Language of document : ECLI:EU:T:2021:332

URTEIL DES GERICHTS (Vierte erweiterte Kammer)

9. Juni 2021(*)(i)

„Öffentlicher Dienst – Personal der EZB – Erstattung von Kosten für ärztliche Behandlung und Schulgeld – Fälschung – Disziplinarverfahren – Entlassung – Strafverfahren – Einstellung – Freispruch – Zuständigkeit des Direktoriums – Rechtssicherheit – Verjährung der Disziplinarmaßnahmen – Grundsatz, dass das Strafverfahren das Disziplinarverfahren hemmt – Unschuldsvermutung – Unparteilichkeit des Disziplinarausschusses – Rechtsfehler – Beweiskraft der Beweismittel – Angemessene Frist – Verhältnismäßigkeit der Sanktion – Intensität der gerichtlichen Kontrolle – Haftung“

In der Rechtssache T‑514/19,

DI, Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwältin L. Levi,

Kläger,

gegen

Europäische Zentralbank (EZB), vertreten durch F. Malfrère und F. von Lindeiner als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt B. Wägenbaur,

Beklagte,

betreffend eine Klage nach Art. 270 AEUV und Art. 50a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union auf erstens Aufhebung der Entscheidungen der EZB vom 7. Mai 2019, mit der die fristlose disziplinarische Entlassung des Klägers verfügt wurde, und vom 25. Juni 2019, mit der die Wiederaufnahme des Verfahrens abgelehnt wurde, zweitens Anordnung seiner Wiedereinsetzung mit Wirkung vom 11. Mai 2019 und drittens Ersatz des immateriellen Schadens, der ihm infolge dieser Entscheidungen und aufgrund der Dauer des Disziplinarverfahrens entstanden sein soll,

erlässt

DAS GERICHT (Vierte erweiterte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten S. Gervasoni, der Richter L. Madise und P. Nihoul, der Richterin R. Frendo (Berichterstatterin) sowie des Richters J. Martín y Pérez de Nanclares,

Kanzler: P. Cullen, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. Oktober 2020

folgendes

Urteil

I.      Vorgeschichte des Rechtsstreits

1        Der Kläger, DI, wurde 1999 Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank (im Folgenden: EZB oder Bank). Er war informationstechnischer Verwaltungsamtsrat in der Gehaltsspanne D, als gegen ihn ein Disziplinarverfahren eingeleitet wurde, das sich auf Anträge auf Erstattung erstens von Rechnungen für Physiotherapieleistungen, zweitens von Quittungen über Apothekengebühren und drittens von Rechnungen für Nachhilfeunterricht bezog.

2        Mit mehreren Schreiben zwischen dem 13. Dezember 2013 und dem 23. November 2015 setzte die für das Krankenversicherungssystem der EZB zuständige Gesellschaft (im Folgenden: Gesellschaft A) die Bank über zwei verschiedene Vorfälle in Kenntnis. Zum einen habe der Kläger bei ihr unzulässigerweise Rechnungen für Physiotherapieleistungen zur Erstattung eingereicht, obwohl diese Leistungen von B, einer Kosmetikerin, erbracht worden seien, und zum anderen habe er bei ihr auch eine Erstattung unter Vorlage gefälschter Quittungen über Arzneimittelkosten beantragt.

3        Am 14. Mai 2014 erstattete die EZB bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main (Deutschland, im Folgenden: Staatsanwaltschaft) Anzeige betreffend die Erstattung der Physiotherapierechnungen.

4        Mit Entscheidung vom 21. Oktober 2014 beschloss das Direktorium der EZB, den Kläger vorläufig seines Dienstes zu entheben und für eine Dauer von höchstens vier Monaten ab November 2014 30 % seines Grundgehalts einzubehalten. Diese Entscheidung wurde mit den von der Gesellschaft A erteilten Informationen und der Notwendigkeit begründet, das Ermittlungsverfahren und die disziplinarrechtlichen Folgemaßnahmen abzuwarten.

5        Am 23. Januar 2015 übermittelte die EZB der Staatsanwaltschaft die zusätzlichen Informationen, die die Gesellschaft A ihr in Bezug auf die Anträge auf Erstattung der Apothekenquittungen erteilt hatte.

6        Nach Anhörung des Klägers am 3. Februar 2016 erstellte die Generaldirektion (GD) „Personal, Budget und Organisation“ der EZB am 8. September 2016 einen „Bericht über eine etwaige Verletzung der Dienstpflichten“ (im Folgenden: Bericht Nr. 1) gemäß Art. 8.3.2 der Dienstvorschriften der EZB (im Folgenden: Dienstvorschriften). In diesem Bericht wurden dem Kläger zwei verschiedene Vorfälle zur Last gelegt. Erstens habe er der Gesellschaft A vom 12. November 2009 bis zum 29. September 2014 86 Rechnungen in Höhe von 61 490 Euro über Physiotherapiesitzungen vorgelegt, die B mit seiner Ehefrau, ihren gemeinsamen Kindern sowie ihm selbst durchgeführt und für die er eine Erstattung in Höhe von 56 041,09 Euro erhalten habe, obwohl B keine Physiotherapeutin, sondern Kosmetikerin sei. Zweitens habe der Kläger der Gesellschaft A zwischen Februar 2009 und September 2013 darüber hinaus in betrügerischer Absicht handgeschriebene Apothekenquittungen in Höhe von insgesamt 21 289,08 Euro vorgelegt, wovon die Gesellschaft A 19 427,86 Euro erstattet habe.

7        Am 12. September 2016 erhob die Staatsanwaltschaft gegen den Kläger Anklage wegen Betrugs im Sinne von § 263 Abs. 1 des deutschen Strafgesetzbuchs und Urkundenfälschung gemäß § 267 des Strafgesetzbuchs, weil er zu Unrecht die Erstattung von 71 Rechnungen für Physiotherapieleistungen beantragt habe. Den Teil des Verfahrens, der sich auf die Apothekenquittungen bezog, stellte die Staatsanwaltschaft nach § 154 der deutschen Strafprozessordnung ein, weil der Tatvorwurf weitere umfangreiche Ermittlungsmaßnahmen erfordert hätte.

8        Am 18. November 2016 leitete der „im Namen des Direktoriums handelnde“ Chief Services Officer (Generalsekretär der Arbeitseinheiten) der EZB gegen den Kläger ein Disziplinarverfahren wegen mutmaßlicher Verletzung seiner Dienstpflichten ein und ersuchte den Disziplinarausschuss, dessen Anrufung erforderlich war, gemäß Art. 8.3.15 der Dienstvorschriften um Abgabe einer Stellungnahme. Dieses in Anbetracht des Berichts Nr. 1 eingeleitete Verfahren bezog sich auf den Vorfall im Zusammenhang mit den Physiotherapierechnungen und den Apothekenquittungen.

9        Der Disziplinarausschuss tauschte mehrere Schreiben mit dem Kläger aus und hörte ihn am 13. Februar 2017 an.

10      Am 5. September 2017 erstellte die GD „Personal, Budget und Organisation“ der EZB einen zweiten „Bericht über eine etwaige Verletzung der Dienstpflichten“ im Sinne von Art. 8.3.2 der Dienstvorschriften (im Folgenden: Bericht Nr. 2). Dieser Bericht betraf Rechnungen über Nachhilfeunterricht für die beiden Kinder des Klägers. Der Kläger hatte diese Rechnungen gemäß Art. 3.8.4 der Dienstvorschriften in den Jahren 2010, 2012 und 2014 sowie erneut im Januar 2017 zur Erstattung eingereicht. Dem Bericht zufolge bestand ein begründeter Verdacht, dass die von der Nachhilfelehrerin C für den Nachhilfeunterricht ausgestellten Rechnungen sachlich unrichtig waren.

11      In Anbetracht des Berichts Nr. 2 beschloss der „im Namen des Direktoriums handelnde“ Chief Services Officer am 19. September 2017, das Mandat des Disziplinarausschusses um diesen Vorfall zu erweitern.

12      Am 12. Oktober 2017 brachte die EZB bei der Staatsanwaltschaft den Teil des Sachverhalts zur Anzeige, der sich auf die Rechnungen für Nachhilfeunterricht bezog.

13      Der Disziplinarausschuss hörte den Kläger und seine Ehefrau am 17. Oktober 2017 an.

14      Am 18. Oktober 2017 sprach eine Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main (Deutschland) den Kläger vom Vorwurf im Zusammenhang mit den Physiotherapierechnungen aus „tatsächlichen Gründen“ frei, da „nach der Hauptverhandlung … der Anklagevorwurf nicht zur Überzeugung des Gerichts feststeht“.

15      Am 11. April 2018 gab der Disziplinarausschuss seine Stellungnahme ab. Er vertrat zunächst die Auffassung, dass die Unrichtigkeit der Physiotherapierechnungen nicht hinreichend nachgewiesen sei, der Kläger aber gewusst habe, dass B keine Physiotherapeutin, sondern eine Kosmetikerin sei, oder zumindest an ihrer Qualifikation hätte zweifeln müssen. Sodann sei auch der Sachverhalt, der dem Vorwurf betreffend die Vorlage der Apothekenquittungen und der Rechnungen für Nachhilfeunterricht zugrunde liege, nicht hinreichend nachgewiesen, so dass das Verfahren insoweit mit der Maßgabe einzustellen sei, dass es bei Vorlage neuer Beweise wieder aufgenommen werde. In Anbetracht dieser Erwägungen empfahl der Disziplinarausschuss als Strafe, die Bezüge des Klägers über einen Zeitraum von zwölf Monaten um 400 Euro pro Monat zu kürzen.

16      Nachdem sich der Kläger zur Stellungnahme des Disziplinarausschusses vom 11. April 2018 geäußert hatte, gab der Chief Services Officer ihm eine Entscheidung vom 10. Juli 2018 bekannt, mit der das Ministerium beschlossen hatte, im vorliegenden Fall selbst die Disziplinargewalt auszuüben (im Folgenden: Entscheidung vom 10. Juli 2018).

17      Der Chief Services Officer gab dem Kläger anschließend den Entwurf einer Entscheidung des Direktoriums bekannt, mit der er fristlos entlassen werden sollte. Darauf folgte ein Schriftwechsel.

18      Am 7. Mai 2019 beschloss das Direktorium, den Kläger fristlos zu entlassen (im Folgenden: Entlassungsentscheidung).

19      Erstens war das Direktorium der Auffassung, zum einen habe „[der Kläger] fast fünf Jahre lang eine völlige, andauernde Gleichgültigkeit an den Tag gelegt, was die Frage anbelangte, ob [B] die erforderlichen Qualifikationen für die Erbringung von Physiotherapieleistungen besaß, obwohl es klare und objektive Gründe dafür gab, ihre Qualifikationen zu hinterfragen“, und zum anderen habe er der Gesellschaft A und der EZB „Informationen zum Teil aktiv vorenthalten“.

20      Zweitens habe es dem Kläger in Bezug auf die über 500 Apothekenquittungen nicht verborgen bleiben können, dass deren Ausstellung in handgeschriebener Form in Deutschland sehr unüblich sei und dass es objektive Anhaltspunkte für ihre Unrichtigkeit gegeben habe.

21      Drittens stellte das Direktorium in Bezug auf die Rechnungen für Nachhilfeunterricht u. a. fest, dass die darin ausgewiesene Steuernummer mit der auf den Physiotherapierechnungen angegebenen Nummer nahezu identisch und, wie die Steuerverwaltung von Frankfurt am Main (Deutschland) bestätigt habe, nicht echt sei. Darüber hinaus sei auch die auf diesen Rechnungen angegebene Anschrift von C mit der von B nahezu identisch. Es sei daher höchst unwahrscheinlich, dass dem Kläger diese Ähnlichkeiten nicht aufgefallen seien. Im Ergebnis sei festzustellen, dass der Kläger Rechnungen für Nachhilfeunterricht zur Erstattung eingereicht habe, die sachlich unrichtig seien.

22      In Anbetracht all dieser Erwägungen führte das Direktorium im Wesentlichen aus, dass der Anspruch auf Erstattung von Arzneimittelausgaben und Kosten für Nachhilfeunterricht nicht bedeute, dass die Mitglieder des Personals Umstände im Zusammenhang mit der Ausstellung von Rechnungen oder Quittungen ignorieren könnten, die so augenfällig seien, dass sich jede angemessen umsichtige Person die Frage gestellt hätte, ob diese Rechnungen oder Quittungen eine ordnungsgemäße Dokumentation darstellten, die einen Erstattungsanspruch begründe. Bei Vorliegen derartiger Umstände obliege es den Mitgliedern des Personals, zumindest von sich aus die Verwaltung darüber zu informieren und mit dieser zusammenzuarbeiten. Das Direktorium gelangte daher zu dem Schluss, dass sich der Kläger schuldig gemacht habe, erstens seine Pflicht zur Loyalität gegenüber dem Organ verletzt zu haben, zweitens seiner Verpflichtung zur Achtung der gemeinsamen Werte der EZB sowie zum Führen seines Berufs- und Privatlebens im Einklang mit deren Satzung nicht nachgekommen zu sein, drittens kontinuierlich gegen seine Pflicht verstoßen zu haben, die finanziellen Interessen des Organs zu wahren, und viertens das Ansehen der Bank gefährdet zu haben.

