Language of document : ECLI:EU:T:2020:18

URTEIL DES GERICHTS (Fünfte Kammer)

30. Januar 2020(*)

„EGFL und ELER – Von der Finanzierung ausgeschlossene Ausgaben – Von Portugal getätigte Ausgaben – Art. 32 und 33 der Verordnung (EG) Nr. 1290/2005 – Art. 54 der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 – Begriff des nationalen Gerichts“

In der Rechtssache T‑292/18,

Portugiesische Republik, vertreten durch L. Inez Fernandes, P. Estêvão, J. Saraiva de Almeida und P. Barros da Costa als Bevollmächtigte,

Klägerin,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch B. Rechena und A. Sauka als Bevollmächtigte,

Beklagte,

wegen einer Klage gemäß Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung des Durchführungsbeschlusses (EU) 2018/304 der Kommission vom 27. Februar 2018 über den Ausschluss bestimmter von den Mitgliedstaaten zulasten des Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) getätigter Ausgaben von der Finanzierung durch die Europäische Union (ABl. 2018, L 59, S. 3), soweit von Portugal gemeldete Ausgaben in Höhe von 1 052 101,05 Euro von der Unionsfinanzierung ausgeschlossen werden,

erlässt

DAS GERICHT (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten D. Spielmann sowie der Richter I. S. Forrester (Berichterstatter) und U. Öberg,

Kanzler: L. Ramette, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. Dezember 2019

folgendes

Urteil

 Rechtsrahmen

 Recht der Europäischen Union

1        Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 1290/2005 des Rates vom 21. Juni 2005 über die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik (ABl. 2005, L 209, S. 1) bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten

a)      erlassen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften sowie alle sonstigen Maßnahmen, um einen wirksamen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft zu gewährleisten, insbesondere um

i)      sich zu vergewissern, dass die durch den EGFL und ELER finanzierten Maßnahmen tatsächlich und ordnungsgemäß durchgeführt worden sind;

ii)      Unregelmäßigkeiten zu verhindern und zu verfolgen;

iii)      die infolge von Unregelmäßigkeiten oder Versäumnissen abgeflossenen Beträge wieder einzuziehen.“

2        Art. 32 („Besondere Bestimmungen für den EGFL“) Abs. 5 dieser Verordnung lautet:

„(5)      Ist die Wiedereinziehung nicht innerhalb einer Frist von vier Jahren ab der ersten amtlichen oder gerichtlichen Feststellung erfolgt bzw., wenn sie Gegenstand eines Verfahrens vor den nationalen Gerichten ist, innerhalb einer Frist von acht Jahren, so werden die finanziellen Folgen der Nichtwiedereinziehung zu 50 % von dem betreffenden Mitgliedstaat und zu 50 % vom Gemeinschaftshaushalt getragen.

Der betreffende Mitgliedstaat gibt die Beträge, bei denen die Wiedereinziehung nicht innerhalb der Fristen nach Unterabsatz 1 dieses Absatzes erfolgt ist, in der zusammenfassenden Übersicht nach Absatz 3 Unterabsatz 1 getrennt an.

Die Aufteilung der Finanzlast infolge der Nichtwiedereinziehung nach Unterabsatz 1 erfolgt unbeschadet der Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats, die Wiedereinziehungsverfahren nach Artikel 9 Absatz 1 dieser Verordnung fortzusetzen. Die so wieder eingezogenen Beträge werden dem EGFL nach Einbehaltung des Betrags gemäß Absatz 2 des vorliegenden Artikels zu 50 % gutgeschrieben.

Wird im Rahmen des Wiedereinziehungsverfahrens amtlich oder gerichtlich endgültig festgestellt, dass keine Unregelmäßigkeit vorliegt, so meldet der betreffende Mitgliedstaat die nach Unterabsatz 1 von ihm zu tragende finanzielle Belastung dem EGFL als Ausgabe.

Konnte die Wiedereinziehung jedoch aus Gründen, die dem betreffenden Mitgliedstaat nicht anzulasten sind, nicht innerhalb der in Unterabsatz 1 genannten Fristen erfolgen, so kann die Kommission, wenn der wieder einzuziehende Betrag 1 Mio. [Euro] überschreitet, auf Antrag des Mitgliedstaats die Fristen um höchstens 50 % der ursprünglichen Fristen verlängern.“

3        Art. 33 („Besondere Bestimmungen für den ELER“) Abs. 8 dieser Verordnung bestimmt:

„(8)      Hat die Wiedereinziehung nicht vor Abschluss eines Entwicklungsprogramms für den ländlichen Raum stattgefunden, so werden die finanziellen Folgen der Nichtwiedereinziehung zu 50 % von dem betreffenden Mitgliedstaat und zu 50 % vom Gemeinschaftshaushalt getragen und entweder am Ende eines Zeitraums von vier Jahren nach der ersten amtlichen oder gerichtlichen Feststellung oder von acht Jahren, wenn die Wiedereinziehung Gegenstand einer Klage vor den nationalen Gerichten ist, oder bei Abschluss des Programms berücksichtigt, wenn diese Fristen vor dessen Abschluss enden.

Konnte die Wiedereinziehung jedoch aus Gründen, die dem betreffenden Mitgliedstaat nicht anzulasten sind, nicht innerhalb der in Unterabsatz 1 genannten Fristen erfolgen, so kann die Kommission, wenn der wieder einzuziehende Betrag 1 Mio. [Euro] überschreitet, auf Antrag des Mitgliedstaats die Fristen um höchstens 50 % der ursprünglichen Fristen verlängern.“

4        Die Verordnung Nr. 1290/2005 wurde durch die ab 1. Januar 2014 geltende Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über die Finanzierung, die Verwaltung und das Kontrollsystem der Gemeinsamen Agrarpolitik und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 352/78, (EG) Nr. 165/94, (EG) Nr. 2799/98, (EG) Nr. 814/2000, (EG) Nr. 1290/2005 und (EG) Nr. 485/2008 des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 549, berichtigt in ABl. 2016, L 130, S. 9) aufgehoben und ersetzt.

