Language of document : ECLI:EU:T:2019:767

URTEIL DES GERICHTS (Neunte Kammer)

24. Oktober 2019(*)

„Gemeinschaftsgeschmacksmuster – Nichtigkeitsverfahren – Eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster, das ein medizinisches Pflaster darstellt – Offenbarung älterer Geschmacksmuster – Nichtigkeitsgrund – Eigenart – Informierter Benutzer – Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers – Unterschiedlicher Gesamteindruck – Art. 6 und Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 6/2002“

In der Rechtssache T‑560/18

Atos Medical GmbH mit Sitz in Troisdorf (Deutschland), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwältin K. Middelhoff sowie Rechtsanwälte G. Schoenen und S. Biermann,

Klägerin,

gegen

Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO), vertreten durch D. Walicka als Bevollmächtigte,

Beklagter,

andere Beteiligte im Verfahren vor der Beschwerdekammer des EUIPO und Streithelferin vor dem Gericht:

Andreas Fahl Medizintechnik-Vertrieb GmbH mit Sitz in Köln (Deutschland), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwältin F. Kramer,

betreffend eine Klage gegen die Entscheidung der Dritten Beschwerdekammer des EUIPO vom 29. Juni 2018 (Sache R 2216/2016-3) zu einem Nichtigkeitsverfahren zwischen Atos Medical und Andreas Fahl Medizintechnik-Vertrieb

erlässt

DAS GERICHT (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten S. Gervasoni (Berichterstatter) sowie der Richter L. Madise und R. da Silva Passos,

Kanzler: R. Ūkelytė, Verwaltungsrätin,

aufgrund der am 13. September 2018 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klageschrift,

aufgrund der am 7. Dezember 2018 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klagebeantwortung des EUIPO,

aufgrund der am 29. November 2018 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klagebeantwortung der Streithelferin,

aufgrund der Entscheidung vom 6. Juni 2019, die Rechtssachen T‑559/18 und T‑560/18 zu gemeinsamem mündlichen Verfahren zu verbinden,

auf die mündliche Verhandlung vom 11. Juli 2019

folgendes

Urteil

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

1        Am 13. August 2012 meldete die Streithelferin, die Andreas Fahl Medizintechnik-Vertrieb GmbH, nach der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 2002, L 3, S. 1) beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster an.

2        Das angemeldete Geschmacksmuster (im Folgenden: angegriffenes Geschmacksmuster) wird nachstehend wiedergegeben:

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3        Das angegriffene Geschmacksmuster wurde unter der Nr. 1339246-0004 eingetragen. Seine Eintragung wurde im Blatt für Gemeinschaftsgeschmacksmuster Nr. 2012/173 vom 10. September 2012 veröffentlicht. Diese Eintragung wurde am 31. Juli 2017 verlängert.

4        Das angegriffene Geschmacksmuster soll für medizinische Pflaster in Klasse 24-04 des Abkommens von Locarno zur Errichtung einer Internationalen Klassifikation für gewerbliche Muster und Modelle vom 8. Oktober 1968 in geänderter Fassung verwendet werden.

5        Am 11. April 2016 stellte die Klägerin, die Atos Medical GmbH, beim EUIPO einen Antrag auf Nichtigerklärung des angegriffenen Geschmacksmusters nach Art. 52 der Verordnung Nr. 6/2002, den sie auf Art. 25 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung stützte.

6        In ihrem Nichtigkeitsantrag machte die Klägerin geltend, das angegriffene Geschmacksmuster erfülle die Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 6/2002 nicht, da es ihm an Neuheit und Eigenart im Sinne der Art. 5 und 6 dieser Verordnung fehle.

7        Für ihren Nichtigkeitsantrag legte die Klägerin folgende Unterlagen vor:

–        die nachstehend abgebildete technische Zeichnung für „Adesive Disc, Flexiderm, Oval“ mit der Angabe „approved by – date 950407“ (genehmigt durch – Datum 950407) (im Folgenden: Zeichnung AS1):

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–        die nachstehend abgebildete technische Zeichnung für „Adhesive Disc, Flexiderm, Oval“ mit der Angabe „approved by – date 980414“ (genehmigt durch – Datum 980414) (im Folgenden: Zeichnung AS2):

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–        die nachstehend abgebildete technische Zeichnung für „Adhesive Disc, Flexiderm, Oval“ mit der Angabe „approved by – date 000510“ (genehmigt durch – Datum 000510) (im Folgenden: Zeichnung AS4):

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–        die nachstehend abgebildete technische Zeichnung für „Adhesive Disc, Flexiderm, Oval“ mit der Angabe „released by – date 2008-06-23“ (offenbart durch – Datum 2008-06-23) (im Folgenden: Zeichnung AS5):

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–        die nachstehend abgebildete technische Zeichnung für „Adhesive Disc, OptiDerm, Oval“ mit der Angabe „released by – date 2008-06-23“ (offenbart durch – Datum 2008-06-23) (im Folgenden: Zeichnung AS6):

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–        eine eidesstattliche Versicherung des „Vice President Development & Operations“ (Stellvertretender Leiter Entwicklung & Betrieb) der Gesellschaft Atos Medical AB mit Sitz in Schweden (im Folgenden: eidesstattliche Versicherung), wonach diese seit dem Jahr 2000 insbesondere das nachstehend abgebildete Tracheostomapflaster hergestellt und in den Verkehr gebracht habe:

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–        die deutsche Patentoffenlegungsschrift Nr. DE 10 2010 048 316 A1 vom 19. April 2012 mit u. a. folgenden Abbildungen (im Folgenden: Zeichnung AS7):

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8        Mit Entscheidung vom 14. November 2016 erklärte die Nichtigkeitsabteilung das angegriffene Geschmacksmuster für nichtig, da es zwar die Voraussetzung der Neuheit erfülle, ihm aber in Ansehung der Zeichnung AS7 die Eigenart fehle.

9        Am 30. November 2016 legte die Streithelferin beim EUIPO nach den Art. 55 bis 60 der Verordnung Nr. 6/2002 Beschwerde gegen die Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung ein.