23      In der Zwischenzeit – am 30. April 2019 – setzte die Staatsanwaltschaft den Kläger davon in Kenntnis, dass das Ermittlungsverfahren betreffend die Rechnungen für Nachhilfeunterricht gemäß § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung eingestellt werde, weil kein hinreichender Tatverdacht bestehe, um Anklage zu erheben.

24      Mit Schreiben vom selben Tag, das am darauffolgenden 15. Mai in das Register der EZB eingetragen wurde, setzte die Staatsanwaltschaft auch die EZB von der Einstellung des Ermittlungsverfahrens in Kenntnis. In diesem Schreiben wies die Staatsanwaltschaft zudem darauf hin, dass die Ermittlungen ergeben hätten, dass es keine amtliche Eintragung von C gebe und die Steuernummer auf ihren Rechnungen nicht vergeben sei. Es könne jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass die fraglichen Rechnungen tatsächlich ausgestellt und vom Beschuldigten beglichen worden seien und sich die darin enthaltenen Falschangaben durch „andere Gründe“ erklären ließen.

25      Mit Schreiben vom 12. Juni 2019 setzte der Kläger den Chief Services Officer vom Ergebnis des von der Staatsanwaltschaft in Bezug auf die Rechnungen für Nachhilfeunterricht eingeleiteten Verfahrens in Kenntnis und ersuchte die EZB darum, ihre Entlassungsentscheidung zu überdenken.

26      Mit Schreiben vom 26. Juni 2019 informierte der Chief Services Officer den Kläger über die am Vortag getroffene Entscheidung des Direktoriums, das Disziplinarverfahren nicht wieder aufzunehmen (im Folgenden: Ablehnung der Wiederaufnahme des Verfahrens). Diese Entscheidung beruhte auf zwei Gründen. Die EZB verwies zum einen darauf, dass die Staatsanwaltschaft anhand des für Strafverfahren geltenden Beweisstandards ermitteln müsse, ob die mutmaßlichen Handlungen gegen das deutsche Strafrecht verstießen, wohingegen die EZB anhand eines anderen, für Disziplinarverfahren geltenden Beweisstandards ermitteln müsse, ob die mutmaßlichen Handlungen einen Verstoß gegen ihre eigenen Beschäftigungsvorschriften darstellten. Zum anderen habe die Staatsanwaltschaft bestätigt, dass es keine amtliche Eintragung von C gebe und die Steuernummer auf den Rechnungen nicht echt sei.

II.    Verfahren und Anträge der Parteien

27      Mit Klageschrift, die am 18. Juli 2019 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben.

28      Die EZB hat die Klagebeantwortung am 8. November 2019 eingereicht.

29      Am 22. Januar 2020 hat der Kläger die Erwiderung eingereicht.

30      Am 6. März 2020 hat die EZB die Gegenerwiderung eingereicht.

31      Am 7. Juli 2020 hat das Gericht die EZB im Wege einer prozessleitenden Maßnahme nach Art. 89 Abs. 3 Buchst. d seiner Verfahrensordnung zur Vorlage zweier Dokumente aufgefordert. Die EZB hat der prozessleitenden Maßnahme fristgerecht Folge geleistet.

32      Auf Vorschlag der Vierten Kammer hat das Gericht gemäß Art. 28 der Verfahrensordnung beschlossen, die Rechtssache an einen erweiterten Spruchkörper zu verweisen.

33      Auf Vorschlag der Berichterstatterin hat das Gericht (Vierte erweiterte Kammer) beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen, und den Parteien im Rahmen prozessleitender Maßnahmen gemäß Art. 89 der Verfahrensordnung schriftliche Fragen zur Beantwortung in der mündlichen Verhandlung gestellt.

34      Der Kläger beantragt,

–        die Entlassungsentscheidung und die Entscheidung, das Verfahren nicht wieder aufzunehmen (im Folgenden zusammen: angefochtene Entscheidungen), aufzuheben;

–        infolgedessen seine Wiedereinsetzung mit Wirkung vom 11. Mai 2019 anzuordnen, mit allen entsprechenden finanziellen Ansprüchen und mit angemessener Verbreitung an die Öffentlichkeit, um seinen guten Ruf wiederherzustellen;

–        in jedem Fall den Ersatz des ihm entstandenen immateriellen Schadens anzuordnen, der nach billigem Ermessen mit 20 000 Euro beziffert wird;

–        der EZB sämtliche Kosten aufzuerlegen.

35      Die EZB beantragt,

–        die Klage abzuweisen;

–        dem Kläger sämtliche Kosten aufzuerlegen;

–        erforderlichenfalls den Kläger, seine Ehefrau und seine Kinder sowie gegebenenfalls B als Zeugen zu benennen, um sie zu den Physiotherapierechnungen anzuhören, oder zumindest den Kläger als Partei des vorliegenden Rechtsstreits dazu anzuhören.

III. Rechtliche Würdigung

A.      Erster Antrag: Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen

1.      Vorbemerkungen

36      Der Kläger stützt seinen Aufhebungsantrag auf neun Gründe. In Anbetracht der Klageschrift sind jedoch zehn zu zählen, mit denen geltend gemacht wird:

–        erstens, die angefochtenen Entscheidungen seien von einer unzuständigen Stelle erlassen worden;

–        zweitens, es sei gegen Art. 8.3.2 der Dienstvorschriften und den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoßen worden;

–        drittens, es sei gegen den Grundsatz, dass das Strafverfahren das Disziplinarverfahren hemmt, und den Grundsatz der guten Verwaltung verstoßen sowie die Fürsorgepflicht verletzt worden;

–        viertens, es sei gegen Art. 8.3.7 der Dienstvorschriften und den in Art. 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) niedergelegten Grundsatz der Unparteilichkeit verstoßen worden;

–        fünftens, es seien die Verteidigungsrechte verletzt worden;

–        sechstens, es seien offensichtliche Beurteilungsfehler begangen worden;

–        siebtens, es sei das Recht auf die Unschuldsvermutung verletzt und gegen Art. 48 der Charta verstoßen worden;

–        achtens, es sei gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer verstoßen und die Fürsorgepflicht verletzt worden;

–        neuntens, die Begründungspflicht sei verletzt worden;

–        zehntens hilfsweise, es sei gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen worden.

37      Der dritte und der siebte Klagegrund sind jedoch zusammen zu prüfen.

38      Außerdem macht die EZB allgemein geltend, nur der erste Klagegrund, mit dem die Unzuständigkeit des Urhebers des Rechtsakts gerügt werde, könne mit dem Antrag auf Nichtigerklärung der Ablehnung der Wiederaufnahme des Verfahrens verknüpft werden.

39      Gleichwohl ist festzuhalten, dass, auch wenn der Kläger seine Rügen hauptsächlich gegen die Entlassungsentscheidung richtet, der dritte und der siebte Klagegrund, mit denen im Wesentlichen ein Verstoß gegen den Grundsatz, dass das Strafverfahren das Disziplinarverfahren hemmt, und eine Verletzung des Rechts auf die Unschuldsvermutung geltend gemacht werden, angesichts der Entscheidung der Staatsanwaltschaft, das Ermittlungsverfahren betreffend die Rechnungen für Nachhilfeunterricht einzustellen, gleichermaßen gegen die Ablehnung der Wiederaufnahme des Verfahrens gerichtet sind. Zudem wäre, falls die Entlassungsentscheidung aufzuheben ist, infolgedessen und im Interesse der Rechtssicherheit auch die Ablehnung der Wiederaufnahme des Verfahrens für nichtig zu erklären, um jedes potenzielle Hindernis für die Verpflichtung der EZB zu beseitigen, gemäß Art. 266 AEUV die sich aus dem Urteil ergebenden Maßnahmen zu ergreifen.

2.      Erster Klagegrund: Unzuständigkeit des Urhebers der angefochtenen Entscheidungen

40      Gemäß Art. 44 Ziff. ii der Beschäftigungsbedingungen für das Personal der EZB (im Folgenden: Beschäftigungsbedingungen) kann das Direktorium eine fristgemäße oder fristlose Kündigung als Disziplinarstrafe aussprechen. Art. 8.3.17 der Dienstvorschriften bestimmt jedoch: „Bei Mitarbeitern in der Gehaltsspanne I oder darunter entscheidet der Chief Services Officer im Namen des Direktoriums über die Disziplinarstrafe, die am angemessensten ist ...“

41      Im vorliegenden Fall hat das Direktorium die angefochtenen Entscheidungen getroffen, obwohl sie nach Auffassung des Klägers gemäß der in Art. 8.3.17 der Dienstvorschriften vorgesehenen Zuständigkeitsübertragung in die Zuständigkeit des Chief Services Officer fielen.

42      Wie die EZB allerdings geltend macht, hat das Direktorium am 10. Juli 2018, also vor dem Erlass der Entlassungsentscheidung, die Entscheidung getroffen, selbst die Disziplinargewalt gegenüber dem Kläger auszuüben (vgl. oben Rn. 16).

43      Der Kläger vertritt jedoch die Ansicht, eine Rücknahme der Übertragung an den Chief Services Officer mache die vorherige Anhörung der Personalvertretung erforderlich. Ohne eine solche Anhörung sei die Entscheidung vom 10. Juli 2018 daher rechtswidrig, mit der Folge, dass das Direktorium die Entlassungsentscheidung anstelle der gesetzlich zuständigen Behörde getroffen habe.

44      Als Grund dafür, dass die Personalvertretung hätte angehört werden müssen, macht der Kläger erstens geltend, dass die Entscheidung vom 10. Juli 2018 eine Änderung der Dienstvorschriften darstelle und eine solche Änderung nach Art. 21 der Geschäftsordnung der EZB und dem Grundsatz des Parallelismus der Verfahren die Anhörung dieses Ausschusses verlange.

45      Entgegen dem Vorbringen des Klägers hat die Entscheidung vom 10. Juli 2018 Art. 8.3.17 der Dienstvorschriften jedoch nicht aufgehoben. Wie er in der Erwiderung selbst anerkennt, hat sich diese Entscheidung nur auf ihn und ausschließlich auf die in Rede stehende Rechtssache bezogen. Sie hat somit lediglich individuelle Geltung.

46      Die Verpflichtung zur Anhörung der Personalvertretung ist aber auf die Änderung von Rechtsakten mit allgemeiner Geltung beschränkt (Beschluss vom 9. November 2017, Bowles/EZB, T‑564/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:816, Rn. 48). Art. 48 der Beschäftigungsbedingungen bestimmt nämlich, dass die Personalvertretung „die allgemeinen Interessen aller Mitglieder des Personals in Angelegenheiten der Arbeitsverträge, der Personal- und Vergütungsregelungen, der Beschäftigungs‑, Arbeits‑, Gesundheits- und Sicherheitsbedingungen bei der EZB, der sozialen Absicherung sowie der Altersversorgung [vertritt]“. Darüber hinaus wird die Personalvertretung nach Art. 49 derselben Beschäftigungsbedingungen „vor jeder Änderung der vorliegenden Beschäftigungsbedingungen, der für das Personal geltenden Vorschriften und der damit zusammenhängenden Fragen im Sinne von Art. 48 angehört“.

47      Der Kläger macht gleichwohl zweitens geltend, dass, selbst wenn er allein von der Entscheidung vom 10. Juli 2018 betroffen wäre, die Möglichkeit des Direktoriums zur Anführung von Einzelfällen zur Folge habe, dass Art. 8.3.17 der Dienstvorschriften nicht als eine endgültige Vorschrift, sondern als eine nach Belieben der EZB änderbare Vorschrift anzusehen sei. In Disziplinarangelegenheiten seien Rechtssicherheit und Publizität jedoch unabdingbar. Unter diesen Umständen wäre die Anhörung der Personalvertretung, so der Kläger, zweckmäßig gewesen.

48      Insoweit ist zu beachten, dass das Direktorium gemäß Art. 11.6 des Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der EZB die laufenden Geschäfte der EZB führt und Art. 44 Ziff. ii der Beschäftigungsbedingungen ihm ganz konkret die Zuständigkeit für den Erlass von Entscheidungen über fristlose Kündigungen verleiht.

49      Unter diesen Umständen fügt sich Art. 8.3.17 der Dienstvorschriften, indem er den Chief Services Officer zum Erlass individueller Entlassungsentscheidungen „im Namen des Direktoriums“ ermächtigt, in den Rahmen des weiten Ermessens ein, über das die Organe der Europäischen Union intern verfügen, um sich entsprechend ihren Bedürfnissen zu organisieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Mai 2005, Tralli/EZB, C‑301/02 P, EU:C:2005:306, Rn. 58). Der vom Kläger geltend gemachte Grundsatz der Rechtssicherheit verpflichtet die Verwaltung beim Erlass von Rechtsnormen zwar dazu, diese so abzufassen, dass sie hinreichend klar sind, damit der Einzelne seine Rechte und Pflichten unzweideutig erkennen und somit seine dementsprechenden Vorkehrungen treffen kann; dieser Grundsatz verpflichtet die EZB aber nicht dazu, das Ermessen, über das sie bei der Organisation verfügt, einzuschränken (vgl. entsprechend Urteil vom 24. September 2019, US/EZB, T‑255/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:680, Rn. 90). Folglich steht der Grundsatz der Rechtssicherheit einer Auslegung des vorerwähnten Art. 8.3.17, wonach einschlägige Entscheidungen des Chief Services Officer Entscheidungen des Direktoriums zum Ausdruck bringen, das dafür die volle Verantwortung übernimmt und dem sie rechtlich zuzurechnen sind, nicht entgegen.