5        Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1290/2005 wurde durch den im Wesentlichen inhaltsgleichen Art. 58 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1306/2013 ersetzt, der den Vorschriften der erstgenannten Bestimmung insbesondere hinzufügt, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen zur Einleitung der rechtlichen Schritte erlassen, die notwendig sind, um zu Unrecht gezahlte Beträge wiedereinzuziehen. Die Bestimmungen der Art. 32 Abs. 5 und Art. 33 Abs. 8 der Verordnung Nr. 1290/2005 wurden im Wesentlichen in Art. 54 Abs. 2 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 1306/2013 übernommen.

 Portugiesisches Recht

6        Art. 103 der Lei Geral Tributária (Allgemeines Steuergesetz) lautet:

„Einziehungsverfahren

(1)      Das Steuereinziehungsverfahren hat unbeschadet der Beteiligung der Organe der Steuerverwaltung an den Handlungen, die keinen gerichtlichen Charakter haben, justiziellen Charakter.

(2)      Im Einklang mit dem vorstehenden Absatz wird das Recht der Betroffenen gewährleistet, die von den Organen der Steuerverwaltung erlassenen Verwaltungsakte vor dem für die Steuereinziehung zuständigen Gericht anzufechten.“

7        Art. 179 des Código de Procedimento Administrativo (Verwaltungsprozessordnung) sieht vor:

„Vollstreckung von Zahlungsverpflichtungen

1.      Sind aufgrund eines Verwaltungsakts Geldleistungen an eine juristische Person des öffentlichen Rechts oder auf deren Anordnung zu zahlen, ist, wenn innerhalb der gesetzten Frist keine freiwillige Zahlung erfolgt, das Steuereinziehungsverfahren gemäß den Vorschriften über das Steuerverfahren durchzuführen.

2.      Für die Zwecke des vorstehenden Absatzes stellt das zuständige Organ gemäß den gesetzlichen Vorschriften eine Bescheinigung in Form eines vollstreckbaren Titels aus, die es zusammen mit der Verwaltungsakte an die zuständige Dienststelle der Steuerverwaltung weiterleitet.

3.      In den Fällen, in denen die Verwaltung gemäß dem Gesetz unmittelbar oder über einen Dritten eine Zwangsvollstreckung in Bezug auf vertretbare Leistungen vornimmt, kann stets das im vorliegenden Artikel vorgesehene Verfahren angewendet werden, um die Erstattung der verauslagten Kosten zu erlangen.“

8        Art. 148 des Código de Procedimento e de Processo Tributário (Steuerverfahrensordnung) bestimmt:

„Anwendungsbereich der Steuereinziehung

1.      Das Steuereinziehungsverfahren umfasst die zwangsweise Beitreibung folgender Verbindlichkeiten:

a)      Abgaben einschließlich Zollabgaben, Sonderabgaben und nicht-steuerliche Abgaben, Gebühren, sonstige zusätzlich und kumulativ erhobene finanzielle Beiträge zugunsten des Staates, Zinsen und sonstige gesetzliche Lasten;

b)      Geldstrafen und andere finanzielle Sanktionen, die durch Entscheidungen, Gerichtsentscheidungen oder Urteile über Steuerverstöße verhängt werden, außer wenn sie von ordentlichen Gerichten verhängt werden;

c)      Geldstrafen und andere finanzielle Sanktionen im Zusammenhang mit der zivilrechtlichen Haftung gemäß der allgemeinen Regelung über Steuerverstöße.

2.      Ebenfalls im Steuereinziehungsverfahren können in den ausdrücklich im Gesetz vorgesehenen Fällen und nach den dort ausdrücklich geregelten Vorgaben beigetrieben werden:

a)      sonstige Verbindlichkeiten gegenüber dem Staat und anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts, die aufgrund eines Verwaltungsakts zu zahlen sind;

b)      Rückzahlungen oder Erstattungen.“

9        Art. 149 der Steuerverfahrensordnung bestimmt:

„Für die Steuereinziehung zuständiges Organ

Für die Zwecke des vorliegenden Gesetzes gilt als für die Steuereinziehung zuständiges Organ die Dienststelle der Steuerverwaltung, die nach den gesetzlichen Bestimmungen die Einziehung durchzuführen hat, oder, wenn die Einziehung vor den ordentlichen Gerichten durchzuführen ist, das zuständige Gericht.“

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

10      Mit Schreiben vom 28. Juli 2015 übermittelte die Europäische Kommission der Portugiesischen Republik gemäß Art. 34 Abs. 2 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 908/2014 der Kommission vom 6. August 2014 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 1306/2013 hinsichtlich der Zahlstellen und anderen Einrichtungen, der Mittelverwaltung, des Rechnungsabschlusses und der Bestimmungen für Kontrollen, Sicherheiten und Transparenz (ABl. 2014, L 255, S. 59) ihre Feststellungen.

11      Die Kommission beanstandete insbesondere die Art und Weise, wie die portugiesischen Behörden bestimmte Ausgaben, die zulasten des Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) oder des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) getätigt worden waren und wiedereingezogen werden mussten, eingestuft hatten. Gemäß Art. 32 Abs. 5 der Verordnung (EG) Nr. 1290/2005 werden, sofern die Wiedereinziehung nicht innerhalb einer Frist von vier Jahren ab der ersten amtlichen oder gerichtlichen Feststellung erfolgt ist, bzw., wenn sie Gegenstand eines Verfahrens vor den nationalen Gerichten ist, innerhalb einer Frist von acht Jahren, die Folgen der Nichtwiedereinziehung zu 50 % von dem betreffenden Mitgliedstaat und zu 50 % vom Unionshaushalt getragen (im Folgenden: 50/50‑Regel). Die Kommission war der Ansicht, dass die Verbindlichkeiten gegenüber der portugiesischen Zahlstelle, dem Instituto de Financiamento da Agricultura e Pescas, I. P. (IFAP, Institut für die Finanzierung der Landwirtschaft und der Fischerei, Portugal), deren Wiedereinziehung Gegenstand eines Einziehungsverfahrens bei den portugiesischen Steuerbehörden gewesen sei, fälschlicherweise so eingestuft worden seien, als sei ihre Wiedereinziehung Gegenstand eines Verfahrens vor den nationalen Gerichten im Sinne der genannten Bestimmung gewesen. Die 50/50‑Regel müsse daher bereits dann auf diese Verbindlichkeiten angewendet werden, wenn nach vier Jahren keine Wiedereinziehung stattgefunden habe, und nicht erst nach acht Jahren, wie die portugiesischen Behörden vorgetragen hätten. Die Kommission teilte den portugiesischen Behörden daher mit, dass sie vorschlagen könnte, einen Teil der von der Portugiesischen Republik gemeldeten Ausgaben von der Finanzierung durch die Union auszuschließen.

