortlich sei, einen Grundsatz der kollektiven
Verantwortlichkeit aufgestellt. Damit habe sie gegen den Grundsatz der
individuellen und auf die Person des Handelnden bezogenen Strafe verstoßen.
- 1209.
- Wie bereits entschieden (vorstehend, Randnrn. 768 bis 778) ist jede Klägerin nur
für die Handlungen zur Verantwortung gezogen worden, die ihr individuell zur Last
gelegt worden sind.
- 1210.
- Somit ist der Klagegrund zurückzuweisen.
Zu den Klagegründen wegen Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Vorbringen der Klägerinnen
- 1211.
- Shell weist erstens auf die Randnummern 48 und 53 der Entscheidung hin, in
denen ausdrücklich festgestellt werde, daß Shell nur am Rande an den
Vereinbarungen beteiligt gewesen sei, und macht zweitens geltend, daß ihre
angebliche Beteiligung nur von Januar 1982 bis Oktober 1983, also 21 Monate,
gedauert habe. Unter diesen Umständen sei die gegen sie verhängte Geldbuße
unverhältnismäßig.
- 1212.
- Montedison macht geltend, die Geldbuße sei angesichts der kurzen Dauer der
Zuwiderhandlung unverhältnismäßig.
- 1213.
- Enichem verweist darauf, daß die in der zweiten Entscheidung in gleicher Höhe wie
in der ersten gegen sie festgesetzte Geldbuße in Ecu ausgedrückt worden sei.
Angesichts der starken Abwertung der italienischen Lira zwischen dem Erlaß der
ersten und dem der zweiten Entscheidung sei die von der Klägerin in italienischen
Lire geschuldete Geldbuße in Wirklichkeit erheblich höher als die 1988 gegen sie
festgesetzte. Wenn man davon ausgehe, daß Dauer und Schwere der
Zuwiderhandlung sich gegenüber der Entscheidung 1988 offenkundig nicht geändert
hätten und die seinerzeit festgesetzte Geldbuße als angemessen gelte, folge daraus,
daß die heute von Enichem zu tragende Geldbuße, ausgedrückt in der
Landeswährung, unverhältnismäßig sei.
- 1214.
- Außerdem habe für die Klägerin kein Grund bestanden, Vorsorge gegenüber einem
Wechselkursrisiko zu treffen, da das Urteil des Gerichts und später auch das des
Gerichtshofes sie von jeder Verpflichtung zur Zahlung einer Geldbuße
freigesprochen hätten. In ihrem Fall sei die einzige Referenzwährung die Währung
des Landes, in dem das Unternehmen seinen Sitz habe (Urteil des Gerichtshofes
vom 9. März 1977 in den Rechtssachen 41/73, 43/73 und 44/73, Société anonyme
Générale sucrière u. a./Kommission, Slg. 1977, 445, Randnrn. 12 und 13, und
Tatbestand, S. 455). Durch eine vorherige Umrechnung der ursprünglichen
Geldbuße in italienische Lire wäre es z. B. leicht möglich gewesen, die nachteiligen
Auswirkungen der Abwertung dieser Währung zu vermeiden.
Würdigung durch das Gericht
- 1215.
- Nach Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 ist bei der Festsetzung der Höhe
der Geldbuße die Dauer und die Schwere der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen.
Somit ist die Verhältnismäßigkeit der Geldbuße anhand sämtlicher Umstände der
Zuwiderhandlung zu beurteilen.
- 1216.
- Im vorliegenden Fall hat Montedison nicht dargetan, inwiefern die gegen sie
verhängte Geldbuße im Hinblick auf die Schwere und die Dauer der
Zuwiderhandlung unverhältnismäßig ist.
- 1217.
- Die Argumentation von Shell beruht auf Erwägungen, denen die Kommission bei
der Bemessung der Geldbuße Rechnung getragen hat und die zur Verhängung
einer Geldbuße geführt haben, die verhältnismäßig niedriger ist als die gegen die
anderen Unternehmen festgesetzte (Entscheidung, Randnr. 53 a. E.). Es gibt
keinen Anhaltspunkt dafür, daß die Höhe der auf diese Weise festgesetzten
Geldbuße unverhältnismäßig ist.
- 1218.
- Zu den Ausführungen von Enichem ist festzustellen, daß die gegen die
Unternehmen verhängten Geldbußen nach Artikel 3 der Entscheidung auf Ecu
lauten. Nach Artikel 4 der Entscheidung sind die verhängten Geldbußen in Ecu
zahlbar.
- 1219.
- Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß die in Ecu festgesetzte Geldbuße im
Hinblick auf Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung unangemessen ist.
- 1220.
- Zudem ist die Kommission berechtigt, die Höhe der Geldbuße in Ecu
auszudrücken, einer in Landeswährung konvertiblen Währungseinheit. Die
Konvertibilität des Ecu in Landeswährung unterscheidet diese Währungseinheit von
der ursprünglich in Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 genannten
Rechnungseinheit, zu der der Gerichtshof ausdrücklich festgestellt hat, daß sie
keine Währung ist, in der Zahlungen vorgenommen werden können, und die daher
zwangsläufig die Bestimmung der Höhe der Geldbuße in Landeswährung
erforderlich macht (Urteil Société anonyme Générale sucrière u. a./Kommission,
Randnr. 15).
- 1221.