50      Im Übrigen verlangen die Regeln einer ordnungsgemäßen Personalverwaltung in der Tat, dass die Aufteilung der Befugnisse innerhalb der EZB klar definiert und ordnungsgemäß bekannt gemacht worden ist (Urteil vom 9. Juli 2008, Kuchta/EZB, F‑89/07, EU:F:2008:97, Rn. 62). Im vorliegenden Fall ist Art. 8.3.17 der Dienstvorschriften bekannt gemacht worden und die EZB hat ihre Wahl, die Entscheidung vom 10. Juli 2018 im Interesse des Klägers nicht zu veröffentlichen, um seinen Ruf zu einer Zeit zu wahren, in der dem Endergebnis des Disziplinarverfahrens nicht vorgegriffen werden durfte, begründet. Außerdem ist dem Kläger diese Entscheidung zugestellt worden, so dass er über sie unterrichtet worden ist.

51      Demnach führt die Entscheidung des Direktoriums, die Disziplinargewalt im konkreten Fall des Klägers unmittelbar auszuüben, nicht zu einer Änderung der Dienstvorschriften, die im Interesse der Rechtssicherheit und der Publizität eine Anhörung der Personalvertretung erforderlich gemacht hätte, wie der Kläger geltend macht.

52      Im Übrigen ist zu bemerken, dass dem Kläger keinerlei Garantie genommen worden ist. Im Gegenteil: Die kollektive Ausübung einer Befugnis – wie im vorliegenden Fall – bietet den Adressaten der zu treffenden Maßnahmen in der Regel mehr Schutz als eine Befugnis, die von einer einzelnen Person ausgeübt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. September 2019, GE Healthcare/Kommission, T‑783/17, EU:T:2019:624, Rn. 182).

53      Der erste Klagegrund ist somit unbegründet.

3.      Zweiter Klagegrund: Verstoß gegen Art. 8.3.2 der Dienstvorschriften und den Grundsatz der Rechtssicherheit

54      Art. 8.3.2 dritter Gedankenstrich der Dienstvorschriften bestimmt: „Das Disziplinarverfahren muss spätestens fünf Jahre nach Eintritt des betreffenden Sachverhalts und innerhalb eines Jahres nach seiner Aufdeckung eingeleitet werden, es sei denn, es handelt sich um ein schweres Fehlverhalten, für das die Entlassung in Betracht kommt; in diesem Fall betragen die Fristen zehn Jahre bzw. ein Jahr.“

55      Der Kläger macht geltend, nach dieser Vorschrift sei der Sachverhalt aufgrund des Ablaufs der Frist von einem Jahr ab Aufdeckung des Sachverhalts verjährt.

a)      Zwingender Charakter der einjährigen Frist

56      Die EZB trägt vor, die in Art. 8.3.2 der Dienstvorschriften vorgesehene Frist von einem Jahr sei nicht zwingend. Nach der Rechtsprechung führe die Überschreitung einer Frist nur dann zur Nichtigkeit einer Handlung, wenn sie unangemessen sei in dem Sinne, dass sie die Verteidigungsrechte beeinträchtige, was der Kläger nicht geltend mache.

57      Obwohl dieses Argument hilfsweise vorgebracht wird, ist es zuerst zu prüfen.

58      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine Frist die Aufgabe hat, die Rechtssicherheit zu gewährleisten, und die Verwaltung durch dieses grundlegende Erfordernis daran gehindert ist, unbegrenzt lange zuzuwarten, ehe sie von ihren Befugnissen Gebrauch macht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Juni 2004, François/Kommission, T‑307/01, EU:T:2004:180, Rn. 45 und 46, sowie vom 8. März 2012, Kerstens/Kommission, F‑12/10, EU:F:2012:29, Rn. 122 und 123). Bei Vorschriften, mit denen Fristen für die Einleitung eines Disziplinarverfahrens festgelegt werden, muss daher jede Erwägung im Zusammenhang mit einer angemessenen Frist außer Betracht bleiben (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteile vom 13. November 2014, Nencini/Parlament, C‑447/13 P, EU:C:2014:2372, Rn. 52 bis 54, und vom 18. Juni 2008, Hoechst/Kommission, T‑410/03, EU:T:2008:211, Rn. 224). Auch wenn anerkannt worden ist, dass disziplinarrechtliche Fristen keine Ausschlussfristen sind, ist dies nur für Fristen entschieden worden, die sich auf den Ablauf des Verfahrens beziehen (Urteil vom 17. März 2015, AX/EZB, F‑73/13, EU:F:2015:9, Rn. 174; vgl. auch – in Bezug auf die in Anhang IX Abschnitt 5 des Statuts der Beamten der Europäischen Union erwähnten Fristen – Urteil vom 8. März 2012, Kerstens/Kommission, F‑12/10, EU:F:2012:29, Rn. 124), und nicht für solche, die seine Einleitung betreffen.

59      Die EZB trägt daher zu Unrecht vor, die in Art. 8.3.2 der Dienstvorschriften vorgesehene Frist von einem Jahr sei nicht zwingend.

60      Abgesehen davon macht die EZB geltend, der Sachverhalt sei im vorliegenden Fall nicht verjährt.

b)      Frage der Verjährung des Sachverhalts

1)      Begriff „Aufdeckung des Sachverhalts“, ab der die einjährige Frist zu laufen beginnt

61      Die EZB weist darauf hin, dass die Frist von einem Jahr nach Art. 8.3.2 der Dienstvorschriften erst ab Aufdeckung des Sachverhalts zu laufen beginne. Daher ist zu ermitteln, was dieser Begriff umfasst.

62      Insoweit ergibt sich aus Art. 8.3.15 der Dienstvorschriften, dass der Disziplinarausschuss u. a. die Aufgabe hat, die Tatsachen so gründlich wie möglich zu ermitteln und festzustellen. Zudem kann der Ausschuss gemäß Art. 8.3.14 dieser Vorschriften eines seiner Mitglieder um die Vornahme zusätzlicher Untersuchungen bitten, wenn er der Ansicht ist, dass seine Informationen nicht ausreichen. Folglich hat das Disziplinarverfahren den Zweck, die Tatsachen abschließend zu ermitteln und nach Durchführung eines kontradiktorischen Verfahrens festzustellen.

63      Der Begriff der Aufdeckung des Sachverhalts kann somit keine genaue und eingehende Kenntnis aller Tatbestandsmerkmale einer disziplinarischen Verfehlung verlangen (vgl. entsprechend Urteil vom 8. November 2012, Evropaïki Dynamiki/Kommission, C‑469/11 P, EU:C:2012:705, Rn. 37). Außerdem setzt dieser Begriff nicht voraus, dass die Tatsachen abschließend ermittelt worden sind, da ihre Aufdeckung auf ihre Kenntnis und nicht auf ihren Nachweis verweist (vgl. entsprechend Beschluss vom 27. April 2017, CJ/ECDC, T‑696/16 REV und T‑697/16 REV, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:318, Rn. 39).

64      Daher ist, wie die Bank vorträgt, anzuerkennen, dass die Aufdeckung des Sachverhalts im Sinne von Art. 8.3.2 der Dienstvorschriften zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem die bekannten Tatsachen ausreichen, um eine Prima-facie-Beurteilung des Vorliegens einer Dienstpflichtverletzung zu ermöglichen, die wiederum von den potenziell verletzten Pflichten und deren jeweiligen Anforderungen abhängt. Der Kläger tritt dieser Auslegung im Übrigen nicht ernstlich entgegen.

65      Gleichwohl ist das Argument, mit dem die EZB geltend macht, dass aufgrund der schwerwiegenden Folgen, die mit dem Ablauf der Verjährungsfrist verbunden seien, deren Ausgangspunkt feststehen müsse, um Rechtssicherheit zu gewährleisten, von vornherein zurückzuweisen.

66      Insoweit ist zu bemerken, dass Verjährungsfristen die Rechtssicherheit von Personen gewährleisten sollen, die verfolgt werden könnten, und nicht die Rechtssicherheit der Verfolgungsbehörde (vgl. entsprechend Urteil vom 13. November 2014, Nencini/Parlament, C‑447/13 P, EU:C:2014:2372, Rn. 52). Zudem bringt der von der EZB in Art. 8.3.2 der Dienstvorschriften verwendete Begriff „Aufdeckung des Sachverhalts“ selbst ein gewisses Maß an Unsicherheit mit sich. Schließlich sei darauf hingewiesen, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit nicht voraussetzt, dass die Folgen einer Handlung nach den geltenden Bestimmungen mit absoluter Gewissheit vorhersehbar sind (vgl. entsprechend Urteil vom 16. September 2013, Hansa Metallwerke u. a./Kommission, T‑375/10, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:475, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). Es genügt, wenn sie mit einem angemessenen Maß an Gewissheit vorhergesehen werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Oktober 2015, AC‑Treuhand/Kommission, C‑194/14 P, EU:C:2015:717, Rn. 42), unbeschadet der Kontrolle durch den Unionsrichter.

67      Allerdings ist konkret zu prüfen, ob der Sachverhalt im vorliegenden Fall tatsächlich verjährt war.

2)      Mögliche Verjährung des Disziplinarverfahrens betreffend die Physiotherapierechnungen

68      Aus den Akten geht hervor, dass die Gesellschaft A der EZB am 13. und 18. Dezember 2013 Informationen über mögliche Betrugsdelikte des Klägers in Bezug auf die Erstattung der Physiotherapierechnungen übermittelt hat. Sie hat anschließend – am 20. Februar, 20. März, 27. Mai, 13. Juni, 15. Juli sowie 13. und 21. Oktober 2014 – zusätzliche Angaben gemacht.

69      Die EZB trägt vor, bei den oben in Rn. 68 erwähnten Informationen der Gesellschaft A könne es sich nicht um eine „Aufdeckung des Sachverhalts“ handeln, weil die Gesellschaft als Versicherer möglicherweise ein persönliches Interesse daran habe, den rechtsgrundlosen Charakter der zugunsten des Klägers vorgenommenen Erstattungen geltend zu machen, und ihre Informationen daher mit Vorsicht zu genießen seien.

70      Aus den Akten geht jedoch nicht hervor, dass die EZB die Informationen der Gesellschaft A mit der Vorsicht aufgenommen hätte, die den Verdacht eines Interessenkonflikts nahelegt.

71      Wie aus einem Bericht der Gesellschaft A vom 20. November 2014 hervorgeht, ist die EZB vielmehr bereits im Dezember 2013 davon ausgegangen, dass die von der Gesellschaft gelieferten Erstinformationen ausreichten, um ihre eigenen bei Betrugsverdacht vorgesehenen statutarischen Verfahren einzuleiten.

72      Zudem hat die EZB der Staatsanwaltschaft im Vertrauen auf die von der Gesellschaft A erhaltenen Informationen am 14. Mai 2014 den Vorfall betreffend die Erstattung der Physiotherapierechnungen gemeldet (vgl. oben Rn. 3).

73      Überdies hatte die EZB die Gesellschaft A ausweislich des Berichts vom 20. November 2014 am vorhergehenden 17. November gebeten, angesichts des beträchtlichen Umfangs potenziell betrügerischer Erstattungsanträge mit den Vorbereitungen für die Rückforderung der Beträge zur Deckung der Physiotherapie- und Arzneimittelkosten des Klägers zu beginnen.

74      Schließlich waren den von der Gesellschaft A übermittelten Informationen Zeugenaussagen und weitere Dokumente beigefügt, durch die sie untermauert und daher glaubhaft gemacht wurden.

75      Die EZB macht darüber hinaus geltend, die von der Gesellschaft A erhaltenen Informationen seien verglichen mit den Erstattungsanträgen, die sich über einen Zeitraum von rund fünf Jahren erstreckt hätten, bruchstückhaft.

76      In ihrem Bericht vom 13. Oktober 2014 hat die Gesellschaft A der EZB jedoch insgesamt 91 Physiotherapierechnungen über einen Gesamtbetrag von 56 041,09 Euro gemeldet, was nicht als bruchstückhafte Information angesehen werden kann, da dieser Betrag dem in der Entlassungsentscheidung angegebenen entspricht.

77      Außerdem hat der Bericht vom 13. Oktober 2014 die EZB zu der Entscheidung veranlasst, den Kläger ab dem 21. Oktober 2014 seines Dienstes zu entheben (vgl. oben Rn. 4).

78      Die EZB trägt zwar vor, dass nach Art. 46 der Beschäftigungsbedingungen „beim Vorwurf einer schweren Verfehlung“, die ein niedrigeres Beweisniveau erfordere als eine „Aufdeckung des Sachverhalts“ im Sinne von Art. 8.3.2 der Dienstvorschriften, eine Dienstenthebung beschlossen werden könne.

