Language of document : ECLI:EU:T:2021:730

BESCHLUSS DES GERICHTS (Erste Kammer)

14. Oktober 2021(*)

„Nichtigkeitsklage – Wettbewerb – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Online-Verkauf – Beschluss über die Einleitung einer Untersuchung – Räumliche Reichweite der Untersuchung – Ausschluss Italiens – Nicht anfechtbare Handlung – Vorbereitende Handlung – Unzulässigkeit“

In der Rechtssache T‑19/21,

Amazon.com, Inc. mit Sitz in Wilmington, Delaware (USA),

Amazon Services Europe Sàrl mit Sitz in Luxemburg (Luxemburg),

Amazon EU Sàrl mit Sitz in Luxemburg,

Amazon Europe Core Sàrl mit Sitz in Luxemburg,

Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte A. Komninos und G. Tantulli,

Klägerinnen,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch B. Ernst, T. Franchoo, G. Meessen und C. Sjödin als Bevollmächtigte,

Beklagte,

betreffend eine Klage nach Art. 263 AEUV auf teilweise Nichtigerklärung des Beschlusses C(2020) 7692 final der Kommission vom 10. November 2020 zur Einleitung eines Verfahrens nach Art. 102 AEUV in der Sache AT.40703 Amazon – Buy Box

erlässt

DAS GERICHT (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten H. Kanninen, des Richters M. Jaeger und der Richterin N. Półtorak (Berichterstatterin),

Kanzler: E. Coulon,

folgenden

Beschluss

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

1        Die Klägerinnen, die Amazon.com, Inc., die Amazon Services Europe Sàrl, die Amazon EU Sàrl und die Amazon Europe Core Sàrl (im Folgenden zusammen: Amazon), gehören zum Unternehmen Amazon. Amazon ist insbesondere im Internet tätig, betreibt u. a. Online-Einzelhandel und erbringt verschiedene Online-Dienstleistungen.

2        Am 10. November 2020 erließ die Europäische Kommission den Beschluss C(2020) 7692 final zur Einleitung eines Verfahrens in der Sache AT.40703 Amazon – Buy Box (im Folgenden: angefochtener Beschluss).

3        Nach Ansicht der Kommission könnten bestimmte Geschäftspraktiken von Amazon deren eigene Einzelhandelsangebote und die Angebote der Verkäufer auf ihrem Marktplatz, die die Logistik- und Lieferdienste von Amazon nutzten, künstlich begünstigen.

4        Wäre die fragliche Praxis erwiesen, könnte sie nach Ansicht der Kommission gegen Art. 102 AEUV verstoßen.

5        Im angefochtenen Beschluss erklärte die Kommission, dass sich die Untersuchung auf den gesamten Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) mit Ausnahme Italiens erstrecken werde, was sie in der Pressemitteilung zu dem Beschluss damit rechtfertigte, dass die italienische Wettbewerbsbehörde im April 2019 begonnen habe, teilweise ähnliche Bedenken mit Schwerpunkt auf dem italienischen Markt zu prüfen.

 Verfahren und Anträge der Parteien

6        Mit am 19. Januar 2021 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangener Klageschrift hat Amazon die vorliegende Klage erhoben.

7        Mit ebenfalls am 19. Januar 2021 eingegangenem gesonderten Schriftsatz hat Amazon gemäß Art. 152 der Verfahrensordnung des Gerichts einen Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens gestellt. Mit Entscheidung vom 11. Februar 2021 hat das Gericht diesen Antrag zurückgewiesen.

8        Mit am 29. März 2021 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenem gesonderten Schriftsatz hat die Kommission gemäß Art. 130 der Verfahrensordnung des Gerichts eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben. Amazon hat ihre Stellungnahme zu dieser Einrede am 14. Mai 2021 eingereicht.

9        Mit am 21. bzw. 22. April 2021 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Schriftsätzen haben die Italienische Republik und die Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde, Italien) beantragt, im vorliegenden Verfahren als Streithelferinnen zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen zu werden.

10      Mit am 21. April 2021 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Schriftsätzen haben die Chamber of Commerce of the United States of America (Handelskammer der Vereinigten Staaten von Amerika) und die Computer & Communications Industry Association beantragt, im vorliegenden Verfahren als Streithelferinnen zur Unterstützung der Anträge von Amazon zugelassen zu werden.