- Im übrigen steht fest, daß die gegen die Klägerin in Artikel 3 der Entscheidung in
Ecu festgesetzte Geldbuße mit der in Artikel 3 der Entscheidung 1988 festgesetzten
übereinstimmt. Ziel der Kommission war nämlich gerade der Erlaß einer
Entscheidung, die in der Sache mit derjenigen von 1988 übereinstimmte, die wegen
eines Verstoßes gegen wesentliche Formvorschriften für nichtig erklärt worden war.
- 1222.
- Da die Geldbußen bei Erlaß der Entscheidung 1988 in Ecu ausgedrückt waren und
es keine gemeinsame einheitliche Währung, in der die Kommission die Geldbußen
hätte ausdrücken können, oder feste Wechselkurse zwischen den Devisen der
Mitgliedstaaten gab, war schon deshalb das Risiko einer Änderung der
Wechselkurse unvermeidlich. Enichem hätte sich gegen solche Risiken schützen
können, solange die Rechtssache beim Gericht und anschließend im
Rechtsmittelverfahren beim Gerichtshof anhängig war. Schließlich hatte die
Kommission bereits am Tag der Verkündung des Urteils vom 15. Juni 1994 in
einem Pressekommuniqué ihre Absicht bekanntgegeben, die Entscheidung neu zu
erlassen, was einen Monat später geschah.
- 1223.
- Schließlich ist nicht bestritten worden, daß die verhängte Geldbuße, selbst wenn sie
in Landeswährung ausgedrückt wird, erheblich unter der Höchstgrenze des Artikels
15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 bleibt.
- 1224.
- Nach alledem sind die Klagegründe zurückzuweisen.
Zu den Klagegründen wegen Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz
Vorbringen der Klägerinnen
- 1225.
- Die Klägerinnen machen vier Arten von Verstößen gegen den
Gleichbehandlungsgrundsatz geltend.
- 1226.
- Erstens machen LVM, Shell, DSM, ICI und Enichem geltend, daß jede von ihnen
im Verhältnis zu einigen anderen Klägerinnen ungleich behandelt worden sei.
- 1227.
- Zweitens trägt Enichem vor, die gegen sie verhängte Geldbuße sei höher als die,
die mit anderen Entscheidungen verhängt worden sei, die Sektoren betroffen
hätten, die sich in einer weniger schweren Krise als der PVC-Sektor befunden
hätten (Entscheidung 84/405/EWG der Kommission vom 6. August 1984 betreffend
ein Verfahren nach Artikel 85 EWG-Vertrag [IV/30.350 Zinc Producer Group]
[ABl. L 220, S. 27]).
- 1228.
- Drittens rügt Enichem, daß sie wegen der Entwicklung des Wechselkurses zwischen
Ecu und italienischer Lira zwischen dem Erlaß der Entscheidung 1988 und dem der
zweiten Entscheidung diskriminiert worden sei. In Ecu ausgedrückt seien die
Geldbußen zwar mit denen von 1988 identisch, nicht aber wegen der seither
erfolgten Wechselkursschwankungen in Landeswährung. Die Klägerin, deren in
Landeswährung umgerechnete Geldbuße sich erheblich erhöht habe, sei somit
gegenüber den anderen Adressaten der Entscheidung diskriminiert worden.
Tatsächlich werde sie dafür bestraft, daß sie mit Erfolg den Rechtsweg beschritten
habe, der ihr gegen die ursprüngliche Entscheidung offengestanden habe.
- 1229.
- Viertens rügen LVM, DSM, ICI und Enichem, daß sie gegenüber Solvay und Norsk
Hydro diskriminiert worden seien, die rechtlich jeder finanziellen Sanktion
entgangen seien. Zum einen seien nämlich gegen Solvay und Norsk Hydro in der
zweiten Entscheidung keine Geldbußen festgesetzt worden. Zum anderen würden
diese Unternehmen nicht von der in der Entscheidung 1988 verhängten Sanktion
erfaßt, da diese Entscheidung gemäß dem mit Wirkung erga omnes ergangenen
Urteil des Gerichtshofes vom 15. Juni 1994 gegenüber allen Unternehmen für
nichtig erklärt worden sei. Selbst wenn die Entscheidung 1988 nicht gegenüber
Solvay und Norsk Hydro für nichtig erklärt worden wäre, könnte die Kommission
deren Vollstreckung nicht durchsetzen: zum einen, weil nach Artikel 192 EG-Vertrag die nationale Behörde die Echtheit der Entscheidung 1988 prüfen müsse,
was nicht möglich sei, da diese Entscheidung mangels Feststellung für nichtig
erklärt worden sei; zum anderen, weil die Verjährungsfrist für die Vollstreckung der
Sanktionen jetzt abgelaufen sei (Artikel 4 der Verordnung Nr. 2988/74).
Würdigung durch das Gericht
- 1230.
- Erstens ist, wie bereits ausgeführt, die Bestimmung der Höhe der individuellen
Geldbußen das Ergebnis einer Gewichtung verschiedener Gesichtspunkte,
insbesondere der Bedeutung des Unternehmens auf dem Markt, der Dauer seiner
Beteiligung oder auch, insbesondere im Fall von Shell, der von ihm gespielten
Rolle.
- 1231.