10      Vor der Beschwerdekammer legte die Klägerin unter der Angabe „Beschwerdesache R 2215/2016-3“ und „Angefochtenes Muster: 001339246-0004“ Kopien zweier Produktkataloge aus den Jahren 2002/2003 und 2005 vor, die unter den Bezeichnungen „OptiDerm“ und „FlexiDerm“ u. a. folgende Abbildungen enthalten:

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11      Mit Entscheidung vom 29. Juni 2018 (im Folgenden: angefochtene Entscheidung) hob die Dritte Beschwerdekammer des EUIPO die Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung auf und wies den Nichtigkeitsantrag zurück.

12      Sie befand in der angefochtenen Entscheidung, dass nur die Zeichnungen AS4 und AS7 als offenbart anzusehen seien und infolgedessen für die Prüfung der Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters herangezogen werden dürften (Rn. 33 der angefochtenen Entscheidung). Die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers sei bei den betreffenden Waren, nämlich Tracheostomapflastern, eingeschränkt (Rn. 36 der angefochtenen Entscheidung). Angesichts der Unterschiede zwischen dem angegriffenen Geschmacksmuster und allen offenbarten älteren Geschmacksmustern riefen die einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster für einen informierten Benutzer jeweils einen anderen Gesamteindruck hervor (Rn. 44 bis 49 der angefochtenen Entscheidung). Entgegen der Ansicht der Nichtigkeitsabteilung stünden die älteren Muster der Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters daher nicht entgegen (Rn. 50 der angefochtenen Entscheidung).

 Anträge der Parteien

13      Die Klägerin beantragt,

–        die angefochtene Entscheidung aufzuheben;

–        das angegriffene Geschmacksmuster für nichtig zu erklären;

–        zum einen dem EUIPO seine eigenen Kosten sowie die Kosten der Klägerin und zum anderen der Streithelferin ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.

14      Das EUIPO und die Streithelferin beantragen,

–        die Klage abzuweisen;


–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

15      Die Klägerin macht als einzigen Klagegrund geltend, dass dem angegriffenen Geschmacksmuster die Neuheit und die Eigenart im Sinne der Art. 5 und 6 der Verordnung Nr. 6/2002 fehle. Sie bringt dafür eine einheitliche Argumentation vor, die sich zum einen auf die Offenbarung der älteren Geschmacksmuster und zum anderen auf den Vergleich des durch die einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster jeweils hervorgerufenen Gesamteindrucks bezieht.

 Zur Zulässigkeit der in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Beweise

16      Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung Beweise vorgelegt. Dabei handelt es sich erstens um ein farbiges Dokument mit dem Titel „Bilder aus eidesstattlicher Versicherung …“, das eine Umrisszeichnung sowie ein Foto enthält, und zweitens um ein farbiges Dokument mit dem Titel „Patentoffenlegungsschrift DE … mit eingezeichneten Hilfslinien“.

17      Das EUIPO und die Streithelferin stellen die Zulässigkeit dieser Beweise in Abrede.

18      Die Klage vor dem Gericht ist auf die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der von den Beschwerdekammern des EUIPO getroffenen Entscheidungen im Sinne von Art. 61 der Verordnung Nr. 6/2002 gerichtet, so dass es nicht Aufgabe des Gerichts ist, die tatsächlichen Umstände anhand erstmals bei ihm eingereichter Unterlagen zu überprüfen (Urteile vom 13. November 2012, Antrax It/HABM – THC [Heizkörper], T‑83/11 und T‑84/11, EU:T:2012:592, Rn. 28, und vom 27. Februar 2018, Gramberg/EUIPO – Mahdavi Sabet [Hülle für Mobiltelefon], T‑166/15, EU:T:2018:100, Rn. 17).

19      Außerdem sind gemäß Art. 85 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts Beweise und Beweisangebote im Rahmen des ersten Schriftsatzwechsels vorzulegen. Nach Art. 85 Abs. 3 der Verfahrensordnung „[können, s]ofern die Verspätung der Vorlage gerechtfertigt ist, … die Hauptparteien ausnahmsweise noch vor Abschluss des mündlichen Verfahrens … Beweise oder Beweisangebote vorlegen“.

20      Die Beschwerdekammer verfügte bei Erlass der angefochtenen Entscheidung nicht über die oben in Rn. 16 genannten Beweise. Insbesondere entsprechen die in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Dokumente in Anbetracht insbesondere ihrer Leserlichkeit und der verwendeten Farben nicht der eidesstattlichen Versicherung und der Zeichnung AS7, die sich in der Akte des EUIPO finden. Die fraglichen Beweise haben sich außerdem nicht in der Klageschrift oder ihren Anlagen befunden, sondern sind erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem Gericht vorgelegt worden, ohne dass die Klägerin etwas vorbringt, um die Verspätung der Vorlage zu rechtfertigen.

21      Daher sind die in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Beweise angesichts sowohl der oben in Rn. 18 angeführten Rechtsprechung als auch der Regelung des Art. 85 der Verfahrensordnung als unzulässig zurückzuweisen.

 Zur Offenbarung der älteren Geschmacksmuster

22      Die Klägerin macht geltend, sie habe seit 1996 ein Tracheostomapflaster hergestellt und in der Europäischen Union in den Verkehr gebracht. Sie beruft sich hierfür auf die oben in Rn. 7 genannten Dokumente sowie die oben in Rn. 10 genannten Produktkataloge. Die Zeichnungen AS1 und AS2 genügten den Anforderungen des Art. 7 der Verordnung Nr. 6/2002, aber darauf komme es nicht entscheidend an, da die Zeichnungen lediglich zeigen sollten, welche Produkte die Klägerin entsprechend den eingereichten technischen Zeichnungen produziert und in den Verkehr gebracht habe. Der Umstand, dass die eidesstattliche Versicherung durch eine ihr nahe Person abgegeben worden sei, könne den Beweiswert dieser Versicherung nicht schmälern, die eine Zeichnung eines ovalen Pflasters mit Abziehhilfe sowie eine Fotografie eines seit 2000 vermarkteten Produkts mit denselben Merkmalen umfasse. Die Produktkataloge belegten allein schon, dass seit 1996 ein Pflaster auf den Markt gebracht werde, das die Merkmale des angegriffenen Geschmacksmusters zeige. Das Pflaster, das sich seitens der Klägerin bereits seit mindestens 2002 auf dem Markt befinde, gehöre demnach dem vorbekannten Formenschatz an.