11      In der Klageschrift beantragt Amazon,

–        den angefochtenen Beschluss teilweise für nichtig zu erklären, soweit er Italien vom räumlichen Anwendungsbereich der Untersuchung ausnimmt,

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

12      In der Einrede der Unzulässigkeit beantragt die Kommission,

–        die Klage als unzulässig abzuweisen,

–        Amazon die Kosten aufzuerlegen.

13      In ihrer Stellungnahme zur Einrede der Unzulässigkeit beantragt Amazon, die Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen.

 Rechtliche Würdigung

14      Die Kommission stützt ihre Einrede der Unzulässigkeit auf drei Unzulässigkeitsgründe, mit denen sie geltend macht, dass es erstens an einer Handlung fehle, die Gegenstand einer Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV sein könne, zweitens Amazon kein Rechtsschutzinteresse habe und es drittens dem Gericht unmöglich sei, den angefochtenen Beschluss teilweise für nichtig zu erklären und der Kommission aufzugeben, den geografischen Umfang der von ihr eingeleiteten Untersuchung zu ändern.

15      Die Klägerinnen vertreten u. a. die Ansicht, dass die besonderen Umstände der vorliegenden Rechtssache dem angefochtenen Beschluss den Charakter einer anfechtbaren Handlung verliehen.

16      Gemäß Art. 130 Abs. 1 und 7 der Verfahrensordnung kann das Gericht auf Antrag des Beklagten über die Unzulässigkeit oder die Unzuständigkeit vorab entscheiden. Da die Kommission im vorliegenden Fall beantragt hat, dass über die Unzulässigkeit entschieden wird, beschließt das Gericht, das sich aufgrund der Aktenlage für hinreichend informiert hält, ohne Fortsetzung des Verfahrens zu entscheiden.

17      Nach ständiger Rechtsprechung sind anfechtbare Handlungen im Sinne von Art. 263 AEUV unabhängig von ihrer Form alle von den Organen der Europäischen Union erlassenen Bestimmungen, die verbindliche Rechtswirkungen erzeugen sollen. Diese verbindlichen Rechtswirkungen einer Handlung sind anhand des Wesens der Handlung und objektiver Kriterien wie ihres Inhalts zu beurteilen, wobei gegebenenfalls der Zusammenhang ihres Erlasses und die Befugnisse des sie vornehmenden Organs zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Februar 2014, Ungarn/Kommission, C‑31/13 P, EU:C:2014:70, Rn. 54 und 55 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 25. Oktober 2017, Rumänien/Kommission, C‑599/15 P, EU:C:2017:801, Rn. 47 und 48).

18      Somit ist die Nichtigkeitsklage grundsätzlich nur gegen eine Maßnahme eröffnet, mit der das betreffende Organ beim Abschluss eines Verwaltungsverfahrens seinen Standpunkt endgültig festlegt. Hingegen können insbesondere Zwischenhandlungen, die der Vorbereitung der endgültigen Entscheidung dienen, nicht als anfechtbar qualifiziert werden (Urteil vom 19. Januar 2017, Kommission/Total und Elf Aquitaine, C‑351/15 P, EU:C:2017:27, Rn. 37).

19      In diesem Kontext sind Maßnahmen rein vorbereitender Art zwar nicht als solche mit einer Nichtigkeitsklage anfechtbar, ihre etwaigen rechtlichen Mängel können jedoch im Rahmen der Klage gegen die endgültige Handlung, deren Vorbereitung sie dienen, geltend gemacht werden, wodurch ein effektiver und vollständiger gerichtlicher Rechtsschutz gewährleistet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 1981, IBM/Kommission, 60/81, EU:C:1981:264, Rn. 12).

20      Die Wirkungen und die Rechtsnatur des angefochtenen Beschlusses, der gemäß Art. 2 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 773/2004 der Kommission vom 7. April 2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel [101 und 102 AEUV] durch die Kommission (ABl. 2004, L 123, S. 18) in der durch die Verordnung (EU) 2015/1348 der Kommission vom 3. August 2015 (ABl. 2015, L 208, S. 3) geänderten Fassung erlassen wurde, sind im Licht seiner Funktion innerhalb des Verfahrens zu beurteilen, das zu einer Entscheidung nach Kapitel III der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 und 102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 487/2009 des Rates vom 25. Mai 2009 zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrags auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Luftverkehr (ABl. 2009, L 148, S. 1) geänderten Fassung geführt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 1981, IBM/Kommission, 60/81, EU:C:1981:264, Rn. 13).