- Die Klägerinnen haben nicht den Beweis erbracht, daß die Kommission gleiche
Sachverhalte unterschiedlich oder unterschiedliche Sachverhalte gleich behandelt
hätte. In Wirklichkeit beruhen alle Fälle, die die Klägerinnen für ihre
Diskriminierung anführen, auf dem Vergleich ihrer eigenen Lage mit der einer oder
mehrerer anderer Klägerinnen, deren Bedeutung auf dem Markt oder deren
Beteiligung an der Zuwiderhandlung hinsichtlich der Dauer oder ihrer Rolle
unterschiedlich waren.
- 1232.
- Zweitens hängt die Bemessung der Geldbußen von einer Vielzahl von Kriterien ab,
die in jedem Einzelfall nach sämtlichen konkreten Umständen zu würdigen sind.
Zudem ist die Kommission dadurch, daß sie in der Vergangenheit für bestimmte
Arten von Zuwiderhandlungen Geldbußen in einer bestimmten Höhe verhängt hat,
nicht daran gehindert, dieses Niveau innerhalb der in der Verordnung Nr. 17
gezogenen Grenzen anzuheben, wenn dies erforderlich ist, um die Durchführung
der gemeinschaftlichen Wettbewerbspolitik sicherzustellen (namentlich Urteil
Musique Diffusion française u. a./Kommission, Randnr. 109). Somit ist nicht der
Beweis erbracht, daß die Kommission im vorliegenden Fall im Verhältnis zu ihrer
früheren Praxis gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen hat.
- 1233.
- Drittens ist, was die angebliche Diskriminierung aufgrund der Abwertung oder
Wertminderung einiger nationaler Devisen gegenüber anderen betrifft, festzustellen,
daß die gegen die einzelnen Klägerinnen verhängten Geldbußen in Ecu ausgedrückt
sind. Durch die Festlegung in dieser Währung steht außer Frage, daß die gegen die
einzelnen Klägerinnen in Artikel 3 der Entscheidung verhängten Geldbußen mit
denen in der Entscheidung 1988 übereinstimmen.
- 1234.
- Die Wechselkursrisiken sind untrennbar mit dem Bestehen unterschiedlicher
nationaler Währungen verbunden, deren Parität sich jederzeit ändern kann.
Enichem behauptet im übrigen nicht, daß die Festsetzung der Geldbußen in
Landeswährung die Wirkungen solcher Schwankungen neutralisieren könnte, wenn
wie im vorliegenden Fall Unternehmen betroffen sind, die ihren Sitz in
verschiedenen Mitgliedstaaten haben und gegen die die Geldbußen in der
Landeswährung dieser jeweiligen Staaten festgesetzt würden.
- 1235.
- Wie bereits festgestellt, kann die Kommission die Geldbußen in Ecu festsetzen,
wodurch die Unternehmen im übrigen die Höhe der gegen sie festgesetzten
Geldbußen leichter vergleichen können. Zudem war Ziel der Kommission gerade
der Erlaß einer Entscheidung, die in der Sache mit der von 1988 übereinstimmte
und durch die nur der Formfehler berichtigt werden sollte, der zu deren
Nichtigerklärung durch den Gerichtshof geführt hatte. Da die Geldbußen bereits
in der Entscheidung 1988 in Ecu ausgedrückt und Wechselkursrisiken
unvermeidlich waren, hätte die Klägerin, wie bereits festgestellt (Randnr. 1222),
Vorsorge gegen solche Risiken treffen können.
- 1236.
- Viertens beruht die angebliche Diskriminierung der Klägerinnen gegenüber Solvay
und Norsk Hydro auf der Annahme, daß die Nichtigerklärung der Entscheidung
1988 durch den Gerichtshof erga omnes wirke. Dazu genügt der Hinweis, daß dies,
wie bereits festgestellt (vgl. vorstehend, Randnrn. 167 bis 174), nicht der Fall ist.
- 1237.
- Wenn ein Unternehmen durch sein Verhalten gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag verstoßen hat, kann es jedenfalls nicht deshalb jeder Sanktion entgehen,
weil gegen einen anderen Wirtschaftsteilnehmer, mit dessen Situation das Gericht
nicht befaßt ist, keine Geldbuße verhängt worden ist (namentlich Urteil Ahlström
Osakeyhtiö u. a./Kommission, Randnr. 197).
- 1238.
- Somit sind sämtliche Klagegründe wegen Verstoßes gegen allgemeine
Rechtsgrundsätze zurückzuweisen.
- 1239.
- Nach alledem sind sämtliche Klagegründe, die die Klägerinnen zur Stützung ihres
Antrags auf Nichtigerklärung oder Herabsetzung der Geldbuße vorgetragen haben,
mit folgenden Einschränkungen zurückzuweisen.
- 1240.
- Gemäß den Randnummern 1143, 1197 und 1198 sind die gegen Elf Atochem, SAV
und ICI verhängten Geldbußen auf 2 600 000 Euro, 135 000 Euro bzw. 1 550 000
Euro herabzusetzen.
Zu den übrigen Anträgen
- 1241.
- Neben den vorstehend untersuchten Anträgen sowie den Kostenanträgen haben die
Klägerinnen einige andere Anträge gestellt (vgl. vorstehend, Randnrn. 27 bis 30).
- 1242.
- Von diesen sind einige wegen ihres engen Zusammenhangs mit den Klagegründen,
die zur Stützung der Anträge auf Nichtigerklärung der Entscheidung oder auf
Nichtigerklärung oder Herabsetzung der Geldbuße vorgetragen worden sind, bereits
geprüft und zurückgewiesen worden (vgl. vorstehend, Randnrn. 268, 365 bis 371,
375 bis 377 und 1091).