23      Das EUIPO und die Streithelferin treten dem Vorbringen der Klägerin entgegen. Sie machen im Wesentlichen geltend, die Beschwerdekammer habe zu Recht befunden, dass die Offenbarung der Zeichnungen AS1, AS2, AS5 und AS6 nicht nachgewiesen sei.

24      Die Streithelferin ist darüber hinaus der Ansicht, dass entgegen den Ausführungen der Beschwerdekammer allein die Offenbarung der Zeichnung AS7 nachgewiesen sei. Ferner bringt sie vor, die Produktkataloge seien von der Klägerin ausschließlich im parallelen Nichtigkeitsverfahren R 2215/2016-3, aber nicht im vorangegangenen Nichtigkeitsverfahren R 2216/2016-3 eingereicht worden, und sie habe vor der Beschwerdekammer keine Gelegenheit zur Stellungnahme zu diesen Katalogen gehabt. Außerdem hätte die Beschwerdekammer nach Auffassung der Streithelferin die Produktkataloge als verspätet zurückweisen müssen, da sie von der Klägerin ausschließlich in das Verfahren vor der Beschwerdekammer eingebracht worden seien.

25      Art. 6 („Eigenart“) der Verordnung Nr. 6/2002 lautet:

„(1) Ein Geschmacksmuster hat Eigenart, wenn sich der Gesamteindruck, den es beim informierten Benutzer hervorruft, von dem Gesamteindruck unterscheidet, den ein anderes Geschmacksmuster bei diesem Benutzer hervorruft, das der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist, und zwar:

a)      im Fall nicht eingetragener Gemeinschaftsgeschmacksmuster vor dem Tag, an dem das Geschmacksmuster, das geschützt werden soll, erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird,

b)      im Fall eingetragener Gemeinschaftsgeschmacksmuster vor dem Tag der Anmeldung zur Eintragung oder, wenn eine Priorität in Anspruch genommen wird, vor dem Prioritätstag.

(2) Bei der Beurteilung der Eigenart wird der Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung des Geschmacksmusters berücksichtigt.“

26      Nach Art. 7 der Verordnung Nr. 6/2002 gilt im Sinne der Art. 5 und 6 dieser Verordnung ein Geschmacksmuster als der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, wenn es nach der Eintragung oder auf andere Weise bekannt gemacht oder wenn es ausgestellt, im Verkehr verwendet oder auf sonstige Weise offenbart wurde, und zwar vor dem Tag der Anmeldung zur Eintragung, es sei denn, dass dies den in der Union tätigen Fachkreisen des betreffenden Wirtschaftszweigs im normalen Geschäftsverlauf nicht bekannt sein konnte. Ein Geschmacksmuster gilt jedoch – ebenfalls nach Art. 7 der Verordnung Nr. 6/2002 – nicht als der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, wenn es lediglich einem Dritten unter der ausdrücklichen oder stillschweigenden Bedingung der Vertraulichkeit offenbart wurde.

27      Die Verordnung (EG) Nr. 2245/2002 der Kommission vom 21. Oktober 2002 zur Durchführung der Verordnung Nr. 6/2002 (ABl. 2002, L 341, S. 28) enthält keinerlei Einzelheiten zu den Beweisen, die der Antragsteller im Nichtigkeitsverfahren in Bezug auf die Offenbarung des älteren Geschmacksmusters beizubringen hat. Insbesondere bestimmt Art. 28 Abs. 1 Buchst. b Ziff. v der Verordnung Nr. 2245/2002 lediglich, dass der Antrag auf Nichtigerklärung, wenn er u. a. mit der fehlenden Eigenart des Gemeinschaftsgeschmacksmusters, für das der Schutz beantragt wird, begründet wird, die Angabe und die Wiedergabe des Geschmacksmusters des Antragstellers im Nichtigkeitsverfahren, das schädlich für die Eigenart des Gemeinschaftsgeschmacksmusters sein könnte, für das der Schutz beantragt wird, sowie Unterlagen, die die frühere Offenbarung des älteren Geschmacksmusters belegen, enthalten muss. Ferner legen weder die Verordnung Nr. 6/2002 noch die Verordnung Nr. 2245/2002 eine verpflichtende Form für die Beweise fest, die vom Antragsteller im Nichtigkeitsverfahren zum Nachweis der Offenbarung seines Geschmacksmusters vor dem Tag der Anmeldung des Geschmacksmusters, für das der Schutz beantragt wird, beizubringen sind. So verlangt Art. 28 Abs. 1 Buchst. b Ziff. v und vi der Verordnung Nr. 2245/2002 nur, dass der Nichtigkeitsantrag Unterlagen, „die die Existenz [des] älteren [Geschmacksmusters] belegen“, und „die [zu seiner] Begründung vorgebrachten Tatsachen, Beweismittel und Bemerkungen“ enthält. Auch Art. 65 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 sieht nur eine nicht erschöpfende Liste von in Verfahren vor dem EUIPO möglichen Beweismitteln vor. Daraus ergibt sich, dass der Antragsteller im Nichtigkeitsverfahren die Beweise, von denen er annimmt, dass ihre Vorlage beim EUIPO seinem Nichtigkeitsantrag dienlich ist, frei wählen kann (vgl. Urteil vom 17. Mai 2018, Basil/EUIPO – Artex [Fahrradkörbe], T‑760/16, EU:T:2018:277, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28      Außerdem lässt sich die Offenbarung eines älteren Geschmacksmusters nicht mit Wahrscheinlichkeitsannahmen oder Vermutungen nachweisen, sondern muss auf konkreten und objektiven Umständen beruhen, die eine tatsächliche Offenbarung des älteren Geschmacksmusters auf dem Markt belegen. Im Übrigen sind die vom Antragsteller im Nichtigkeitsverfahren vorgelegten Beweise in ihrer Wechselbeziehung zu würdigen. Denn auch wenn einige von ihnen möglicherweise für sich genommen nicht ausreichen, um die Offenbarung eines älteren Geschmacksmusters zu belegen, können sie doch, wenn sie miteinander verbunden oder zusammen mit anderen Dokumenten oder Informationen betrachtet werden, dazu beitragen, den Beweis für die Offenbarung zu erbringen. Schließlich sind zur Beurteilung des Beweiswerts eines Dokuments die Wahrscheinlichkeit und die Glaubhaftigkeit der darin enthaltenen Informationen zu prüfen. Zu berücksichtigen sind insbesondere die Herkunft des Dokuments, die Umstände seiner Ausarbeitung, sein Adressat sowie die Frage, ob es seinem Inhalt nach vernünftig und glaubhaft erscheint (vgl. Urteil vom 17. Mai 2018, Fahrradkörbe, T‑760/16, EU:T:2018:277, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Im vorliegenden Fall hielt die Beschwerdekammer lediglich die Offenbarung der Zeichnungen AS4 und AS7 für nachgewiesen.