79      Allerdings hat das Direktorium seine Entscheidung, den Kläger des Dienstes zu entheben, mit dem Umstand begründet, dass es unter Berücksichtigung der von der Gesellschaft A gelieferten Informationen hinreichend genaue und einschlägige Anhaltspunkte gebe, die den Schluss zuließen, dass der Kläger die fraglichen Rechnungen entweder gefälscht habe oder sich zumindest ihrer Unrichtigkeit bewusst gewesen sei. Vor diesem Hintergrund hat das Direktorium die Auffassung vertreten, dass die besagten Tatsachen, sollten sie sich als wahr erweisen, eine schwerwiegende Verletzung der Pflichten des Betroffenen darstellen würden und insbesondere disziplinarrechtliche Folgemaßnahmen vorzubehalten seien.

80      Wenn die Bank die Entscheidung über die Dienstenthebung schon mit Informationen begründet hat, die sie selbst als hinreichend genau und einschlägig eingestuft hat, um das Vorliegen einer schweren Verfehlung anzunehmen, die Disziplinarmaßnahmen nach sich ziehen kann, reichten die von der Gesellschaft A gelieferten Beweismittel daher notwendigerweise aus, um eine „Aufdeckung des Sachverhalts“ im Sinne von Art. 8.3.2 der Dienstvorschriften wie oben in Rn. 64 dargelegt darzustellen.

81      Folglich ist, da die der EZB von der Gesellschaft A im Oktober 2014 gemeldeten Vorfälle ausreichten, um unter den Begriff einer Aufdeckung des Sachverhalts im Sinne von Art. 8.3.2 der Dienstvorschriften zu fallen, das übrige Vorbringen der EZB zurückzuweisen, wonach es vor der Einleitung des Disziplinarverfahrens vernünftig gewesen sei, abzuwarten, bis die deutschen Justizbehörden, insbesondere nach einer Durchsuchung, weitere Informationen zusammengetragen hatten bzw. die Möglichkeit bestanden habe, die Akten der Staatsanwaltschaft einzusehen, um darin nach zusätzlichen Informationen zu suchen. Selbst wenn unterstellt wird, dass die EZB der Ansicht war, für die Durchführung des Disziplinarverfahrens zusätzliche Informationen zu benötigen, hätte sie das Verfahren jedenfalls in Gang setzen und in Erwartung der Ergebnisse des Strafverfahrens aussetzen können. Auch wenn weder eine innerhalb der EZB geltende Vorschrift noch ein allgemeiner Grundsatz diese Aussetzung vorschrieben (vgl. unten Rn. 105 bis 107), hätte sie nämlich so handeln können, da die sich auf den Ablauf des Disziplinarverfahrens beziehenden Fristen keine Ausschlussfristen sind (vgl. oben Rn. 58), nichts die Annahme zulässt, dass die Zwecke des Ermittlungsverfahrens dem entgegenstanden, und die Entscheidung über die Dienstenthebung vom 21. Oktober 2014 im Gegenteil bereits einen Hinweis auf die Aussetzung enthielt.

82      Nach alledem ist zwischen der Aufdeckung des Sachverhalts in Bezug auf die Physiotherapiekosten im Oktober 2014 und der Entscheidung über die Einleitung des Disziplinarverfahrens vom 18. November 2016 mehr als ein Jahr vergangen.

83      Der zweite Klagegrund ist somit begründet, soweit er sich auf den Teil des Sachverhalts betreffend die Physiotherapierechnungen bezieht.

3)      Mögliche Verjährung des Disziplinarverfahrens betreffend die Quittungen über Arzneimittelkosten

84      Wie bereits dargelegt worden ist (vgl. oben Rn. 4 und 73), ist der Kläger am 21. Oktober 2014 seines Dienstes enthoben worden und die EZB hat die Gesellschaft A schon am darauffolgenden 17. November gebeten, mit den Vorbereitungen für die Rückforderung der Beträge zur Deckung der Gesundheitskosten des Klägers zu beginnen.

85      Aus den Akten geht ferner hervor, dass die Gesellschaft A der EZB am 21. November 2014 einen auf den Vortag datierten und dokumentierten Bericht übermittelt hat, mit dem mögliche Betrugsdelikte des Klägers nachgewiesen werden sollten (vgl. oben Rn. 71 und 73). Dieser Bericht betraf nicht nur die Physiotherapierechnungen, sondern auch die Erstattung handgeschriebener Apothekenquittungen. Ihm zufolge hatte der Eigentümer der fraglichen Apotheken erklärt, dass seine Quittungen gedruckt würden und solche mit handgeschriebenen Beträgen nicht von einer dieser Apotheken ausgestellt worden seien, dass die Beträge, die auf den ihm übermittelten Quittungsexemplaren dokumentiert seien, nicht den praktizierten Tarifen entsprächen, dass mehrere erwähnte Produkte nie bestellt worden seien oder nicht verkauft würden und dass die Stempel auf ihnen wahrscheinlich gefälscht worden seien. Die Gesellschaft A schätzte die aufgrund dieser Quittungen zurückzufordernden Beträge auf 88 289,65 Euro. Eine Liste der streitigen Quittungen war dem Bericht beigefügt.

86      Die Gesellschaft A hat ihren Bericht vom 20. November 2014 durch zwei E‑Mails vom 22. und 23. Januar 2015 ergänzt.

87      Schließlich ergibt sich aus dem Bericht Nr. 1, dass die von der Gesellschaft A übermittelten Informationen genügt haben, um die EZB dazu zu veranlassen, den deutschen Justizbehörden am 23. Januar 2015 die Vorfälle betreffend die Apothekenquittungen mitzuteilen.

88      In Anbetracht des Vorstehenden haben die der EZB zwischen dem 21. November 2014 und dem 23. Januar 2015 in Bezug auf den die Apothekenquittungen betreffenden Teil des Verfahrens zur Kenntnis gebrachten Tatsachen offenbar ausgereicht, um ihr eine Prima-facie-Beurteilung des Vorliegens einer Dienstpflichtverletzung des Klägers zu ermöglichen.

89      Aus diesem und den bereits oben in Rn. 66 dargelegten Gründen hat die einjährige Verjährungsfrist in Bezug auf die Apothekenquittungen spätestens am 23. Januar 2015 zu laufen begonnen und nicht, wie die EZB geltend macht, zu dem Zeitpunkt, zu dem diese Zugang zur Strafakte der Staatsanwaltschaft hatte – dem darauffolgenden 20. November. Demnach war die einjährige Verjährungsfrist am 18. November 2016 – dem Zeitpunkt der Einleitung des Disziplinarverfahrens – in Bezug auf die Apothekenquittungen bereits abgelaufen.

90      Der zweite Klagegrund ist somit in Bezug auf diesen Teil des Verfahrens begründet.

4)      Mögliche Verjährung des Disziplinarverfahrens betreffend die Rechnungen für Nachhilfeunterricht

91      Der Chief Services Officer hat am 19. September 2017 beschlossen, das Mandat des Disziplinarausschusses auf die Vorfälle im Zusammenhang mit den Rechnungen für Nachhilfeunterricht auszuweiten und daher das Disziplinarverfahren in Bezug auf sie zu diesem Zeitpunkt einzuleiten.

92      Der Kläger trägt vor, der Gesichtspunkt, der zur Eröffnung des vorliegenden Verfahrensteils geführt habe, liege in der Tatsache begründet, dass die Rechnungen der Nachhilfelehrerin C eine Steuernummer trügen, die mit der Steuernummer der vermeintlichen Physiotherapeutin B nahezu identisch sei. Die EZB habe die dem Disziplinarverfahren betreffend die Physiotherapierechnungen zugrunde liegenden Tatsachen jedoch seit der Übermittlung der Berichte der Gesellschaft A gekannt; zudem befänden sich die Rechnungen von C in seiner Akte und hätten der Bank mehr als ein Jahr vor der Entscheidung über die Ausweitung des Mandats des Disziplinarausschusses zur Verfügung gestanden. Demnach könne sich die Aufdeckung des Sachverhals betreffend die Rechnungen für Nachhilfeunterricht nicht aus den Ermittlungen ergeben, die der Disziplinarausschuss 2017 im Rahmen der Verfahrensteile betreffend die Physiotherapierechnungen und die Apothekenquittungen durchgeführt habe.

93      Zwar war der Umstand, der die Aufmerksamkeit der EZB in Bezug auf die Rechnungen für Nachhilfeunterricht erregte, nämlich die Beinahe‑Identität der Steuernummern von B und C, der Akte des Klägers zu entnehmen. Auch wenn der Anwalt des Klägers in Beantwortung von Fragen nach der tatsächlichen Erbringung der Leistungen der vermeintlichen Physiotherapeutin B am 3. Februar 2016 auf den Umstand hingewiesen hat, dass der Kläger deren Dienstleistungen in bar bezahlte, hat er trotz einer ausdrücklichen Aufforderung in diesem Sinne seinerzeit dafür jedoch keinerlei Nachweis erbracht. Erst am darauffolgenden 29. September hat der Kläger der EZB Auszüge seiner Bankkonten übermittelt, und erst im Anhang einer für die Anhörung durch den Disziplinarausschuss am 13. Februar 2017 erstellten schriftlichen Zusammenfassung der mündlichen Ausführungen hat er eine Tabelle mit den Zeiten und Orten seiner Geldabhebungen vorgelegt. Deshalb hatte die EZB keinen Grund, sich für die Rechnungen über Nachhilfeunterricht in der Akte des Klägers zu interessieren und zu überprüfen, ob sie seine Behauptungen untermauerten, bevor nicht der Kläger betonte, in welcher Art und Weise er B bezahlt hatte, und Schriftstücke zur Stützung seines Vorbringens einreichte. Erst im Laufe dieser eingehenden Prüfung im Rahmen des sich auf die Physiotherapierechnungen beziehenden Teils hatte der Disziplinarausschuss Anlass, die genannten Rechnungen mit denen für Nachhilfeunterricht zu vergleichen. Das gilt umso mehr, als nur eine wirkliche Notwendigkeit die Prüfung sensibler Daten in der Akte des Klägers wie beispielsweise Daten im Zusammenhang mit der Unterstützung seiner Kinder, die anerkanntermaßen medizinische Probleme und sonderpädagogischen Förderbedarf hatten, rechtfertigen konnte.

94      Aus den Akten geht ganz konkret hervor, dass der Disziplinarausschuss die Ermittlungen, aufgrund derer er auf die von C ausgestellten Rechnungen für Nachhilfeunterricht aufmerksam geworden ist, im März 2017 durchgeführt und – nach einigen unverzüglich vorgenommenen Überprüfungen bei der Steuer- und der Gemeindeverwaltung Frankfurt am Main – am darauffolgenden 24. April um die Ausweitung seines Mandats auf die Vorfälle im Zusammenhang mit diesen Rechnungen ersucht hat.

95      Demnach weist der Kläger nicht nach, dass die EZB die Tatsachen im Zusammenhang mit den Rechnungen für Nachhilfeunterricht mehr als ein Jahr vor der Einleitung des sie betreffenden Teils des Disziplinarverfahrens am 19. September 2017 festgestellt hat.

96      Folglich ist der zweite Klagegrund in Bezug auf den Teil des Sachverhalts, der sich auf die Rechnungen für Nachhilfeunterricht bezieht, unbegründet.

c)      Ergebnis zum zweiten Klagegrund

97      In Anbetracht des Vorstehenden ist der zweite Klagegrund begründet, soweit der Sachverhalt im Zusammenhang mit den Physiotherapierechnungen und den Apothekenquittungen zum Zeitpunkt der Einleitung des ihn betreffenden Disziplinarverfahrens verjährt war. In Bezug auf den Teil des Sachverhalts, der sich auf die Rechnungen für Nachhilfeunterricht bezieht, ist der zweite Klagegrund jedoch unbegründet.

98      Was die Frage angeht, inwiefern sich die Verletzung der Verjährungsfrist in Bezug auf die oben in Rn. 97 erwähnten ersten beiden Teile auf die Rechtmäßigkeit der Entlassungsentscheidung auswirkt, so ist zu beachten, dass jeder der drei Verfahrensteile Verfehlungen vermögensrechtlicher Art betraf, die zumindest in einem anhaltenden Mangel an Wachsamkeit seitens des Klägers hinsichtlich der Mindestanforderungen an die Vorlage hinreichender Urkundenbeweise für Dienstleistungen und Transaktionen bestanden, deren Kosten – ganz oder teilweise – zu Lasten des von der EZB zugunsten ihres Personals bereitgestellten Systems der sozialen Sicherheit gingen. Zudem hat die EZB diese Verfehlungen insbesondere in den Kontext ihrer finanziellen Zuständigkeiten eingebettet und daraus abgeleitet, dass der Kläger nicht nur gegen seine Loyalitätspflicht verstoßen, sondern auch ihre gemeinsamen Werte verletzt und daher das Ansehen der Bank gefährdet habe.