- 1243.
- Die Anträge auf Beiziehung der Unterlagen, die im Rahmen der gegen die
Entscheidung 1988 erhobenen Klagen vorgelegt worden sind, sind aus den bereits
dargelegten Gründen (Randnr. 39) zurückzuweisen.
- 1244.
- Somit sind der Antrag auf Nichtigerklärung des Artikels 2 der Entscheidung (I) und
der Antrag von Montedison auf Schadensersatz (II) zu prüfen.
I Zum Antrag auf Nichtigerklärung des Artikels 2 der Entscheidung
Vorbringen der Klägerinnen
- 1245.
- Hoechst macht in ihrer Erwiderung, ohne dies förmlich in ihren Antrag
einzubeziehen, geltend, daß Artikel 2 des verfügenden Teils der Entscheidung, der
die Verpflichtung zur Abstellung der Zuwiderhandlung ausspreche, ihr gegenüber
rechtswidrig sei. Diese Bestimmung trage nämlich nicht der Tatsache Rechnung,
daß die Klägerin zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung nicht mehr im
PVC-Sektor tätig gewesen sei.
- 1246.
- DSM verweist darauf, daß die Kommission nach Artikel 3 Absatz 1 der
Verordnung Nr. 17 die Unternehmen verpflichten könne, die festgestellte
Zuwiderhandlung abzustellen. Im vorliegenden Fall werde den PVC-Herstellern in
Artikel 2 der Entscheidung u. a. aufgegeben, jeden Austausch vertraulicher
Informationen untereinander abzustellen. Weder Artikel 1 der Entscheidung noch
deren Begründung erlaube den Schluß, daß eine solche Zuwiderhandlung
festgestellt worden sei. Die Kommission habe somit die ihr in diesem Artikel der
Verordnung Nr. 17 eingeräumten Befugnisse überschritten.
Würdigung durch das Gericht
- 1247.
- Zu dem Klagegrund von Hoechst genügt, ohne daß die Frage seiner Zulässigkeit
nach Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung geprüft zu werden braucht, der
Hinweis, daß Artikel 2 der Entscheidung ausdrücklich an die Unternehmen
gerichtet ist, „die nach wie vor auf dem PVC-Sektor ... tätig sind“. Somit ist das
Vorbringen zur Stützung dieses Antrags offenkundig nicht haltbar.
- 1248.
- Nach Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 kann die Kommission, wenn sie
u. a. eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 85 EG-Vertrag feststellt, die beteiligten
Unternehmen durch Entscheidung verpflichten, die festgestellte Zuwiderhandlung
abzustellen. Wie sich aus Randnummer 50 der Entscheidung ergibt, stützt sich
deren Artikel 2 auf diese Bestimmung. Nach der inhaltlichen Wiedergabe dieser
Bestimmung führt die Kommission aus: „[Es] ist nicht bekannt, ob die Sitzungen
oder zumindest ein gewisser Informationsaustausch zwischen den Unternehmen
über Preise und Mengen tatsächlich je aufgehört haben. Es ist daher angebracht,
in jeder Entscheidung die Unternehmen, die noch auf dem PVC-Sektor tätig sind,
formell aufzufordern, den Verstoß abzustellen und sich in Zukunft [aller]
Absprachen mit ähnlichen Zielen oder Wirkungen zu enthalten.“
- 1249.
- Nach ständiger Rechtsprechung kann die Anwendung des Artikels 3 Absatz 1 der
Verordnung Nr. 17 das Verbot beinhalten, bestimmte Tätigkeiten, Praktiken oder
Zustände, deren Rechtswidrigkeit festgestellt worden ist, fortzuführen (Urteile des
Gerichtshofes, Istituto Chemioterapico und Commercial Solvents/Kommission,
Randnr. 45, und vom 6. April 1995 in den Rechtssachen C-241/91 P und
C-242/91 P, RTE und ITP/Kommission, Slg. 1995, I-743, Randnr. 90), sie kann aber
auch das Verbot eines künftigen gleichartigen Verhaltens umfassen (Urteil des
Gerichts vom 6. Oktober 1994 in der Rechtssache T-83/91, Tetra Pak/Kommission,
Slg. 1994, II-755, Randnr. 220).
- 1250.
- Da sich die Anwendung des Artikels 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 nach der
festgestellten Zuwiderhandlung richten muß, ist die Kommission befugt, den
Umfang der Verpflichtungen festzulegen, die den Unternehmen zur Abstellung
dieser Zuwiderhandlung auferlegt werden. Solche den Unternehmen auferlegte
Verpflichtungen dürfen jedoch nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur
Erreichung des angestrebten Zieles, d. h. der Wiederherstellung der Legalität im
Hinblick auf die verletzten Vorschriften, angemessen und erforderlich ist (Urteil
RTE und ITP/Kommission, Randnr. 93).
- 1251.
- Im vorliegenden Fall hat die Kommission in Artikel 2 der Entscheidung die auf
dem PVC-Sektor noch tätigen Unternehmen verpflichtet, die in der Entscheidung
festgestellten Zuwiderhandlungen unverzüglich abzustellen.
- 1252.
- Sodann hat sie den Unternehmen aufgegeben, in Zukunft in dem betreffenden
Sektor von allen Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmten
Verhaltensweisen, die dasselbe oder ähnliches bezwecken oder bewirken können,
Abstand zu nehmen.