12      Die portugiesischen Behörden antworteten mit Schreiben vom 30. November 2015 auf die Feststellungen der Kommission. Sie erklärten insbesondere, dass die Art der Zwangsvollstreckung, die bei der Wiedereinziehung der in Rede stehenden Verbindlichkeiten zur Anwendung kommen müsse, die Steuereinziehung sei, und dass das Steuereinziehungsverfahren als ein gerichtliches Verfahren anzusehen sei. Die 50/50‑Regel dürfe daher erst dann zur Anwendung kommen, wenn nach acht Jahren noch keine Wiedereinziehung erfolgt sei.

13      Mit Schreiben vom 22. Dezember 2015 lud die Kommission die portugiesischen Behörden zu einer bilateralen Besprechung gemäß Art. 34 Abs. 2 der Durchführungsverordnung Nr. 908/2014 ein.

14      Mit Schreiben vom 9. September 2016 teilte die Kommission der Portugiesischen Republik gemäß Art. 34 Abs. 3 Unterabs. 3 der Durchführungsverordnung Nr. 908/2014 ihre Schlussfolgerungen mit. Sie war der Ansicht, dass die 50/50‑Regel, wenn eine Wiedereinziehung nicht Gegenstand einer Klage vor den nationalen Gerichten gewesen sei, nach vier Jahren und nicht nach acht Jahren anzuwenden sei. Sie schlug daher eine Berichtigung in Höhe von 1 272 594,35 Euro vor.

15      Mit Schreiben vom 21. Oktober 2016 beantragte die Portugiesische Republik die Eröffnung eines Verfahrens vor der Schlichtungsstelle gemäß Art. 40 der Durchführungsverordnung Nr. 908/2014.

16      Am 21. März 2017 kam die Schlichtungsstelle zu dem Ergebnis, dass es nicht möglich sei, die Standpunkte der beiden Parteien miteinander in Einklang zu bringen. In ihrem Abschlussbericht führte diese Stelle aus, dass „[d]as in Portugal angewendete Verfahren, das von den Dienststellen als Verwaltungsverfahren, von den [portugiesischen] Behörden jedoch als ein mit einem Gerichtsverfahren vergleichbares Verfahren angesehen wurde, … an einem bestimmten Punkt die Einbeziehung der (Verwaltungs‑)Gerichte [ermöglicht]“, und kam zu dem Schluss, dass „[f]ür die vor diese Gerichte gebrachten Fälle … der im Unionsrecht vorgesehene Zeitraum von acht Jahren gelten [kann]“.

17      In ihrem Schreiben vom 20. Oktober 2017 hielt die Kommission endgültig an ihrem Standpunkt fest, wonach das Steuereinziehungsverfahren ein Verwaltungsverfahren darstelle, das die Voraussetzungen von Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 nicht erfülle. Im Übrigen seien nur 19 der 604 Fälle, die Gegenstand des Vorschlags für eine finanzielle Berichtigung seien, vor ein Gericht gebracht worden. Sie reduzierte den Betrag der finanziellen Berichtigung auf 1 052 101,05 Euro, um wiedereingezogene oder in den vorangegangenen Haushaltsjahren bereits der 50/50‑Regel unterworfene Beträge zu berücksichtigen.

18      Mit dem Durchführungsbeschluss (EU) 2018/304 vom 27. Februar 2018 über den Ausschluss bestimmter von den Mitgliedstaaten zulasten des Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) getätigter Ausgaben von der Finanzierung durch die Europäische Union (ABl. 2018, L 59, S. 3, im Folgenden: angefochtener Beschluss) schloss die Kommission insbesondere von der Republik Portugal gemeldete Ausgaben in Höhe von 1 052 101,05 Euro mit der Begründung „Forderungen in den Tabellen gemäß Anhang III falsch ausgewiesen, dadurch keine Anwendung der 50/50‑Regel“ von der Finanzierung durch die Union aus.

 Verfahren und Anträge der Parteien

19      Mit Klageschrift, die am 7. Mai 2018 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Portugiesische Republik die vorliegende Klage erhoben.

20      Am 11. Juli 2018 hat die Kommission die Klagebeantwortung eingereicht.

21      Am 28. September 2018 hat die Portugiesische Republik die Erwiderung eingereicht.

22      Am 19. November 2018 hat die Kommission die Gegenerwiderung eingereicht.

23      Am 8. Juli 2019 hat das Gericht den Parteien im Rahmen prozessleitender Maßnahmen gemäß Art. 89 seiner Verfahrensordnung schriftliche Fragen gestellt. Die Parteien sind dieser Aufforderung fristgerecht nachgekommen.

24      Das Gericht (Fünfte Kammer) hat auf Vorschlag des Berichterstatters beschlossen, das mündliche Verfahren zu eröffnen. In der Sitzung vom 10. Dezember 2019 haben die Parteien mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.