99      Unter diesen Umständen durfte die EZB in Rn. 37 der Entlassungsentscheidung die Ansicht vertreten, dass jeder der drei Verfahrensteile – auch für sich genommen – das dem Verhältnis zu ihrem Personal zugrunde liegende Vertrauen unwiderruflich erschüttert habe.

100    Folglich genügt die teilweise Begründetheit des zweiten Klagegrundes nicht, um die Aufhebung der Entlassungsentscheidung zu rechtfertigen, da deren Aufrechterhaltung von vornherein durch den dritten Verfahrensteil gerechtfertigt bleibt.

101    Demnach ist die Prüfung der übrigen Klagegründe fortzusetzen und auf den Teil zu beschränken, der sich auf die Rechnungen für Nachhilfeunterricht bezieht.

4.      Dritter und siebter Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz, dass das Strafverfahren das Disziplinarverfahren hemmt, Verstoß gegen den Grundsatz der guten Verwaltung und Verletzung der Fürsorgepflicht einerseits bzw. Verletzung der Unschuldsvermutung und Verstoß gegen Art. 48 der Charta andererseits

a)      Verstoß gegen den Grundsatz, dass das Strafverfahren das Disziplinarverfahren hemmt

102    Der Kläger trägt vor, der Grundsatz, dass das Strafverfahren das Disziplinarverfahren hemmt, sei ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der auch ohne ausdrückliche Bestimmung in diesem Sinne Anwendung finde.

103    Dieser Grundsatz ist in Anhang IX Art. 25 des Statuts der Beamten der Europäischen Union verankert. Allerdings ist, worauf die EZB hinweist und wie das Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union in seinem Urteil vom 17. März 2015, AX/EZB (F‑73/13, EU:F:2015:9, Rn. 125), bereits festgestellt hat, eine ähnliche Bestimmung, die in den Beschäftigungsbedingungen enthalten war, mit Wirkung vom 1. Januar 2009 gestrichen worden.

104    Darüber hinaus bestimmt Art. 9 Buchst. c der Beschäftigungsbedingungen zwar, dass „[d]ie Auslegung der in den vorliegenden Beschäftigungsbedingungen geregelten Rechte und Pflichten … unter angemessener Berücksichtigung der maßgebenden Grundsätze der Verordnungen, Regelungen und Rechtsprechung, die für die Bediensteten der [Unions]organe gelten[, erfolgt]“. Die EZB trägt jedoch zu Recht vor, dass diese Bestimmung bezweckt, etwaige Lücken zu schließen, und nicht herangezogen werden kann, um eine Regelung wiedereinzuführen, die sie aufgehoben hat.

105    Überdies stuft die auf Anhang IX Art. 25 des Statuts der Beamten der Europäischen Union gestützte Rechtsprechung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Juni 2015, Dybman/EAD, F‑129/14, EU:F:2015:71, Rn. 35 und 37) die Maxime, dass das Strafverfahren das Disziplinarverfahren hemmt, zwar als Grundsatz ein, schreibt ihr aber noch lange nicht den Rang eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes zu. Auch der Kläger untermauert seinen Standpunkt nicht, wonach es sich um einen solchen handle.

106    Folglich gilt der Grundsatz, dass das Strafverfahren das Disziplinarverfahren hemmt, nicht für die EZB.

107    Das Vorbringen des Klägers, wonach gegen diesen Grundsatz insoweit verstoßen worden sei, als das Disziplinarverfahren betreffend die Rechnungen für Nachhilfeunterricht eingeleitet worden sei, obwohl das Strafverfahren noch im Gang gewesen sei, kann daher keinen Erfolg haben. Ebenso wenig kann der Kläger, in Ermangelung einer ausdrücklichen Bestimmung, die diesen Grundsatz auf die EZB anwendbar macht, dieser zum Vorwurf machen, dass die Entlassungsentscheidung vor dem Abschluss des sich auf die genannten Rechnungen beziehenden strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens getroffen worden sei.

b)      Verletzung des Rechts auf die Unschuldsvermutung und Verstoß gegen Art. 48 der Charta

108    Der Kläger macht geltend, das nunmehr durch Art. 48 der Charta gewährleistete Recht auf die Unschuldsvermutung setze voraus, dass eine Person, die einer Straftat angeklagt sei, als unschuldig gelte, solange ihre Schuld nicht rechtmäßig über jeden vernünftigen Zweifel hinaus in einem Gerichtsverfahren bewiesen worden sei. Er trägt u. a. vor, die EZB habe dieses Recht verletzt, als sie das gegen ihn eingeleitete Strafverfahren sowie dessen Ergebnis außer Acht gelassen und sich auf Tatsachen gestützt habe, die von den deutschen Justizbehörden nicht festgestellt worden seien.

109    Im vorliegenden Fall liegt die Entscheidung der Staatsanwaltschaft vom 30. April 2019, den sich auf die Rechnungen für Nachhilfeunterricht beziehenden Teil des Verfahrens gemäß § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung einzustellen, zeitlich vor der Entlassungsentscheidung, die am darauffolgenden 7. Mai getroffen worden ist. Es wird jedoch nicht bestritten, dass die EZB zu diesem Zeitpunkt keine Kenntnis davon hatte.

110    Da die Rechtmäßigkeit eines Rechtsakts anhand der tatsächlichen und rechtlichen Umstände zu beurteilen ist, über die die Verwaltung bei seinem Erlass verfügte (vgl. Urteil vom 12. Februar 2014, Beco/Kommission, T‑81/12, EU:T:2014:71, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung), kann sich der Kläger somit nicht auf diese Einstellung berufen, um die Gültigkeit der Entlassungsentscheidung mit der Begründung anzufechten, dass die EZB den günstigen Ausgang des Strafverfahrens verkannt habe.

111    Dagegen stellt sich die Frage, ob das Recht des Klägers, für unschuldig zu gelten, die Bank daran hinderte, ihre Entlassungsentscheidung auf den die Rechnungen für Nachhilfeunterricht betreffenden Verfahrensteil zu stützen, bevor sie die Schussfolgerungen der Justizbehörden zur Kenntnis genommen hatte.

112    Nach der Rechtsprechung gilt die Unschuldsvermutung für das gesamte Strafverfahren, da sie u. a. jedermann gewährleisten soll, nicht als Straftäter bezeichnet oder behandelt zu werden, bevor nicht seine Schuld rechtsförmlich nachgewiesen ist (Urteile vom 8. Juli 2008, Franchet und Byk/Kommission, T‑48/05, EU:T:2008:257, Rn. 210, sowie vom 12. Juli 2012, Kommission/Nanopoulos, T‑308/10 P, EU:T:2012:370, Rn. 91).

113    Darüber hinaus bestimmen Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta, dass die Erläuterungen zur Charta (ABl. 2007, C 303, S. 17) bei deren Auslegung zu berücksichtigen sind (Urteil vom 20. November 2017, Petrov u. a./Parlament, T‑452/15, EU:T:2017:822, Rn. 38). Nach diesen Erläuterungen hat Art. 48 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite wie Art. 6 Abs. 2 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK).

114    Unter diesen Umständen ist Art. 6 Abs. 2 EMRK bei der Auslegung von Art. 48 der Charta als Mindestschutzstandard zu berücksichtigen (Urteil vom 5. September 2019, AH u. a. [Unschuldsvermutung], C‑377/18, EU:C:2019:670, Rn. 41). Folglich ist gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) heranzuziehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. Februar 2013, Réexamen Arango Jaramillo u. a./EIB, C‑334/12 RX‑II, EU:C:2013:134, Rn. 43, vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 47, sowie vom 3. September 2015, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Kommission, C‑398/13 P, EU:C:2015:535, Rn. 61).

115    Nach der Rechtsprechung des EGMR schützt Art. 6 Abs. 2 EMRK u. a. das Recht verdächtiger Personen auf die Unschuldsvermutung, sobald ein Ermittlungsverfahren im Sinne des deutschen Rechts gegen sie eingeleitet worden ist (vgl. in diesem Sinne EGMR, 27. Februar 2014, Karaman/Deutschland, CE:ECHR:2014:0227JUD001710310, § 43).

116    Demnach kann sich der Kläger auf das Recht auf die Unschuldsvermutung berufen, gerade weil gegen ihn auf Antrag der Bank selbst ein Ermittlungsverfahren im Sinne des deutschen Rechts über die Frage der Rechnungen für Nachhilfeunterricht geführt wurde, dessen Ergebnis noch nicht bekannt war, als die EZB die Entlassungsentscheidung getroffen hat.

117    Daher ist erstens darauf hinzuweisen, dass sich die Unschuldsvermutung nicht auf eine Verfahrensgarantie in Strafsachen beschränkt, sondern ihre Tragweite viel größer ist, zweitens, dass eine Beeinträchtigung der Unschuldsvermutung von jedem beliebigen Träger öffentlicher Gewalt ausgehen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. Juli 2008, Franchet und Byk/Kommission, T‑48/05, EU:T:2008:257, Rn. 211, sowie vom 12. Juli 2012, Kommission/Nanopoulos, T‑308/10 P, EU:T:2012:370, Rn. 92), und drittens, dass sich diese Beeinträchtigung aus Erklärungen oder Entscheidungen ergeben kann, die das Gefühl vermitteln, dass sich der Betreffende einer Straftat schuldig gemacht habe, die Öffentlichkeit dazu verleiten, ihn für schuldig zu halten, oder der strafrechtlichen Würdigung des Sachverhalts vorgreifen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Juli 2012, Kommission/Nanopoulos, T‑308/10 P, EU:T:2012:370, Rn. 91).

118    Die Rechtsprechung hat in diesem Zusammenhang die Bedeutung betont, die der Wortwahl der Träger hoheitlicher Gewalt zukommt. Dabei sind der wirkliche Sinn der betreffenden Erklärungen und nicht ihre sprachliche Form sowie die besonderen Umstände zu berücksichtigen, unter denen die Erklärungen formuliert worden sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. September 2019, AH u. a. [Unschuldsvermutung], C‑377/18, EU:C:2019:670, Rn. 43, sowie vom 8. Juli 2008, Franchet und Byk/Kommission, T‑48/05, EU:T:2008:257, Rn. 211 und die dort angeführte Rechtsprechung; EGMR, 28. Mai 2020, Farzaliyev/Aserbaidschan, CE:ECHR:2020:0528JUD002962007, § 64).

119    Im vorliegenden Fall liefen gegen den Kläger Ermittlungen wegen Betrugs im Sinne von § 263 Abs. 1 des deutschen Strafgesetzbuchs im Hinblick auf die Rechnungen für Nachhilfeunterricht. In seiner Entlassungsentscheidung hat das Direktorium dem Kläger zur Last gelegt, auf die Ähnlichkeiten zwischen den Steuernummern und Anschriften auf den Physiotherapierechnungen von B und den von C für Nachhilfeunterricht ausgestellten Rechnungen nicht hingewiesen zu haben, obwohl sich aus diesen Ähnlichkeiten hätte ableiten lassen, dass die Rechnungen unrichtig seien. Der Anspruch auf Erstattung von Ausgaben für Nachhilfeunterricht entbinde die Mitglieder des Personals nicht davon, wachsam zu sein und sich zu vergewissern, dass die Dokumentation im Zusammenhang mit den fraglichen Dienstleistungen angemessen sei. Bei Vorliegen objektiver Umstände, die Zweifel am Erstattungsanspruch aufkommen ließen, müsse das fragliche Mitglied des Personals deshalb zumindest die Verwaltung darüber informieren. Dementsprechend ist das Direktorium zu dem Schluss gelangt, dass sich der Kläger schuldig gemacht habe, erstens seine Pflicht zur Loyalität gegenüber dem Organ verletzt zu haben, zweitens seiner Verpflichtung zur Achtung der gemeinsamen Werte der EZB sowie zum Führen seines Berufs- und Privatlebens im Einklang mit deren Status nicht nachgekommen zu sein, drittens kontinuierlich gegen seine Pflicht verstoßen zu haben, die finanziellen Interessen des Organs zu wahren, und viertens das Ansehen der Bank gefährdet zu haben.

120    Aus der Entlassungsentscheidung geht demnach insgesamt hervor, dass die EZB die Auffassung vertreten hat, die vom Kläger vorgelegten Rechnungen seien im Hinblick auf die Erstattung der Kosten für Nachhilfeunterricht ungeeignet, ohne dem Kläger ausdrücklich die Verantwortung dafür zuzuschreiben, dass sie sachlich unrichtig waren. Die Bank hat sich in ihrer Entlassungsentscheidung im Wesentlichen darauf beschränkt, eine Nachlässigkeit zu ahnden, die ihr bei einem Bediensteten eines Finanzinstituts besonders gravierend erschien. Diese Entscheidung enthält daher keinerlei Feststellung der Schuld des Klägers im Hinblick auf das Betrugsdelikt, das Gegenstand der strafrechtlichen Ermittlungen war (vgl. in diesem Sinne EGMR, 25. August 1987, Englert/Deutschland, CE:ECHR:1987:0825JUD001028283, § 39), und ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Verwaltung bei der rechtlichen Einordnung eines disziplinarischen Fehlverhaltens im Verhältnis zur Strafverfolgung wegen derselbenTtaten autonom agiert.