30      Hinsichtlich der Zeichnung AS7 war sie der Ansicht, dass die vom Deutschen Patent- und Markenamt am 19. April 2012 bekannt gemachte deutsche Patentoffenlegungsschrift allein schon die Offenbarung dieser darin wiedergegebenen Zeichnung nachweise (Rn. 22 der angefochtenen Entscheidung). Dieser von den Parteien auch nicht in Abrede gestellten Schlussfolgerung ist beizupflichten.

31      In Bezug auf die Zeichnung AS4 hat die Beschwerdekammer entgegen der Auffassung der Streithelferin zu Recht befunden, dass sich aus einer Gesamtschau der von der Klägerin vorgelegten Belegstücke – nämlich der fraglichen technischen Zeichnung, der eidesstattlichen Versicherung und der Produktkataloge – der Nachweis der Offenbarung dieser Zeichnung ergebe. Wie nämlich die Beschwerdekammer zutreffend ausgeführt hat, enthält zum einen die eidesstattliche Versicherung die Aussage, dass „seit dem Jahr 2000“ ein Tracheostomapflaster hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sei, sowie eine Strichzeichnung, die der Zeichnung AS4 aus demselben Jahr entspricht, und entsprechen zum anderen die Abbildungen in den nach dem Jahr 2000 datierenden Produktkatalogen der Zeichnung AS4 (Rn. 25 bis 30 der angefochtenen Entscheidung).


32      Hinzuzufügen ist hierbei, dass die Beschwerdekammer in Ausübung ihres weiten Ermessens die Produktkataloge berücksichtigen durfte, auch wenn deren Einreichung nach Ablauf der dafür geltenden Fristen erfolgte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juli 2017, Gamet/EUIPO – „Metal-Bud II“ Robert Gubała [Türgriff], T‑306/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:466, Rn. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung). Auch der Umstand, dass die Streithelferin vor der Beschwerdekammer zu diesen – in der Sache R 2216/2016-3 jedoch durchaus vorgelegten – Katalogen nicht Stellung nehmen konnte, stellt die Beurteilung der Beschwerdekammer hinsichtlich der Offenbarung der Zeichnung AS4 nicht in Frage. Im Übrigen wäre die Beschwerdekammer, selbst wenn die Streithelferin zu diesen Katalogen hätte Stellung nehmen können, wie sie es in der anderen ein Nichtigkeitsverfahren betreffenden Sache R 2215/2016-3 tat, wie in jener Sache ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Offenbarung der Zeichnung AS4 gegeben sei.

33      Was die Zeichnungen AS1, AS2, AS5 und AS6 betrifft, befand die Beschwerdekammer dagegen die von der Klägerin vorgelegten Dokumente als nicht ausreichend für den Nachweis der Offenbarung dieser Zeichnungen. Sie war der Ansicht, dass die technischen Zeichnungen für sich genommen, ohne ergänzende Unterlagen, nicht ausreichend seien, um eine Offenbarung im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 nachzuweisen. Die eidesstattliche Versicherung sei von eingeschränktem Wert, sofern sie nicht durch weitere Dokumente gestützt werde, und außerdem sei sie unklar. Ferner könnten die Produktkataloge nicht die Offenbarung der Zeichnungen AS1, AS2, AS5 und AS6 nachweisen (Rn. 24 bis 32 der angefochtenen Entscheidung).

34      Das Vorbringen der Klägerin vermag die vorstehend in Rn. 33 geschilderten Schlussfolgerungen der Beschwerdekammer nicht in Frage zu stellen.

35      Als Erstes ist nämlich Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 dahin auszulegen, dass sich für die Bejahung der Eigenart eines Geschmacksmusters der Gesamteindruck, den dieses beim informierten Benutzer hervorruft, nicht von dem Gesamteindruck, den eine Kombination isolierter Elemente von mehreren älteren Geschmacksmustern hervorruft, sondern von dem Gesamteindruck, den ein oder mehrere ältere Geschmacksmuster für sich genommen hervorrufen, unterscheiden muss (Urteil vom 19. Juni 2014, Karen Millen Fashions, C‑345/13, EU:C:2014:2013‚ Rn. 35).

36      Deshalb ist insoweit, als die Klägerin hinsichtlich der Offenbarung der älteren Geschmacksmuster auf ein von ihr seit 1996 oder zumindest seit 2002 in den Verkehr gebrachtes Tracheostomapflaster, auf ein Pflaster, das die Merkmale des angegriffenen Geschmacksmusters aufweise, oder auf ein ovales Pflaster verweist, ohne das ältere Geschmacksmuster, dessen Offenbarung nachgewiesen werden soll, genau und individuell zu identifizieren, das betreffende Vorbringen als nicht hinreichend substantiiert zu verwerfen.