25      Die Portugiesische Republik beantragt,

–        den angefochtenen Beschluss in dem Teil für nichtig zu erklären, in dem von der Portugiesischen Republik gemeldete Ausgaben in Höhe von 1 052 101,05 Euro mit der Begründung „Forderungen in den Tabellen gemäß Anhang III falsch ausgewiesen, dadurch keine Anwendung der 50/50‑Regel“ von der Unionsfinanzierung ausgeschlossen werden;

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

26      Die Kommission beantragt,

–        die Klage abzuweisen;

–        der Portugiesischen Republik die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

27      Zur Stützung ihrer Klage macht die Portugiesische Republik einen einzigen Klagegrund geltend, mit dem sie einen Verstoß gegen die Art. 32 und 33 der Verordnung Nr. 1290/2005 und Art. 54 der Verordnung Nr. 1306/2013 rügt, soweit die Kommission zu Unrecht angenommen habe, dass es sich bei den Verbindlichkeiten gegenüber IFAP, deren Wiedereinziehung Gegenstand eines Einziehungsverfahrens bei den Steuerbehörden sei, nicht um Fälle handele, bei denen die Wiedereinziehung Gegenstand eines Verfahrens vor den nationalen Gerichten im Sinne dieser Artikel sei.

28      Erstens trägt sie vor, nach portugiesischem Recht müsse die zwangsweise Beitreibung von im Rahmen von Verwaltungsverfahren geschuldeten Beträgen im Wege des Steuereinziehungsverfahrens durchgeführt werden. Zu diesem Zweck stelle der öffentlich‑rechtliche Gläubiger eine Schuldenbescheinigung aus, die er an die zuständige Dienststelle der Steuerverwaltung weiterleite, damit eine Steuereinziehung eingeleitet werde, in deren Rahmen die betreffende Schuldenbescheinigung als Vollstreckungstitel gelte, wobei sich der beitreibende öffentlich‑rechtliche Gläubiger an diesem Verfahren als Partei beteiligen könne. Im portugiesischen Recht und in der Rechtsprechung der portugiesischen obersten Gerichte werde jedoch übereinstimmend anerkannt, dass das Steuereinziehungsverfahren justiziellen Charakter habe und unter dem Vorsitz eines Richters durchgeführt werde. So heiße es in Art. 103 Abs. 1 des Allgemeinen Steuergesetzes ausdrücklich, dass „[d]as Steuereinziehungsverfahren … justiziellen Charakter [hat]“. Auch das Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht, Portugal) habe in seinem Urteil vom 8. August 2012 in der Rechtssache 0803/12 die Auffassung vertreten, dass „das ‚Verfahren‘ … der Steuereinziehung uneingeschränkt justiziellen Charakter [hat]“. In gleicher Weise habe das Tribunal Constitucional (Verfassungsgericht, Portugal) in seinem Urteil 80/2003 in der Rechtssache 151/02 festgestellt, dass „[seine] Verfassung [nicht] verlangt …, dass alle Handlungen, mit denen das Steuereinziehungsverfahren durchgeführt wird, zwingend vom Richter vorgenommen werden müssen, obwohl die Rechtsprechung in Steuersachen und – derzeit eindeutig – das Allgemeine Steuergesetz (Art. 103 Abs. 1) … dem Steuereinziehungsverfahren ‚justiziellen Charakter‘ verleihen“. Im selben Urteil habe das Tribunal Constitucional (Verfassungsgericht) festgestellt, dass „die Handlung, mit der bei der Steuereinziehung das Verfahren eingeleitet wird, einfach die Vorlage des entsprechenden Vollstreckungstitels bei der Finanzbehörde ist … und sie sich ihrer Natur nach somit nicht von der Handlung unterscheidet, mit der der Gläubiger in einem Zivilverfahren eine Vollstreckungsklage erhebt“. Außerdem habe das Verwaltungs- und Finanzgericht alle Merkmale eines Rechtsprechungsorgans im Sinne von Art. 267 AEUV: gesetzliche Grundlage, ständigen Charakter, obligatorische Gerichtsbarkeit, streitiges Verfahren, Anwendung von Rechtsnormen und Unabhängigkeit. Zur Stützung ihrer Auffassung verweist die Portugiesische Republik auch auf die Urteile vom 12. Juni 2014, Ascendi Beiras Litoral e Alta, Auto Estradas das Beiras Litoral e Alta (C‑377/13, EU:C:2014:1754), und vom 17. September 2014, Cruz & Companhia (C‑341/13, EU:C:2014:2230).

29      Zweitens führt sie aus, der in der portugiesischen Fassung von Art. 54 Abs. 2 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 1306/2013 verwendete Begriff „tribunais nacionais“ entspreche dem in der portugiesischen Fassung der Art. 32 und 33 der Verordnung Nr. 1290/2005 verwendeten Ausdruck „jurisdições nacionais“ und sei als Bezugnahme auf die „nationalen Gerichte“ zu verstehen.

30      Drittens macht sie geltend, die Systematik und der Sinn und Zweck der betreffenden Bestimmungen bestünden darin, die Beträge zu erfassen, die aufgrund von Unregelmäßigkeiten abgeflossen und nicht innerhalb einer angemessenen Frist wieder eingezogen worden seien. Es sei Sache der Mitgliedstaaten, sich unter Berücksichtigung der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel und in der ihnen am geeignetsten erscheinenden Form auf innerstaatlicher Ebene so gut wie möglich zu organisieren, um das Ziel der Beachtung der ihnen nach dem Unionsrecht obliegenden Verpflichtungen zu verfolgen und zu erreichen.

31      Viertens führt die Portugiesische Republik in der Erwiderung weiter aus, dass der angefochtene Beschluss, wenn er aufrechterhalten würde, wegen des obligatorischen Charakters des Steuereinziehungsverfahrens in der portugiesischen Rechtsordnung gegen die Grundsätze der Billigkeit, der Verhältnismäßigkeit und der Gerechtigkeit verstoße.