121    Folglich hat die EZB das Recht des Klägers auf die Unschuldsvermutung nicht verletzt, als sie die Entlassungsentscheidung, soweit sich diese auf den Teil des Verfahrens bezieht, der die Rechnungen für Nachhilfeunterricht zum Inhalt hat, vor Kenntnisnahme des Ergebnisses des den Kläger betreffenden Gerichtsverfahrens getroffen hat.

122    Die Ablehnung der Wiederaufnahme des Verfahrens ist wiederum erfolgt, nachdem die EZB über die Einstellung der gegen den Kläger gerichteten Strafverfolgung wegen der Rechnungen für Nachhilfeunterricht gemäß § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung, d. h., weil kein hinreichender Tatverdacht bestand, um Anklage zu erheben, unterrichtet worden war.

123    Nach der Rechtsprechung des EGMR soll die Unschuldsvermutung u. a. verhindern, dass Einzelpersonen, deren strafrechtliche Verfolgung eingestellt worden ist, von den Trägern öffentlicher Gewalt so behandelt werden, als hätten sie die Straftat, die ihnen zur Last gelegt worden war, tatsächlich begangen (EGMR, 28. Juni 2018, G.I.E.M. S.R.L. u. a./Italien, CE:ECHR:2018:0628JUD000182806, § 314). Insoweit darf nicht zwischen einem Freispruch aus Mangel an Beweisen und einem Freispruch unterschieden werden, der sich aus der förmlichen Feststellung der Unschuld des Angeklagten ergibt (EGMR, 27. September 2007, Vassilios Stavropoulos/Griechenland, CE:ECHR:2007:0927JUD003552204, § 39, und 23. Oktober 2014, Melo Tadeu/Portugal, CE:ECHR:2014:1023JUD002778510, § 60).

124    Im vorliegenden Fall hat das Direktorium für seine Weigerung, das Verfahren wieder aufzunehmen, nachdem es von der Einstellung der Ermittlungen über die Rechnungen für Nachhilfeunterricht erfahren hatte, zwei Gründe vorgebracht: Erstens die jeweils unterschiedlichen Aufgaben der Staatsanwaltschaft und der EZB, wobei die eine zu ermitteln habe, ob die behaupteten Tatsachen eine Straftat darstellten, und die andere anhand eines weniger anspruchsvollen Beweisniveaus prüfen müsse, ob sie den Tatbestand eines Disziplinarvergehens verwirklichten; zweitens die Tatsache, dass es, wie die Staatsanwaltschaft bestätigt hatte, keine amtliche Eintragung der Nachhilfelehrerin C gab und die Steuernummer auf ihren Rechnungen unrichtig war.

125    Diese Gründe enthalten keinerlei strafrechtliche Schuldfeststellung zu Lasten des Klägers. Deshalb ist sein Recht auf die Unschuldsvermutung durch die Ablehnung der Wiederaufnahme des Verfahrens nicht verletzt worden.

126    Der Kläger trägt jedoch weiter vor, die EZB habe dadurch sein Recht auf die Unschuldsvermutung verletzt, dass sie seine Schuld um jeden Preis habe feststellen wollen.

127    In diesem Zusammenhang ist bereits entschieden worden, dass eine Verletzung des Rechts auf die Unschuldsvermutung festgestellt werden kann, wenn anhand von Tatsachen bewiesen werden kann, dass die AIPN von Beginn des Disziplinarverfahrens an beschlossen hatte, in jedem Fall eine Disziplinarstrafe gegen den Kläger zu verhängen, unabhängig von seinem Vorbringen und dem Ausgang des laufenden Strafverfahrens (Urteile vom 13. März 2003, Pessoa e Costa/Kommission, T‑166/02, EU:T:2003:73, Rn. 56, vom 19. Oktober 2006, Pessoa e Costa/Kommission, T‑503/04, EU:T:2006:331, Rn. 118, und vom 17. März 2015, AX/EZB, F‑73/13, EU:F:2015:9, Rn. 162).

128    Der Kläger leitet eine Befangenheit der EZB zunächst daraus ab, dass diese das gegen ihn eingeleitete Strafverfahren und dessen Ausgang außer Acht gelassen habe. Dieser Vorwurf ist jedoch soeben geprüft und zurückgewiesen worden. Sodann leitet er die Befangenheit aus der Tatsache ab, dass die Bank das Mandat des Disziplinarausschusses nach einer rechtswidrigen Untersuchung durch eines seiner Mitglieder ausgeweitet haben soll, sowie daraus, dass sie seine im Laufe des Disziplinarverfahrens vorgelegte Stellungnahmen nicht berücksichtigt habe. Diese Rügen überschneiden sich jedoch mit dem vierten Klagegrund bzw. dem fünften und dem neunten Klagegrund. Sie sollen daher im Rahmen dieser Klagegründe untersucht werden.

c)      Verstoß gegen den Grundsatz der guten Verwaltung und Verletzung der Fürsorgepflicht

129    Der Kläger trägt vor, die EZB habe den Grundsatz der guten Verwaltung und die Fürsorgepflicht verletzt, die die Organe verpflichteten, sorgfältig und unvoreingenommen alle relevanten Umstände des konkreten Falls zu prüfen, indem sie das Disziplinarverfahren betreffend die Rechnungen für Nachhilfeunterricht eingeleitet habe, obwohl das Ermittlungsverfahren noch im Gang gewesen sei, und dessen Ergebnis außer Acht gelassen habe.

130    Der Kläger bringt jedoch nichts vor, was die Annahme zuließe, dass dem Grundsatz der guten Verwaltung und der Fürsorgepflicht im vorliegenden Fall eine größere Tragweite als dem Recht auf die Unschuldsvermutung zuerkannt werden müssten. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass die EZB ihre Pflicht verletzt hätte, sorgfältig und unvoreingenommen alle relevanten Umstände des konkreten Falls zu prüfen, da die Staatsanwaltschaft in ihrem Schreiben vom 30. April 2019 die Umstände bestätigt hat, mit der die Bank ihre Entlassungsentscheidung begründet hatte, nämlich dass es keine amtliche Eintragung von C gab und die Steuernummer auf ihren Rechnungen unrichtig war.

131    Überdies hat der Kläger alle anderen für Disziplinarverfahren geltenden Garantien in Anspruch genommen, wie sich aus der Antwort auf seine diesbezüglichen Rügen ergibt (vgl. die nachstehende Prüfung des vierten und des fünften Klagegrundes). Er kann somit nicht geltend machen, die EZB habe die Fürsorgepflicht verletzt und gegen den Grundsatz der guten Verwaltung verstoßen.

d)      Ergebnis zum dritten und zum siebten Klagegrund

132    In Anbetracht des Vorstehenden sind der dritte und der siebte Klagegrund unbegründet.

5.      Vierter Klagegrund: Verstoß gegen Art. 8.3.7 der Dienstvorschriften und den in Art. 41 der Charta niedergelegten Grundsatz der Unparteilichkeit

133    Der Kläger trägt vor, die Mitglieder des Disziplinarausschusses hätten ihre Rolle innerhalb dieses Ausschusses mit ihren anderen Aufgaben verwechselt, indem sie aktiv nach neuen ihn belastenden Tatsachen gesucht hätten. In diesem Zusammenhang erhebt er vier Rügen und vertritt daher die Auffassung, der Disziplinarausschuss habe gegen Art. 8.3.7 der Dienstvorschriften verstoßen und seine Pflicht zur Unparteilichkeit verletzt.

134    Art. 8.3.7 der Dienstvorschriften bestimmt, dass die Mitglieder des Disziplinarausschusses „in persönlicher Eigenschaft [handeln] und … ihre Pflichten in völliger Unabhängigkeit wahrnehmen“ müssen.

a)      Erste Rüge des Klägers

135    Der Kläger macht geltend, der Disziplinarausschuss habe seine Personalakte und insbesondere sämtliche Erstattungen, die er erhalten habe, auf ihre Ordnungsgemäßheit hin geprüft, und diese Prüfung habe zu der Entscheidung des Chief Services Officer vom 19. September 2017 geführt, mit der das Mandat des Ausschusses auf die Rechnungen für Nachhilfeunterricht ausgeweitet worden sei. Die besagte Prüfung überschreite die Grenzen des Mandats, das dem Disziplinarausschuss ursprünglich erteilt worden sei. Der Bericht Nr. 1 und die Entscheidung des Chief Services Officer vom 18. November 2016 hätten nämlich den Umfang des Mandats umrissen und enthielten keinerlei Hinweis auf die Rechnungen für Nachhilfeunterricht.

136    Die EZB macht gleichwohl zu Recht geltend, dass ein wesentlicher Teil des Auftrags eines Disziplinarausschusses innerhalb der Grenzen seines Mandats darin besteht, den Sachverhalt so gründlich wie möglich zu ermitteln und festzustellen. Gemäß Art. 8.3.15 der Dienstvorschriften hat dieser Ausschuss die Aufgabe, eine Stellungnahme u. a. zu den Tatsachen abzugeben.

137    Die EZB trägt im Einzelnen vor, der Disziplinarausschuss könne die Glaubhaftigkeit der vom Kläger bei seiner Anhörung vom 13. Februar 2017 getätigten Aussagen überprüfen und seine Akte einsehen, um zu untersuchen, ob und wie die von ihm angeblich geleisteten Zahlungen für Physiotherapiebehandlungen und pharmazeutische Erzeugnisse mit anderen von ihm – in bar oder per Kreditkarte – vorgenommenen Zahlungen in Einklang gebracht werden könnten. Bei dieser Gelegenheit sei der Disziplinarausschuss rechtmäßig auf die von C ausgestellten Rechnungen für Nachhilfeunterricht gestoßen.

138    Der Kläger weist jedoch darauf hin, dass der Disziplinarausschuss nach Art. 8.3.14 der Dienstvorschriften nur dann ergänzende Untersuchungen durchführen könne, wenn sich die ihm vorliegenden Informationen als unzureichend erwiesen. Er habe aber detaillierte Informationen und zahlreiche Beweise dafür geliefert, dass er seine Zahlungen für gewöhnlich sowohl per Banküberweisung als auch in bar leiste, so dass der Disziplinarausschuss keinen triftigen Grund gehabt habe, seine Akte genauer zu prüfen.

139    In diesem Zusammenhang gilt im Unionsrecht der Grundsatz der freien Beweiswürdigung, aber auch, dass die Organe Beweise, die offensichtlich unter Verletzung der für ihre Feststellung vorgesehenen wesentlichen Formvorschriften, mit denen die Grundrechte der Beteiligten geschützt werden sollen, erlangt worden sind, nicht wissentlich verwenden dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Juni 2015, FSL u. a./Kommission, T‑655/11, EU:T:2015:383, Rn. 42 und 44, sowie vom 8. September 2016, Goldfish u. a./Kommission, T‑54/14, EU:T:2016:455, Rn. 42 und 47).

140    Daher wäre nur dann auf die Rechtswidrigkeit der Beweise, die dem Verfahrensteil betreffend die Rechnungen für Nachhilfeunterricht zugrunde liegen, und damit auf die Fehlerhaftigkeit des sich daraus ergebenden Verfahrens zu schließen, wenn die Überprüfungen des Disziplinarausschusses offensichtlich unter Verstoß gegen die für seine Untersuchungsbefugnisse geltenden Regeln durchgeführt worden wären.

141    Im vorliegenden Fall bestanden die Informationen, die dem Kläger zufolge ausreichten, um den Bericht Nr. 1 abzuschließen, aus einer von ihm erstellten Liste mit Bargeldabhebungen und ca. 109 Seiten Kontoauszügen zu deren Nachweis. Sie bestanden darüber hinaus aus Argumentationen seines Anwalts und einem Protokoll über seine eigene Anhörung vom 13. Februar 2017. Bei dieser Anhörung hatte der Kläger behauptet, seine Physiotherapierechnungen mit den Abhebungen zu bezahlen. Mit der Durchführung entsprechender Untersuchungen hat der Disziplinarausschuss jedoch nicht unangemessen gehandelt, als er es für notwendig hielt, die Richtigkeit dieser Behauptung zu überprüfen und in den der EZB vorliegenden Daten danach zu suchen, ob der Kläger tatsächlich die Gewohnheit hatte, die Rechnungen, deren Erstattung er beantragte, in bar zu bezahlen. Das gilt umso mehr, als der frühere Anwalt des Klägers bei dessen Anhörung vom 3. Februar 2016 selbst daran gezweifelt hatte, dass jeder Zahlung an B eine Abhebung entsprach.

142    Der Kläger macht weiter geltend, die Recherche, die der Disziplinarausschuss in seiner Personalakte vorgenommen habe, sei grundlos erfolgt, da die Akte keine Zahlungsbelege enthalte (vgl. oben Rn. 128).