21      Die Ausgestaltung dieses Verfahrens soll es den betroffenen Unternehmen ermöglichen, ihren Standpunkt zur Kenntnis zu bringen und die Kommission möglichst umfassend zu informieren, bevor sie eine Entscheidung trifft, die die Interessen der Unternehmen beeinträchtigt. Damit sollen für Unternehmen Verfahrensgarantien geschaffen und, wie sich aus Art. 10 der Verordnung Nr. 773/2004 ergibt, ihr Recht gewährleistet werden, von der Kommission angehört zu werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 1981, IBM/Kommission, 60/81, EU:C:1981:264, Rn. 14).

22      Eine gegen die Einleitung eines Verfahrens nach Art. 102 AEUV gerichtete Nichtigkeitsklage könnte den Unionsrichter jedoch zur Entscheidung über Fragen zwingen, zu denen die Kommission sich noch nicht hat äußern können; sie würde damit der Erörterung der sachlichen Probleme vorgreifen und die verschiedenen Phasen der Verwaltungs- und Gerichtsverfahren durcheinanderbringen. Sie wäre daher mit der im Vertrag vorgesehenen Zuständigkeitsverteilung zwischen der Kommission und dem Unionsrichter und dem Rechtsschutzsystem des Vertrags sowie mit den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege und eines ordnungsgemäßen Ablaufs des Verwaltungsverfahrens der Kommission unvereinbar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 1981, IBM/Kommission, 60/81, EU:C:1981:264, Rn. 20).

23      Nach der Rechtsprechung folgt daraus, dass eine Handlung, mit der die Kommission ein Verfahren nach Art. 102 AEUV einleitet, grundsätzlich nur die Wirkungen einer Verfahrenshandlung entfaltet und die Rechtsstellung der Kläger, von ihrer verfahrensrechtlichen Lage abgesehen, nicht berührt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 1981, IBM/Kommission, 60/81, EU:C:1981:264, Rn. 17, und Beschluss vom 15. März 2019, Silgan Closures und Silgan Holdings/Kommission, T‑410/18, EU:T:2019:166, Rn. 19).

24      Im vorliegenden Fall wenden sich die Klägerinnen jedoch nur gegen den Teil des angefochtenen Beschlusses, in dem die Kommission einen Mitgliedstaat vom geografischen Umfang des von ihr eingeleiteten Verfahrens ausnimmt, und nicht gegen den angefochtenen Beschluss als solchen. Folglich ist zu prüfen, ob auch dieser Teil des angefochtenen Beschlusses im Hinblick auf die oben in den Rn. 17 bis 23 dargelegten Grundsätze nur die Wirkungen einer Verfahrenshandlung entfaltet.

25      Nach Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 kann die Kommission jederzeit die Einleitung eines Verfahrens zum Erlass einer Entscheidung gemäß Kapitel III der Verordnung Nr. 1/2003 beschließen; dieser Beschluss muss jedoch vor der Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte ergehen.

26      Daher muss der Rechtsakt, mit dem die Kommission einem Unternehmen ihren Willen mitteilt, ein Verfahren im Hinblick auf den Erlass einer der in Kapitel III der Verordnung Nr. 1/2003 aufgeführten Entscheidungen einzuleiten, die mutmaßlichen Zuwiderhandlungen gegen die Art. 101 und 102 AEUV, auf die sich dieser Rechtsakt bezieht, erläutern, die eines oder mehrere Unternehmen in einem oder mehreren Zeiträumen auf einem oder mehreren Produktmärkten und einem oder mehreren geografischen Märkten begangen haben sollen (Urteil vom 25. Februar 2021, Slovak Telekom, C‑857/19, EU:C:2021:139, Rn. 29).