32      Die Kommission tritt dem Vorbringen der Portugiesischen Republik entgegen.

33      Als Erstes ist festzustellen, dass, wie die Portugiesische Republik zu Recht geltend macht, die portugiesischen Begriffe „tribunais nacionais“ und „jurisdições nacionais“ als Bezugnahme auf den Begriff „nationale Gerichte“ zu verstehen sind, zumal die in Art. 32 Abs. 5 Unterabs. 1 und Art. 33 Abs. 8 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 1290/2005 sowie in Art. 54 Abs. 2 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 1306/2013 verwendeten Ausdrücke in Fassungen in anderen Unionssprachen, wie u. a. der deutschen, der englischen, der französischen und der italienischen Fassung, keine Unterschiede aufweisen.

34      Als Zweites ist klarzustellen, dass der Begriff „einzelstaatliches Gericht“ nicht ausschließlich der Beurteilung der einzelnen Mitgliedstaaten überlassen bleiben kann. Da die Verordnungen Nr. 1290/2005 und Nr. 1306/2013 in Bezug auf den Begriff „nationales Gericht“ nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten verweisen, folgt nämlich aus dem Erfordernis der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts, dass dieser Begriff, der für die Bestimmung des Anwendungsbereichs der 50/50‑Regel entscheidend ist, in der gesamten Union einer autonomen und einheitlichen Auslegung bedarf, die unter Berücksichtigung des Kontexts der Vorschriften, zu denen er gehört, und des mit diesen Verordnungen verfolgten Ziels gefunden werden muss (vgl. entsprechend Urteile vom 7. Juni 2005, VEMW u. a., C‑17/03, EU:C:2005:362, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 14. November 2013, Baláž, C‑60/12, EU:C:2013:733‚ Rn. 25 und 26).

35      Wie sich insbesondere aus dem 26. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1290/2005 und dem 37. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1306/2013 ergibt, soll mit der 50/50‑Regel ein System der gerechten Aufteilung der finanziellen Belastung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten in Bezug auf die finanziellen Folgen eingeführt werden, die sich daraus ergeben, dass aufgrund von Unregelmäßigkeiten oder Versäumnissen zulasten des EGFL und des ELER geleistete Beträge nicht innerhalb einer angemessenen Frist wiedereingezogen werden. Diese Frist beträgt vier Jahre ab der ersten amtlichen oder gerichtlichen Feststellung, nunmehr dem Zeitpunkt der Wiedereinziehungsaufforderung nach der Verordnung Nr. 1306/2013, oder acht Jahre, wenn die nationalen Gerichte mit der Wiedereinziehung befasst werden.

36      In diesem Kontext sind für die Zwecke der Auslegung des Begriffs „nationales Gericht“ in Art. 32 Abs. 5 und Art. 33 Abs. 8 der Verordnung Nr. 1290/2005 sowie in Art. 54 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1306/2013 die vom Gerichtshof aufgestellten Kriterien für die Beurteilung heranzuziehen, ob es sich bei der vorlegenden Einrichtung um ein „Gericht“ im Sinne des Art. 267 AEUV handelt (vgl. entsprechend Urteil vom 14. November 2013, Baláž, C‑60/12, EU:C:2013:733, Rn. 32).

37      Insoweit ist nach ständiger Rechtsprechung auf eine Reihe von Merkmalen abzustellen, wie z. B. die gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ihr ständiger Charakter, die obligatorische Gerichtsbarkeit, das streitige Verfahren, die Anwendung von Rechtsnormen durch die Einrichtung sowie ihre Unabhängigkeit (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Februar 2017, Margarit Panicello, C‑503/15, EU:C:2017:126, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im Übrigen ist festzustellen, dass, auch wenn die Einrichtung nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaats als Verwaltungsorgan angesehen wird, dieser Umstand als solcher für die Beurteilung, ob eine Einrichtung ein „Gericht“ ist, nicht ausschlaggebend ist (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 20. September 2018, Montte, C‑546/16, EU:C:2018:752, Rn. 25, und Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in der Rechtssache Montte, C‑546/16, EU:C:2018:493, Nr. 22).

38      Im vorliegenden Fall ist auf der Grundlage der dem Gericht vorliegenden Informationen festzuhalten, dass, wenn innerhalb einer gesetzten Frist keine freiwillige Zahlung erfolgt und es unmöglich ist, die Wiedereinziehung mittels einer Aufrechnung von Forderungen vorzunehmen, das IFAP, die für die Wiedereinziehung der rechtsgrundlos zulasten des EGFL und des ELER gezahlten Beträge zuständige portugiesische Zahlstelle, eine Bescheinigung in Form eines vollstreckbaren Titels ausstellt, den sie zur Weiterverfolgung eines Steuereinziehungsverfahrens an die zuständige Dienststelle der Steuerverwaltung übermittelt (Art. 103 des Allgemeinen Steuergesetzes, Art. 179 der Verwaltungsprozessordnung und Art. 148 und 149 der Steuerverfahrensordnung).

39      Dieses Steuereinziehungsverfahren soll u. a. die rasche Beitreibung der Forderungen zugunsten des Staates und anderer juristischer Personen des öffentlichen Rechts, wie des IFAP, gewährleisten (Art. 148 Abs. 2 Buchst. a der Steuerverfahrensordnung).

40      Hierzu ergibt sich aus den portugiesischen Rechtsvorschriften sowie aus der Rechtsprechung des Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht) und des Tribunal Constitucional (Verfassungsgericht), dass die zuständige Dienststelle der Steuerverwaltung nur dafür zuständig ist, materiell administrative Handlungen vorzunehmen (Art. 103 Abs. 2 des portugiesischen Allgemeinen Steuergesetzes), die letztlich zur Beschlagnahme des Vermögens des Schuldners und dessen Verkauf führen (Art. 214 bis 236 und 248 bis 258 der Steuerverfahrensordnung).