- 1253.
- Derartige Anordnungen gehören offenkundig zu den Befugnissen, über die die
Kommission nach Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 verfügt.
- 1254.
- Zu diesen Vereinbarungen oder abgestimmten Verhaltensweisen, die dasselbe wie
die in der Entscheidung beanstandeten Verhaltensweisen bezwecken oder
bewirken, hat die Kommission jeden „Austausch von Informationen, die
normalerweise dem Geschäftsgeheimnis unterliegen und durch die Teilnehmer
direkt oder indirekt über Produktion, Absatz, Lagerhaltung, Verkaufspreise, Kosten
oder Investitionspläne anderer Hersteller informiert“ werden, gerechnet. Da die
Kommission berechtigt ist, für die Zukunft jede Vereinbarung oder abgestimmte
Verhaltensweise mit einem gleichen oder ähnlichen Zweck wie dem der in der
Entscheidung festgestellten Verhaltensweise zu untersagen, hat sie den Austausch
der betreffenden Informationen zu Recht mit einbezogen. Zum einen enthält die
Entscheidung nämlich insbesondere einen Vorwurf, der gerade auf den Austausch
von Absatzdaten gestützt wird. Zum anderen beruhten die Herstellersitzungen auf
dem Austausch von Informationen über Preise und Verkaufsmengen, da dort
gemeinsam die in diesen Bereichen zu verfolgende Politik festgelegt werden sollte.
Ebenso ist die Kommission berechtigt, den in der Entscheidung genannten
Informationsaustausch über Absatz- und Verkaufspreise, allerdings auch den
Austausch von Informationen anderer Art zu verbieten, die „indirekt“ zu einem
„gleichen oder ähnlichen“ Ergebnis führen können. Insbesondere läßt sich aus dem
Austausch individualisierter Daten über Produktion und Lagerbestände leicht der
Absatz des einzelnen Unternehmens ableiten. Würde man der Kommission nicht
die Befugnis zum Verbot eines solchen Austauschs einräumen, könnten die
Unternehmen die ihnen auferlegte Verpflichtung, Verhaltensweisen wie die in der
Entscheidung festgestellte nicht fortzuführen oder zu wiederholen, leicht umgehen.
- 1255.
- Das Verbot des Austauschs von Informationen, die normalerweise dem
Geschäftsgeheimnis unterliegen und „aufgrund deren [die Unternehmen] in die
Lage versetzt werden, die Befolgung ausdrücklicher oder stillschweigender Preis-
oder Marktaufteilungsabsprachen ... zu kontrollieren“, steht in unmittelbarem
Zusammenhang mit den in der Entscheidung festgestellten Verhaltensweisen; dort
wird den Unternehmen vorgeworfen, gemeinsam Regelungen zur Kontrolle des
Absatzes und der Preisinitiativen durchgeführt zu haben.
- 1256.
- In Artikel 2 Satz 3 der Entscheidung heißt es eingangs: „Ein Verfahren zum
Austausch von den PVC-Sektor betreffenden allgemeinen Informationen, dem sich
die Hersteller anschließen, muß unter Ausschluß sämtlicher Informationen geführt
werden, aus denen sich das Marktverhalten einzelner Hersteller ableiten läßt ...“
Die Entscheidung stellt die Systeme, denen sich die Hersteller zum Austausch
allgemeiner Daten anschließen, nicht in Frage, da sich aus ihnen nicht das
Verhalten bestimmter Hersteller ableiten läßt; diese Systeme beschränken sich
vielmehr auf die Mitteilung zusammengefaßter Daten (vgl. Randnr. 12, dritter
Absatz, der Entscheidung). Artikel 2 Satz 3 soll somit lediglich verhindern, daß die
Hersteller das Verbot, Verhaltensweisen wie die in der Entscheidung festgestellten
fortzuführen oder zu wiederholen, umgehen können, indem sie an die Stelle des
Systems regelmäßiger Sitzungen ein System des Austauschs individualisierter Daten
setzen, das zu demselben Ergebnis führen würde. Dieser Satz präzisiert somit nur
den davor angeführten Begriff der Vereinbarung oder abgestimmten
Verhaltensweise, die ähnliches bezweckt oder bewirkt.
- 1257.
- Der zweite Teilsatz des Artikels 2 Satz 3 der Entscheidung enthält gegenüber dem
ersten Teilsatz keine neue Aussage. Er soll lediglich klarstellen, daß das Verbot des
Austauschs individualisierter Daten, aus denen sich das Verhalten des einzelnen
Herstellers ableiten läßt, im Rahmen eines Systems, dem sich die Hersteller
angeschlossen haben, nicht dadurch umgangen werden darf, daß die Hersteller die
Daten unmittelbar untereinander austauschen.
- 1258.
- Schließlich läßt sich Artikel 2 Satz 3 der Entscheidung klar entnehmen, daß im
Unterschied zu dem Fall, mit dem das Gericht aufgrund der Klagen gegen die
Entscheidung 94/601/EG der Kommission vom 13. Juli 1994 in einem Verfahren
nach Artikel 85 EG-Vertrag (IV/C/33.833 Karton) (ABl. L 243, S. 1) befaßt war,
die Kommission kein Verbot mit in die Entscheidung aufgenommen hat, das unter
bestimmten Voraussetzungen auch den Austausch von Daten in zusammengefaßter
Form erfaßt.
- 1259.