27      Folglich müssen in einem auf der Grundlage von Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 erlassenen Beschluss der Kommission mehrere Angaben enthalten sein, darunter der oder die geografischen Märkte, auf die sich die Untersuchung der Kommission beziehen soll. Die Abgrenzung dieses geografischen Umfangs ist somit nur einer der zwingenden Bestandteile eines Beschlusses über die Einleitung eines Verfahrens zum Erlass einer der in Kapitel III der Verordnung Nr. 1/2003 genannten Entscheidungen.

28      Demzufolge hat die Kommission im vorliegenden Fall mit dem Beschluss über die Einleitung eines Verfahrens zum Erlass einer der in Kapitel III der Verordnung Nr. 1/2003 genannten Entscheidungen, das nicht das Hoheitsgebiet Italiens betrifft, nur den geografischen Umfang dieses Verfahrens abgegrenzt, wie es für einen Beschluss auf der Grundlage von Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 erforderlich ist.

29      Amazon weist jedoch darauf hin, dass bestimmte verfahrensmäßige Entscheidungen verbindliche und endgültige Rechtswirkungen im Sinne von Art. 263 AEUV in seiner Auslegung durch die Rechtsprechung entfalten können.

30      Zum einen handelt es sich um Entscheidungen, die zwar Abschnitte eines laufenden Verwaltungsverfahrens darstellen, aber nicht lediglich die Voraussetzungen für dessen weiteren Ablauf schaffen, sondern Wirkungen entfalten, die den Verfahrensrahmen überschreiten und die materiellen Rechte und Pflichten der Beteiligten ändern. Zum anderen sind bestimmte verfahrensmäßige Entscheidungen anfechtbar, weil sie Verfahrensrechte beeinträchtigen (vgl. Urteil vom 15. Januar 2003, Philip Morris International/Kommission, T‑377/00, T‑379/00, T‑380/00, T‑260/01 und T‑272/01, EU:T:2003:6, Rn. 96, 97 und 99 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Im vorliegenden Fall ändert der Ausschluss Italiens vom geografischen Umfang des Verfahrens, das die Kommission infolge des Erlasses des angefochtenen Beschlusses eingeleitet hat, allerdings weder die materiellen Rechte und Pflichten von Amazon, noch beeinträchtigt er ihre Verfahrensrechte.

32      Denn zum einen soll diese Abgrenzung des geografischen Umfangs der von der Kommission eingeleiteten Untersuchung die endgültige Entscheidung vorbereiten und kann sich insoweit noch entwickeln, da es der Kommission während des Verwaltungsverfahrens freisteht, den geografischen Umfang ihrer Untersuchung zu ändern, indem sie ihn vergrößert oder verkleinert, um ihn gegebenenfalls den Gesichtspunkten anzupassen, die sie möglicherweise entdeckt.

33      Erst wenn die Kommission gegenüber Amazon einen endgültigen Beschluss über den oder die mutmaßlichen Verstöße gegen Art. 102 AEUV erlassen hat und das betreffende Verfahren beendet wird, hat sie über den geografischen Umfang der mutmaßlichen Zuwiderhandlung endgültig entschieden.

34      Zum anderen hat die Kommission mit der im angefochtenen Beschluss enthaltenen Entscheidung, dass sich der von ihrer Untersuchung betroffene geografische Markt auf den gesamten EWR mit Ausnahme Italiens erstrecken sollte, von ihrem Ermessen Gebrauch gemacht, um den geografischen Umfang ihrer Untersuchung abzugrenzen, was der Aufstellung einer Liste von Staaten gleichkommt, zu denen Italien nicht zählt. Folglich ist dieser Ausschluss Italiens vom Umfang der von der Kommission eingeleiteten Untersuchung eine rein verfahrensmäßige Folge der Einleitung dieser Untersuchung, so dass er den angefochtenen Beschluss nicht in eine die Rechtsstellung von Amazon berührende und somit anfechtbare Handlung umwandeln kann.

35      Dasselbe gilt für das Vorbringen von Amazon, der angefochtene Beschluss verpflichte sie zum einen dazu, sich gegen zwei verschiedene Behörden – die italienische Wettbewerbsbehörde und die Kommission – unter Berücksichtigung verschiedener Verfahrensregeln, Garantien und ganz allgemein Systeme zu verteidigen, und könne zum anderen zu einer unterschiedlichen Anwendung des Wettbewerbsrechts der Union sowie zur Verhängung unterschiedlicher Sanktionen führen, was den einheitlichen europäischen Ansatz ihrer Tätigkeiten beeinträchtigen könnte.