37      Als Zweites hat die Beschwerdekammer zutreffend angenommen, dass technische Zeichnungen üblicherweise für den internen Gebrauch bestimmt seien und nicht veröffentlicht würden und dass, da eine technische Zeichnung lediglich der Produktionsvorbereitung diene, ihre bloße Existenz keine Feststellungen erlaube, ob und zu welchem Zeitpunkt ein der betreffenden Zeichnung entsprechendes Produkt tatsächlich hergestellt und vermarktet worden sei. Somit ist sie zu Recht davon ausgegangen, dass die Vorlage von technischen Zeichnungen durch die Klägerin – insbesondere der Zeichnungen AS1 und AS2 – für sich genommen, ohne ergänzende Unterlagen, nicht ausreichend sei, um eine Offenbarung dieser Zeichnungen im Sinne des Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 nachzuweisen.

38      Als Drittes konnte die Beschwerdekammer entgegen der Rüge seitens der Klägerin fehlerfrei feststellen, dass die eidesstattliche Versicherung von einer Person aus dem Umfeld der Klägerin stamme, und daraus ableiten, dass der Beweiswert dieser Versicherung eingeschränkt sei, sofern sie nicht durch weitere Beweise gestützt werde.

39      Angaben, die in einer schriftlichen Erklärung an Eides statt von einer Person gemacht werden, die in irgendeiner Weise mit dem Unternehmen verbunden ist, das sich auf diese Erklärung beruft, müssen nämlich jedenfalls durch weitere Beweise gestützt werden (Urteile vom 18. November 2015, Liu/HABM – DSN Marketing [Tasche für tragbare Computer], T‑813/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:868, Rn. 29, und vom 13. Dezember 2017, Delfin Wellness/EUIPO – Laher [Infrarot- und Saunakabinen], T‑114/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:899, Rn. 91).

40      Im Übrigen ist mit der Beschwerdekammer festzustellen, dass es der eidesstattlichen Versicherung in mancherlei Hinsicht an Klarheit fehlt. Insbesondere sind aufgrund der Qualität des Fotos, das sich in dieser Versicherung zu dem Pflaster findet, das ab dem Jahr 2000 hergestellt worden sein soll, weder die Einzelheiten dieses Produkts noch etwaige zeitliche Angaben deutlich erkennbar. Außerdem entspricht die Strichzeichnung in der eidesstattlichen Versicherung zu diesem Pflaster sowohl der Zeichnung AS4 aus dem Jahr 2000 als auch den Zeichnungen AS5 und AS6 aus dem Jahr 2008, nicht aber den Zeichnungen AS1 und AS2 aus den Jahren 1995 und 1998.

41      Als Viertes hat die Beschwerdekammer festgestellt, dass die Abbildungen in den Produktkatalogen weder die Offenbarung der Zeichnungen AS1 und AS2 noch die Offenbarung der Zeichnungen AS5 und AS6 nachweisen könnten, da sie – im Fall der Erstgenannten – diesen Zeichnungen nicht entsprächen und da – im Fall der Zweitgenannten – Produktkataloge aus den Jahren 2002/2003 und 2005 nicht die Existenz von erst im Jahr 2008 entworfenen Produkten belegen könnten (Rn. 32 der angefochtenen Entscheidung). Insbesondere hat sie näher ausgeführt, dass entgegen dem Vorbringen der Klägerin vor ihr die Produktabbildungen in diesen Katalogen nicht der Zeichnung AS1 entsprächen, da diese Abbildungen eine Abziehhilfe in Form einer rechteckigen Ausbuchtung (oder Lasche) zeigten, die in der Zeichnung AS1 fehle (Rn. 29 der angefochtenen Entscheidung).

42      Die Klägerin macht geltend, die Produktkataloge allein belegten schon, dass seit 1996 oder zumindest seit 2002 ein Tracheostomapflaster auf den Markt gebracht werde, das sämtliche Merkmale des angegriffenen Geschmacksmusters aufweise. Der Produktkatalog aus den Jahren 2002/2003 enthalte insoweit auf S. 11 eine Abbildung, die der Zeichnung AS1 entspreche, und „die ovale Form“ werde bereits auf den S. 13 und 14 des Katalogs aus dem Jahr 2005 gezeigt.

43      Dem Vorbringen der Klägerin kann jedoch nicht gefolgt werden. Der Produktkatalog aus den Jahren 2002/2003 enthält nämlich auf S. 11 keine hinreichend genaue und vollständige Abbildung, anhand deren sich die Zeichnung AS1 ausmachen ließe. Soweit im Übrigen die Klägerin auf ein seit 1996 oder zumindest seit 2002 auf den Markt gebrachtes Tracheostomapflaster mit sämtlichen Merkmalen des angegriffenen Geschmacksmusters oder auf eine „ovale Form“ Bezug nimmt, ohne das ältere Geschmacksmuster, dessen Offenbarung dargetan werden soll, genau und individuell zu identifizieren, ist dieses Vorbringen als nicht hinreichend substantiiert zu verwerfen (vgl. oben, Rn. 36).

44      Aus dem Vorstehenden folgt, dass unter Berücksichtigung der von der Klägerin vorgelegten Belegstücke in einer Gesamtschau die Beschwerdekammer zu Recht der Ansicht war, dass allein die Offenbarung der Zeichnungen AS4 und AS7 nachgewiesen sei.

 Zur Eigenart

45      Aus dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 6/2002 geht hervor, dass im Fall eines eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters die Eigenart im Hinblick auf den bei einem informierten Benutzer hervorgerufenen Gesamteindruck zu beurteilen ist. Dieser muss sich von dem unterscheiden, den ein anderes Geschmacksmuster hervorruft, das der Öffentlichkeit vor dem Tag der Anmeldung zur Eintragung zugänglich gemacht worden ist. Art. 6 Abs. 2 dieser Verordnung stellt klar, dass bei der Beurteilung der Eigenart der Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung des Geschmacksmusters zu berücksichtigen ist.

