Language of document : ECLI:EU:C:2021:456

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 3. Juni 2021(1)

Rechtssache C35/20

Syyttäjä

gegen

A

(Vorabentscheidungsersuchen des Korkein oikeus [Oberster Gerichtshof, Finnland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen – Art. 21 AEUV – Strafbewehrte Verpflichtung, beim Überschreiten der Grenze eines Mitgliedstaats einen Personalausweis oder Pass mitzuführen – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 4 und 5 – Überqueren der Seegrenze eines Mitgliedstaats mit einem Vergnügungsschiff – Verordnung (EG) Nr. 562/2006 (Schengener Grenzkodex) – Anhang VI – Strafrechtliche Regelung der Tagessätze – Berechnung der Geldstrafe anhand der Zahlungsfähigkeit des Täters – Verhältnismäßigkeit“






I.      Einleitung

1.        Ein Bürger der Europäischen Union überquert an Bord einer Yacht im Rahmen einer Hin- und Rückreise zwischen zwei Mitgliedstaaten, nämlich Finnland und Estland, eine nationale Seegrenze, ohne Reisedokumente mit sich zu führen.

2.        Dies ist der Hintergrund der vom Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof, Finnland) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen, die im Wesentlichen darauf abzielen, ob die Mitgliedstaaten den Unionsbürgern unter Androhung strafrechtlicher Sanktionen die Verpflichtung auferlegen können, beim Überschreiten der Grenze eines Mitgliedstaats einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mitzuführen. Ferner wird der Gerichtshof ersucht, sich zur Verhältnismäßigkeit der in Finnland für den Fall der Nichtbeachtung einer solchen Verpflichtung vorgesehenen Geldstrafe in Form von Tagessätzen zu äußern.

3.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft somit insbesondere die Auslegung von Art. 21 Abs. 1 AEUV sowie von Art. 4, 5 und 36 der Richtlinie 2004/38/EG(2), wobei der letztgenannte Artikel noch nicht vom Gerichtshof ausgelegt worden ist, und von Anhang VI der Verordnung (EG) Nr. 562/2006(3).

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Richtlinie 2004/38

4.        Art. 4 („Recht auf Ausreise“) Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 bestimmt:

„Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften haben alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihre Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, das Recht, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben.“

5.        Art. 5 („Recht auf Einreise“) dieser Richtlinie bestimmt in den Abs. 1, 4 und 5:

„(1)      Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften gestatten die Mitgliedstaaten Unionsbürgern, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihren Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, die Einreise.

(4)      Verfügt ein Unionsbürger oder ein Familienangehöriger, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, nicht über die erforderlichen Reisedokumente oder gegebenenfalls die erforderlichen Visa, so gewährt der betreffende Mitgliedstaat dieser Person jede angemessene Möglichkeit, sich die erforderlichen Dokumente in einer angemessenen Frist zu beschaffen oder übermitteln zu lassen oder sich mit anderen Mitteln bestätigen zu lassen oder nachzuweisen, dass sie das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt genießt, bevor er eine Zurückweisung verfügt.

(5)      Der Mitgliedstaat kann von dem Betroffenen verlangen, dass er seine Anwesenheit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats innerhalb eines angemessenen und nicht diskriminierenden Zeitraums meldet. Die Nichterfüllung dieser Meldepflicht kann mit verhältnismäßigen und nicht diskriminierenden Sanktionen geahndet werden.“

6.        Art. 36 („Sanktionen“) dieser Richtlinie lautet wie folgt:

„Die Mitgliedstaaten legen Bestimmungen über Sanktionen fest, die bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie zu verhängen sind, und treffen die zu ihrer Durchsetzung erforderlichen Maßnahmen. Die Sanktionen müssen wirksam und verhältnismäßig sein. Die Mitgliedstaaten teilen diese Bestimmungen der Kommission spätestens am 30. April 2006 und eventuelle spätere Änderungen so rasch wie möglich mit.“

2.      Verordnung Nr. 562/2006

7.        Art. 1 („Gegenstand und Grundsätze“) der Verordnung Nr. 562/2006(4) bestimmte:

„Diese Verordnung sieht vor, dass keine Grenzkontrollen in Bezug auf Personen stattfinden, die die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union überschreiten.

Sie legt Regeln für die Grenzkontrollen in Bezug auf Personen fest, die die Außengrenzen der Mitgliedstaaten der [Union] überschreiten.“

8.        In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Verordnung hieß es:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

1.      ‚Binnengrenzen‘

c)      die See‑, Flussschifffahrts- und Binnenseehäfen der Mitgliedstaaten für regelmäßige interne Fährverbindungen;

2.      ‚Außengrenzen‘ die Landgrenzen der Mitgliedstaaten, einschließlich der Fluss- und Binnenseegrenzen, der Seegrenzen und der Flughäfen sowie der Flussschifffahrts‑, See- und Binnenseehäfen, soweit sie nicht Binnengrenzen sind;

8.      ‚Grenzübergangsstelle‘ einen von den zuständigen Behörden für das Überschreiten der Außengrenzen zugelassenen Ort des Grenzübertritts

…“

9.        Art. 4 („Überschreiten der Außengrenzen“) der Verordnung bestimmte:

„(1)      Die Außengrenzen dürfen nur an den Grenzübergangsstellen und während der festgesetzten Verkehrsstunden überschritten werden. Die Verkehrsstunden sind an den Grenzübergangsstellen, die nicht rund um die Uhr geöffnet sind, deutlich anzugeben.

(2)      Abweichend von Absatz 1 können Ausnahmen von der Verpflichtung, die Außengrenzen nur an den Grenzübergangsstellen und während der festgesetzten Verkehrsstunden zu überschreiten, vorgesehen werden:

a)      für Personen oder Personengruppen, wenn eine besondere Notwendigkeit für das gelegentliche Überschreiten der Außengrenzen außerhalb der Grenzübergangsstellen oder der festgesetzten Verkehrsstunden vorliegt, sofern sie die nach nationalem Recht erforderlichen Genehmigungen mit sich führen und Belange der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit der Mitgliedstaaten nicht entgegenstehen. Die Mitgliedstaaten können in bilateralen Abkommen besondere Regeln hierfür festlegen. Die in nationalen Rechtsvorschriften und bilateralen Abkommen vorgesehenen allgemeinen Ausnahmen werden der Kommission gemäß Artikel 34 mitgeteilt;

c)      im Einklang mit den Sonderbestimmungen der Artikel 18 und 19 in Verbindung mit den Anhängen VI und VII.

…“

10.      In Art. 7 („Grenzübertrittskontrollen von Personen“) dieser Verordnung hieß es:

„…

(2)      Alle Personen werden einer Mindestkontrolle unterzogen, die die Feststellung ihrer Identität anhand der vorgelegten oder vorgezeigten Reisedokumente ermöglicht. Eine solche Mindestkontrolle besteht aus einer raschen und einfachen Überprüfung der Gültigkeit des Dokuments, das dem rechtmäßigen Inhaber den Grenzübertritt erlaubt, und der gegebenenfalls vorhandenen Fälschungs- und Verfälschungsmerkmale, bei der gegebenenfalls technische Geräte eingesetzt und ausschließlich die Daten über gestohlene, missbräuchlich verwendete, abhanden gekommene und für ungültig erklärte Dokumente in den einschlägigen Datenbanken abgefragt werden.

Die in Unterabsatz 1 genannte Mindestkontrolle ist das übliche Verfahren bei Personen, die nach Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr haben.

Auf nicht systematische Weise können die Grenzschutzbeamten jedoch bei der Durchführung von Mindestkontrollen bei Personen, die nach Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr haben, die nationalen und europäischen Datenbanken abfragen, um sicherzustellen, dass eine solche Person keine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die innere Sicherheit, die öffentliche Ordnung, die internationalen Beziehungen der Mitgliedstaaten oder die öffentliche Gesundheit darstellt.

Das Recht von Personen, die nach Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr haben, zur Einreise in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats gemäß der Richtlinie [2004/38] wird von den Ergebnissen solcher Konsultationen nicht beeinträchtigt.

(6)      Kontrollen von Personen, die nach Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr haben, werden in Übereinstimmung mit der Richtlinie [2004/38] durchgeführt.

…“

11.      Art. 18 („Sonderbestimmungen für die unterschiedlichen Grenzarten und die für das Überschreiten der Außengrenzen genutzten unterschiedlichen Fortbewegungsmittel“) der Verordnung Nr. 562/2006 lautete wie folgt:

„Die Sonderbestimmungen des Anhangs VI gelten für die Kontrollen bezüglich der unterschiedlichen Grenzarten und der für das Überschreiten der Grenzübergangsstellen genutzten unterschiedlichen Fortbewegungsmittel.

Diese Sonderbestimmungen können Abweichungen von den Artikeln 4 und 5 und den Artikeln 7 bis 13 enthalten.“

12.      In Art. 20 („Überschreiten der Binnengrenzen“) der Verordnung hieß es:

„Die Binnengrenzen dürfen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden.“

13.      Art. 21 („Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets“) der Verordnung sah vor:

„Die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen berührt nicht:

c)      die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, in ihren Rechtsvorschriften die Verpflichtung zum Besitz oder Mitführen von Urkunden und Bescheinigungen vorzusehen;

…“

14.      Anhang VI der Verordnung Nr. 562/2006 betraf seiner Überschrift zufolge „Sonderbestimmungen für die unterschiedlichen Grenzarten und die für das Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten genutzten unterschiedlichen Fortbewegungsmittel“. Nr. 3 („Seegrenzen“) dieses Anhangs enthielt eine Nr. 3.1 („Allgemeine Kontrollverfahren im Seeverkehr“), in der es hieß:

„3.1.1.      Die Kontrolle erfolgt im Ankunfts- oder im Abfahrtshafen oder in einer in unmittelbarer Nähe des Schiffes dazu vorgesehenen Anlage oder an Bord des Schiffes im Küstenmeer, wie dieses im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen definiert ist[(5)]. Die Mitgliedstaaten dürfen Abkommen schließen, nach denen unter Beachtung der unter Nummer 1.1.4 genannten Grundsätze Kontrollen auch während der Fahrt oder bei der Ankunft oder der Abfahrt des Schiffes im Hoheitsgebiet eines Drittstaats zulässig sind.“

15.      Nr. 3.2 („Spezifische Kontrollmodalitäten für bestimmte Arten der Seeschifffahrt“) dieses Anhangs enthielt einen Abschnitt mit der Überschrift „Vergnügungsschifffahrt“, der wie folgt lautete:

„3.2.5.      Abweichend von den Artikeln 4 und 7 werden Personen an Bord von Vergnügungsschiffen, die einen in einem Mitgliedstaat gelegenen Hafen anlaufen oder aus einem solchen Hafen kommen, keinen Grenzübertrittskontrollen unterzogen und können in einen Hafen, der keine Grenzübergangsstelle ist, einreisen.

In Abwägung des Risikos der illegalen Einwanderung und insbesondere wenn sich die Küste eines Drittstaats in unmittelbarer Nähe des Hoheitsgebiets des betreffenden Mitgliedstaats befindet, werden diese Personen jedoch einer Kontrolle unterzogen und/oder die Vergnügungsschiffe durchsucht.

3.2.6.            Abweichend von Artikel 4 kann ein aus einem Drittstaat kommendes Vergnügungsschiff ausnahmsweise in einen Hafen, der keine Grenzübergangsstelle ist, einlaufen. …

3.2.7.            Bei dieser Kontrolle ist ein Dokument mit Angabe aller technischen Merkmale des Schiffes sowie der Namen der an Bord befindlichen Personen zu übergeben. Eine Kopie dieses Dokuments wird den Behörden des Einreise- und des Ausreisehafens ausgehändigt. Eine Kopie dieses Dokuments verbleibt bei den Bordpapieren, solange das Schiff sich in den Hoheitsgewässern eines der Mitgliedstaaten aufhält.“

B.      Finnisches Recht

16.      § 1 des Passilaki (Passgesetz) (671/2006) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung, der im Wesentlichen den gleichen Wortlaut hat wie § 9 des Perustuslaki (Finnische Verfassung) (791/1999), bestimmt:

„Finnische Staatsangehörige haben das Recht, das Land in Übereinstimmung mit den Bestimmungen dieses Gesetzes zu verlassen.