143    Die von der EZB angelegte Akte des Klägers war jedoch nicht auf dessen Einstellung und Laufbahnentwicklung beschränkt. Da er erhöhtes Kindergeld nach Art. 3.8.4 der Dienstvorschriften erhalten hatte, ihm daher die Rechnungen für Nachhilfeunterricht erstattet worden waren und Art. 3.3.1 derselben Vorschriften bestimmt, dass die Beteiligten die Beweise für ihren Leistungsanspruch vor der Zahlung durch die EZB beibringen, standen dieser die Rechnungen der Nachhilfelehrerin C zur Verfügung. Im Übrigen geht aus den dem Gericht vorgelegten Akten hervor, dass die Rechnungen bei der Abteilung „Einstellung und Ausgleichsleistungen“ der Bank eingegangen waren.

144    Daher durfte der Disziplinarausschuss die vom Kläger gelieferten Informationen mit den übrigen Auslagen vergleichen, deren Erstattung dieser beantragt hatte und deren Belege die EZB aufbewahrte, um der Frage nachzugehen, ob die Rechnungen der vermeintlichen Physiotherapeutin B den tatsächlich entstandenen Kosten entsprachen.

145    Schließlich schrieb Art. 8.3.15 der Dienstvorschriften dem Disziplinarausschuss vor, „gegebenenfalls eine [angemessene] Disziplinarstrafe“ vorzuschlagen. Er verpflichtete ihn daher dazu, etwaige mildernde Umstände wie beispielsweise die Art und Weise der Dienstführung des Klägers, die möglicherweise aus seiner Akte hervorging, zu ermitteln. Der Disziplinarausschuss hätte in seiner Stellungnahme nicht feststellen können, dass der Sachverhalt die erste Verfehlung des Klägers darstelle, wenn er nicht berechtigt gewesen wäre, dessen Akte einzusehen.

146    Unter diesen Umständen ist nicht erwiesen, dass die Recherche, die der Disziplinarausschuss in der Akte des Klägers vorgenommen hat, parteiisch war.

b)      Zweite Rüge des Klägers

147    Der Kläger führt aus, dass ein zur GD „Rechtsfragen“ gehörendes Mitglied des Personals, wie aus dem Bericht Nr. 2 hervorgehe, die deutschen Steuerbehörden kontaktiert habe, um Informationen über die Rechnungen für Nachhilfeunterricht zu erhalten. Er macht geltend, dass diese Person ein Mitglied des Disziplinarausschusses sein oder auf dessen Anweisung gehandelt haben könne.

148    Der Kläger erläutert jedoch nicht, inwiefern solche Kontakte gegen den Grundsatz der Unparteilichkeit und Art. 8.3.7 der Dienstvorschriften verstoßen sollen. Im Übrigen ermächtigt Art. 8.3.14 dieser Vorschriften den Disziplinarausschuss dazu, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um seine Informationen zu vervollständigen.

149    Die zweite Rüge des Klägers ist somit nicht erwiesen.

c)      Dritte und vierte Rüge des Klägers

150    Der Kläger macht geltend, die GD „Personal, Budget und Organisation“ habe den Bericht Nr. 2, der sich auf die Rechnungen für Nachhilfeunterricht beziehe, erstellt, obwohl ihr Generaldirektor Mitglied des Disziplinarausschusses sei. Darüber hinaus habe derselbe Generaldirektor das Schreiben unterzeichnet, mit dem er über die Ausweitung des Mandats des Disziplinarausschusses unterrichtet worden sei. Der Kläger leitet daraus Verstöße gegen den Grundsatz der Unparteilichkeit ab, an den die Mitglieder des Disziplinarausschusses gebunden sind.

151    Der Bericht Nr. 2 ist zwar auf Briefbögen der GD „Personal, Budget und Organisation“ verfasst worden; auch trifft es zu, dass deren Generaldirektor Mitglied des Disziplinarausschusses war. Das lässt jedoch nicht den Schluss zu, dass dieser Generaldirektor als Mitglied des Disziplinarausschusses seine Pflicht zur Unparteilichkeit verletzt und gegen Art. 8.3.7 der Dienstvorschriften verstoßen hätte. Außerdem wird dem Kläger mit dem fraglichen Schreiben lediglich die Entscheidung, das Mandat des Disziplinarausschusses auf die Vorfälle im Zusammenhang mit den Rechnungen für Nachhilfeunterricht auszuweiten, und damit eine Entscheidung mitgeteilt, die von dem im Namen des Direktoriums handelnden Chief Services Officer – insoweit im Einklang mit Art. 8.3.2 der Dienstvorschriften – getroffen und unterzeichnet worden ist.

152    Die dritte und die vierte Rüge des Klägers sind somit nicht erwiesen.

d)      Ergebnis zum vierten Klagegrund

153    Nach alledem ist der vierte Klagegrund zurückzuweisen.

6.      Fünfter Klagegrund: Verletzung der Verteidigungsrechte

154    Der Kläger macht geltend, eine Verletzung der Verteidigungsrechte ergebe sich daraus, dass die EZB die von ihm während des Verfahrens vorgelegte Stellungnahmen generell nicht berücksichtigt habe (vgl. oben Rn. 128).

155    Der Kläger hat seine Rüge jedoch nicht näher ausgeführt und nicht ausdrücklich angegeben, ob er sich auf seine gesamten Stellungnahmen oder einen Teil davon – und in diesem Fall, welche – bezogen hat. Daher ist diese Rüge gemäß Art. 76 Buchst. d der Verfahrensordnung unzulässig.

156    Jedenfalls ist sie als unbegründet zurückzuweisen. Der Umfang der Begründung der Stellungnahme des Disziplinarausschusses und der Entlassungsentscheidung sowie die Schriftwechsel zwischen der EZB und dem Kläger während des Verfahrens zeigen, dass die Bank sein Vorbringen berücksichtigt hat. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass ein Kläger die Nichtbeachtung der Verteidigungsrechte nicht mit der Nichterreichung des durch die Ausübung dieser Rechte angestrebten Ergebnisses verwechseln darf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2013, Sepro Europe/Kommission, T‑483/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:407, Rn. 78).

157    Der fünfte Klagegrund ist daher zurückzuweisen.

7.      Sechster Klagegrund: Offensichtliche Beurteilungsfehler

a)      Vorbemerkung

158    Der Kläger trägt vor, zahlreiche Gründe der Entlassungsentscheidung seien mit offensichtlichen Beurteilungsfehlern behaftet.

159    Zu beachten ist jedoch, dass der Kläger seinen sechsten Klagegrund im Wesentlichen auf Rügen stützt, mit denen er geltend macht, die EZB habe keine vollständige Prüfung der Umstände des Falls vorgenommen, ihr vorgelegte Beweismittel nicht richtig gewürdigt und das Recht auf Achtung des Privatlebens verletzt.

160    Unter diesen Umständen ist darauf hinzuweisen, dass die Wirksamkeit der durch Art. 47 der Charta garantierten gerichtlichen Kontrolle eine umfassende Prüfung des Sachverhalts durch den Unionsrichter verlangt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. September 2013, L/Parlament, T‑317/10 P, EU:T:2013:413, Rn. 70, und vom 10. Januar 2019, RY/Kommission, T‑160/17, EU:T:2019:1, Rn. 38). Insoweit muss er die sachliche Richtigkeit der angeführten Beweismittel, ihre Zuverlässigkeit und ihre Kohärenz prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Oktober 2018, McCoy/Ausschuss der Regionen, T‑567/16, EU:T:2018:708, Rn. 98; vgl. auch entsprechend Urteile vom 15. Februar 2005, Kommission/Tetra Laval, C‑12/03 P, EU:C:2005:87, Rn. 39, sowie vom 7. April 2016, ArcelorMittal Tubular Products Ostrava u. a./Hubei Xinyegang Steel, C‑186/14 P und C‑193/14 P, EU:C:2016:209, Rn. 36). Vor diesem Hintergrund ist auch die Beurteilung des Beweiswerts eines Dokuments Gegenstand einer umfassenden Kontrolle (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. September 2004, Valmont/Kommission, T‑274/01, EU:T:2004:266, Rn. 43). So müssen selbst komplexe oder heikle Beurteilungen der Verwaltung durch stichhaltige Beweise gestützt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Februar 2005, Kommission/Tetra Laval, C‑12/03 P, EU:C:2005:87, Rn. 41, und vom 7. April 2016, Akhras/Rat, C‑193/15 P, EU:C:2016:219, Rn. 56). Selbst in diesem Kontext hat der Richter daher eine eingehende Prüfung der Beweismittel vorzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juli 2008, Bertelsmann und Sony Corporation of America/Impala, C‑413/06 P, EU:C:2008:392, Rn. 146).

161    Darüber hinaus prüft der Richter im Rahmen seiner Kontrolle der Rechtmäßigkeit umfassend nach, ob die maßgeblichen Rechtsvorschriften ordnungsgemäß angewandt worden sind (Urteil vom 7. November 2007, Deutschland/Kommission, T‑374/04, EU:T:2007:332, Rn. 81).

162    In Anbetracht des Vorstehenden ist der sechste Klagegrund daher dahin gehend neu einzustufen, dass mit ihm keine offensichtlichen Beurteilungsfehler, sondern eine unvollständige Prüfung der Umstände des Falls, Fehler bei der Würdigung von Beweismitteln und ein Rechtsfehler geltend gemacht werden.

b)      Unvollständige Prüfung der Umstände des Falls, Fehler bei der Würdigung von Beweismitteln und Rechtsfehler, mit dem der Teil des Verfahrens behaftet ist, der sich auf die Rechnungen für Nachhilfeunterricht bezieht

163    Als Erstes wirft der Kläger der EZB vor, die Einstellung der Strafverfolgung in Bezug auf die Rechnungen für Nachhilfeunterricht nicht berücksichtigt zu haben.

164    Diese Rüge überschneidet sich jedoch mit dem dritten und dem siebten Klagegrund, die für unbegründet erachtet worden sind.

165    Als Zweites macht der Kläger geltend, die EZB habe seine Aussagen und die seiner Familie, wonach die Nachhilfelehrerin C seine Kinder tatsächlich unterrichte und in bar bezahlt werde, außer Acht gelassen, als sie die Auffassung vertreten habe, die Rechnungen von C seien sachlich unrichtig. Die EZB habe auch seine Aussagen, wonach sich die Ähnlichkeit der Rechnungen der vermeintlichen Physiotherapeutin B und von C dadurch erklären lasse, dass seine Ehefrau C gezeigt habe, wie sie auszustellen seien, unberücksichtigt gelassen. Schließlich habe die EZB ebenso wenig berücksichtigt, dass sich die schulischen Leistungen eines seiner Kinder in den Fächern, in denen C ihm Unterricht gebe, verbessert hätten.

166    Der Kläger wiederholt damit jedoch lediglich die von ihm und seiner Ehefrau während des Verwaltungsverfahrens getätigten Aussagen, ohne zu erläutern, weshalb die EZB einen Beurteilungsfehler begangen haben soll, als sie die Aussagen für nicht überzeugend gehalten und festgestellt hat, dass er keinen stichhaltigen Beweis zu ihrer Stützung vorgelegt habe.

167    Als Drittes trägt der Kläger vor, die EZB habe sich zu Unrecht darauf gestützt, dass es ungewöhnlich sei, dass er die Kontaktdaten der Nachhilfelehrerin C nicht kenne, obwohl diese ihn regelmäßig aufsuche.

168    Zunächst verletze ein solcher Beschwerdepunkt sein Recht, sein Privatleben nach eigenem Belieben zu organisieren, zumal die EZB ihren Beamten nicht vorschreibe, die Kontaktdaten der Heimunterricht gebenden Lehrer zu kennen. Der Umstand, dass deren Vergütung erstattungsfähig sei, könne einen solchen Eingriff nicht rechtfertigen.

169    Zu bemerken ist jedoch, dass sich die EZB keineswegs in das Privatleben des Klägers eingemischt hat, als sie nicht glauben wollte, dass er nicht über ein Minimum an Informationen über die Nachhilfelehrerin C verfügte, die seinen Kindern bei ihm zu Hause regelmäßig Unterricht gab. In Wirklichkeit hatte die EZB nicht die Absicht, die Art und Weise zu regeln, auf die der Kläger sein Leben zu organisieren behauptet, sondern hat lediglich die Ansicht vertreten, diese vorgebliche Lebensführung sei höchst unwahrscheinlich und folglich wenig glaubhaft.

170    Überdies steht der EZB aus ihrer Regelung zur Abdeckung des sonderpädagogischen Förderbedarfs der Kinder ihrer Mitarbeiter das Recht zu, einen von ihnen zu befragen, wenn er Erstattungsanträge unter Umständen stellt, die sie für ungewöhnlich hält. Ihr steht daraus auch das Recht zu, aus diesen Umständen angemessene Schlussfolgerungen zu ziehen.

171    Sodann trägt der Kläger vor, die EZB könne sich nicht darauf stützen, dass es ungewöhnlich sei, wenn er nicht die geringsten Angaben über die Person machen könne, die seit Jahren bei ihm zu Hause Unterricht gebe, da die Ungewöhnlichkeit einer Tatsache noch lange keinen Beweis dafür darstelle, dass sie nicht real sei.