36      Der Umstand, dass sich Amazon vor zwei verschiedenen Behörden verteidigen müsste, hat keine Wirkungen, die den Verfahrensrahmen überschreiten, und berührt somit nicht ihre Rechtsstellung, wie in Bezug auf Vorschriften über die Verjährung entschieden worden ist (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 15. März 2019, Silgan Closures und Silgan Holdings/Kommission, T‑410/18, EU:T:2019:166, Rn. 26). Zum anderen wäre die Gefahr inkohärenter Entscheidungen oder unterschiedlicher Sanktionen, die gegebenenfalls zugleich von der italienischen Wettbewerbsbehörde und von der Kommission verhängt würden, keine Folge des angefochtenen Beschlusses, sondern eine Folge dieser Verwaltungsverfahren oder anschließender endgültiger Entscheidungen. Wie oben in Rn. 19 ausgeführt, kann Amazon erst nach Abschluss der von der Kommission und der italienischen Wettbewerbsbehörde eingeleiteten Verfahren etwaige rechtliche Mängel, die diese Verfahren oder die nach ihrem Abschluss ergangenen Entscheidungen aufweisen, zur Stützung einer gegen die endgültige Handlung gerichteten Klage geltend machen.

37      Des Weiteren ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass ein Beschluss nach Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 über die Einleitung des Verfahrens nicht die Wirkung hat, den Adressaten ihre Verfahrensrechte zu nehmen. Vielmehr soll die Ausgestaltung dieses Verfahrens es den betroffenen Unternehmen gerade ermöglichen, ihren Standpunkt zur Kenntnis zu bringen und die Kommission möglichst umfassend zu informieren, bevor sie eine Entscheidung trifft, die die Interessen der Unternehmen beeinträchtigt (Beschluss vom 29. Januar 2020, Silgan Closures und Silgan Holdings/Kommission, C‑418/19 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:43, Rn. 48). Damit sollen zu ihren Gunsten Verfahrensgarantien geschaffen und, wie sich aus dem 32. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1/2003 und dem zehnten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 773/2004 ergibt, das Recht der Unternehmen gewährleistet werden, von der Kommission angehört zu werden.

38      Folglich entfaltet die Entscheidung, Italien vom Umfang des von der Kommission infolge des Erlasses des angefochtenen Beschlusses eingeleiteten Verfahrens auszunehmen, nur die Wirkungen einer Verfahrenshandlung und berührt nicht die Rechtsstellung von Amazon, abgesehen von ihrer verfahrensrechtlichen Lage.

39      Diese Schlussfolgerung kann nicht durch das Vorbringen von Amazon in Frage gestellt werden, dass der angefochtene Beschluss zwar das Verfahren betreffe, aber verbindliche Rechtswirkungen entfalte, da Amazon dadurch, dass das italienische Hoheitsgebiet vom Anwendungsbereich des Beschlusses ausgenommen worden sei, der in Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehene Schutz vor Parallelverfahren genommen worden sei.

40      Insoweit geht aus der Rechtsprechung hervor, dass die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten, wenn die Kommission nach Art. 11 Abs. 6 Satz 1 der Verordnung Nr. 1/2003 ein Verfahren gegen eines oder mehrere Unternehmen aufgrund einer mutmaßlichen Zuwiderhandlung gegen die Art. 101 und 102 AEUV einleitet, ihre Zuständigkeit zur Verfolgung derselben Unternehmen wegen derselben mutmaßlich wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen auf dem- oder denselben Produktmärkten und dem- oder denselben geografischen Märkten in dem- oder denselben Zeiträumen verlieren (Urteil vom 25. Februar 2021, Slovak Telekom, C‑857/19, EU:C:2021:139, Rn. 30).