41      Wenn die obersten portugiesischen Gerichte, wie die Portugiesische Republik vorträgt, die Ansicht vertreten, dass das Steuereinziehungsverfahren justiziellen Charakter hat, tun sie dies mit dem Ziel, zum einen die Verfassungsmäßigkeit dieses Verfahrens und der der Steuerverwaltung eröffneten Möglichkeit zu bestätigen, im Rahmen eines Steuereinziehungsverfahrens nichtgerichtliche Handlungen vorzunehmen (Urteil 80/2003 des Tribunal Constitucional [Verfassungsgericht]), und zum anderen die Anwendung der für das Zivilverfahren geltenden Regeln auf das Steuereinziehungsverfahren zu unterstreichen (Urteil 0803/12 des Supremo Tribunal Administrativo [Oberstes Verwaltungsgericht]). Die obersten portugiesischen Gerichte weisen allerdings nachdrücklich darauf hin, dass die Steuerverwaltung ausschließlich dafür zuständig sei, nichtgerichtliche Handlungen vorzunehmen, und dass die das Steuereinziehungsverfahrens einleitende Handlung nichts anderes sei als die Vorlage eines Vollstreckungstitels bei einer Steuerbehörde.

42      In der portugiesischen Rechtsordnung beruht der „justizielle Charakter“ des Steuereinziehungsverfahrens auf der möglichen Kontrolle, die die Verwaltungs- und Finanzgerichte jederzeit ausüben können, wenn sich aus der Handlung einer der Parteien oder einer nicht am Verfahren beteiligten Person oder aus einer Entscheidung der Steuerbehörde ein Interessenkonflikt ergibt (Urteil 80/2003 des Tribunal Constitucional [Verfassungsgericht]). Es wird daher nicht bestritten, dass das Tätigwerden der Verwaltungs- und Finanzgerichte einem Verfahren vor den „nationalen Gerichten“ im Sinne von Art. 32 Abs. 5 und Art. 33 Abs. 8 der Verordnung Nr. 1290/2005 sowie Art. 54 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1306/2013 entspricht.

43      Im Übrigen ist, auch wenn der Schuldner die Möglichkeit hat, rechtlich gegen die zwangsweise Durchsetzung einer Zahlungsverpflichtung vorzugehen (Art. 203 bis 213 der Steuerverfahrensordnung) und einen Rechtsbehelf gegen die Handlungen der zuständigen Dienststelle der Steuerverwaltung einzulegen (Art. 276 bis 278 der Steuerverfahrensordnung), die Prüfung des Antrags auf zwangsweise Beitreibung auf der Grundlage eines Vollstreckungstitels durch diese Dienststelle nicht kontradiktorisch.

44      Im Fall eines Konflikts, der sich aus der Handlung einer der Parteien oder einer nicht am Verfahren beteiligten Person oder aus einer Entscheidung der Steuerbehörde ergibt, ist die Dienststelle der Steuerverwaltung nämlich verpflichtet, die Akten an das zuständige Verwaltungs- und Finanzgericht weiterzuleiten, damit dieses eine gerichtliche Überprüfung vornehmen kann (Art. 203, 208, 237 und 276 bis 278 der Steuerverfahrensordnung).

45      Folglich nimmt die zuständige Dienststelle der Steuerverwaltung nur Verwaltungsaufgaben wahr und hat weder die Aufgabe, einen Rechtsstreit zu entscheiden, noch obliegt es ihr, die Rechtmäßigkeit der vom IFAP ausgestellten Schuldenbescheinigung zu überprüfen. Nur im Fall einer Beanstandung, welcher Art auch immer, durch eine der Parteien des Verfahrens oder einen Dritten kommt es dazu, dass die auf diese Weise befassten Verwaltungs- und Finanzgerichte gerichtliche Aufgaben wahrnehmen, die in der Kontrolle der Rechtmäßigkeit eines Rechtsakts bestehen, mit dem eine Forderung gegenüber einem Schuldner festgestellt wird, und dass dieser seine Rechte geltend machen kann.

46      Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die zuständige Dienststelle der Steuerverwaltung auch nicht dem oben in Rn. 37 genannten Kriterium der Unabhängigkeit genügt.

47      Insoweit ist daran zu erinnern, dass das Unabhängigkeitsgebot zwei Aspekte umfasst. Der erste – externe – Aspekt setzt voraus, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten (vgl. Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117‚ Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48      Der zweite – interne – Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass hinsichtlich der Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen an dessen Gegenstand ein gleicher Abstand gewahrt wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (vgl. Urteil vom 16. Februar 2017, Margarit Panicello, C‑503/15, EU:C:2017:126, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49      Diese Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 66).

50      Wie oben in den Rn. 44 und 45 ausgeführt, werden die Verwaltungs- und Finanzgerichte im vorliegenden Fall, wenn keine Anfechtung erfolgt, nicht im Rahmen des Steuereinziehungsverfahrens tätig.

51      Was die zuständige Dienststelle der Steuerverwaltung angeht, so ergibt sich aus den Bestimmungen des nationalen Rechts und insbesondere aus den Art. 55 und 58 des Allgemeinen Steuergesetzes, dass die Steuerverwaltung unparteiisch sein muss und nicht von der Initiative des Antragstellers abhängig sein darf.

52      Bei der Prüfung der Steuereinziehungsverfahren genügt die Steuerverwaltung somit dem Unabhängigkeitsgebot unter seinem internen Aspekt, indem sie ihre Aufgaben in voller Objektivität und Unparteilichkeit hinsichtlich der Parteien des Rechtsstreits und deren jeweiligen Interessen im Rechtsstreit wahrnimmt.

53      Allerdings ist festzustellen, dass die Steuerverwaltung diesem Erfordernis unter seinem externen Aspekt nicht genügt, wonach es keine hierarchische Beziehung oder Unterordnung gegenüber irgendeiner Einrichtung, die ihr Anordnungen oder Anweisungen erteilen kann, geben darf. Art. 182 der Verfassung der Portugiesischen Republik bestimmt nämlich, dass die Regierung das oberste Organ der Verwaltung ist. Im Übrigen ergibt sich aus Art. 199 Buchst. d der Verfassung der Portugiesischen Republik, dass es Sache der Regierung ist, in Ausübung ihrer Verwaltungsaufgaben Dienstleistungen und Tätigkeiten der unmittelbar dem Staat unterstehenden zivilen und militärischen Verwaltung zu leiten, die mittelbare Verwaltung zu überwachen und die Aufsicht über diese sowie über die autonomen Dienststellen auszuüben.