Finnischen Staatsangehörigen darf die Einreise in das Land nicht verwehrt werden.“

17.      § 2 des Passgesetzes lautet:

„Finnische Staatsbürger weisen ihr Recht auf Aus- und Einreise durch einen Reisepass nach, sofern dieses Gesetz, die Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder ein für Finnland verbindliches internationales Abkommen nichts anderes vorsehen. Finnische Staatsbürger können ohne Reisepass nach Island, Norwegen, Schweden und Dänemark reisen. Durch Regierungsverordnung wird festgelegt, in welche anderen Länder finnische Staatsbürger mit einem Personalausweis … anstelle eines Reisepasses als Reisedokument reisen dürfen.“

18.      § 1 der Valtioneuvoston asetus matkustusoikeuden osoittamisesta eräissä tapauksissa (Regierungsverordnung über den Nachweis der Reiseberechtigung in bestimmten Fällen) (660/2013) in der für den Ausgangsrechtsstreit geltenden Fassung lautet:

„Finnische Staatsbürger können von Finnland aus mit einem Personalausweis … anstelle eines Reisepasses in folgende Länder reisen: Belgien, Bulgarien, Deutschland, Estland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Kroatien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, San Marino, Schweiz, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, Ungarn und Zypern.“

19.      § 7 („Grenzverstoß“) des Rikoslaki (Strafgesetzbuch) (39/1889) des Kapitels 17 („Verstöße gegen die öffentliche Ordnung“) dieses Gesetzbuchs sieht in der für den Ausgangsrechtsstreit geltenden Fassung vor:

„Wer

1)      die finnische Grenze ohne Reisedokument, Visum, Aufenthaltsgenehmigung oder ein anderes, einem gütigen Reisedokument gleichwertiges Dokument oder außerhalb einer zugelassenen Grenzübergangsstelle oder unter Verstoß gegen ein anderes gesetzliches Verbot als das Einreiseverbot überschreitet oder zu überschreiten versucht,

wird wegen eines Grenzverstoßes zu einer Geldstrafe oder zu einer Freiheitsstrafe von höchstens einem Jahr verurteilt.“

20.      Kapitel 17 § 7 a („Geringfügiger Grenzverstoß“) dieses Gesetzbuchs lautet:

„Ist der Grenzverstoß insgesamt geringfügiger Natur, weil sich der Betroffene nur für einen kurzen Zeitraum im Grenzgebiet aufhält oder bewegt oder weil die Art der verbotenen Handlung oder die anderen Tatumstände unbedeutend sind, wird der Täter wegen eines Grenzverstoßes in einem minder schweren Fall zu einer Geldstrafe verurteilt.“

21.      Kapitel 2 a § 1 dieses Gesetzbuchs lautet:

„Die Geldstrafe wird in Form von mindestens einem und höchstens 120 Tagessätzen verhängt.“

22.      Kapitel 2 a § 2 dieses Gesetzbuchs bestimmt:

„Die Höhe des Tagessatzes ist so zu bemessen, dass sie in angemessenem Verhältnis zur Zahlungsfähigkeit des Täters steht.

Als angemessene Höhe des Tagessatzes gilt ein Sechzigstel des durchschnittlichen Monatseinkommens des Täters nach Abzug der durch Regierungsverordnung festgelegten Steuern und Abgaben sowie eines Festbetrags für Grundausgaben. Der Tagessatz kann reduziert werden, wenn der Täter unterhaltspflichtig ist.

Maßgeblich für die Berechnung dieses Monatseinkommens ist das bei der letzten Besteuerung zugrunde gelegte Einkommen des Täters. Lässt sich das Einkommen des Täters aus den Steuerdaten nicht hinreichend zuverlässig ermitteln oder hat es sich seit der letzten vorgelegten Besteuerung wesentlich verändert, kann es auf der Grundlage eines anderen zugänglichen Dokuments ermittelt werden.

Der Tagessatz wird vom Gericht auf der Grundlage der zum Zeitpunkt des gerichtlichen Verfahrens verfügbaren Daten und im Rahmen eines summarischen Strafverfahrens auf der Grundlage der zum Zeitpunkt des Antrags auf ein solches Verfahren verfügbaren Daten festgelegt. Die Staatsanwaltschaft setzt die Geldstrafe jedoch auf der Grundlage der zum Zeitpunkt des Erlasses des Strafbefehls verfügbaren Daten fest, wenn sich die Zahlungsfähigkeit der Person, an die der Strafbefehl gerichtet ist, im Vergleich zu den zum Zeitpunkt der Beantragung des Verfahrens verfügbaren Daten wesentlich verändert hat.

Im Einzelnen werden die Berechnung des durchschnittlichen Monatseinkommens, die Art und Weise der Rundung der Höhe des Tagessatzes, der Festbetrag für Grundausgaben, die Berücksichtigung der Unterhaltspflicht sowie die Mindesthöhe des Tagessatzes durch eine Regierungsverordnung geregelt.“

23.      § 5 der Asetus päiväsakon rahamäärästä (Regierungsverordnung über die Höhe des Tagessatzes) (609/1999) in der für den Ausgangsrechtsstreit geltenden Fassung lautet:

„Die Höhe des Tagessatzes darf 6 Euro nicht unterschreiten.“

III. Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

24.      Der maßgebliche Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits, wie er sich aus dem Vorlagebeschluss ergibt, lässt sich wie folgt beschreiben.

25.      Am 25. August 2015 fuhr A, ein finnischer Staatsangehöriger, an Bord einer Yacht von Finnland nach Estland und zurück. Der Abfahrts- und Rückkehrort dieser Reise lag in Finnland. Während dieser Reise durchquerte A die internationalen Gewässer zwischen Finnland und Estland.

26.      A war Inhaber eines gültigen finnischen Reisepasses, führte während der Fahrt aber weder diesen noch ein anderes Reisedokument mit sich und konnte daher bei einer Grenzkontrolle, die bei seiner Rückfahrt in Helsinki (Finnland) durchgeführt wurde, seinen Pass nicht vorlegen. Seine Identität konnte trotz Nichtvorlage eines Reisedokuments anhand des von ihm mitgeführten Führerscheins festgestellt werden. Außerdem steht fest, dass auf elektronischem Wege überprüft werden konnte, dass A im Besitz eines gültigen Reisepasses war.

27.      Die Syyttäjä (Staatsanwaltschaft) erhob vor dem Helsingin käräjäoikeus (erstinstanzliches Gericht Helsinki, Finnland) gegen A Anklage wegen Grenzverstoßes in einem minder schweren Fall. A trat der Anklage entgegen.

28.      Mit Urteil vom 5. Dezember 2016 stellte das Helsingin käräjäoikeus (erstinstanzliches Gericht Helsinki, Finnland) fest, dass A einen Grenzverstoß in einem minder schweren Fall begangen habe. Das Überschreiten der Landesgrenze, ohne ein Reisedokument mitzuführen, sei nämlich eine strafbare Handlung. Darauf, dass A Inhaber eines gültigen Reisepasses sei, komme es nicht an. Dieses Gericht verhängte jedoch keine Strafe, weil es der Ansicht war, dass es sich um eine geringfügige Straftat handele und im Fall der Verhängung einer Geldstrafe deren Betrag, der gemäß der für Tagessätze geltenden Regelung auf der Grundlage des durchschnittlichen Monatseinkommens von A zu berechnen sei, überhöht wäre.

29.      Die Staatsanwaltschaft legte beim Helsingin hovioikeus (Berufungsgericht Helsinki, Finnland) Berufung ein. A legte Anschlussberufung ein.

30.      Mit Urteil vom 15. Juni 2018 sah das Helsingin hovioikeus (Berufungsgericht Helsinki) es zwar als erwiesen an, dass A zum Zeitpunkt der Kontrolle kein Reisedokument mit sich geführt habe, wies das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft aber zurück. Dieses Gericht war der Auffassung, das Verhalten von A erfülle nicht den Tatbestand eines Grenzverstoßes in einem minder schweren Fall.

31.      Gegen dieses Urteil legte die Staatsanwaltschaft Rechtsmittel beim Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof) ein. Dieses Gericht ist der Auffassung, dass die Rechtssache aus unionsrechtlicher Sicht zu prüfen sei.

32.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Gerichtshof in Rn. 45 des Urteils Wijsenbeek(6) entschieden habe, dass das Unionsrecht in seiner zum Zeitpunkt des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits geltenden Fassung einen Mitgliedstaat nicht daran gehindert habe, eine Person unabhängig davon, ob sie Angehörige eines Mitgliedstaats oder eines Drittstaats sei, unter Strafandrohung zu verpflichten, bei der Einreise über eine Binnengrenze der Union in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ihre Staatsangehörigkeit nachzuweisen, soweit die angedrohten Strafen denen für entsprechende nationale Vergehen vergleichbar und nicht unverhältnismäßig seien.

33.      Es weist ferner darauf hin, dass der Gerichtshof im Urteil Oulane(7) geprüft habe, ob die Verpflichtung, in bestimmten Fällen einen gültigen Personalausweis oder Reisepass vorzulegen, mit dem damals geltenden Unionsrecht vereinbar gewesen sei. Das vorlegende Gericht hält es jedoch für ungewiss, ob nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden mit dem nach diesen beiden Urteilen in Kraft getreten Unionsrecht vereinbar sind.

34.      Zwar ergebe sich aus der Verordnung Nr. 562/2006, dass jeder Mitgliedstaat eine Verpflichtung zum „Besitz oder Mitführen von Urkunden und Bescheinigungen“ vorsehen könne(8). Aber selbst wenn dies bedeuten sollte, dass die Mitgliedstaaten jeder Person die Verpflichtung auferlegen dürften, beim Überschreiten der nationalen Grenze ein Reisedokument mit sich zu führen, bleibe unklar, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Nichtbeachtung einer solchen Verpflichtung geahndet werden könne. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2004/38 vorsehe, dass ein Mitgliedstaat dem Betroffenen die Verpflichtung auferlegen könne, „seine Anwesenheit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats innerhalb eines angemessenen und nicht diskriminierenden Zeitraums [zu] melde[n]“, und der Unionsgesetzgeber aus diesem Grund in diesem Artikel die Möglichkeit vorgesehen habe, Sanktionen zu verhängen.

35.      Das vorlegende Gericht schließt nicht aus, dass es gegen das durch Art. 45 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und Art. 21 Abs. 1 AEUV verliehene Recht auf Freizügigkeit im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten verstoßen könnte, Unionsbürgern diese Verpflichtung unter Androhung einer Sanktion aufzuerlegen.

36.      Um festzustellen, ob dieses Recht verletzt werde, seien insbesondere die Art. 4 und 5 der Richtlinie 2004/38 und Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 zu berücksichtigen, weil es sich bei der letztgenannten Verordnung um den zum Zeitpunkt des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits geltenden Schengener Grenzkodex gehandelt habe.

37.      Es sei auch erforderlich, anhand der Art. 2, 4, 7, 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 sowie der Nr. 3.2.5 ihres Anhangs VI zu beurteilen, ob es von Bedeutung sei, dass die betreffende Person bei ihrer Fahrt an Bord eines Vergnügungsschiffs internationale Gewässer durchquert habe.

38.      Außerdem fragt sich das vorlegende Gericht für den Fall, dass das Unionsrecht der unter Strafandrohung auferlegten Verpflichtung, ein anderes gültiges Reisedokument mitzuführen, nicht entgegensteht, ob eine Tagessatzregelung wie die im Strafgesetzbuch vorgesehene im Hinblick auf Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang steht.

39.      Hierzu stellt das vorlegende Gericht klar, dass ein geringfügiger Grenzverstoß, wie er im vorliegenden Fall in der Anklageschrift beschrieben wurde, normalerweise mit 15 Tagessätzen geahndet wird. Unter Anwendung der im Strafgesetzbuch festgelegten Kriterien und unter Berücksichtigung des Zeitpunkts des Verstoßes hätte sich der Tagessatz im Fall von A auf 6 350 Euro belaufen. Daher belaufe sich der Gesamtbetrag der Geldstrafe, die zu diesem Zeitpunkt gegen ihn hätte verhängt werden können, auf 95 250 Euro.

40.      Unter diesen Umständen hat der Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof) mit Beschluss vom 21. Januar 2020, bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen am 24. Januar 2020, das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Steht das Unionsrecht, insbesondere Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie [2004/38], Art. 21 der [Verordnung Nr. 562/2006] oder das den Unionsbürgern zustehende Recht, sich auf dem Gebiet der Union frei zu bewegen, der Anwendung einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift entgegen, die eine Person (unabhängig davon, ob sie [Unions]bürger ist) unter Androhung einer Strafe verpflichtet, einen gültigen Pass oder ein anderes gültiges Reisedokument mit sich zu führen, wenn sie sich mit einem Vergnügungsschiff durch internationale Gewässer aus einem Mitgliedstaat in einen anderen begibt, ohne das Hoheitsgebiet eines Drittstaats zu betreten?