 Zum Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers

46      Der Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung des Geschmacksmusters wird insbesondere durch die Vorgaben bestimmt, die sich aus den durch die technische Funktion des Erzeugnisses oder eines Bestandteils des Erzeugnisses bedingten Merkmalen oder aus den auf das Erzeugnis anwendbaren gesetzlichen Vorschriften ergeben. Diese Vorgaben führen zu einer Standardisierung bestimmter Merkmale, die dann zu gemeinsamen Merkmalen aller bei dem betreffenden Erzeugnis verwendeten Geschmacksmuster werden (Urteil vom 18. März 2010, Grupo Promer Mon Graphic/HABM – PepsiCo [Wiedergabe eines runden Werbeträgers], T‑9/07, EU:T:2010:96, Rn. 67).

47      Je größer die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung des Geschmacksmusters ist, desto weniger reichen daher kleine Unterschiede zwischen den einander gegenüberstehenden Geschmacksmustern aus, um beim informierten Benutzer einen unterschiedlichen Gesamteindruck hervorzurufen. Je beschränkter umgekehrt die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung des Geschmacksmusters ist, desto eher genügen kleine Unterschiede zwischen den einander gegenüberstehenden Geschmacksmustern, um beim informierten Benutzer einen unterschiedlichen Gesamteindruck hervorzurufen. Somit bestärkt ein hoher Grad an Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung eines Geschmacksmusters die Schlussfolgerung, dass Geschmacksmuster, die keine erheblichen Unterschiede aufweisen, beim informierten Benutzer denselben Gesamteindruck hervorrufen (vgl. Urteil vom 18. Juli 2017, Chanel/EUIPO – Jing Zhou und Golden Rose 999 [Ornament], T‑57/16, EU:T:2017:517, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48      Im vorliegenden Fall ging die Beschwerdekammer in Rn. 36 der angefochtenen Entscheidung davon aus, dass die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei einem Tracheostomapflaster eingeschränkt sei. Sie führte aus, dass ein solches Pflaster dazu diene, nach einer Tracheotomie den dadurch künstlich angelegten Luftdurchlass abzudecken und ein Hilfsmittel, nämlich einen Wärme-Feuchtigkeitsaustauscher oder ein Sprechventil, zu fixieren. Die runde Form der Öffnung und der Halterung sei durch die Größe und die Form des Wärme-Feuchtigkeitsaustauschers oder des Sprechventils bedingt. Die Größe und die Form des Pflasters müssten außerdem die Abdeckung des Tracheostomas, die sichere Befestigung des Hilfsmittels und einen gewissen Tragekomfort gewährleisten, weshalb zur Vermeidung unnötiger Klebeflächen eine runde bis ovale Form von Relevanz sei. Damit beschränke sich die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers auf die Anordnung der runden Öffnung innerhalb des Pflasters und dessen konkrete Form.

49      Diesen – von der Klägerin auch nicht beanstandeten – Erwägungen ist beizupflichten.

 Zum informierten Benutzer

50      Zur Auslegung des Begriffs „informierter Benutzer“ ist festzustellen, dass die Benutzereigenschaft voraussetzt, dass die betroffene Person das Produkt, das das Geschmacksmuster verkörpert, zu dem für dieses Produkt vorgesehenen Zweck benutzt (Urteil vom 22. Juni 2010, Shenzhen Taiden/HABM – Bosch Security Systems [Fernmeldegeräte], T‑153/08, EU:T:2010:248, Rn. 46). Außerdem setzt die Bezeichnung „informiert“ voraus, dass der Benutzer, ohne ein Entwerfer oder technischer Sachverständiger zu sein, die verschiedenen Geschmacksmuster kennt, die es in dem betroffenen Wirtschaftsbereich gibt, dass er gewisse Kenntnisse in Bezug auf die Elemente besitzt, die diese Geschmacksmuster für gewöhnlich aufweisen, und dass er diese Produkte aufgrund seines Interesses an ihnen mit verhältnismäßig großer Aufmerksamkeit benutzt (Urteil vom 20. Oktober 2011, PepsiCo/Grupo Promer Mon Graphic, C‑281/10 P, EU:C:2011:679, Rn. 59).

51      Der Begriff des informierten Benutzers ist als Begriff zu verstehen, der zwischen dem im Markenbereich anwendbaren Begriff des Durchschnittsverbrauchers, von dem keine speziellen Kenntnisse erwartet werden und der im Allgemeinen keinen direkten Vergleich zwischen den einander gegenüberstehenden Marken anstellt, und dem des Fachmanns als Sachkundigen mit profunden technischen Fertigkeiten liegt. Somit kann der Begriff des informierten Benutzers als Bezeichnung eines Benutzers verstanden werden, dem keine durchschnittliche Aufmerksamkeit, sondern eine besondere Wachsamkeit eigen ist, sei es wegen seiner persönlichen Erfahrung oder seiner umfangreichen Kenntnisse in dem betreffenden Bereich (Urteil vom 20. Oktober 2011, PepsiCo/Grupo Promer Mon Graphic, C‑281/10 P, EU:C:2011:679, Rn. 53).

52      Im vorliegenden Fall nahm die Beschwerdekammer in Rn. 38 der angefochtenen Entscheidung an, dass der informierte Benutzer mit den Merkmalen von Tracheostomapflastern und den verschiedenen Geschmacksmustern in diesem Bereich vertraut sei. Er wisse, dass diese Pflaster der Abdeckung des Tracheostomas und der Befestigung eines Hilfsmittels dienten und dass die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers insofern eingeschränkt sei.

53      Diesen – von der Klägerin auch nicht beanstandeten – Erwägungen ist zuzustimmen.

 Zum Vergleich des von den einander gegenüberstehenden Geschmacksmustern jeweils hervorgerufenen Gesamteindrucks

54      Die Klägerin macht geltend, die zu vergleichenden Geschmacksmuster riefen den gleichen Gesamteindruck hervor. Bei einem Tracheostomapflaster komme es dem informierten Benutzer nicht auf die Form an, da mit ihr keine Funktion verbunden sei. Er werde vorrangiges Augenmerk auf die Funktionalität des Pflasters legen, insbesondere auf dessen Haltbarkeit, Klebekraft und Ablösbarkeit. Bei der optischen Bewertung hätten unauffällige Details der Gestaltung des Pflasters für den informierten Benutzer nur nachrangige Bedeutung.