- Nach alledem überschreiten die den Unternehmen in Artikel 2 der Entscheidung
auferlegten Verpflichtungen offensichtlich nicht die Grenzen dessen, was zur
Wiederherstellung der Legalität im Hinblick auf die verletzten Vorschriften
angemessen und erforderlich ist. Somit hat die Kommission mit Erlaß des Artikels
2 der Entscheidung nicht die Befugnisse überschritten, die ihr nach Artikel 3
Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 eingeräumt sind.
- 1260.
- Infolgedessen ist der Antrag auf Nichtigerklärung des Artikels 2 der Entscheidung
zurückzuweisen.
II Zum Antrag auf Schadensersatz
- 1261.
- Montedison beantragt, die Kommission zum Ersatz des Schadens zu verurteilen,
der der Klägerin wegen der Kosten für die Stellung einer Bankbürgschaft sowie
wegen aller anderen Kosten im Zusammenhang mit der Entscheidung entstanden
ist.
- 1262.
- Der Klageschrift läßt sich nicht entnehmen, auf welche Rechtsgrundlage die
Klägerin diesen Antrag stützen will.
- 1263.
- Damit entspricht die Klageschrift insoweit nicht den Mindestanforderungen an die
Zulässigkeit einer Klage nach Artikel 19 der Satzung des Gerichtshofes und Artikel
44 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung. Dieser Antrag ist daher als unzulässig
zurückzuweisen (Urteil Parker Pen/Kommission, Randnrn. 99 und 100).
- 1264.
- Selbst wenn der der Kommission vorgeworfene Fehler im Zusammenhang mit den
verschiedenen Rügen stände, die die Klägerin zur Stützung ihres vom Gericht
zurückgewiesenen Nichtigkeitsantrags vorgetragen hat, wäre der
Schadensersatzantrag auf jeden Fall für unbegründet zu erklären.
Ergebnis
- 1265.
- Aus der gesamten vom Gericht vorgenommenen Prüfung ergibt sich, daß Artikel
1 der Entscheidung insoweit für nichtig zu erklären ist, als dort festgestellt wird,
daß SAV nach dem ersten Halbjahr 1981 an der beanstandeten Zuwiderhandlung
beteiligt war. Die gegen Elf Atochem, SAV und ICI verhängten Geldbußen sind auf
2 600 000 Euro, 135 000 Euro bzw. 1 550 000 Euro herabzusetzen. Im übrigen sind
die Klagen abzuweisen.
Kosten
- 1266.
- Nach Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag
zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Besteht der unterliegende Teil aus
mehreren Personen, so entscheidet das Gericht über die Verteilung der Kosten.
- 1267.
- Da LVM, BASF, Shell, DSM, Wacker, Hoechst, Montedison, Hüls und Enichem
mit ihrem Vorbringen unterlegen sind, sind ihnen die Kosten der Kommission
entsprechend deren Antrag aufzuerlegen.
- 1268.
- Da Elf Atochem und ICI mit ihrem Vorbringen teilweise unterlegen sind, tragen
die Klägerinnen und die Kommission jeweils ihre eigenen Kosten.
- 1269.
- Da SAV mit ihrem Vorbringen zu einem Teil unterlegen ist, zu einem erheblichen
Teil aber obsiegt hat, sind ihr zwei Drittel ihrer eigenen Kosten aufzuerlegen, und
die Kommission ist außer zur Tragung ihrer eigenen Kosten zur Tragung eines
Drittels der Kosten der Klägerin zu verurteilen.
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Dritte erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Rechtssachen T-305/94, T-306/94, T-307/94, T-313/94, T-314/94, T-315/94,
T-316/94, T-318/94, T-325/94, T-328/94, T-329/94 und T-335/94 werden zu
gemeinsamer Entscheidung verbunden.
2. Artikel 1 der Entscheidung 94/599/EG der Kommission vom 27. Juli 1994
betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 des EG-Vertrags (IV/31.865, PVC)
wird insoweit für nichtig erklärt, als dort festgestellt wird, daß die Société
artésienne de vinyle nach dem ersten Halbjahr 1981 an der beanstandeten
Zuwiderhandlung beteiligt gewesen ist.
3. Die gegen die Elf Atochem SA, die Société artésienne de vinyle und die
Imperial Chemical Industries plc in Artikel 3 dieser Entscheidung
verhängten Geldbußen werden auf 2 600 000 Euro, 135 000 Euro bzw.
1 550 000 Euro herabgesetzt.
4. Im übrigen werden die Klagen abgewiesen.
5. Jede Klägerin trägt in ihrer jeweiligen Rechtssache ihre eigenen Kosten
sowie die Kosten der Kommission. In den Rechtssachen T-307/94 und
T-328/94 tragen jedoch die Elf Atochem SA, die Imperial Chemical
Industries plc und die Kommission jeweils ihre eigenen Kosten. In der
Rechtssache T-318/94 trägt die Société artésienne de vinyle zwei Drittel
ihrer eigenen Kosten und die Kommission neben ihren eigenen Kosten ein
Drittel der Kosten der Klägerin.
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 20. April 1999.