2.      Steht das Unionsrecht, insbesondere Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie [2004/38], Art. 21 der [Verordnung Nr. 562/2006] oder das den Unionsbürgern zustehende Recht, sich auf dem Gebiet der Union frei zu bewegen, der Anwendung einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift entgegen, die eine Person (unabhängig davon, ob sie [Unions]bürger ist) unter Androhung einer Strafe verpflichtet, einen gültigen Pass oder ein anderes gültiges Reisedokument mit sich zu führen, wenn sie aus einem anderen Mitgliedstaat mit einem Vergnügungsschiff durch internationale Gewässer in den betreffenden Mitgliedstaat einreist, ohne das Hoheitsgebiet eines Drittstaats betreten zu haben?

3.      Sofern sich aus dem Unionsrecht kein Hindernis im Sinne der [Fragen 1 und 2] ergibt: Ist die in Finnland für ein Überschreiten der finnischen Staatsgrenze, ohne ein gültiges Reisedokument mitzuführen, nach der Regelung über Tagessätze für gewöhnlich verhängte Sanktion mit dem sich aus Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie [2004/38] ergebenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar?

41.      A, die finnische und die deutsche Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Diese Verfahrensbeteiligten haben auch schriftlich Fragen des Gerichtshofs beantwortet, nachdem dieser beschlossen hat, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.

IV.    Würdigung

42.      Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass A bei seiner Ausreise aus Finnland keiner Kontrolle unterzogen wurde. Der Verstoß gegen die Verpflichtung, ein Reisedokument mit sich zu führen, wurde von den finnischen Behörden nämlich erst bei seiner Rückkehr im Rahmen einer Grenzkontrolle in Helsinki festgestellt. Das im Ausgangsrechtsstreit anhängige Strafverfahren betrifft jedoch sowohl die Ausreise aus Finnland als auch die Rückkehr in diesen Mitgliedstaat, weil die Verpflichtung zum Mitführen eines Reisedokuments für jeden Grenzübertritt gilt.

43.      Das vorlegende Gericht hat drei Fragen formuliert. Wie sich aus seinen Angaben ergibt, zielen die ersten beiden Fragen im Wesentlichen darauf ab, ob das Recht auf Freizügigkeit es einem Mitgliedstaat verwehrt, Unionsbürger unter Strafandrohung zu verpflichten, ein Reisedokument mitzuführen, wenn sie bei Reisen zwischen diesem Mitgliedstaat und einem anderen Mitgliedstaat internationale Gewässer durchqueren. Für den Fall, dass diese Fragen verneint werden, stellt das vorlegende Gericht eine dritte Frage, mit der geklärt werden soll, ob eine Regelung über Tagessätze, wie das finnische Strafgesetzbuch sie vorsieht, mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.

44.      In Anbetracht des Zusammenhangs zwischen der ersten und der zweiten Frage werde ich beide zusammen behandeln, sie aber unterschiedlich beantworten. Als Erstes werde ich die den Unionsbürgern unter Strafandrohung auferlegte Verpflichtung zum Mitführen eines Reisedokuments zum einen im Rahmen des Rechts auf Ausreise im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 (erste Frage) und zum anderen im Rahmen des Rechts auf Einreise im Sinne von Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie (zweite Frage) prüfen. Als Zweites werde ich mich mit den Kontrollen befassen, die gemäß der Verordnung Nr. 562/2006 bei Grenzkontrollen von Personen durchgeführt werden, die nach dem Unionsrecht das Recht auf Freizügigkeit genießen (erste und zweite Frage). Als Drittes werde ich die Verhältnismäßigkeit der Höhe der Geldstrafe prüfen, die im Fall der Nichtbeachtung einer solchen Verpflichtung verhängt wird (dritte Frage).

45.      Bevor ich mit dieser Analyse beginne, halte ich es für zweckmäßig, einige einleitende Bemerkungen zum Verhältnis zwischen den Art. 4 und 5 der Richtlinie 2004/38 untereinander und ihrem Verhältnis zum Schengener Grenzkodex zu machen.

A.      Einleitende Bemerkungen

46.      Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaats gemäß Art. 20 AEUV Unionsbürger ist und sich daher auch gegenüber seinem Herkunftsmitgliedstaat auf die mit dieser Rechtsstellung verbundenen Rechte berufen kann, insbesondere auf das Recht aus Art. 21 AEUV, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten(9).

47.      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs umfasst dieses Recht auf Freizügigkeit für die Unionsbürger sowohl das Recht, sich in einen anderen Mitgliedstaat als ihren Herkunftsmitgliedstaat zu begeben, als auch das Recht, ihren Herkunftsmitgliedstaat zu verlassen(10). Wie der Gerichtshof ausgeführt hat, wären die durch den AEU-Vertrag garantierten Grundfreiheiten ihrer Substanz beraubt, wenn der Herkunftsmitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen ohne stichhaltige Rechtfertigung verbieten könnte, sein Hoheitsgebiet zu verlassen, um sich in das eines anderen Mitgliedstaats zu begeben(11). Daraus folgt, dass das durch Art. 4 der Richtlinie 2004/38 garantierte Recht auf Ausreise seine volle Wirkung nur entfalten kann, wenn der Unionsbürger, der sein Recht auf Freizügigkeit ausübt, indem er den Mitgliedstaat verlässt, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, um sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, auch sein Recht ausüben kann, nach Maßgabe der in Art. 5 dieser Richtlinie festgelegten Modalitäten und Erleichterungen in seinen Mitgliedstaat zurückzukehren.

48.      Der Schengen-Besitzstand ist für die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit und damit für die in den Art. 4 und 5 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Rechte auf Ausreise und Einreise besonders wichtig. Sowohl aus den Erwägungsgründen als auch aus den einschlägigen Bestimmungen des Schengen-Besitzstands(12) geht hervor, dass die das Überschreiten der Außen‑ und Binnengrenzen der Mitgliedstaaten betreffenden Maßnahmen unbeschadet der Rechte der Personen gelten, die nach dem Unionsrecht ein Recht auf Freizügigkeit genießen(13). Wie der Gerichtshof bereits auszuführen Gelegenheit hatte, bestimmen die für den Schengenraum geltenden Vorschriften ausdrücklich, dass sie die insbesondere durch die Richtlinie 2004/38 gewährleistete Freizügigkeit der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, die sie begleiten oder ihnen nachziehen(14), einschließlich der Bürger von Mitgliedstaaten, die nicht dem Schengenraum angehören(15), nicht berühren.

49.      Ich schlage vor, die drei vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen in diesem Zusammenhang zu prüfen.

B.      Erste und zweite Vorlagefrage

1.      Die strafbewehrte Verpflichtung zum Mitführen eines Reisedokuments

a)      Im Rahmen des Rechts auf Ausreise im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38

50.      Zunächst muss ich darauf hinweisen, dass Art. 21 AEUV jedem Unionsbürger das Recht verleiht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten „vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“, d. h. denen der Richtlinie 2004/38, frei zu bewegen und aufzuhalten.

51.      Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 sieht, ohne die vorherige Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit und des Aufenthaltsrechts zu verlangen, ausdrücklich vor, dass „alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, das Recht [haben], das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben“(16).

52.      Im vorliegenden Fall hat A, ein finnischer Staatsangehöriger, im Rahmen einer Hin- und Rückreise mit einer Yacht Finnland verlassen, um nach Estland zu fahren. Seine Situation wird daher, wie das vorlegende Gericht festgestellt hat, von dieser Bestimmung erfasst.

53.      Daher stellt sich die Frage, ob die durch die finnische Regelung unter Strafandrohung auferlegte Verpflichtung zum Mitführen eines Personalausweises oder Reisepasses im Fall einer Hin- und Rückreise zwischen Finnland und Estland mit Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vereinbar ist.

1)      Zum Ausdruck „einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen“

54.      Schon aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, insbesondere aus der Verwendung des Ausdrucks „einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen“, ergibt sich, dass das Recht auf Ausreise an die Bedingung geknüpft ist, ein gültiges Reisedokument „mit sich zu führen“.

55.      Die finnische Regierung scheint den Begriff „mit sich führen“ dahin zu verstehen, dass der Unionsbürger zum Zeitpunkt der Ausreise aus dem Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats nicht im Besitz eines Reisedokuments, sondern Inhaber eines solchen Dokuments sein muss.

56.      Ich teile diese Auslegung der finnischen Regierung aus folgenden Gründen nicht.

57.      Erstens weise ich darauf hin, dass die Verwendung des Ausdrucks „mit sich führen“ in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 voraussetzt, dass man ein Reisedokument bei sich trägt. Die Entscheidung des Gesetzgebers, diesen Ausdruck zu verwenden, kann nämlich nicht so verstanden werden, dass er sich nur darauf bezieht, Inhaber eines solchen Dokuments zu sein. In dieser Hinsicht weise ich darauf hin, dass offenbar keine der von mir untersuchten Sprachfassungen auf das Gegenteil hindeutet(17).

58.      Zweitens wird diese Auslegung durch die allgemeine Systematik der Richtlinie 2004/38 bestätigt. Aus den Erwägungsgründen 1 bis 4 der Richtlinie 2004/38 geht hervor, dass diese die Ausübung des den Unionsbürgern unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV erwachsenden elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erleichtern soll(18). Art. 4 der Richtlinie 2004/38 soll mithin sicherstellen, dass eine Person, die das Recht auf Freizügigkeit genießt, im Rahmen einer möglichen Überprüfung ihrer Identität als solche identifiziert werden kann(19). Dieses Ziel würde in Frage gestellt, wenn die Unionsbürger Anspruch auf eine Befreiung von der in diesem Artikel vorgesehenen Verpflichtung hätten, bei ihrer Reise von einem Mitgliedstaat in einen anderen einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich zu führen.

59.      Drittens schließlich wird diese Auslegung durch die Entstehungsgeschichte der Richtlinie 2004/38 bestätigt. In Art. 5 Abs. 1 des ursprünglichen Vorschlags der Kommission(20) (Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38) heißt es nämlich: „Im großen und ganzen entspricht dieser Absatz Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie 68/360/EWG[(21)], nach dem es zur Ausreise ‚lediglich der Vorlage eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses [bedarf]‘. Um der Abschaffung der Kontrollen an den EU-Binnengrenzen Rechnung zu tragen, wurde statt des Wortes ‚Vorlage‘ der Ausdruck ‚mit sich führen‘ verwendet.“(22). Aus dieser Bestimmung des Richtlinienvorschlags geht hervor, dass diese Ersetzung die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen der Union im Rahmen des Schengen-Besitzstands widerspiegelt.

60.      Unter diesen Umständen bin ich der Auffassung, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 Unionsbürgern die Verpflichtung auferlegt, beim Verlassen des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats im Besitz von Reisedokumenten zu sein(23). Folglich steht die finnische Regelung, die für Reisen von Finnland nach Estland die Verpflichtung auferlegt, einen Personalausweis oder Reisepasses mit sich zu führen, im Einklang mit Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38.

61.      Dies vorausgeschickt, ist nunmehr zu prüfen, ob ein Mitgliedstaat im Fall der Nichtbeachtung dieser Verpflichtung eine Sanktion verhängen kann.

2)      Zur Möglichkeit der Verhängung einer Sanktion bei Nichtbeachtung der Verpflichtung, ein Reisedokument mit sich zu führen

62.      Der Kürze halber und unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Nichtbeachtung der Verpflichtung, ein gültiges Reisedokument mit sich zu führen, im vorliegenden Fall erst bei der Rückkehr nach Finnland im Rahmen der von den finnischen Behörden durchgeführten Kontrollen festgestellt wurde, werde ich die Frage, ob ein Mitgliedstaat in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens eine strafrechtliche Sanktion verhängen kann, bei der Prüfung der Verpflichtung zum Mitführen eines Reisedokument im Rahmen des Rechts auf Einreise behandeln.

b)      Im Rahmen des Rechts auf Einreise im Sinne von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38

63.      Die finnische Regierung macht in ihren schriftlichen Erklärungen geltend, dass das Unionsrecht der Anwendung der fraglichen nationalen Regelung entgegenstehe, wenn Staatsangehörige eines Mitgliedstaats diesen Mitgliedstaat verließen und dorthin zurückkehrten. Diese Regierung stellt jedoch zum einen klar, dass die Gerichte höherer Instanz noch nicht über die Frage entschieden haben, ob Handlungen wie die von A begangenen eine Straftat im Sinne des Strafgesetzbuchs darstellen. Zum anderen weist sie darauf hin, dass sich aus den Vorarbeiten zum Strafgesetzbuch ergebe, dass ein Sachverhalt wie der im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehende weder unter die Definition eines „Grenzverstoßes“ im Sinne von Kapitel 17 § 7 des Strafgesetzbuchs noch unter die eines „geringfügigen Grenzverstoßes“ im Sinne von Kapitel 17 § 7 a des Strafgesetzbuches falle(24).