54      Außerdem ist anzumerken, dass die Beamten, die der zuständigen Dienststelle der Steuerverwaltung angehören, Beamte der Steuerverwaltung sind und dass der Leiter des Finanzbereichs die Aufsicht über diese dem Finanzministerium eingegliederte Dienststelle ausübt. Somit besteht ein hierarchisches Unterordnungsverhältnis zwischen der Steuerverwaltung und der Regierung.

55      Aus diesen Erwägungen folgt, dass, wenn die Verwaltungs- und Finanzgerichte nicht tätig werden, nicht davon ausgegangen werden kann, dass die zuständige Dienststelle der Steuerverwaltung eine gerichtliche Funktion wahrnimmt. Daher kommt ein Verfahren bei der zuständigen Dienststelle der Steuerverwaltung nicht einem Verfahren vor einem „nationalen Gericht“ im Sinne der Art. 32 Abs. 5 und 33 Abs. 8 der Verordnung Nr. 1290/2005 sowie von Art. 54 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1306/2013 gleich. Anders wäre es nur, wenn die Verwaltungs- und Finanzgerichte tätig würden.

56      Auch wenn man davon ausginge, dass das Steuereinziehungsverfahren unter dem Vorsitz eines Richters durchgeführt wird und der Schuldner zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit hat, die Entscheidungen der zuständigen Dienststelle der Steuerverwaltung vor den Verwaltungs- und Finanzgerichten anzufechten, wird dieses Verfahren bei Fehlen einer solchen Anfechtung doch in vollem Umfang von einer Dienststelle der Verwaltung durchgeführt, die nicht alle Kriterien für eine Einstufung als „nationales Gericht“ erfüllt.

57      Dieses Ergebnis wird durch die von der Portugiesischen Republik im vorliegenden Fall angeführte Rechtsprechung nicht in Frage gestellt.

58      Aus den Urteilen vom 2. Juni 2014, Ascendi Beiras Litoral e Alta, Auto Estradas das Beiras Litoral e Alta (C‑377/13, EU:C:2014:1754‚ Rn. 34), und vom 17. September 2014, Cruz & Companhia (C‑341/13, EU:C:2014:2230), geht nämlich hervor, dass die Verwaltungs- und Finanzgerichte, wie das Tribunal Arbitral Tributário (Schiedsgericht für Steuerangelegenheiten, Portugal) und das Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht), als „Gerichte eines Mitgliedstaats“ im Sinne von Art. 267 AEUV eingestuft worden sind. Von der Einstufung der Dienststellen der Steuerverwaltung war jedoch nicht die Rede.

59      Als Drittes ist darauf hinzuweisen, dass das mit Art. 32 Abs. 5 und Art. 33 Abs. 8 der Verordnung Nr. 1290/2005, jetzt im Wesentlichen Art. 54 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1306/2013, geschaffene System der gemeinsamen finanziellen Verantwortung bezweckt, die finanziellen Interessen der Union zu schützen, indem dem betroffenen Mitgliedstaat ein Teil der Beträge angelastet wird, die aufgrund von Unregelmäßigkeiten oder Versäumnissen abgeflossenen sind und nicht innerhalb einer angemessenen Frist wiedereingezogen wurden. In diesen spezifischen Fällen werden die finanziellen Folgen der Nichtwiedereinziehung zu 50 % von dem betreffenden Mitgliedstaat und zu 50 % vom Unionshaushalt getragen.

60      In Bezug auf die den Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang obliegenden Verpflichtungen verlangt Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1290/2005, der im Wesentlichen in Art. 58 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1306/2013 übernommen wurde, von den Mitgliedstaaten, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um einen wirksamen Schutz der finanziellen Interessen der Union zu gewährleisten und zu Unrecht gezahlte Beträge wiedereinzuziehen.

61      Diese Artikel sind, was die Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik angeht, Ausdruck der allgemeinen Sorgfaltspflicht nach Art. 4 Abs. 3 EUV (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Februar 1991, Deutschland/Kommission, C‑28/89, EU:C:1991:67, Rn. 31, vom 21. Januar 1999, Deutschland/Kommission, C‑54/95, EU:C:1999:11, Rn. 66 und 177, und vom 13. November 2001, Frankreich/Kommission, C‑277/98, EU:C:2001:603, Rn. 40).

62      Allerdings enthalten diese Bestimmungen keine näheren Erläuterungen zu den spezifischen Maßnahmen, die zu diesem Zweck zu ergreifen sind, und insbesondere auch nicht zu den Verfahren, die zur Wiedereinziehung dieser Beträge eingeleitet werden müssen.

63      Da die Verwaltung der EGFL‑ und der ELER‑Finanzierung in erster Linie Sache der nationalen Behörden ist, die für die strikte Einhaltung der Unionsvorschriften zu sorgen haben und über die dazu erforderliche geografische Nähe verfügen, sind die Mitgliedstaaten am besten in der Lage, die zu Unrecht gezahlten bzw. infolge von Unregelmäßigkeiten oder Versäumnissen abgeflossenen Beträge wiedereinzuziehen und die zu diesem Zweck geeignetsten Maßnahmen zu bestimmen (Urteil vom 30. Januar 2019, Belgien/Kommission, C‑587/17 P, EU:C:2019:75, Rn. 69).

64      Somit obliegt es konkret den innerstaatlichen Behörden, vorbehaltlich der Einhaltung der oben in Rn. 61 angesprochenen Sorgfaltspflicht, die Rechtsbehelfe auszuwählen, die sie für die Wiedereinziehung der betreffenden Beträge unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls für am geeignetsten halten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juli 2005, Griechenland/Kommission, C‑370/03, nicht veröffentlicht, EU:C:2005:489, Rn. 44).