41      Dieser Verlust der Zuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden ist durch das mit der Verordnung Nr. 1/2003 verfolgte Ziel gerechtfertigt, eine wirksame Anwendung der Wettbewerbsregeln der Union zu gewährleisten, indem die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten ermächtigt werden, diese Regeln parallel zur Kommission anzuwenden. Die parallele Anwendung dieser Regeln kann jedoch nicht auf Kosten der Unternehmen erfolgen. Somit ermöglicht es der Verlust der Zuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden, Unternehmen vor paralleler Verfolgung durch diese Behörden und die Kommission zu schützen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Februar 2021, Slovak Telekom, C‑857/19, EU:C:2021:139, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42      Ferner sieht Art. 16 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 vor, dass die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten, wenn sie nach Art. 101 oder Art. 102 AEUV über Vereinbarungen, Beschlüsse oder Verhaltensweisen zu befinden haben, die bereits Gegenstand einer Entscheidung der Kommission sind, keine Entscheidungen treffen dürfen, die der von der Kommission erlassenen Entscheidung zuwiderlaufen würden.

43      Der in Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehene Schutz betrifft jedoch den Fall, dass es zwei Parallelverfahren gibt, wenn die Kommission beschließt, ein Untersuchungsverfahren einzuleiten, und nicht den Fall, dass ein Antrag auf Einleitung eines Verfahrens auf einem spezifischen Markt gestellt wird, um in den Genuss dieses Schutzes zu kommen.

44      Jedenfalls geht aus der oben in Rn. 41 angeführten Rechtsprechung hervor, dass das Ziel von Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003, der eine Verfahrensvorschrift enthält (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 70), darin besteht, Unternehmen vor paralleler Verfolgung durch die nationalen Wettbewerbsbehörden und durch die Kommission zu schützen, indem die Zuständigkeit Ersterer für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV im Hinblick auf den Sachverhalt, der Gegenstand des von der Kommission eingeleiteten Verfahrens ist, entfällt. Damit hat Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 zur Folge, dass Unternehmen vor paralleler Verfolgung durch diese verschiedenen Behörden geschützt sind (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 15. März 2019, Silgan Closures und Silgan Holdings/Kommission, T‑410/18, EU:T:2019:166, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45      Dieser in der Rechtsprechung vorgesehene Schutz vor paralleler Verfolgung bedeutet jedoch nicht, dass ein Unternehmen Anspruch darauf hat, dass eine Angelegenheit in vollem Umfang von der Kommission behandelt wird. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten nach den Art. 4 und 5 der Verordnung Nr. 1/2003 über parallele Zuständigkeiten bei der Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV verfügen und dass die Systematik der Verordnung Nr. 1/2003 auf einer engen Zusammenarbeit zwischen ihnen beruht (vgl. Urteil vom 17. Dezember 2014, Si.mobil/Kommission, T‑201/11, EU:T:2014:1096, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46      Weder die Verordnung Nr. 1/2003 noch die Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden (ABl. 2004, C 101, S. 43) enthalten aber eine Bestimmung über die Zuständigkeitsverteilung zwischen der Kommission und den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten.

47      Das Gericht hat in diesem Zusammenhang bereits entschieden, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003, der es einer Wettbewerbsbehörde gestattet, ein Verfahren auszusetzen oder einzustellen, wenn eine andere Behörde denselben Fall bearbeitet oder bearbeitet hat, und der 18. Erwägungsgrund, wonach es „Ziel ist …, dass jeder Fall nur von einer Behörde bearbeitet wird“, ein Kriterium für die Zuweisung oder die Aufteilung der Fälle oder der Zuständigkeiten zwischen der Kommission und der bzw. den eventuell von demselben Fall betroffenen nationalen Behörden aufstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2014, Si.mobil/Kommission, T‑201/11, EU:T:2014:1096, Rn. 38).

48      Im Übrigen heißt es in Ziff. 4 der Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden, dass Konsultationen und Informationsaustausch innerhalb des Netzes eine Angelegenheit zwischen den Wettbewerbsbehörden sind, und nach Ziff. 31 begründet die Bekanntmachung für betroffene Unternehmen keinerlei Rechte dahin gehend, dass sich eine bestimmte Behörde mit einem Fall zu befassen hat. Im Allgemeinen begründet weder die Verordnung Nr. 1/2003 noch diese Bekanntmachung Rechte oder Erwartungen für ein Unternehmen dahin gehend, dass sein Fall von einer bestimmten Wettbewerbsbehörde behandelt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2014, Si.mobil/Kommission, T‑201/11, EU:T:2014:1096, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49      Folglich kann Amazon nicht mit Erfolg geltend machen, dass ihr durch den beanstandeten Teil des angefochtenen Beschlusses der Schutz nach Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 vorenthalten worden sei, da diese Schutzwirkung nicht bedeutet, dass die Kommission verpflichtet wäre, ein Verfahren einzuleiten, um den nationalen Wettbewerbsbehörden ihre Zuständigkeit für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV zu nehmen.