64.      Ich möchte vorab darauf hinweisen, dass Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2004/38 als Gegenstück zum in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie garantierten Recht auf Ausreise das Recht auf Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten garantiert. Nach dieser Bestimmung gestatten die Mitgliedstaaten Unionsbürgern, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, die Einreise in ihr Hoheitsgebiet(25). Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs stellt das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, zu den vom Vertrag vorgesehenen Zwecken in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einzureisen, ein unmittelbar durch den Vertrag oder gegebenenfalls durch die zu seiner Durchführung erlassenen Bestimmungen verliehenes Recht dar(26).

65.      Im vorliegenden Fall wurde A, ein finnischer Staatsangehöriger, bei seiner Rückkehr nach Finnland einer Kontrolle unterzogen. Folglich begab sich A nicht, wie in Art. 3 der Richtlinie 2004/38 vorgesehen, in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besaß, sondern in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger er war. Mit anderen Worten scheinen die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 in der hier in Rede stehenden Situation grundsätzlich nicht erfüllt zu sein.

66.      Unter diesen Umständen stellt sich folgende Vorfrage: Ist Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 in Fällen, in denen ein Unionsbürger in den Mitgliedstaat zurückkehrt, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, als nicht anwendbar anzusehen?

1)      Zum Umfang der Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38

67.      Die Kommission macht geltend, dass Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 auf einen Fall wie den des Ausgangsrechtsstreits entsprechend anwendbar sei.

68.      Die Frage, ob diese Richtlinie auf Fälle anwendbar ist, in denen ein Unionsbürger in den Mitgliedstaat zurückkehrt, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, ist vom Gerichtshof bereits in Rechtssachen geprüft worden, die das abgeleitete Recht auf Einreise und Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen betrafen, die Familienangehörige eines Unionsbürgers waren. Anhand einer Analyse dieser Rechtsprechung lassen sich zwei Rechtsprechungslinien erkennen.

69.      Was erstens das Recht auf Einreise betrifft, hat der Gerichtshof im Urteil McCarthy u. a.(27) zunächst entschieden, weil der betroffene Unionsbürger von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hatte, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen niederließ, dessen Staatsangehörigkeit er besaß, und seine Ehefrau, die Staatsangehörige eines Drittstaats war, sich bei ihm aufhielt, seien beide Berechtigte im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 gewesen(28). Der Gerichtshof hat sodann festgestellt, dass sich Art. 5 der Richtlinie 2004/38 an „die Mitgliedstaaten“ richtet und keine Unterscheidung anhand des Einreisemitgliedstaats trifft, insbesondere wenn er vorsieht, dass der Besitz einer gültigen Aufenthaltskarte nach Art. 10 der Richtlinie die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, vom Erfordernis eines Einreisevisums entbindet. Schließlich hat der Gerichtshof festgestellt, dass aus Art. 5 dieser Richtlinie keineswegs folgt, dass das Recht auf Einreise von Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, auf andere Mitgliedstaaten als den Herkunftsmitgliedstaat des Unionsbürgers beschränkt ist(29).

70.      Was zweitens das Recht auf Aufenthalt betrifft, hat der Gerichtshof – u. a. in den Urteilen O. und B.(30), Coman u. a.(31) und Banger(32), die an die Urteile Singh(33) und Eind(34) anknüpfen – zu Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 ausgeführt, dass sich aus einer wörtlichen, systematischen und teleologischen Auslegung der Bestimmungen dieser Richtlinie ergibt, dass sie allein die Voraussetzungen regelt, unter denen ein Unionsbürger in andere Mitgliedstaaten als in den seiner eigenen Staatsangehörigkeit einreisen und sich dort aufhalten darf, und dass auf sie kein abgeleitetes Recht der Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, auf Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, gestützt werden kann(35). Um zu verhindern, dass der Unionsbürger davon abgehalten wird, den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zu verlassen, um sein Aufenthaltsrecht gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben, hat der Gerichtshof jedoch anerkannt, dass drittstaatsangehörige Familienangehörige eines Unionsbürgers, die aus den Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 kein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit dieser Unionsbürger besitzt, herleiten können, dennoch in bestimmten Fällen auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 1 AEUV die Anerkennung eines solchen Rechts erreichen können(36). Nach Auffassung des Gerichtshofs dürfen die Voraussetzungen für die Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 1 AEUV zugunsten eines Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger des Unionsbürgers ist und mit dem sich dieser allein in seiner Eigenschaft als Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, grundsätzlich nicht strenger sein als diejenigen, die die Richtlinie 2004/38 für einen Drittstaatsangehörigen vorsieht, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen hat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Der Gerichtshof hat zwar festgestellt, dass die Richtlinie 2004/38 einen solchen Fall der Rückkehr nicht regelt, aber gleichwohl entschieden, dass diese Richtlinie entsprechend anzuwenden ist(37).

71.      Eine Analyse dieser beiden Rechtsprechungslinien ermöglicht es meines Erachtens, hinsichtlich des Umfangs der Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 im vorliegenden Fall eine Reihe von Schlussfolgerungen zu ziehen.

72.      Der Gerichtshof hat im Urteil McCarthy u. a.(38) festgestellt, dass der betroffene Unionsbürger, obwohl er in den Mitgliedstaat fuhr, dessen Staatsangehörigkeit er besaß (Vereinigtes Königreich), Berechtigter im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 war, weil er sich in einem anderen Mitgliedstaat (Spanien) „niedergelassen“ hatte. Daher hat der Gerichtshof entschieden, dass dieser Unionsbürger auch bei seiner Einreise in das Vereinigte Königreich von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machte, weil er sich im Aufnahmemitgliedstaat (Spanien) aufhielt. Weil sich die Ehefrau dieses Unionsbürgers, eine Drittstaatsangehörige, mit ihm in Spanien aufhielt, war sie ebenfalls Berechtigte im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38. Unter diesen Umständen und in Anbetracht dessen, dass der Wortlaut von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 auf „die Mitgliedstaaten“ Bezug nimmt, ohne nach dem Einreisemitgliedstaat zu unterscheiden, hat der Gerichtshof entschieden, dass diese Bestimmung und damit auch die darin vorgesehenen Formalitäten im Zusammenhang mit der Ausübung des Rechts auf Einreise auf den drittstaatsangehörigen Ehegatten des Unionsbürgers Anwendung finden.

73.      Dagegen hatten die Unionsbürger, um die es in den Urteilen O. und B.(39), Coman u. a.(40) und Banger(41) sowie in der diesen Urteilen zugrunde liegenden Rechtsprechung(42) ging, den Aufnahmemitgliedstaat im Grundsatz endgültig verlassen und waren mit ihren drittstaatsangehörigen Familienangehörigen in den Mitgliedstaat zurückgekehrt, dessen Staatsangehörigkeit sie besaßen. Unter diesen Umständen waren diese Unionsbürger nach Auffassung des Gerichtshofs nicht mehr Berechtigte im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 und fielen folglich nicht in deren Anwendungsbereich. Da sie jedoch von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hatten, konnten ihre drittstaatsangehörigen Familienangehörigen, die sich mit ihnen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hatten, auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 1 AEUV die Anerkennung eines abgeleiteten Rechts auf Aufenthalt in dem Mitgliedstaat erreichen, dessen Staatsangehörigkeit der jeweils betroffene Unionsbürger besaß. In diesen Fällen und aus den bereits oben dargelegten Gründen(43) hat der Gerichtshof entschieden, dass die Richtlinie 2004/38 auf die betroffenen Unionsbürger entsprechend anzuwenden ist(44).

74.      Im vorliegenden Fall befand sich A in der Situation eines Unionsbürgers, der in den Mitgliedstaat zurückkehrt, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, nachdem er sich im Rahmen einer Hin- und Rückfahrt an Bord eines Vergnügungsschiffs in einen anderen Mitgliedstaat begeben hat. Anders als in den Rechtssachen, in denen die Urteile des Gerichtshofs in den beiden oben untersuchten Rechtsprechungslinien ergangen sind(45), geht in der vorliegenden Rechtssache zum einen aus dem Vorlagebeschluss nicht hervor, dass A bei seiner Rückkehr nach Finnland von drittstaatsangehörigen Familienangehörigen begleitet worden wäre, und zum anderen hatte sich A, obwohl er von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hatte, zum Zeitpunkt seiner Rückkehr nach Finnland nicht in Estland niedergelassen.

75.      Daher ist die durch das Urteil McCarthy u. a.(46) begründete Rechtsprechung für den vorliegenden Fall nicht einschlägig(47). Aber wie steht es mit der durch die Urteile O. und B.(48), Coman u. a.(49) und Banger(50) begründeten Rechtsprechung?

76.      Aus dieser zweiten Linie der Rechtsprechung ergibt sich, dass der Grund, der den Gerichtshof veranlasst hat, die Richtlinie 2004/38 in diesen Urteilen entsprechend auf Unionsbürger anzuwenden, die nach Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit in den Mitgliedstaat zurückkehren, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, darin besteht, ihnen die uneingeschränkte Ausübung ihres Grundrechts auf Freizügigkeit zu garantieren und so zu verhindern, dass sie davon abgehalten werden, den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, zu verlassen, um ihr Aufenthaltsrecht gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben. Ein Unionsbürger, der in seinen Mitgliedstaat zurückkehrt und folglich nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/38 fällt, darf mit anderen Worten nicht ungünstiger behandelt werden als ein Unionsbürger, der in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, weil er sich in einen anderen Mitgliedstaat begibt und sich dort aufhält.

77.      Wenn der Gerichtshof Art. 21 Abs. 1 AEUV dahin ausgelegt hat, dass ein Drittstaatsangehöriger, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, über ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verfügt, dessen Staatsangehörigkeit dieser Unionsbürger besitzt, und dass dieses abgeleitete Aufenthaltsrecht nicht strengeren als den in der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Voraussetzungen unterliegen darf, so gerade deshalb, weil die in dieser Richtlinie festgelegten Modalitäten und Erleichterungen der Einreise und des Aufenthalts eines Unionsbürgers das Recht seiner Familienangehörigen einschließen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit diesen Unionsbürger zu begleiten oder ihm nachzureisen.

78.      Zwar geht es in der vorliegenden Rechtssache nicht um das abgeleitete Aufenthaltsrecht von Familienangehörigen eines Unionsbürgers. Wie bereits angedeutet, dürfte diese Rechtsprechung in der vorliegenden Rechtssache gleichwohl einschlägig sein, und zwar aus den folgenden Gründen.

79.      Erstens hat der Gerichtshof wiederholt ausgeführt, dass der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein(51). Nach seiner Rechtsprechung kann sich ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der in seiner Eigenschaft als Unionsbürger von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, frei zu bewegen und aufzuhalten, auf die mit dieser Eigenschaft verbundenen Rechte, insbesondere die in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehenen, berufen, und zwar gegebenenfalls auch gegenüber dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt(52).

80.      Zweitens bedeutet die Anwendung dieser und der in den Nrn. 70 und 73 der vorliegenden Schlussanträge untersuchten Rechtsprechung auf den Ausgangsrechtsstreit, dass bei der Rückkehr eines Unionsbürgers in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, die sich aus Art. 21 Abs. 1 AEUV ergebenden materiellen Voraussetzungen für das Recht auf Einreise nicht strenger ausgelegt werden dürfen als diejenigen, die Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vorsieht(53). Wie dargelegt(54), setzt die volle Wirksamkeit des durch Art. 4 der Richtlinie 2004/38 gewährleisteten Rechts auf Ausreise nämlich voraus, dass der Unionsbürger, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, indem er den Mitgliedstaat verlässt, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, um sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, sein Recht auf Einreise in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, gemäß den in dieser Richtlinie und insbesondere in ihrem Art. 5 festgelegten Modalitäten und Erleichterungen ausüben kann, auch wenn die Rückkehr in diesen Mitgliedstaat von dieser Richtlinie nicht erfasst wird.

81.      Folglich ist die Richtlinie 2004/38 einschließlich ihres Art. 5 Abs. 1 in einer Situation wie der des Ausgangsrechtsstreits entsprechend anzuwenden, soweit es um die Voraussetzungen geht, unter denen die Mitgliedstaaten Unionsbürgern, „die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen“, die Einreise in ihr Hoheitsgebiet gestatten.

82.      Im Übrigen weise ich darauf hin, dass sich aus den schriftlichen Erklärungen der finnischen Regierung ergibt, dass § 155 Abs. 1 und 2 des Ulkomaalaislaki (Ausländergesetz) (301/2004) die Einreise und den Aufenthalt von Unionsbürgern in Finnland betrifft(55). Insoweit hat diese Regierung in Beantwortung einer schriftlichen Frage des Gerichtshofs bestätigt, dass § 155 Abs. 1 und 2 des Ausländergesetzes Art. 5 Abs. 1 und 4 der Richtlinie 2004/38 in finnisches Recht umsetzt(56).

