Language of document : ECLI:EU:T:2015:450

Verbundene Rechtssachen T‑425/04 RENV und T‑444/04 RENV

Französische Republik

und

Orange

gegen

Europäische Kommission

„Staatliche Beihilfen – Finanzielle Maßnahmen zugunsten von France Télécom – Angebot eines Aktionärsvorschusses – Öffentliche Erklärungen des französischen Staates – Entscheidung, mit der die Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt wird – Keine Ausweitung des förmlichen Prüfverfahrens – Verteidigungsrechte – Kriterium des umsichtigen privaten Kapitalgebers – Normale Marktbedingungen – Rechtsfehler – Offensichtliche Ermessensfehler“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Sechste erweiterte Kammer) vom 2. Juli 2015

1.      Nichtigkeitsklage – Rechtsschutzinteresse – Klage, die dem Kläger einen Vorteil verschaffen kann – Fortbestand des Rechtsschutzinteresses bis zum Erlass der gerichtlichen Entscheidung – Umfang – Interesse daran, eine Wiederholung des behaupteten Rechtsverstoßes zu verhindern – Feststellung der Rechtswidrigkeit einer den Kläger betreffenden Maßnahme als Grundlage einer Schadensersatzklage – Einbeziehung

(Art. 263 AEUV)

2.      Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Entscheidung über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens nach Art. 88 Abs. 2 EG – Entscheidung, die auf einem unvollständigen Sachverhalt oder auf einer rechtlich fehlerhaften Beurteilung dieses Sachverhalts beruht – Erlass einer Berichtigungsentscheidung – Zulässigkeit – Voraussetzungen

(Art. 88 Abs. 2 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, achter Erwägungsgrund sowie Art. 6 Abs. 1, und Art. 7)

3.      Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Verteidigungsrechte – Geltung für Verwaltungsverfahren vor der Kommission – Prüfung von Beihilfevorhaben – Umfang

(Art. 88 Abs. 2 EG)

4.      Staatliche Beihilfen – Verwaltungsverfahren – Verpflichtung, den betroffenen Mitgliedstaat zur rechtlichen Beurteilung der Kommission zu hören – Fehlen

(Art. 88 EG)

5.      Staatliche Beihilfen – Verwaltungsverfahren – Pflicht der Kommission, die Beteiligten zur Äußerung aufzufordern – Ausschluss der Beteiligten von der Inanspruchnahme der Verteidigungsrechte – Recht des Beihilfeempfängers, in angemessenem Maß am Verfahren beteiligt zu werden – Grenzen

(Art. 88 Abs. 2 EG)

6.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Dem Staat zurechenbare Gewährung einer Vergünstigung aus staatlichen Mitteln – Umfang – Verminderung der Belastungen, die ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat – Einbeziehung

(Art. 87 Abs. 1 EG)

7.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Beurteilung nach dem Kriterium des privaten Kapitalgebers – Staat als Anteilseigner eines Unternehmens – Staat in Ausübung seiner hoheitlichen Gewalt – Unterscheidung im Hinblick auf das Kriterium des privaten Kapitalgebers – In die Beurteilung einfließende Gesichtspunkte

(Art. 87 Abs. 1 EG)

8.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Dem Staat zurechenbare Gewährung einer Vergünstigung aus staatlichen Mitteln – Feststellung vor der Prüfung des Kriteriums des privaten Kapitalgebers

(Art. 87 Abs. 1 EG)

9.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Dem Staat zurechenbare Gewährung einer Vergünstigung aus staatlichen Mitteln – Öffentliche Erklärungen der Regierung eines Mitgliedstaats, mit denen dessen Wille zum Ausdruck gebracht wird, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Finanzprobleme eines Unternehmens zu lösen – Vorteil, der ohne Übertragung staatlicher Mittel gewährt wird – Ausschluss

(Art. 87 Abs. 1 EG)

10.    Staatliche Beihilfen – Begriff – Beurteilung nach dem Kriterium des privaten Kapitalgebers – Berücksichtigung des Zusammenhangs und der zum Zeitpunkt des Erlasses der Unterstützungsmaßnahmen verfügbaren Informationen