50      Sollte die italienische Wettbewerbsbehörde unter Verletzung des in Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehenen Schutzes vor Parallelverfahren ein Verfahren durchführen, das denselben geografischen Umfang und dieselben mutmaßlichen Verstöße gegen die Wettbewerbsregeln wie das von der Kommission eingeleitete Verfahren betrifft, hätte Amazon zudem immer noch die Möglichkeit, diesen Umstand vor nationalen Gerichten unter Berufung insbesondere auf die Unzuständigkeit dieser Behörde zu beanstanden. Und sollten sich in dem von der Kommission durchgeführten Verfahren Mängel ergeben, könnten diese gegebenenfalls im Rahmen der Klage gegen die endgültige Entscheidung der Kommission beanstandet werden.

51      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass der beanstandete Teil des angefochtenen Beschlusses, indem er Italien vom räumlichen Anwendungsbereich der Untersuchung ausnimmt, eine vorbereitende Handlung darstellt, die gegenüber Amazon keine Rechtswirkungen im Sinne von Art. 263 AEUV entfaltet, so dass der von der Kommission erhobenen Einrede der Unzulässigkeit stattzugeben und die Klage daher als unzulässig abzuweisen ist, ohne dass die beiden anderen von der Kommission vorgetragenen Unzulässigkeitsgründe geprüft zu werden brauchen.

52      Erhebt der Beklagte nach Art. 130 Abs. 1 der Verfahrensordnung eine Einrede der Unzulässigkeit oder der Unzuständigkeit, so wird gemäß Art. 144 Abs. 3 der Verfahrensordnung über den Antrag auf Zulassung zur Streithilfe erst entschieden, nachdem die Einrede zurückgewiesen wurde oder die Entscheidung darüber dem Endurteil vorbehalten wurde. Da vorliegend die Klage insgesamt als unzulässig abgewiesen wird, haben sich die oben in den Rn. 9 und 10 angeführten Anträge auf Zulassung zur Streithilfe erledigt.

 Kosten

53      Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerinnen unterlegen sind, sind ihnen gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

54      Nach Art. 144 Abs. 10 der Verfahrensordnung tragen, wenn wie im vorliegenden Fall das Verfahren in der Hauptsache beendet wird, bevor über den Antrag auf Zulassung zur Streithilfe entschieden wurde, der Antragsteller und die Hauptparteien jeweils ihre eigenen im Zusammenhang mit dem Antrag auf Zulassung zur Streithilfe entstandenen Kosten. Da den Klägerinnen und der Kommission die Anträge auf Zulassung zur Streithilfe nicht zugestellt wurden, konnten ihnen keine Kosten entstehen, so dass festzustellen ist, dass die Italienische Republik, die italienische Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde, die Handelskammer der Vereinigten Staaten von Amerika und die Computer & Communications Industry Association insoweit ihre eigenen Kosten tragen.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Erste Kammer)

beschlossen:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Die Anträge der Italienischen Republik, der Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde, Italien), der Chamber of Commerce of the United States of America (Handelskammer der Vereinigten Staaten von Amerika) und der Computer & Communications Industry Association auf Zulassung zur Streithilfe haben sich erledigt.

3.      Die Amazon.com, Inc., die Amazon Services Europe Sàrl, die Amazon EU Sàrl und die Amazon Europe Core Sàrl tragen neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Europäischen Kommission.

4.      Die Italienische Republik, die italienische Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde, die Handelskammer der Vereinigten Staaten von Amerika und die Computer & Communications Industry Association tragen ihre eigenen im Zusammenhang mit den Anträgen auf Zulassung zur Streithilfe entstandenen Kosten.

Luxemburg, den 14. Oktober 2021

Der Kanzler

 

Der Präsident

E. Coulon

 

H. Kanninen


*      Verfahrenssprache: Englisch.