2)      Zur Möglichkeit der Verhängung einer Sanktion bei Nichtbeachtung der Verpflichtung, ein Reisedokument mit sich zu führen

83.      Art. 36 der Richtlinie 2004/38 bestimmt, dass „[d]ie Mitgliedstaaten … Bestimmungen über Sanktionen fest[legen], die bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie zu verhängen sind, und … die zu ihrer Durchsetzung erforderlichen Maßnahmen [treffen]“.

84.      Als Erstes stellt sich daher die Frage, ob dieser Artikel für die Beantwortung der ersten und der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts von Bedeutung ist. Ich denke, dass dies sehr wohl der Fall ist, wie ich in den folgenden Überlegungen erläutern werde.

85.      Aus dem Richtlinienvorschlag(57) geht hervor, dass Art. 33 dieses Vorschlags (Art. 36 der Richtlinie 2004/38) die frühere Rechtsprechung des Gerichtshofs kodifiziert, wonach das Unionsrecht es den Mitgliedstaaten nicht verbietet, Sanktionen gegen diesem Recht unterliegende Personen zu verhängen, die es unterlassen haben, sich eines der Ausweisdokumente zu beschaffen(58).

86.      Konkret handelt es sich bei den Sanktionen, auf die sich Art. 36 der Richtlinie 2004/38 bezieht, um die in Art. 5 Abs. 5(59), Art. 8 Abs. 2(60), Art. 9 Abs. 3(61) und Art. 20 Abs. 2(62) dieser Richtlinie vorgesehenen.

87.      Dagegen sehen weder Art. 4 noch Art. 5 dieser Richtlinie besondere Bestimmungen vor, die es den Mitgliedstaaten ermöglichen, die Nichtbeachtung der Verpflichtung jedes Unionsbürgers, einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich zu führen, zu ahnden(63). Der Grund, aus dem der Unionsgesetzgeber in Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2004/38 die Möglichkeit der Verhängung von Sanktionen vorgesehen hat, erklärt sich nämlich daraus, dass diese Bestimmung vorsieht, dass ein Mitgliedstaat von dem Betroffenen verlangen kann, „dass er seine Anwesenheit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats innerhalb eines angemessenen und nicht diskriminierenden Zeitraums meldet“.

88.      Das Schweigen der Art. 4 und 5 dieser Richtlinie in Bezug auf die Möglichkeit, die Nichtbeachtung der Verpflichtung jedes Unionsbürgers, einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich zu führen, zu ahnden, wird jedoch meines Erachtens durch die Existenz von Art. 36 dieser Richtlinie kompensiert, weil dieser Artikel die frühere Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Möglichkeit der Mitgliedstaaten kodifiziert, Sanktionen gegen dem Unionsrecht unterliegende Personen zu verhängen, die es unterlassen haben, sich eines der Ausweisdokumente zu beschaffen(64).

89.      Folglich kann die Nichtbeachtung der Verpflichtung zum Mitführen eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses bei Reisen von einem Mitgliedstaat in einen anderen nach Art. 36 der Richtlinie 2004/38 zu Sanktionen führen.

90.      Als Zweites stellt sich noch die Frage nach der Art der Sanktion, die die Mitgliedstaaten bei Nichtbeachtung einer in der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Verwaltungsformalität verhängen können(65), weil in Art. 36 dieser Richtlinie nicht festgelegt ist, welche Arten von (verwaltungs- oder strafrechtlichen) Sanktionen bei Nichterfüllung dieser Verpflichtung verhängt werden können.

91.      Zwar hat der Gerichtshof im Zusammenhang mit dem Einreise- und Aufenthaltsrecht bereits hervorgehoben, dass die Vorlage eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses zum Nachweis der Eigenschaft als Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats „eine Verwaltungsformalität dar[stellt], die nur der Feststellung eines aus der Eigenschaft des Betroffenen unmittelbar fließenden Rechts durch die nationalen Behörden dient“(66), und dass ein Mitgliedstaat einem Unionsbürger daher als Voraussetzung für die Einreise in sein Hoheitsgebiet keine andere Verpflichtung auferlegen darf als die, im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses zu sein(67).

92.      Da Art. 36 der Richtlinie 2004/38 jedoch nichts über die Art der Sanktionen aussagt, die bei Nichtbeachtung der zur Umsetzung dieser Richtlinie erlassenen nationalen Vorschriften verhängt werden können(68), ist die Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion wegen Nichtbeachtung der Verpflichtung zum Mitführen eines Reisedokuments meines Erachtens nicht mit der Richtlinie 2004/38 unvereinbar, weil die Mitgliedstaaten befugt sind, „die Sanktionen zu wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen“, sofern sie bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, also auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, beachten(69).

93.      In diesem Zusammenhang werde ich in Anbetracht des Umstands, dass die dritte Frage des vorlegenden Gerichts die Verhältnismäßigkeit des finnischen strafrechtlichen Systems der Tagessätze betrifft, auf diesen Aspekt im Rahmen meiner Prüfung dieser Frage zurückkommen.

94.      Zunächst werde ich mich mit den Kontrollen befassen, die bei Grenzkontrollen im Rahmen der Verordnung Nr. 562/2006 durchgeführt werden.

2.      Zu den bei Grenzkontrollen im Rahmen der Verordnung Nr. 562/2006 durchgeführten Kontrollen von Personen, die nach Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr haben

95.      Die erste und die zweite Frage des vorlegenden Gerichts beziehen sich auch auf Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006.

96.      Insoweit ergibt sich aus dem Vorlagebeschluss, dass A auf seiner Reise von Estland nach Finnland an Bord einer Yacht in internationale Gewässer fuhr und somit die finnische Seegrenze überschritt.

97.      Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass A die finnische Seegrenze überquert hat, insofern unerheblich erscheint, als es sich im vorliegenden Fall um einen Unionsbürger handelt, der von seinem Recht auf Freizügigkeit zwischen zwei Mitgliedstaaten Gebrauch gemacht hat, und er unabhängig davon, ob er eine Binnen- oder Außengrenze überschritten hat, beim Grenzübertritt im Sinne von Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen musste. Ich werde mich jedoch hilfsweise und der Vollständigkeit halber mit der Frage befassen, ob davon auszugehen ist, dass eine Person in der Situation von A eine Außengrenze des Schengenraums überschreitet, wenn sie zwischen zwei Mitgliedstaaten reist, um festzustellen, ob die Verordnung 562/2006 einer Kontrolle wie der, der A unterzogen wurde, entgegensteht.

98.      Zu diesem Zweck werde ich zunächst die Tragweite des Begriffs „Seegrenze“ im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Verordnung Nr. 562/2006 untersuchen.

a)      Zur Tragweite des Begriffs „Seegrenze“ im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Verordnung Nr. 562/2006

99.      In seiner Antwort auf eine schriftliche Frage des Gerichtshofs hat A angegeben, dass er mit einer Yacht zwischen zwei Mitgliedstaaten, die Vertragsparteien des Schengener Übereinkommens seien, gereist sei, ohne ein außerhalb des Schengenraums gelegenes Gebiet zu durchqueren(70). Zum Begriff „Seegrenze“ im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Verordnung Nr. 562/2006 haben die finnische und die deutsche Regierung vorgetragen, dass er sich auf die seewärtige Grenze des Küstenmeers im Sinne von Art. 4 des Übereinkommens von Montego Bay beziehe(71), während die Kommission angegeben hat, dass es sich dabei um einen speziellen, für die Verordnung Nr. 562/2006 geltenden Begriff handele, der nicht zwangsläufig dem Begriff „Seegrenze“ entspreche, wie er in Art. 4 des Übereinkommens von Montego Bay definiert sei.

100. Ich teile die Auffassung der Kommission. Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass der bloße Umstand, dass eine Person eine „Grenzübergangsstelle“ im Sinne von Art. 2 Nr. 8 der Verordnung Nr. 562/2006 überschritten hat, an der die von dieser Verordnung vorgeschriebene Überwachung der Außengrenzen erfolgt, nicht bedeutet, dass diese Person den Schengenraum verlassen hat, wenn sie sich noch in einem Teil des Hoheitsgebiets eines Staates aufhält, der zum Schengenraum gehört(72). Zwar definiert Art. 2 Nr. 2 der Verordnung Nr. 562/2006 den Begriff „Außengrenzen“ des Schengenraums als einerseits die Landes- und Seegrenzen der Mitgliedstaaten und andererseits u. a. ihre Flug- und Seehäfen, soweit sie nicht Binnengrenzen sind. Der Gerichtshof hat jedoch entschieden, dass diese Vorschrift, wie sich aus ihrem Wortlaut ergibt, nur bestimmte Flughäfen und Häfen der Staaten des Schengenraums mit den Außengrenzen dieses Raums verbinden soll, und zwar gemäß Art. 77 Abs. 2 Buchst. b AEUV allein zu dem Zweck, die konkrete Durchführung der Kontrollen der Personen beim Überschreiten der Außengrenzen des Schengenraums zu erleichtern(73).

101. Im vorliegenden Fall hat A in seinen schriftlichen Erklärungen angegeben, an Bord einer Yacht an einem Tag zwischen Helsinki und Tallinn gereist zu sein. Er hat ferner erklärt, bei seiner Rückkehr hätten die finnischen Grenzschutzbeamten die Yacht, auf der er gefahren sei, im Einvernehmen mit deren Kapitän zu seinem Abfahrtshafen, dem Yachthafen von Katajanokka im Stadtzentrum von Helsinki eskortiert, wobei dieser Hafen keine „Grenzübergangsstelle“ im Sinne von Art. 2 Nr. 8 der Verordnung Nr. 562/2006 sei, d. h. kein „von den zuständigen Behörden für das Überschreiten der Außengrenzen zugelassene[r] Ort des Grenzübertritts“.

102. Insoweit halte ich es für angebracht, darauf hinzuweisen, dass aus der Liste der Grenzübergangsstellen nach Art. 2 Nr. 8 der Verordnung Nr. 562/2006, die auf der Grundlage von Informationen erstellt wird, die die Republik Finnland der Kommission gemäß Art. 34 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung übermittelt(74), hervorgeht, dass zum für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Zeitpunkt der Yachthafen von Katajanokka nicht zu den „Überwachungsstellen an den Seegrenzen, die als Grenzübergangsstellen für Vergnügungsschiffe dienen“, gehörte(75).

103. Daraus folge grundsätzlich, dass A zu dem für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Zeitpunkt bei seiner Reise zwischen Estland und Finnland keine „Außengrenze“ im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Verordnung Nr. 562/2006, sondern eine „Binnengrenze“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 dieser Verordnung überschritten habe. Daher fielen seine Situation und folglich die Kontrollen, denen ihn die finnischen Behörden unterzogen hätten, grundsätzlich unter Art. 21 dieser Verordnung, der die Möglichkeit eines Mitgliedstaats betreffe, in seinem nationalen Recht die Verpflichtung zum Besitz und Mitführen von Urkunden und Bescheinigungen vorzusehen. Meines Erachtens ist dies hier aber nicht der Fall, und zwar aus folgenden Gründen.

b)      Eine Person in der Situation von A überschreitet bei ihren Reisen zwischen zwei Mitgliedstaaten eine Außengrenze des Schengenraums

104. Zunächst weise ich darauf hin, dass die Situation von A, weil er an Bord einer Yacht reiste, nicht durch Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006, sondern durch deren Anhang VI geregelt sein dürfte. Aus Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung ergibt sich nämlich, dass die Außengrenzen nur an den Grenzübergangsstellen überschritten werden dürfen, die die Mitgliedstaaten der Kommission mitzuteilen haben. Art. 4 Abs. 2 Buchst. c dieser Verordnung sieht jedoch für Vergnügungsschiffe eine Ausnahme von dieser Verpflichtung vor. So erfolgen die Kontrollen von Schiffen nach den in Anhang VI Nr. 3.1 dieser Verordnung festgelegten „allgemeinen Kontrollverfahren im Seeverkehr“ grundsätzlich „im Ankunfts- oder im Abfahrtshafen oder in einer in unmittelbarer Nähe des Schiffes dazu vorgesehenen Anlage“.

105. Daraus folgt, dass die Befreiung der Vergnügungsschiffe von der Pflicht, die Außengrenzen an den der Kommission zu diesem Zweck von den Mitgliedstaaten gemeldeten Grenzübergangsstellen zu überschreiten, nicht bedeutet, dass A keine Außengrenze des Schengenraums überschritten hätte, obwohl der Hafen Katajanokka, wie ich in Nr. 102 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, zu dem für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Zeitpunkt nicht zu den Grenzübergangsstellen für diese Art von Schiffen gehörte(76).