(Art. 87 Abs. 1 EG)

11.    Nichtigkeitsklage – Nichtigkeitsurteil – Tragweite – Absolute Rechtskraft – Nichtigerklärung eines Beschlusses, mit dem eine staatliche Beihilfe für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt wird – Daraus resultierende Nichtigkeit der Feststellung, dass diese Beihilfe nicht zurückzufordern ist

1.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 116-119)

2.      Der Beschluss der Kommission, das förmliche Prüfverfahren in Bezug auf die Qualifizierung einer Maßnahme als staatliche Beihilfe zu eröffnen, enthält zum einen die wesentlichen Angaben, durch die der Mitgliedstaat und das betroffene Unternehmen ausreichend Kenntnis über den maßgeblichen Prüfungsrahmen und die Überlegungen haben, die die Kommission zu der Ansicht veranlasst haben, dass die in Rede stehenden Maßnahmen eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfe darstellen könnten, so dass sie im förmlichen Prüfverfahren gebührend Stellung nehmen können, und zum anderen enthält er vollständige Hinweise darauf, dass ein Vorteil vorliegt, den das betroffene Unternehmen unter normalen Marktbedingungen nicht erzielt hätte, denn die Kommission formuliert in diesem Beschluss die allgemeine Feststellung, dass die Ankündigung einer Verpflichtung seitens des betroffenen Mitgliedstaats, Finanzschwierigkeiten eines Unternehmens, das ihm zu 55 % der Anteile gehört, zu überwinden, insoweit bereits die Bindung staatlicher Mittel mit sich bringen könnte, als diese Verpflichtung unwiderruflich ist und eine Erwartungshaltung und ein Vertrauen am Markt auslöst, was sich in einem Kursanstieg der Aktie des betroffenen Unternehmens und in der positiven Reaktion der Ratingagenturen niederschlägt, und dass die Beihilfe noch vor der Unterzeichnung einer eventuellen Vereinbarung zwischen diesem Unternehmen und einem Industrie- und Handelsunternehmen dieses Mitgliedstaats über die Bereitstellung der Kreditlinie als tatsächlich gewährt betrachtet werden könnte.

(vgl. Rn. 4, 138, 140-142)

3.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl.. Rn. 150, 152)

4.      Die Kommission kann nicht verpflichtet sein, dem betroffenen Mitgliedstaat oder den anderen Beteiligten, bevor sie ihre abschließende Entscheidung trifft, die rechtliche Beurteilung vorzulegen, der sie in dieser Entscheidung zu folgen gedenkt, und sei diese Beurteilung auch noch so neuartig. Insoweit ist die Kommission weder nach einer Vorschrift über staatliche Beihilfen noch nach der Rechtsprechung verpflichtet, den Beihilfeempfänger zu ihrer rechtlichen Beurteilung der fraglichen Maßnahme zu hören oder den betroffenen Mitgliedstaat – oder gar den Beihilfeempfänger – vor Erlass ihrer Entscheidung über ihren Standpunkt zu informieren, wenn den Beteiligten und dem Mitgliedstaat Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde.

(vgl. Rn. 159)

5.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 161, 162)

6.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 185-191)

7.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 192-196, 220)

8.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 201, 202)

9.      Die Anwendung – um das Vorliegen einer mit dem Binnenmarkt unvereinbaren staatlichen Beihilfe festzustellen – des Kriteriums des umsichtigen privaten Kapitalgebers im Wesentlichen allein auf die Erklärungen der Regierung eines Mitgliedstaats ist fehlerhaft. Dies gilt umso mehr, wenn die Kommission nicht über genügend Material verfügt, um zu der Frage Stellung nehmen zu können, ob diese Erklärungen selbst eine staatliche Beihilfe darstellen könnten. In diesem Zusammenhang muss die Kommission, selbst wenn sie rechtlich hinreichend dartut, dass diese Erklärungen es insbesondere ermöglicht haben, die Bewertung des Unternehmens als „Investment Grade“ beizubehalten und das Vertrauen der Finanzmärkte zurückzugewinnen sowie leichter und kostengünstiger Zugang zu neuen Krediten zu erhalten, die das Unternehmen zur Refinanzierung seiner kurzfristig fälligen Verbindlichkeiten benötigte und im Ergebnis zur Stabilisierung seiner finanziellen Lage beigetragen haben, die sich, als die Erklärungen abgegeben wurden, wesentlich zu verschlechtern drohte, zum Zweck der Feststellung des Vorliegens einer staatlichen Beihilfe einen hinreichend engen Zusammenhang zwischen dem Vorteil, der dem Begünstigten gewährt wird, einerseits und der Verringerung eines Postens des Staatshaushalts oder einem hinreichend konkreten wirtschaftlichen Risiko für dessen Belastung andererseits dartun.