55      Im Übrigen weist die Klägerin darauf hin, dass sich das angegriffene Geschmacksmuster nicht von älteren Geschmacksmustern unterscheide, insbesondere nicht von den von ihr selbst hergestellten Pflastern. Sie macht insbesondere in Bezug auf die Zeichnungen AS4 und AS7 geltend, dass sie seit dem Jahr 1996 Pflaster mit den Merkmalen des angegriffenen Geschmacksmusters herstelle. Das angegriffene Geschmacksmuster unterscheide sich von den älteren Geschmacksmustern nur durch die etwas länglichere Form des Segments mit der Ausprägung sowie durch die Tatsache, dass dieses Segment über einen geringfügig größeren Radius verfüge als das andere Segment. Bei solchen Unterschieden handle es sich um unwesentliche Einzelheiten, die weder die Neuheit noch die Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters begründen könnten.

56      Das EUIPO und die Streithelferin treten dem Vorbringen der Klägerin entgegen.

57      Nach der Rechtsprechung beruht die Eigenart eines Geschmacksmusters darauf, dass aus der Sicht eines informierten Benutzers in Bezug auf den vorbestehenden Formenschatz ein Unterschied im Gesamteindruck oder kein „Déjà-vu“ besteht, wobei Unterschiede außer Betracht bleiben, die – auch wenn sie über unbedeutende Details hinausgehen – zu schwach ausgeprägt sind, um diesen Gesamteindruck zu beeinflussen, jedoch Unterschiede berücksichtigt werden, die hinreichend ausgeprägt sind, um einen unähnlichen Gesamteindruck hervorzurufen (vgl. Urteil vom 17. Mai 2018, Fahrradkörbe, T‑760/16, EU:T:2018:277, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58      Bei der Beurteilung der Eigenart eines Geschmacksmusters im Vergleich zum vorbestehenden Formenschatz sind die Art des Erzeugnisses, bei dem das Geschmacksmuster benutzt wird oder in das es aufgenommen wird, und insbesondere der jeweilige Industriezweig (vgl. 14. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 6/2002), der Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung des Geschmacksmusters, eine etwaige Sättigung des Stands der Technik, die den informierten Benutzer stärker für die Unterschiede zwischen den miteinander verglichenen Geschmacksmustern sensibilisieren könnte, sowie die Art der Benutzung des fraglichen Erzeugnisses, insbesondere im Hinblick auf die dafür übliche Bedienungsweise, zu berücksichtigen (vgl. Urteil vom 17. Mai 2018, Fahrradkörbe, T‑760/16, EU:T:2018:277, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).

59      Schließlich ist bei der Beurteilung der Eigenart eines Geschmacksmusters auch die Sicht des informierten Benutzers zu berücksichtigen. Der informierte Benutzer ist nach ständiger Rechtsprechung eine Person mit besonderer Wachsamkeit, die über eine gewisse Kenntnis vom vorherigen Stand der Technik verfügt, d. h. vom Formenschatz der sich auf das fragliche Erzeugnis beziehenden Geschmacksmuster, die am Anmeldetag des angegriffenen Geschmacksmusters oder gegebenenfalls an dem in Anspruch genommenen Prioritätstag zugänglich waren (vgl. Urteil vom 17. Mai 2018, Fahrradkörbe, T‑760/16, EU:T:2018:277, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60      Als Erstes ist gemäß der oben in Rn. 35 angeführten Rechtsprechung das Vorbringen der Klägerin als nicht hinreichend substantiiert zu verwerfen, soweit sie auf ältere Geschmacksmuster und insbesondere auf die von ihr selbst hergestellten Pflaster Bezug nimmt, ohne das Geschmacksmuster genau und individuell zu identifizieren, das einen Gesamteindruck hervorrufen könnte, der sich von demjenigen, den das angegriffene Geschmacksmuster hervorruft, nicht unterscheidet.

61      Als Zweites ist festzustellen, dass das angegriffene Geschmacksmuster folgende Merkmale aufweist: erstens eine ovale, leicht asymmetrische Grundform, deren rechte Seite breiter und bauchiger ist als die linke Seite; zweitens eine kreisrunde Halterung auf der Längsachse, die nach links verschoben und erhöht ist; drittens zwei halbrunde, leicht asymmetrische Ausbuchtungen, die mittig am oberen und am unteren Rand der Grundform angeordnet sind und deren äußere Kanten in etwa einen rechten Winkel mit der äußeren Kante der Grundform bilden; viertens schließlich eine rechteckige Ausbuchtung am rechten Ende der Längsachse.

62      Die Zeichnung AS4 weist ihrerseits die folgenden Merkmale auf: erstens eine fast kreisrunde, leicht asymmetrische Grundform, deren rechte Seite bauchiger ist als die linke; zweitens eine fast in der Mitte der Grundform angeordnete kreisrunde Öffnung; drittens zwei halbrunde Ausbuchtungen ober- und unterhalb der Öffnung; viertens eine rechteckige Ausbuchtung am rechten Ende der Längsachse.

63      Die Zeichnung AS7 schließlich hat folgende Merkmale: erstens eine fast kreisrunde Grundform mit zwei halbrunden Ausbuchtungen an ihren seitlichen Rändern; zweitens eine erhöhte, fast mittig angeordnete kreisrunde Halterung; drittens eine kleine halbrunde Ausbuchtung am unteren Rand der Grundform.

64      Als Drittes ist festzuhalten, dass das angegriffene Geschmacksmuster und die Zeichnung AS4 die folgenden Merkmale teilen: eine leicht asymmetrische Grundform, halbrunde seitliche Ausbuchtungen, eine kreisrunde Öffnung und eine rechteckige Ausbuchtung am rechten Ende. Wie die Beschwerdekammer jedoch zutreffend festgestellt hat, gibt es Unterschiede in der Form der einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster, die beim angegriffenen Geschmacksmuster oval und deutlich bauchiger ist als bei der Zeichnung AS4. Die Anordnung der kreisrunden Öffnung ist ebenfalls unterschiedlich, da diese beim angegriffenen Geschmacksmuster im Verhältnis zum Mittelpunkt der Längsachse und zu den Ausbuchtungen deutlich nach links versetzt ist, während sie bei der Zeichnung AS4 fast mittig angeordnet ist. Außerdem ist auch die Form der Ausbuchtungen unterschiedlich, da diese bei dem angegriffenen Geschmacksmuster einen fast rechten Winkel mit der Außenkante der Grundform bilden und von der Grundform abgesetzt wirken, während bei der Zeichnung AS4 der Übergang zwischen der Außenkante und den Ausbuchtungen fließend ist, so dass diese als Teil der Grundform erscheinen.