106. Außerdem kann zwar grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass eine Person die Außengrenze des Schengenraums überschritten hat, wenn in ihren Reisedokumenten „bei der Einreise“ und „bei der Ausreise“ ein Stempel angebracht wird, der die Einreise in bzw. die Ausreise aus diesem Raum gestattet(77), wohingegen der Umstand, dass die Reisedokumente einer Person, die nach dem Unionsrecht das Recht auf Freizügigkeit genießt, im Rahmen der Kontrollen an den Außengrenzen nicht abgestempelt werden, nicht bedeutet, dass diese Person keine Außengrenze überschreitet, wenn sie, wie im vorliegenden Fall, bei ihrer Reise zwischen zwei Mitgliedstaaten eine Seegrenze überschreitet(78). Ich weise jedoch darauf hin, dass die Tatsache, dass eine Person eine Außengrenze überschritten hat, nicht bedeutet, dass sie den Schengenraum verlassen hat, wenn sie sich noch in einem Teil des Hoheitsgebiets eines Staates aufhält, der zum Schengenraum gehört(79). Ich stelle daher fest, dass A bei seiner Reise zwischen Estland und Finnland eine Außengrenze im Sinne der Verordnung Nr. 562/2006 überschritten hat, ohne jedoch den Schengenraum verlassen zu haben.

107. Was die Kontrollen betrifft, denen A bei der von den finnischen Grenzschutzbeamten durchgeführten Kontrolle unterzogen wurde, sieht Anhang VI Nr. 3.2.5 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 562/2006 abweichend von den Art. 4 und 7 dieser Verordnung(80) für Personen an Bord von Vergnügungsschiffen eine Befreiung von den Mindestkontrollen an den Außengrenzen vor(81). Nr. 3.2.5 Unterabs. 2 dieses Anhangs sieht jedoch seinerseits eine Ausnahme von der im Unterabs. 1 vorgesehenen Ausnahme vor, wonach „[i]n Abwägung des Risikos der illegalen Einwanderung … diese Personen jedoch einer Kontrolle [an den Grenzen] unterzogen und/oder die Vergnügungsschiffe durchsucht [werden]“.

108. Insoweit geht aus den Erklärungen von A hervor, dass seine Reise in einer Zeit erhöhten Risikos illegaler Einwanderung stattfand. Die finnische Regierung macht geltend, nach Angaben des Grenzüberwachungsdienstes habe das Risiko illegaler Einwanderung seit April 2015 zu wachsen begonnen und die Einwanderung habe bis Ende Juli 2015 stark zugenommen und in der Zeit zwischen Herbst und Ende 2015 ihren Höhepunkt erreicht. Daher seien die finnischen Behörden berechtigt gewesen, Grenzkontrollen durchzuführen, als A am 25. August 2015 nach dem Überschreiten der finnischen Seegrenze nach Helsinki zurückgekehrt sei. Da die finnischen Grenzschutzbeamten offenbar von der in Anhang VI Nr. 3.2.5 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 562/2006 vorgesehenen Ausnahme Gebrauch gemacht hätten, finde die Ausnahme von den Art. 4 und 7 dieser Verordnung keine Anwendung.

109. In Anbetracht der Tatsache, dass A Unionsbürger sei, hätten die finnischen Grenzschutzbeamten ihn daher gemäß Art. 7 Abs. 2 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 562/2006 der in dieser Bestimmung genannten Mindestkontrolle unterziehen dürfen, die „das übliche Verfahren bei Personen [ist], die nach Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr haben“(82). Diese Mindestkontrolle solle der Feststellung der Identität von Personen „anhand der vorgelegten oder vorgezeigten Reisedokumente“ dienen und „besteh[e] aus einer raschen und einfachen Überprüfung der Gültigkeit“ dieser Dokumente.

110. Insoweit halte ich es für erforderlich, zum einen darauf hinzuweisen, dass Art. 7 Abs. 2 Unterabs. 4 der Verordnung Nr. 562/2006 bestimmt, dass die Ergebnisse etwaiger „nicht systematischer“ Abfragen nationaler und europäischer Datenbanken das Recht von Personen, die nach Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr haben, auf Einreise in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats gemäß der Richtlinie 2004/38 nicht beeinträchtigen. Zum anderen sieht Art. 7 Abs. 6 der Verordnung Nr. 562/2006 vor, dass Kontrollen von Personen, die nach Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr haben, in Übereinstimmung mit der Richtlinie 2004/38 durchgeführt werden(83).

111. Obwohl die Grenzschutzbeamten berechtigt waren, bei der Rückkehr von A aus Estland nach Finnland eine Kontrolle an der finnischen Außengrenze durchzuführen, durfte folglich das Recht von A auf Freizügigkeit, insbesondere das Recht auf Einreise im Sinne von Art. 5 Abs. 1 und 4 der Richtlinie 2004/38, nicht verletzt werden. Insoweit weise ich darauf hin, dass der Gerichtshof festgestellt hat, dass die für den Schengenraum geltenden Vorschriften ausdrücklich bestimmen, dass sie die insbesondere durch die Richtlinie 2004/38 gewährleistete Freizügigkeit der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, die sie begleiten oder ihnen nachziehen, nicht berühren(84).

3.      Zwischenergebnis zur ersten und zweiten Vorlagefrage

112. Aus der vorstehenden Analyse ergibt sich, dass das Recht auf Freizügigkeit einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, Unionsbürger zu verpflichten, ein Reisedokument mit sich zu führen, wenn sie zwischen diesem Mitgliedstaat und einem anderen Mitgliedstaat reisen und dabei an Bord eines Vergnügungsschiffs internationale Gewässer durchqueren. Obwohl die Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion für die Nichtbeachtung der Pflicht zum Mitführen eines Reisedokuments grundsätzlich mit der Richtlinie 2004/38 vereinbar ist, bleibt noch die Verhältnismäßigkeit einer solchen Sanktion zu prüfen.

C.      Dritte Vorlagefrage

113. Die dritte Frage des vorlegenden Gerichts zielt darauf ab, die Verhältnismäßigkeit einer Tagessatzregelung, wie sie das finnische Strafgesetzbuch vorsieht, im Hinblick auf Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 zu prüfen. Dieser Artikel betrifft die Rechtfertigung von Einschränkungen der Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Gesundheit. Nach Auffassung des Gerichtshofs kann jedoch die Tatsache, dass die für Einreise, Ortswechsel und Aufenthalt von Personen geltenden gesetzlichen Formalitäten nicht erfüllt sind, als solche keine Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit bedeuten(85).

114. Folglich ist die im Ausgangsverfahren in Rede stehende strafrechtliche Tagessatzregelung, wie dargelegt(86), nicht unter dem Blickwinkel von Art. 27, sondern unter dem von Art. 36 der Richtlinie 2004/38 zu prüfen.

115. Damit der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort geben kann(87), ist die dritte Frage daher meines Erachtens dahin umzuformulieren, dass sie im Wesentlichen darauf abzielt, zu klären, ob Art. 21 Abs. 1 AEUV und Art. 36 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass die in der letztgenannten Bestimmung aufgestellten Erfordernisse der Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit der Sanktionen einer für den Fall der Nichtbeachtung der Pflicht zum Mitführen eines gültigen Reisedokuments beim Grenzübertritt geltenden strafrechtlichen Tagessatzregelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegenstehen, soweit diese für einen geringfügigen Verstoß eine Geldstrafe in Höhe von 20 % des durchschnittlichen Monatseinkommens des Täters vorsieht.

116. Der Wortlaut von Art. 36 dieser Richtlinie ist sehr klar: Die bei Verstößen gegen die zur Umsetzung dieser Richtlinie erlassenen einzelstaatlichen Vorschriften zu verhängenden Sanktionen müssen „wirksam und verhältnismäßig“ sein(88).

117. Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Mitgliedstaaten verpflichtet, Maßnahmen zu erlassen, die zur Erreichung der angestrebten Ziele geeignet sind und nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen(89).

118. Erstens darf im vorliegenden Fall das im finnischen Strafgesetzbuch vorgesehene System von Tagessätzen nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit diesen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die dadurch bedingten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen müssen(90).

119. Ich weise darauf hin, dass der Gerichtshof im Rahmen des Aufenthaltsrechts bereits klargestellt hat, dass zum einen die Vorlage eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses durch Personen, die das Recht auf Freizügigkeit genießen, allein der Feststellung dieses Rechts durch die nationalen Behörden dient, und dass zum anderen der Aufnahmemitgliedstaat, wenn der Betroffene zwar keinen gültigen Personalausweis oder Reisepass vorlegen, seine Staatsangehörigkeit aber zweifelsfrei mit anderen Mitteln nachweisen kann, dessen Aufenthaltsrecht nicht schon mit der Begründung in Zweifel ziehen darf, dass er weder das eine noch das andere der genannten Dokumente vorgelegt habe(91).

120. Meines Erachtens ist diese Rechtsprechung, die das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger betrifft, auf das Recht dieser Bürger auf Einreise im Sinne von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 entsprechend anwendbar. Diese Bestimmung soll gewährleisten, dass eine Person, die das elementare und persönliche Recht hat, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, als solche identifiziert werden kann, um die Ausübung dieses Rechts zu erleichtern. Somit kann die Nichtbeachtung der in Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie festgelegten Verpflichtung, bei der Einreise in einen Mitgliedstaat einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mitzuführen, nicht als schwerer Verstoß angesehen werden, wenn das Ziel dieser Verpflichtung auf andere Weise erreicht wird(92). Aus dem Vorlagebeschluss geht zwar hervor, dass die Geldstrafe, die in Finnland normalerweise gegen eine Person verhängt wird, die gegen eine solche Verpflichtung verstößt, gemäß Kapitel 17 § 7a des Strafgesetzbuchs als geringfügig angesehen wird. Im vorliegenden Fall ist A jedoch zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen verurteilt worden, wobei sich der Betrag der Geldstrafe auf 20 % des monatlichen Nettoeinkommens beläuft(93).

121. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass ein strafrechtliches System von Tagessätzen, das die Zahlungsfähigkeit des Zuwiderhandelnden berücksichtigt(94), für sich genommen nicht unverhältnismäßig erscheint(95). In Anbetracht der Art und Schwere der Zuwiderhandlung, die als geringfügiger Verstoß angesehen wird, läuft es meines Erachtens aber dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zuwider, wegen Nichtbeachtung einer Verwaltungsformalität eine Geldstrafe zu verhängen, deren Betrag sich auf 20 % des durchschnittlichen Monatseinkommens des Täters beläuft. Diese Feststellung kann nicht durch den von der finnischen Regierung angeführten Umstand entkräftet werden, dass das Gericht immer noch entscheiden könne, den Angeklagten freizusprechen, wenn die Höhe einer Geldstrafe, wie im vorliegenden Fall, zu hoch erscheine.

122. Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorlagebeschluss hervor, dass gegen A, obwohl er seine Identität mit anderen Mitteln nachgewiesen hatte, eine Geldstrafe in Höhe von 95 250 Euro hätte verhängt werden können(96). Somit ist dieser Umstand bei der Bemessung der Geldstrafe offenbar nicht berücksichtigt worden(97).

123. Drittens lässt sich die Wirksamkeit der im finnischen Strafgesetzbuch vorgesehenen Tagessatzregelung nicht bestreiten. Ich bin jedoch der Auffassung, dass die Verhängung einer so hohen Geldstrafe wegen der Nichterfüllung einer formalen Voraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit durch einen Unionsbürger über das hinausgeht, was zur Erreichung der mit Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 verfolgten Ziele erforderlich ist, und den Kern des unmittelbar durch den Vertrag verliehenen Rechts auf Freizügigkeit antastet(98), weil sie die Freizügigkeit dieses Bürgers behindert.

124. Folglich halte ich diese Regelung in Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei der begangenen Zuwiderhandlung um einen geringfügigen Verstoß handelt, für unverhältnismäßig.

125. Nach alledem schlage ich vor, auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 21 Abs. 1 AEUV und Art. 36 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass die in der letztgenannten Bestimmung genannten Erfordernisse der Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit der Sanktionen einer für den Fall der Nichtbeachtung der Pflicht zum Mitführen eines gültigen Reisedokuments beim Grenzübertritt geltenden strafrechtlichen Tagessatzregelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegenstehen, soweit diese Regelung für einen geringfügigen Verstoß eine Geldstrafe in Höhe von 20 % des durchschnittlichen Monatseinkommens des Täters vorsieht.

V.      Ergebnis

126. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof, Finnland) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG sowie Nr. 3.2.5. des Anhangs VI der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 geänderten Fassung stehen der Anwendung einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegen, die Bürgern der Europäischen Union unter Strafandrohung die Verpflichtung auferlegt, ein gültiges Reisedokument mit sich zu führen, wenn sie das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verlassen, um an Bord eines Vergnügungsschiffs durch internationale Gewässer in einen anderen Mitgliedstaat zu reisen.