Der Kanzler
Die Präsidentin
H. Jung
V. Tiili
Inhaltsverzeichnis
Sachverhalt
II -
Verfahren
II -
Anträge der Parteien
II -
Zur Zulässigkeit der Klagegründe im Hinblick auf die Artikel 44 § 1, 46 § 1 und 48 § 2 der
Verfahrensordnung
II -
I Zu den Einreden der Unzulässigkeit, die auf Artikel 44 § 1 Buchstabe c der
Verfahrensordnung gestützt sind
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
II Zur Einrede der Unzulässigkeit, die auf Artikel 46 § 1 der Verfahrensordnung
gestützt wird
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
III Zu den Einreden der Unzulässigkeit, die auf Artikel 48 § 2 der
Verfahrensordnung gestützt werden
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
Zum Antrag auf Nichtigerklärung der Entscheidung
II -
I Zu den Klagegründen, die Form- und Verfahrensmängel betreffen
II -
A Die Wirkungen des Urteils vom 15. Juni 1994, mit dem die Entscheidung
1988 für nichtig erklärt worden ist
II -
1. Zur Befugnis der Kommission, nach dem Urteil vom 15. Juni 1994 eine
neue Entscheidung zu erlassen
II -
a) Zu den Klagegründen, nach denen die Kommission die Entscheidung
nicht erlassen konnte
II -
Zur Rüge eines Verstoßes gegen die Rechtskraft
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz ne bis in idem
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
b) Zu den auf die Länge des verstrichenen Zeitraums gestützten
Klagegründen
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der
Sachbehandlung innerhalb angemessener Frist
II -
Zum Klagegrund des Rechtsmißbrauchs
II -
Zum Klagegrund des Verstoßes gegen die Grundsätze eines fairen
Verfahrens
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
c) Zu den Klagegründen, die sich auf einen Ermessensfehlgebrauch der
Kommission stützen
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
2. Zur Tragweite des Urteils vom 15. Juni 1994
II -
a) Zu den Rügen, die sich auf die Wirkung „erga omnes“ des Urteils
vom 15. Juni 1994 stützen
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
b) Zu den Rügen, die die Ungültigkeit der Verfahrenshandlungen vor
dem Erlaß der Entscheidung betreffen
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
3. Zur Art und Weise des Erlasses der zweiten Entscheidung nach der
Nichtigerklärung der Entscheidung 1988
II -
Zusammenfassung des Vorbringens der Klägerinnen
II -
Zu den nach dem Sekundärrecht vorgeschriebenen
Verfahrensabschnitten
II -
Zu dem von den Klägerinnen geltend gemachten Anspruch auf
rechtliches Gehör
II -
Vorbringen der Kommission
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
B Unregelmäßigkeiten bei Erlaß und Feststellung der Entscheidung
II -
1. Zu den Klagegründen, die die Rechtswidrigkeit der Geschäftsordnung der
Kommission vom 17. Februar 1993 betreffen
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
Zur Zulässigkeit der Einrede der Rechtswidrigkeit
II -
Rechtswidrigkeit des Artikels 16 Absatz 1 der Geschäftsordnung wegen
Verstoßes gegen das Erfordernis der Rechtssicherheit
II -
2. Zu den Klagegründen eines Verstoßes gegen das Kollegialprinzip und
gegen die Geschäftsordnung der Kommission
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
3. Zu dem Klagegrund bezüglich des Inhalts der dem Kollegium der
Kommissionsmitglieder zur Beratung vorgelegten Akte
II -
4. Zu den Klagegründen, die den Verstoß gegen den Grundsatz der Identität
von beratendem und beschlußfassendem Organ und den Grundsatz der
Unmittelbarkeit betreffen
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
C Mängel des Verwaltungsverfahrens
II -
1. Zu den Klagegründen, die angebliche Mängel bei der Mitteilung der
Beschwerdepunkte betreffen
II -
a) Zu dem Klagegrund, mit dem Formfehler bei der Mitteilung der
Beschwerdepunkte geltend gemacht werden
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
b) Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen Artikel 3 der Verordnung
Nr. 1 des Rates
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
c) Zum Klagegrund einer unzureichenden Frist für die Vorbereitung der
Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
2. Zu den Klagegründen, mit denen Mängel bei der Anhörung gerügt
werden
II -
a) Zum Klagegrund einer für die Vorbereitung der Anhörung
unzureichenden Frist
II -
b) Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen Artikel 3 der Verordnung
Nr. 1
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
c) Zum Klagegrund der Unvollständigkeit des Anhörungsprotokolls
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
d) Zum Klagegrund der Nichtvorlage des Berichts des
Anhörungsbeauftragten
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
D Verstoß gegen Artikel 190 EG-Vertrag
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
II Zu den materiell-rechtlichen Klagegründen
II -
A Zu den Beweisen
II -
1. Zur Zulässigkeit der Beweise
II -
a) Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der
Unverletzlichkeit der Wohnung
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
i) Zur Zulässigkeit des Klagegrundes
II -
ii) Zur Begründetheit des Klagegrundes
II -
Zur ersten Rüge bezüglich der Gültigkeit der
Nachprüfungsanordnungen
II -
Zum zweiten Teil dieses Klagegrundes betreffend die Durchführung
der Nachprüfungsanordnungen
II -
b) Zum Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen das Recht, „die
Aussage zu verweigern“ und sich nicht selbst zu belasten, gerügt
wird
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
Zur Zulässigkeit des Klagegrundes
II -
Zur Begründetheit des Klagegrundes
II -
c) Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen Artikel 20 Absatz 1 der
Verordnung Nr. 17
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
Sachverhalt
II -
Zur Begründetheit des Klagegrundes
II -
d) Zu dem Klagegrund, mit dem geltend gemacht wird, daß die
Weigerung, auf Auskunftsverlangen zu antworten oder Unterlagen
vorzulegen, nicht als Beweis gewertet werden dürfe