65      Diese während des gesamten Einziehungsverfahrens bestehende Sorgfaltspflicht bedeutet auch, dass die Mitgliedstaaten rasch und zeitnah die Einziehung betreiben und Maßnahmen zur Beseitigung der Unregelmäßigkeiten treffen müssen. Nach Ablauf einer gewissen Zeitspanne besteht nämlich die Gefahr, dass die Wiedereinziehung zu Unrecht gezahlter Beträge aufgrund bestimmter Umstände wie etwa der Einstellung der Tätigkeit oder des Verlusts von Buchführungsunterlagen schwierig oder unmöglich wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Januar 2018, Kommission/Italien, C‑433/15, EU:C:2018:31, Rn. 42).

66      Außerdem können die nationalen Behörden die Verletzung dieser Verpflichtung nicht mit dem Hinweis auf die Dauer der von dem Wirtschaftsteilnehmer eingeleiteten Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren rechtfertigen (Urteil vom 21. Februar 1991, Deutschland/Kommission, C‑28/89, EU:C:1991:67, Rn. 32).

67      Hinzuzufügen ist, dass die Einhaltung der Verfahren und Fristen, die nach nationalem Recht für die Wiedereinziehung gelten, eine notwendige Mindestpflicht darstellt, die aber nicht ausreicht, um die Sorgfalt eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1290/2005, jetzt Art. 58 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1306/2013, nachzuweisen (Urteil vom 12. September 2012, Italien/Kommission, T‑394/06, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:417‚ Rn. 90 und 91).

68      Im vorliegenden Fall macht die Portugiesische Republik geltend, dass das im portugiesischen Recht vorgesehene Verfahren zur Wiedereinziehung der aus dem EGFL und dem ELER zu Unrecht gezahlten Beträge bindend und wirksam sei, so dass die Achtjahresfrist gerechtfertigt sei. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass dem Aufbau des mit der Regelung in Art. 32 Abs. 5 und Art. 33 Abs. 8 der Verordnung Nr. 1290/2005, jetzt im Wesentlichen Art. 54 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1306/2013, geschaffenen Systems eine andere Frage zugrunde liegt, nämlich die Frage, ob die Wiedereinziehung Gegenstand eines Verfahrens vor den „nationalen Gerichten“ im Sinne der Unionsregelungen ist. Das Vorliegen eines Rechtsstreits vor den nationalen Gerichten ist das entscheidende Kriterium, dessen Erfüllung objektiv überprüfbar ist.

69      Insoweit folgt aus den vorstehenden Rn. 55 und 56, dass das bei der zuständigen Dienststelle der Steuerverwaltung eingeleitete Steuereinziehungsverfahren nicht als Wiedereinziehung eingestuft werden kann, mit der die „nationalen Gerichte“ im Sinne der Art. 32 und 33 der Verordnung Nr. 1290/2005 und von Art. 54 der Verordnung Nr. 1306/2013 befasst wurden, zumindest wenn die Verwaltungs- und Finanzgerichte nicht tätig werden.

70      Daraus ergibt sich für die Portugiesische Republik die Verpflichtung, das Steuereinziehungsverfahren vor der zuständigen Dienststelle der Steuerverwaltung innerhalb der Ausschlussfrist von vier Jahren gemäß den Art. 32 und 33 der Verordnung Nr. 1290/2005 und Art. 54 der Verordnung Nr. 1306/2013 erfolgreich zu beenden.

71      Nur dann, wenn ein Konflikt auftritt und das Finanzgericht zu einem Zeitpunkt vor Ablauf der Frist von vier Jahren mit dem Verfahren befasst wird, kann geltend gemacht werden, dass die Frist von acht Jahren die für das Steuereinziehungsverfahren geltende angemessene Frist ist.

72      Andernfalls würde eine Frist von acht Jahren bei allen Steuereinziehungsverfahren anerkannt, einschließlich der Fälle, in denen die zuständige Dienststelle der Steuerverwaltung das Verfahren ohne Konflikt oder Tätigwerden eines Gerichts beendet, was mit dem vom Gesetzgeber verfolgten Ziel des Schutzes der finanziellen Interessen der Union und der Einführung von Mechanismen, mit denen eine wirksame und rechtzeitige Wiedereinziehung der aus dem EGFL und dem ELER zu Unrecht gezahlten Beträge gefördert werden soll, nicht im Einklang stünde.

73      Als Viertes ist festzustellen, dass in der Erwiderung ausdrücklich auf die Rügen Bezug genommen wird, mit denen ein Verstoß gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Billigkeit und der Gerechtigkeit geltend gemacht wird. Jedoch werden keine konkreten, klaren und schlüssigen Argumente zur Stützung dieser Rügen vorgetragen, aus denen hervorginge, warum diese Grundsätze verletzt worden sein sollten. Diese Rügen sind daher gemäß Art. 76 Buchst. d der Verfahrensordnung als unzulässig zurückzuweisen.

74      Folglich durfte die Kommission bestimmte Ausgaben wirksam mit der Begründung von der Finanzierung durch die Union ausschließen, dass sie seit mehr als vier Jahren Gegenstand eines Steuereinziehungsverfahrens vor der zuständigen Dienststelle der Steuerverwaltung waren, die nicht als „nationales Gericht“ im Sinne der Art. 32 und 33 der Verordnung Nr. 1290/2005 und von Art. 54 der Verordnung Nr. 1306/2013 eingestuft werden kann.

 Kosten

75      Gemäß Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei antragsgemäß zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

76      Da die Portugiesische Republik unterlegen ist, sind ihr entsprechend dem Antrag der Kommission ihre eigenen Kosten und die Kosten der Kommission aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Fünfte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Die Portugiesische Republik trägt ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Europäischen Kommission.

Spielmann

Forrester

Öberg

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 30. Januar 2020.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Portugiesisch.