2.      Art. 21 Abs. 1 AEUV, Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 und Anhang VI Nr. 3.2.5 der Verordnung Nr. 562/2006 in der durch die Verordnung Nr. 610/2013 geänderten Fassung stehen einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegen, die Unionsbürgern unter Strafandrohung die Verpflichtung auferlegt, ein gültiges Reisedokument mit sich zu führen, wenn sie an Bord eines Vergnügungsschiffs durch internationale Gewässer in diesen Mitgliedstaat zurückkehren.

3.      Art. 21 Abs. 1 AEUV und Art. 36 der Richtlinie 2004/38 sind dahin auszulegen, dass die in der letztgenannten Bestimmung aufgestellten Erfordernisse der Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit der Sanktionen einer für den Fall der Nichtbeachtung der Pflicht zum Mitführen eines gültigen Reisedokuments beim Grenzübertritt geltenden strafrechtlichen Tagessatzregelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegenstehen, soweit diese Regelung für einen geringfügigen Verstoß eine Geldstrafe in Höhe von 20 % des durchschnittlichen Monatseinkommens des Täters vorsieht.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, und Berichtigung ABl. 2005, L 197, S. 34).


3      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. 2013, L 182, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 562/2006). Die Verordnung Nr. 562/2006, die zum für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt anwendbar war, wurde durch die Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1) aufgehoben und ersetzt.


4      Die Art. 1, 2, 22 und 23 der Verordnung 2016/399 haben im Wesentlichen den gleichen Wortlaut wie die Art. 1, 2, 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006. Das Gleiche gilt für die Nrn. 3.2.4 und 3.2.6 des Anhangs VI der Verordnung 2016/399 und die Nrn. 3.2.5 und 3.2.7 des Anhangs VI der Verordnung Nr. 562/2006.


5      Am 10. Dezember 1982 in Montego Bay unterzeichnetes und am 16. November 1994 in Kraft getretenes Übereinkommen (im Folgenden: Übereinkommen von Montego Bay) (Vertragssammlung der Vereinten Nationen, Bd. 1833, 1834 und 1835, S. 3). Das Übereinkommen von Montego Bay wurde mit dem Beschluss 98/392/EG des Rates vom 23. März 1998 (ABl. 1998, L 179, S. 1) im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt.


6      Urteil vom 21. September 1999 (C‑378/97, EU:C:1999:439).


7      Urteil vom 17. Februar 2005 (C‑215/03, EU:C:2005:95).


8      Vgl. Art. 21 Buchst. c der Verordnung Nr. 562/2006, (Art. 23 Buchst. c der Verordnung 2016/399).


9      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Juli 2008, Jipa (C‑33/07, EU:C:2008:396, Rn. 17), vom 17. November 2011, Gaydarov (C‑430/10, EU:C:2011:749, Rn. 24), und vom 17. November 2011, Aladzhov (C‑434/10, EU:C:2011:750, Rn. 24).


10      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Juli 2008, Jipa (C‑33/07, EU:C:2008:396, Rn. 18), vom 17. November 2011, Gaydarov (C‑430/10, EU:C:2011:749, Rn. 25), und vom 17. November 2011, Aladzhov (C‑434/10, EU:C:2011:750, Rn. 25).


11      Vgl. u. a. Urteile vom 10. Juli 2008, Jipa (C‑33/07, EU:C:2008:396, Rn. 18), und vom 4. Oktober 2012, Byankov (C‑249/11, EU:C:2012:608, Rn. 31).


12      Im fünften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 562/2006 heißt es, dass „[d]as Recht auf freien Personenverkehr der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen … durch die Festlegung eines gemeinsamen Regelwerks für das Überschreiten der Grenzen durch Personen weder in Frage gestellt noch beeinträchtigt [wird]“.So sieht zum einen Art. 3 („Anwendungsbereich“) dieser Verordnung vor, dass sie „Anwendung auf alle Personen [findet], die die Binnengrenzen oder die Außengrenzen eines Mitgliedstaats überschreiten, unbeschadet [u. a.] der Rechte der Personen, die nach dem Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr haben“, und zum anderen sieht Art. 7 („Grenzübertrittskontrollen von Personen“) Abs. 6 dieser Verordnung vor, dass „Kontrollen von Personen, die nach Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr haben, … in Übereinstimmung mit der Richtlinie [2004/38] durchgeführt [werden]“. Hervorhebung nur hier.


13      Art. 2 Abs. 5 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 definiert Personen, die nach Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr haben, als „die Unionsbürger im Sinne des Artikels 20 Absatz 1 [AEUV] sowie Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines sein Recht auf freien Personenverkehr ausübenden Unionsbürgers sind, die unter die Richtlinie [2004/38] fallen“.


14      Urteil vom 18. Juni 2020, Ryanair Designated Activity Company (C‑754/18, EU:C:2020:478, Rn. 40).


15      Der Gerichtshof hat im Urteil vom 18. Juni 2020, Ryanair Designated Activity Company (C‑754/18, EU:C:2020:478, Rn. 41), festgestellt, dass „die Richtlinie 2004/38 unterschiedslos für alle Mitgliedstaaten gilt, unabhängig davon, ob sie zum Schengenraum gehören oder nicht“. Die Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, betraf das Recht auf Einreise in einen Mitgliedstaat mit einer vom Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland ausgestellten Daueraufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers.


16      Urteil vom 4. Oktober 2012, Byankov (C‑249/11, EU:C:2012:608, Rn. 32). Siehe auch Nr. 46 der vorliegenden Schlussanträge.


17      Vgl. u. a. die deutsche („mit sich führen“), englische („with“), griechische („φέρουν“), italienische („munito“), litauische („turintys“), polnische („posiadający“), portugiesische („munidos“), rumänische („dețin“), slowenische („z“) und spanische („estén en posesión“) Sprachfassung.


18      Urteil vom 11. April 2019, Tarola (C‑483/17, EU:C:2019:309, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19      Diese Identifizierung kann auch für die Durchführung von Beschränkungen der Freizügigkeit erforderlich sein, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gerechtfertigt sind.


20      Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, KOM(2001) 257 endgültig, S. 10.


21      Richtlinie des Rates vom 15. Oktober 1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft (ABl. 1968, L 257, S. 13).


22      Darüber hinaus heißt es in Art. 6 Abs. 1 dieses Vorschlags (Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38): „Absatz 1 entspricht Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie [68/360]. Er betrifft die Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats von einem Unionsbürger und seiner Familienangehörigen, die dafür nur im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein müssen. Auch hier wurde der Ausdruck ‚auf Vorlage‘ durch ‚mit sich führen‘ ersetzt.“.


23      Die gleichen Erwägungen gelten für die Auslegung des Ausdrucks „mit sich führen“ im Sinne von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, der Gegenstand der zweiten Frage ist. Siehe hierzu Nr. 58 und Fn. 22 der vorliegenden Schlussanträge.


24      Siehe Nrn. 19 und 20 der vorliegenden Schlussanträge.


25      Zur Auslegung des Ausdrucks „mit sich führen“ im Sinne von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 verweise ich auf die Nrn. 57 bis 61 der vorliegenden Schlussanträge.


26      Urteile vom 8. April 1976, Royer (48/75, EU:C:1976:57, Rn. 31), vom 5. März 1991, Giagounidis (C‑376/89, EU:C:1991:99, Rn. 12), und vom 17. Februar 2005, Oulane (C‑215/03, EU:C:2005:95, Rn. 17).


27      Urteil vom 18. Dezember 2014 (C‑202/13, EU:C:2014:2450).


28      Urteil vom 18. Dezember 2014, McCarthy u. a. (C‑202/13, EU:C:2014:2450, Rn. 36). Vgl. auch Urteile vom 25. Juli 2008, Metock u. a. (C‑127/08, EU:C:2008:449, Rn. 73), und vom 12. März 2014, O. und B. (C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 39).


29      Urteil vom 18. Dezember 2014, McCarthy u. a. (C‑202/13, EU:C:2014:2450, Rn. 41).


30      Urteil vom 12. März 2014 (C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 37).


31      Urteil vom 5. Juni 2018 (C‑673/16, EU:C:2018:385).


32      Urteil vom 12. Juli 2018 (C‑89/17, EU:C:2018:570).


33      Urteil vom 7. Juli 1992 (C‑370/90, EU:C:1992:296).


34      Urteil vom 11. Dezember 2007 (C‑291/05, EU:C:2007:771).


35      Urteile vom 12. März 2014, O. und B. (C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 37), vom 5. Juni 2018, Coman u. a. (C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 20), und vom 12. Juli 2018, Banger (C‑89/17, EU:C:2018:570, Rn. 23). Vgl. auch Urteile vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a. (C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 53), und vom 14. November 2017, Lounes (C‑165/16, EU:C:2017:862, Rn. 33).


36      Urteile vom 12. März 2014, O. und B. (C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 54), vom 5. Juni 2018, Coman u. a. (C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 23 und 24), sowie vom 12. Juli 2018, Banger (C‑89/17, EU:C:2018:570, Rn. 27 und 28).


37      Urteile vom 12. März 2014, O. und B. (C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 50 und 61), vom 5. Juni 2018, Coman u. a. (C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 25), und vom 12. Juli 2018, Banger (C‑89/17, EU:C:2018:570, Rn. 29).


38      Urteil vom 18. Dezember 2014 (C‑202/13, EU:C:2014:2450).


39      Urteil vom 12. März 2014 (C‑456/12, EU:C:2014:135).


40      Urteil vom 5. Juni 2018 (C‑673/16, EU:C:2018:385).


41      Urteil vom 12. Juli 2018 (C‑89/17, EU:C:2018:570).


42      Urteile vom 7. Juli 1992, Singh (C‑370/90, EU:C:1992:296), und vom 11. Dezember 2007, Eind (C‑291/05, EU:C:2007:771).


43      Siehe Nr. 70 der vorliegenden Schlussanträge.


44      Urteile vom 12. März 2014, O. und B. (C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 50 und 61), vom 5. Juni 2018, Coman u. a. (C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 25), und vom 12. Juli 2018, Banger (C‑89/17, EU:C:2018:570, Rn. 29).


45      Siehe Nrn. 69 bis 73 der vorliegenden Schlussanträge.


46      Urteil vom 18. Dezember 2014 (C‑202/13, EU:C:2014:2450).


47      Wie ich jedoch schon in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache McCarthy u. a. (C‑202/13, EU:C:2014:345, Nrn. 57 und 60 bis 88) ausgeführt habe, halte ich es wegen des Grundsatzes der Hierarchie zwischen Primär- und Sekundärrecht für zweifelhaft, ob die Richtlinie 2004/38 entsprechend anwendbar ist. Ich bin nämlich der Auffassung, dass das Sekundärrecht im Licht der Verträge auszulegen ist und nicht umgekehrt, um insbesondere zu vermeiden, dass ein Rechtsakt der Union zu einer Änderung der Verträge außerhalb der dafür vorgesehenen Verfahren führt. In jenen Schlussanträgen habe ich dem Gerichtshof daher u. a. vorgeschlagen, davon auszugehen, dass die Richtlinie 2004/38, ausgelegt im Licht von Art. 21 Abs. 1 AEUV, auf Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines Unionsbürgers im Sinne von Art. 2 Abs. 2 AEUV sind, anwendbar ist, wenn dieser Unionsbürger, nachdem er sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt und sich für eine gewisse Dauer in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat, mit seinen Familienangehörigen in den Mitgliedstaat reist, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Mit dieser Klarstellung schließe ich mich der Auffassung des Gerichtshofs an.


48      Urteil vom 12. März 2014 (C‑456/12, EU:C:2014:135).


49      Urteil vom 5. Juni 2018 (C‑673/16, EU:C:2018:385).


50      Urteil vom 12. Juli 2018 (C‑89/17, EU:C:2018:570).


51      Vgl. Urteile vom 20. September 2001, Grzelczyk (C‑184/99, EU:C:2001:458, Rn. 31), vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 41), Beschluss vom 6. Oktober 2016, Bogendorff von Wolffersdorff (C‑438/14, EU:C:2016:758, Rn. 29), und Urteil vom 5. Juni 2018, Coman u. a. (C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 30).


52      Urteil vom 14. November 2017, Lounes (C‑165/16, EU:C:2017:862, Rn. 51).


53      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. März 2014, O. und B. (C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 50 und 61), vom 14. November 2017, Lounes (C‑165/16, EU:C:2017:862, Rn. 61, vom 5. Juni 2018, Coman u. a. (C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 25), sowie vom 12. Juli 2018, Banger (C‑89/17, EU:C:2018:570, Rn. 29). Vgl. auch Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a. (C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 54 und 55).