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
Nachweis der Zuwiderhandlung
II -
Nachweis der Beteiligung an der Zuwiderhandlung
II -
e) Zum Klagegrund der fehlenden Übermittlung von Schriftstücken
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
f) Zum Klagegrund der verspäteten Übermittlung der Schriftstücke
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
2. Zur Beweisführung
II -
a) Zum Klagegrund des fehlenden Beweiswerts bestimmter von der
Kommission angeführter Gruppen von Beweisen
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
b) Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen die Regeln der
Beweisführung
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
B Zum Vorliegen eines Verstoßes gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag
II -
1. Zum Sachverhalt
II -
Zusammenfassung der Entscheidung
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Zum Ursprung des Kartells
II -
Zu den Herstellersitzungen
II -
Zu den Quoten- und Ausgleichsregelungen
II -
Zur Überwachung der Verkäufe auf den nationalen Märkten
II -
Zu den Preisinitiativen
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
Zu den Quotenregelungen
II -
Zur Überwachung der Verkäufe auf den nationalen Märkten
II -
Zu den Zielpreisen und den Preisinitiativen
II -
Zum Ursprung des Kartells
II -
Zu den Herstellersitzungen
II -
2. Rechtliche Würdigung
II -
a) Zur Qualifizierung als Vereinbarung „und/oder“ abgestimmte
Verhaltensweise
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
b) Zu der im vorliegenden Fall vorgenommenen Qualifizierung als
„Vereinbarung“ und/oder „abgestimmte Verhaltensweise“
II -
Vorbringen der Klägerinnen
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
c) Zur Qualifizierung des Zweckes oder der Wirkung als
wettbewerbswidrig
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
d) Zur Feststellung einer Beeinträchtigung des Handels zwischen
Mitgliedstaaten
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
e) Zu den anderen Klagegründen rechtlicher Art
II -
Zum Klagegrund eines Ermessensmißbrauchs
II -
Zum Klagegrund der fehlenden Übereinstimmung zwischen dem
verfügenden Teil und der Begründung der Entscheidung
II -
C Zur Beteiligung der Klägerinnen an der festgestellten Zuwiderhandlung
II -
1. Zu der angeblichen Zurechnung einer kollektiven Verantwortlichkeit
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
2. Zur individuellen Beteiligung der Klägerinnen an der Zuwiderhandlung
II -
a) DSM
II -
Vorbringen der Klägerinnen
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
b) Atochem
II -
Vorbringen der Klägerin
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
c) BASF
II -
Vorbringen der Klägerin
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
d) Shell
II -
Vorbringen der Klägerin
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
e) LVM
II -
Vorbringen der Klägerin
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
f) Wacker
II -
Vorbringen der Klägerin
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
g) Hoechst
II -
Vorbringen der Klägerin
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
h) SAV
II -
Vorbringen der Klägerin
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
i) Montedison
II -
Vorbringen der Klägerin
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
j) Hüls
II -
Vorbringen der Klägerin
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
k) Enichem
II -
Vorbringen der Klägerin
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
D Zur Zurechenbarkeit der Zuwiderhandlung und zur Frage des richtigen
Adressaten der Entscheidung
II -
1. Zur Zurechenbarkeit der Zuwiderhandlung
II -
Vorbringen der Klägerinnen
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
2. Zur Frage des richtigen Adressaten der Entscheidung
II -
Vorbringen der Klägerinnen
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
III Zu den Klagegründen, die die Akteneinsicht betreffen
II -
A Zu den Bedingungen, unter denen die Kommission im Verwaltungsverfahren
Einsicht in ihre Akten gewährt hat
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
B Zu den im Rahmen der prozeßleitenden Maßnahme eingereichten
Stellungnahmen
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
Geldbußen
II -
I Zu den Klagegründen, die sich auf die Länge des verstrichenen Zeitraums und die
Verjährung stützen
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
II Zu den Klagegründen, mit denen ein Verstoß gegen Artikel 15 Absatz 2 der
Verordnung Nr. 17 gerügt wird
II -
Zur Vorsätzlichkeit der Zuwiderhandlung
II -
Zur Dauer der Zuwiderhandlung
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
Zum berücksichtigten Umsatz
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
Zur fehlenden Berücksichtigung einer Reihe mildernder Umstände
II -
Vorbringen der Klägerinnen
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
III Zu den Klagegründen, mit denen ein Verstoß gegen die Begründungspflicht
gerügt wird
II -
Vorbringen der Parteien
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
IV Zu den Rechtsfehlern und den offenkundigen Beurteilungsfehlern
II -
Vorbringen der Klägerinnen
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
V Zum Verstoß gegen allgemeine Rechtsgrundsätze
II -
Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der individuellen
Strafzumessung
II -
Zu den Klagegründen wegen Verstoßes gegen den
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
II -
Vorbringen der Klägerinnen
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
Zu den Klagegründen wegen Verstoßes gegen den
Gleichbehandlungsgrundsatz
II -
Vorbringen der Klägerinnen
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
Zu den übrigen Anträgen
II -
I Zum Antrag auf Nichtigerklärung des Artikels 2 der Entscheidung
II -
Vorbringen der Klägerinnen
II -
Würdigung durch das Gericht
II -
II Zum Antrag auf Schadensersatz
II -
Ergebnis
II -