Im Übrigen reicht es nicht aus, dass Erklärungen öffentlicher Stellen vom Markt einfach dahin wahrgenommen werden könnten, dass sie eine feste Zusage dieser Stellen enthalten, um daraus zu schließen, dass sie nachteilige wirtschaftliche und rechtliche Folgen zeitigen könnten. Die Feststellung des Vorliegens einer Beihilfe muss nämlich auf objektiven Feststellungen beruhen und nicht nur auf der Wahrnehmung der Marktakteure. Daher entsteht dem betroffenen Mitgliedstaat durch solche Erklärungen keinerlei rechtliche Verpflichtung, insbesondere nicht die Verpflichtung, das betroffene Unternehmen finanziell zu unterstützen.

(vgl. Rn. 212, 214, 216, 218, 235, 245, 246)

10.    Bei der Feststellung, ob Kapitalzuweisungen der öffentlichen Hand an Unternehmen den Charakter staatlicher Beihilfen haben, ist zu prüfen, ob ein privater Kapitalgeber von vergleichbarer Größe in vergleichbarer Lage hätte veranlasst werden können, Finanzhilfen gleichen Umfangs zu gewähren, wobei insbesondere die zum Zeitpunkt dieser Hilfen verfügbaren Informationen und vorhersehbaren Entwicklungen zu berücksichtigen sind. Bei einem Vergleich des Verhaltens des Staates mit dem eines privaten Kapitalgebers sind zwar die zum Zeitpunkt der betreffenden Finanzhilfen verfügbaren Informationen und vorhersehbaren Entwicklungen zu berücksichtigen, doch bedeutet dies, dass Ereignisse und Informationen nach der Gewährung der Beihilfe nicht berücksichtigt werden dürfen, es der Kommission aber nicht untersagt ist, davor eingetretene Ereignisse, die den Kontext der betreffenden Beihilfe bilden, und ihre Wirkungen zu berücksichtigen.

Auch wenn sich die verfügbaren Informationen auf in der Vergangenheit liegende Ereignisse und objektive Kriterien beziehen können, kann jedoch nicht zugestanden werden, dass diese früheren Ereignisse und Elemente allein für die Bildung des einschlägigen Bezugsrahmens für die Anwendung des Kriteriums des umsichtigen privaten Kapitalgebers maßgeblich sind. Im Gegenteil: Da eine vorausschauende Analyse auf der Grundlage der verfügbaren Informationen erforderlich ist, darf die Berücksichtigung von in der Vergangenheit liegenden Ereignissen und Kriterien nicht die Berücksichtigung von jüngeren Ereignissen und objektiven Kriterien ausschließen, da Letztere für diese vorausschauende Analyse entscheidend sein können, sei es, weil sie die länger zurückliegenden Sachverhalte aufheben, sei es, weil sie die künftige Entwicklung der wirtschaftlichen Lage des Empfängers und seiner Marktstellung bestimmen. So können frühere Ereignisse, selbst wenn es sich um objektive Tatsachen handelt, die zumindest teilweise die Entstehung der jüngeren Ereignisse bestimmt haben, nicht die Bedeutung dieser jüngeren Ereignisse auf null reduzieren, wenn sich zeigt, dass sich Letztere, wie etwa Maßnahmen zur Umstrukturierung, tatsächlich auf diese Entwicklung ausgewirkt haben.

(vgl. Rn. 220, 227, 229)

11.    Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 268, 269)