54      Siehe Nr. 47 der vorliegenden Schlussanträge.


55      Nach Angaben der finnischen Regierung bestimmt § 155 Abs. 1 dieses Gesetzes, dass „[f]ür die Einreise und den Aufenthalt eines Unionsbürgers … der Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses erforderlich [ist]“, während es in § 155 Abs. 2 dieses Gesetzes heißt: „Ist ein Unionsbürger … nicht im Besitz des erforderlichen Reisedokuments oder gegebenenfalls des erforderlichen Visums, so ist ihm vor der Einreiseverweigerung Gelegenheit zu geben, sich die erforderlichen Dokumente zu beschaffen oder übermitteln zu lassen oder auf andere Weise nachzuweisen, dass er das Recht hat, sich frei zu bewegen und aufzuhalten“.


56      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende finnische Regelung es A ermöglicht habe, in das Staatsgebiet einzureisen, sobald er in der Lage gewesen sei, seine Eigenschaft als zur Einreise Berechtigter auf andere Weise, im vorliegenden Fall durch seinen Führerschein, nachzuweisen. Hierzu hat die finnische Regierung in Beantwortung einer Frage des Gerichtshofs erklärt, dass der Führerschein in Finnland in bestimmten Fällen als Dokument zum Nachweis der Identität seines Inhabers akzeptiert werde. Sie erklärt, es sei vorstellbar, dass ein Unionsbürger, der seinen Personalausweis oder Reisepass bei der Ausreise aus Finnland in diesem Mitgliedstaat vergessen habe, bei seiner Rückkehr seine Identität u. a. anhand seines Führerscheins nachweisen und daraufhin nach Finnland einreisen dürfe. Sie stellt jedoch klar, dass die finnischen Rechtsvorschriften keine derartige Verpflichtung vorsähen und dass es Sache der finnischen Behörden sei, im Einzelfall zu beurteilen, welche Schriftstücke oder Dokumente zur Feststellung der Identität des Betroffenen geeignet seien.


57      KOM(2001) 257 endgültig, S. 26.


58      Zur Nichtbeachtung der Formalitäten, die für die Feststellung des Aufenthaltsrechts eines unter dem Schutz der Richtlinie [68/360] und der Richtlinie 73/148/EWG des Rates vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs (ABl. 1973, L 172, S. 14), beide aufgehoben durch die Richtlinie 2004/38, stehenden Arbeitnehmers vorgeschrieben sind, vgl. Urteile vom 7. Juli 1976, Watson und Belmann (118/75, EU:C:1976:106, Rn. 20 und 21 sowie Tenor 2), vom 12. Dezember 1989, Messner (C‑265/88, EU:C:1989:632, Rn. 14 und 15 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 30. April 1998, Kommission/Deutschland (C‑24/97, EU:C:1998:184, Rn. 14).


59      Im Fall der Nichtbeachtung der Pflicht eines Unionsbürgers oder eines Familienangehörigen, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, seine Anwesenheit im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats zu melden.


60      Im Fall der Nichtbeachtung der Pflicht zur Anmeldung bei den zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats.


61      Im Fall der Nichterfüllung der Pflicht zur Beantragung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen.


62      Im Fall der Nichterfüllung der Pflicht zur Beantragung einer Daueraufenthaltskarte.


63      Zum Recht auf Einreise vgl. Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38.


64      Siehe Nr. 85 und Fn. 58 der vorliegenden Schlussanträge.


65      Nach dem siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 sollte die Art der Sanktionen unbeschadet der für die Kontrollen an den nationalen Grenzen geltenden Bestimmungen klar definiert werden. Vgl. auch Art. 21 Buchst. c der Verordnung Nr. 562/2006.


66      Urteil vom 17. Februar 2005, Oulane (C‑215/03, EU:C:2005:95, Rn. 24). Hervorhebung nur hier.


67      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Juli 1980, Pieck (157/79, EU:C:1980:179, Rn. 10).


68      Die Möglichkeit, in allen die Sanktionen betreffenden Bestimmungen nur verwaltungsrechtliche Sanktionen vorzusehen, wurde zwar in einem bestimmten Stadium des Gesetzgebungsverfahrens erwogen, hat aber keinen Eingang in die endgültige Fassung gefunden. Vgl. Abänderung 33 und die ihr zugrunde liegenden Erwägungen im geänderten Vorschlag, KOM(2003) 199 endgültig, S. 6.


69      Vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 4. März 2020, Schenker (C‑655/18, EU:C:2020:157, Rn. 42), und vom 19. Oktober 2016, EL-EM-2001 (C‑501/14, EU:C:2016:777, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).


70      A hat nämlich erläutert, dass „[d]ie Schengen-Seegrenzen zwischen Tallinn (Estland) und Helsinki … [nach estnischem und finnischem Recht] in Anwendung der allgemeinen Regelung über den Umfang ihrer Seegebiete aneinander [grenzen], mit Ausnahme des Korridors für die freie Schifffahrt von 11,11 km (d. h. 6 Meilen x 1,852)“. In Bezug auf die finnische Seegrenze verweist A auf § 5 des Gesetzes Nr. 981/1995.


71      Art. 4 dieses Übereinkommens bestimmt: „Die seewärtige Grenze des Küstenmeers ist die Linie, auf der jeder Punkt vom nächstgelegenen Punkt der Basislinie um die Breite des Küstenmeers entfernt ist.“


72      Urteil vom 5. Februar 2020, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Anmustern von Seeleuten im Hafen von Rotterdam) (C‑341/18, EU:C:2020:76, Rn. 45).


73      Zum Begriff der „Ausreise“ im Sinne von Art. 11 der Verordnung Nr. 562/2006 vgl. Urteil vom 5. Februar 2020, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Anmustern von Seeleuten im Hafen von Rotterdam) (C‑341/18, EU:C:2020:76, Rn. 47 und 48). Vgl. auch den Vorschlag für eine Verordnung des Rates über den Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (KOM[2004] 391 endgültig vom 26. Mai 2004, S. 28), in dem es heißt, dass für die Zwecke der Anwendung der Verordnung Nr. 562/2006 „Häfen in der Regel Außengrenzen [sind]“. Hervorhebung nur hier.


74      Aktualisierung der Liste der Grenzübergangsstellen gemäß Artikel 2 [Nr. 8] der Verordnung [Nr. 562/2006] (ABl. 2015, C 72, S. 17).


75      Aus der Aktualisierung der Liste der Grenzübergangsstellen gemäß Artikel 2 [Nr. 8] der Verordnung [2016/399] (ABl. 2016, C 484, S. 30), die im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, geht hingegen hervor, dass der Hafen von Helsinki zu den „Überwachungsstellen an den Seegrenzen, die als Grenzübergangsstellen für Vergnügungsschiffe dienen“, gehört.


76      Siehe Nr. 100 und Fn. 73 der vorliegenden Schlussanträge.


77      Vgl. hierzu Urteil vom 5. Februar 2020, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Anmustern von Seeleuten im Hafen von Rotterdam) (C‑341/18, EU:C:2020:76, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).


78      Diese Auslegung wird durch den Anhang VII („Sonderbestimmungen für bestimmte Personengruppen“) der Verordnung Nr. 562/2006 bestätigt, dessen Nr. 8 bestimmt, dass „[a]bweichend von den Artikeln 4 und 7 [der Verordnung Nr. 562/2006] … Arbeitnehmer im Sinne von Artikel 2 Nummer 18a, die regelmäßig ohne Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Drittstaats auf dem See- oder Luftweg in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zurückkehren, keinen systematischen Kontrollen unterzogen [werden]“. Folglich ist davon auszugehen, dass Arbeitnehmer, die zu einer in den Hoheitsgewässern eines Mitgliedstaats gelegenen Offshore-Anlage zurückkehren, die Außengrenzen überschritten haben, weil andernfalls keine Notwendigkeit bestanden hätte, eine Ausnahme von den Art. 4 und 7 dieser Verordnung vorzusehen.


79      Vgl. hierzu Urteil vom 5. Februar 2020, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Anmustern von Seeleuten im Hafen von Rotterdam) (C‑341/18, EU:C:2020:76, Rn. 45). Siehe hierzu Nr. 100 und Fn. 73 der vorliegenden Schlussanträge.


80      Meines Erachtens belegt der Umstand, dass Anhang VI Nr. 3.2.5 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 562/2006 abweichend von den Art. 4 und 7 dieser Verordnung für den Fall der Vergnügungsschifffahrt eine Befreiung von den Mindestkontrollen an den Außengrenzen vorsieht, dass auch in diesem Fall eine Außengrenze als überschritten gilt, weil andernfalls keine Notwendigkeit bestanden hätte, eine Ausnahme von den Art. 4 und 7 dieser Verordnung vorzusehen. Siehe hierzu Nr. 107 der vorliegenden Schlussanträge.


81      Vgl. Art. 7 Abs. 2 und 6 der Verordnung Nr. 562/2006.


82      Art. 7 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 562/2006.


83      Siehe hierzu meine einleitenden Bemerkungen und insbesondere Nr. 48 der vorliegenden Schlussanträge.


84      Urteil vom 18. Juni 2020, Ryanair Designated Activity Company (C‑754/18, EU:C:2020:478, Rn. 40). Siehe hierzu Nr. 48 der vorliegenden Schlussanträge.


85      Urteil vom 17. Februar 2005, Oulane (C‑215/03, EU:C:2005:95, Rn. 42).


86      Siehe Nrn. 83 bis 93 der vorliegenden Schlussanträge.


87      Urteil vom 13. September 2016, Rendón Marín (C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).


88      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass aus dem Richtlinienvorschlag hervorgeht, dass dieser Artikel eindeutig die Grundsätze festschreibt, die bei der Verhängung von Sanktionen wegen Nichteinhaltung der innerstaatlichen Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie gelten (KOM[2001] 257 endgültig, S. 26). Obwohl der Wortlaut von Art. 33 dieses Richtlinienvorschlags (Art. 36 der Richtlinie 2004/38) vorsah, dass „[d]ie [so vorgesehenen] Sanktionen … wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein und den Sanktionen entsprechen [müssen], die die Mitgliedstaaten bei geringfügigeren Vergehen gegen ihre eigenen Staatsangehörigen verhängen“, heißt es in der Begründung des geänderten Vorschlags gleichwohl, dass die vom Europäischen Parlament vorgeschlagene und im endgültigen Dokument beibehaltene Änderung dieses Artikels „darauf ab[zielt], die Grundsätze der Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit als einzige Bezugspunkte für die Sanktionen beizubehalten“. Vgl. Abänderung 90 und die ihr zugrunde liegenden Erwägungen im geänderten Vorschlag, KOM(2003) 199 endgültig, S. 10. Vgl. auch Bericht des Europäischen Parlaments, Final A5-0009/2003, S. 51.


89      Urteil vom 4. Oktober 2018, Link Logistik N&N (C‑384/17, EU:C:2018:810, Rn. 40). Nach Rn. 41 dieses Urteils gilt „[d]ieser Grundsatz, der auch durch Art. 49 Abs. 3 der [Charta] garantiert wird, wonach das Strafmaß zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein darf, … gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union“. Dies vorausgeschickt, bin ich der Auffassung, dass die Prüfung der Verhältnismäßigkeit, da es im vorliegenden Fall um das Recht auf Freizügigkeit geht, strenger ausfallen und im Licht von Art. 36 der Richtlinie 2004/38 durchgeführt werden muss, weil Art. 49 Abs. 3 der Charta in einem viel breiteren Kontext für alle Arten von Sanktionen gilt.


90      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2017, Euro-Team und Spirál-Gép (C‑497/15 und C‑498/15, EU:C:2017:229, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).


91      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Februar 2005, Oulane (C‑215/03, EU:C:2005:95, Rn. 24 und 25). Vgl. auch Urteil vom 5. März 1991, Giagounidis (C‑376/89, EU:C:1991:99, Rn. 15 und 18). Vgl. auch Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38.


92      Insoweit verweise ich auf Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38.


93      Das vorlegende Gericht gibt an, im Jahr 2014 habe der durchschnittliche Betrag eines Tagessatzes bei einem monatlichen Nettoeinkommen von 1 257 Euro 16,70 Euro betragen.


94      Vgl. Kapitel 17 § 2 des Strafgesetzbuchs.


95      Urteil vom 12. September 2019, Maksimovic u. a. (C‑64/18, C‑140/18, C‑146/18 und C‑148/18, EU:C:2019:723, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).


96      Das vorlegende Gericht führt aus, zur Tatzeit hätten sich unter Berücksichtigung der Einkünfte von A der Betrag des Tagessatzes auf 6 350 Euro und die Geldstrafe auf insgesamt 95 250 Euro belaufen. Siehe Fn. 39 der vorliegenden Schlussanträge.


97      Vgl. Urteil vom 12. Juli 2001, Louloudakis (C‑262/99, EU:C:2001:407, Rn. 75 und 76).


98      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Februar 2005, Oulane (C‑215/03, EU:C:2005:95, Rn. 40). Vgl. auch Urteil vom 12. September 2019, Maksimovic u. a. (C‑64/18, C‑140/18, C‑146/18 und C‑148/18, EU:C:2019:723, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).