65      Vor diesem Hintergrund ist, wie die Beschwerdekammer zu Recht festgestellt hat, der Gesamteindruck, den das angegriffene Geschmacksmuster hervorruft, anders als der von der Zeichnung AS4 hervorgerufene. In Anbetracht des eingeschränkten Grades der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers wird der informierte Benutzer die vorstehend in Rn. 64 genannten hinreichend ausgeprägten Unterschiede leicht wahrnehmen, auch wenn er feststellen sollte, dass es Merkmale gibt, die diesen Geschmacksmustern gemeinsam sind. So lässt sich aus dem Umstand, dass die einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster eine im weiten Sinn runde oder ovale Grundform aufweisen, nicht folgern, dass sie den gleichen Gesamteindruck hervorrufen, da es sich um ein Erzeugnis handelt, für das eine solche Form von Relevanz ist, um unnötige Klebeflächen zu vermeiden (vgl. oben, Rn. 48). Ebenso wenig wird sich der informierte Benutzer auf die Übereinstimmung konzentrieren, die zwischen den einander gegenüberstehenden Geschmacksmustern hinsichtlich der durch die technische Funktion des Erzeugnisses vorgegebenen runden Form der Öffnung oder in Bezug auf die rechteckige Ausbuchtung besteht, die eine Abziehhilfe darstellt und damit ebenfalls eine technische Funktion erfüllt.

66      Insoweit ist das Vorbringen der Klägerin zurückzuweisen, dass die Formunterschiede der einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster für den informierten Benutzer unerheblich seien, da die Form im Hinblick auf die Funktion des in Rede stehenden Erzeugnisses irrelevant sei. Die Beschwerdekammer hat nämlich festgestellt, dass Tracheostoma unterschiedliche Form und Größe haben können. Sie hat daraus gefolgert, dass sich die Anordnung der Öffnung und die Form des Pflasters auf die Benutzung und den Tragekomfort auswirken könnten, nämlich darauf, ob das Pflaster das Tracheostoma gut abdecke und ob es die sichere Befestigung des Hilfsmittels gestatte (Rn. 46 der angefochtenen Entscheidung). In der Akte findet sich aber nichts, was es erlauben würde, der angefochtenen Entscheidung darin zu widersprechen.

67      Als Viertes unterscheidet sich der vom angegriffenen Geschmacksmuster hervorgerufene Gesamteindruck auch von demjenigen, den die Zeichnung AS7 hervorruft.

68      Wie nämlich die Beschwerdekammer zutreffend ausgeführt hat, weicht das angegriffene Geschmacksmuster von der Zeichnung AS7 mindestens durch die gleichen hinreichend ausgeprägten Unterschiede ab, wie sie oben in Rn. 64 beim Vergleich des angegriffenen Geschmacksmusters mit der Zeichnung AS4 beschrieben worden sind, d. h. durch eine ovale und bauchigere Grundform, durch eine deutlich nach links versetzte kreisrunde Öffnung und durch die spezielle Form der Ausbuchtungen. Hinzu kommt, dass die Unterschiede zwischen dem angegriffenen Geschmacksmuster und der Zeichnung AS7 noch ausgeprägter sind als die Unterschiede zwischen dem angegriffenen Geschmacksmuster und der Zeichnung AS4, da die Grundform der Zeichnung AS7 anders als die Grundform des angegriffenen Geschmacksmusters nicht deutlich asymmetrisch ist und keine bauchige rechte Seite hat. Außerdem ist die kreisrunde Halterung in der Zeichnung AS7 deutlich höher als beim angegriffenen Geschmacksmuster, was ebenfalls zu einem unterschiedlichen Gesamteindruck beiträgt.

69      Als Fünftes ist nur ergänzend festzustellen, dass selbst unter der Prämisse, dass die Zeichnungen AS1, AS2, AS5 und AS6 als offenbart angesehen werden könnten, quod non (vgl. oben, Rn. 44), die Klägerin sich im Rahmen ihres Vorbringens zum Vergleich des von den einander gegenüberstehenden Geschmacksmustern jeweils hervorgerufenen Gesamteindrucks auf keine dieser Zeichnungen individuell für sich genommen beruft. Jedenfalls ist der jeweilige Gesamteindruck, den das angegriffene Geschmacksmuster und jede einzelne dieser Zeichnungen individuell für sich genommen hervorrufen, unterschiedlich. Das angegriffene Geschmacksmuster unterscheidet sich nämlich auch von jeder dieser Zeichnungen zumindest durch die gleichen hinreichend ausgeprägten Unterschiede, die oben in Rn. 64 beschrieben worden sind und die der informierte Benutzer in Anbetracht insbesondere des eingeschränkten Grades der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers leicht wahrnehmen wird.

70      Somit hat die Beschwerdekammer zutreffend befunden, dass die älteren Geschmacksmuster der Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters nicht entgegenstünden.

71      Nach alledem ist der einzige Klagegrund zurückzuweisen, wobei die Klägerin im Übrigen nichts Spezifisches zu Art. 5 der Verordnung Nr. 6/2002 vorgebracht hat.

72      Die Klage ist daher insgesamt abzuweisen.

 Kosten

73      Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr gemäß den Anträgen des EUIPO und der Streithelferin die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Neunte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Die Atos Medical GmbH trägt die Kosten.

Gervasoni

Madise

da Silva Passos

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 24. Oktober 2019.

Der Kanzler

 

      Der Präsident

E. Coulon

 

      S. Gervasoni


*      Verfahrenssprache: Deutsch.