172    Dieses Argument kann jedoch keinen Erfolg haben. Die bloße Möglichkeit, dass eine Situation bestehen kann, genügt nämlich nicht, um ihren etwaigen ungewöhnlichen Charakter auszuschließen, der in der Entlassungsentscheidung im Übrigen ordnungsgemäß begründet worden ist.

173    Angesichts des Vorstehenden und da er sein Vorbringen nicht stichhaltig belegt, kann auch das Vorbringen des Klägers keinen Erfolg haben, wonach die EZB außer Acht gelassen habe, dass der Zustand eines seiner Kinder keine Kenntnis der Kontaktdaten von C erfordere, um den Unterricht zu organisieren.

174    Der sechste Klagegrund ist somit unbegründet.

8.      Achter Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer und Verletzung der Fürsorgepflicht

175    Der Kläger macht geltend, die EZB habe weder das in Rede stehende Disziplinarverfahren mit der gebotenen Sorgfalt geführt noch dafür Sorge getragen, dass die einzelnen Phasen dieses Verfahrens innerhalb einer angemessenen Frist aufeinander folgten.

176    Im vorliegenden Fall sehen die Art. 8.3.15 bis 8.3.17 der Dienstvorschriften Fristen für verschiedene Abschnitte des Disziplinarverfahrens vor. Art. 8.3.15 dieser Vorschriften bestimmt jedoch, dass die dem Disziplinarausschuss für die Übermittlung seiner Stellungnahme gesetzte Frist jedenfalls „der Komplexität des Falls angemessen sein [muss]“.

177    Außerdem sind die Fristen zur zeitlichen Begrenzung eines Disziplinarverfahrens – abgesehen von den Verjährungsfristen (vgl. oben Rn. 58) – nach ständiger Rechtsprechung im Allgemeinen grundsätzlich keine Ausschlussfristen. Mangels eines in den anwendbaren Vorschriften klar geäußerten Willens, die Zeit, während der die Verwaltung handeln kann, im Interesse der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes zu begrenzen, stellen diese Fristen vor allem eine Regel ordnungsgemäßer Verwaltung dar, die das Organ verpflichtet, das Disziplinarverfahren mit der gebührenden Sorgfalt zu betreiben und jede Verfahrenshandlung in angemessenem zeitlichen Abstand zur vorhergehenden Maßnahme vorzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. September 2000, Teixeira Neves/Gerichtshof, T‑259/97, EU:T:2000:208, Rn. 123, und vom 17. März 2015, AX/EZB, F‑73/13, EU:F:2015:9, Rn. 174).

178    Unter diesen Umständen kann die Überschreitung einer angemessenen Frist die Aufhebung einer Verwaltungsentscheidung nur rechtfertigen, wenn die übermäßig lange Verfahrensdauer Auswirkungen auf deren Inhalt gehabt haben kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. April 2019, AV/Kommission, T‑303/18 RENV, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:239, Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dies ist dann der Fall, wenn die übermäßig lange Verfahrensdauer die Möglichkeit für die betroffenen Personen, sich wirksam zu verteidigen, beeinträchtigt hat (vgl. Urteil vom 7. Juni 2018, Winkler/Kommission, T‑369/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:334, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

179    Im vorliegenden Fall macht der Kläger weder geltend, dass die EZB die Absicht gehabt habe, die nach den Art. 8.3.15 bis 8.3.17 der Dienstvorschriften verjährten Fristen zu Ausschlussfristen zu machen, noch, dass die Dauer des Verfahrens seiner Verteidigung geschadet habe.

180    Auch in Bezug auf die Fürsorgepflicht ist entschieden worden, dass ihre Verletzung aufgrund mangelnder Schnelligkeit die Haftung des betreffenden Organs für den womöglich entstandenen Schaden begründen, der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung aber keinen Abbruch tun kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 2018, Curto/Parlament, T‑275/17, EU:T:2018:479, Rn. 104 und 105).

181    Der achte Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer und eine Verletzung der Fürsorgepflicht geltend gemacht werden, kann im vorliegenden Fall somit nicht als im Rahmen des Aufhebungsantrags begründet anerkannt werden.

9.      Neunter Klagegrund: Verletzung der Begründungspflicht

182    Der Kläger vertritt die Auffassung, die Entlassungsentscheidung sei unzureichend begründet. Aus dem oben in Rn. 101 dargelegten Grund ist dieser Klagegrund nicht zu prüfen, soweit mit ihm speziell die Begründung der Entlassungsentscheidung in Bezug auf die Teile betreffend die Physiotherapiebehandlung und die Apothekenquittungen angefochten wird.

183    Abgesehen davon ist darauf hinzuweisen, dass die Frage, ob eine Entscheidung u. a. der EZB, über einen ihrer Bediensteten eine Strafe zu verhängen, der Begründungspflicht genügt, nicht nur anhand ihres Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand ihres Kontextes sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet, im vorliegenden Fall dem Disziplinarbereich. Insoweit hat das Direktorium zwar alle tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte, von denen die Rechtmäßigkeit seiner Entscheidungen abhängt, sowie die Erwägungen anzugeben, die es zu deren Erlass veranlasst haben; es braucht jedoch nicht auf alle Tatsachen- und Rechtsfragen einzugehen, die der Betroffene im Verfahren aufgeworfen hat. Eine Entscheidung ist jedenfalls hinreichend begründet, wenn sie in einem dem betroffenen Bediensteten bekannten Kontext ergangen ist, der ihm das Verständnis der Tragweite der ihm gegenüber getroffenen Maßnahme erlaubt (vgl. Urteil vom 17. März 2015, AX/EZB, F‑73/13, EU:F:2015:9, Rn. 189 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wenn, wie im vorliegenden Fall, die verhängte Strafe letztlich schwerer ist als die vom Disziplinarausschuss vorgeschlagene, muss die Entscheidung der EZB aufgrund der Erfordernisse eines jeden Disziplinarverfahrens gleichwohl eine eingehende Darlegung der Gründe enthalten, aus denen die Bank von der Stellungnahme ihres Disziplinarausschusses abgewichen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. März 2015, AX/EZB, F‑73/13, EU:F:2015:9, Rn. 190 und die dort angeführte Rechtsprechung).

184    Im vorliegenden Fall war der Kontext, in dem die Entlassungsentscheidung ergangen ist, dem Kläger insbesondere in Anbetracht des Inhalts der zahlreichen schriftlichen und mündlichen Erklärungen, die er im Laufe des Disziplinarverfahrens am 13. Februar, 9. März, 17. Oktober und 8. November 2017, 30. April und 14. September 2018 sowie 31. Januar 2019 formuliert hatte, weitgehend bekannt.

185    Außerdem berücksichtigt die Entlassungsentscheidung die Vorwürfe gegenüber dem Kläger, die Stellungnahme des Disziplinarausschusses, die verschiedenen bei der EZB geltenden Regeln und Vorschriften, von denen das Direktorium der Auffassung war, dass der Kläger sie verletzt habe, sowie die Gründe, aus denen es zu dieser Schlussfolgerung gelangt war. Die Klageschrift zeigt zudem, dass der Kläger diese Gesichtspunkte verstanden hat.

186    Der Kläger macht jedoch insbesondere geltend, die Entlassungsentscheidung gehe nicht auf seine Erklärungen betreffend die Verjährung der Disziplinarmaßnahmen ein (vgl. oben Rn. 128).

187    Allerdings verweist die Entlassungsentscheidung auf die Stellungnahme des Disziplinarausschusses, von der der Kläger Kenntnis hatte, und in dieser Stellungnahme wird dargelegt, weshalb das Disziplinarverfahren nach Ansicht der EZB gemäß Art. 8.3.2 der Dienstvorschriften nicht verjährt war.

188    Der Kläger trägt weiter vor, in der Entlassungsentscheidung werde, das Vorliegen der Tatsachen unterstellt, nicht hinreichend erläutert, weshalb die EZB eine viel schwerere Strafe als die vom Disziplinarausschuss vorgeschlagene verhängt habe, genauer gesagt, weshalb sie aufgrund von Gesichtspunkten, die mit den von diesem Ausschuss untersuchten identisch seien, die Auffassung vertreten habe, das Vertrauensverhältnis sei unwiederbringlich zerstört.

189    Die vorstehende Rüge ist unbegründet. Wie aus der Entlassungsentscheidung hervorgeht, ist das Direktorium im Gegensatz zum Disziplinarausschuss davon ausgegangen, dass der Kläger die Erstattung sachlich unrichtiger Quittungen über Arzneimittelkosten und Rechnungen für Nachhilfeunterricht beantragt habe und die Verletzungen seiner Pflichten bei der Stellung dieser Erstattungsanträge daher weitgehender und gravierender gewesen seien als die bloße Vorlage zweifelhafter Physiotherapierechnungen, auf die sich der Ausschuss gestützt habe.

190    Zwar ist oben in Rn. 97 entschieden worden, dass die Vorfälle im Zusammenhang mit den Physiotherapierechnungen und den Apothekenquittungen zum Zeitpunkt der Einleitung des Disziplinarverfahrens verjährt waren. Nach ständiger Rechtsprechung handelt es sich bei der Pflicht zur Begründung von Entscheidungen jedoch um ein wesentliches Formerfordernis, das von der sachlichen Richtigkeit der Gründe zu unterscheiden ist, die zur materiellen Rechtmäßigkeit des streitigen Rechtsakts gehört (vgl. Urteil vom 24. September 2015, Italien und Spanien/Kommission, T‑124/13 und T‑191/13, EU:T:2015:690, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung).

191    Außerdem hat das Direktorium – weiter im Gegensatz zum Disziplinarausschuss – die Ansicht vertreten, die eher niedrige Besoldungsgruppe und Dienstaltersstufe des Klägers könnten sich nicht mildernd auf seine Pflicht auswirken, bei der Stellung von Erstattungsanträgen ehrlich und integer zu handeln.

192    Schließlich hat die EZB erläutert, dass sie ihr Vertrauen in den Kläger durch jeden Verfahrensteil unwiederbringlich verloren habe. In diesem Zusammenhang hat sie die Tatsache hervorgehoben, dass ihre Glaubwürdigkeit als für die Währungspolitik und Bankenaufsicht zuständiges Organ auf ihrer Reputation als Vorbild für eine effiziente und verantwortliche Verwaltung beruhe, die von einem integren Personal geführt werde, und dargelegt, dass das Verhalten des Klägers gerade geeignet sei, ihrem Ansehen zu schaden.

193    Der neunte Klagegrund ist somit unbegründet.

10.    Zehnter, hilfsweise vorgebrachter Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

a)      Vorbemerkung

194    Einleitend ist festzustellen, dass mit dem zehnten Klagegrund entgegen seiner Überschrift nicht lediglich geltend gemacht wird, im vorliegenden Fall sei gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen worden. Der Kläger leitet die Unverhältnismäßigkeit seiner Entlassung nämlich im Wesentlichen erstens aus der Unerheblichkeit und tatsächlichen Unrichtigkeit der vom Disziplinarausschuss angenommenen erschwerenden Umstände ab, zweitens aus der Rechtswidrigkeit und Unerheblichkeit der vom Direktorium zusätzlich angenommenen Umstände, drittens aus der Tatsache, dass das Direktorium den Begriff der mildernden Umstände in Bezug auf die vom Disziplinarausschuss festgestellten Umstände verkannt habe, und viertens daraus, dass die EZB eine Reihe mildernder Umstände, die von ihm während des Verfahrens geltend gemacht worden seien, nicht berücksichtigt habe. Mit den Rügen des Klägers wird daher nicht direkt die Unverhältnismäßigkeit der Strafe beanstandet. Der Kläger leitet sie vielmehr mal aus der Unrichtigkeit bestimmter Tatsachen, mal aus Fehlern bei der Beurteilung anderer Tatsachen und ihrer Einstufung als erschwerende Umstände, mal aus Rechtsfehlern und mal schließlich aus dem Fehlen einer vollständigen Prüfung aller in Betracht kommenden mildernden Umstände ab.

195    Unter diesen Umständen ist daran zu erinnern, dass das Gericht eine umfassende Prüfung des Sachverhalts und der ordnungsgemäßen Anwendung der maßgeblichen Rechtsvorschriften vornimmt (vgl. oben Rn. 160 und 161).

196    Desgleichen übt der Unionsrichter auch eine vollständige Kontrolle über die Einstufung des Sachverhalts (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Juni 2012, BNP Paribas und BNL/Kommission, C‑452/10 P, EU:C:2012:366, Rn. 102, sowie vom 7. November 2013, Cortivo/Parlament, F‑52/12, EU:F:2013:173, Rn. 41) im Hinblick auf objektive Rechtsbegriffe aus. Insbesondere übt er eine solche Kontrolle über die Frage aus, ob eine Tatsache unter die Rechtsbegriffe der erschwerenden oder mildernden Umstände fällt oder nicht.

197    Schließlich setzt die Einhaltung von Art. 47 der Charta, obwohl die Beschäftigungsbedingungen weder ein festes Verhältnis zwischen den dort genannten Disziplinarstrafen und den verschiedenen Arten von Verfehlungen durch die Beamten vorsehen noch klarstellen, inwiefern das Vorliegen erschwerender oder mildernder Umstände in die Auswahl der Strafe einfließen muss, voraus, dass eine „Strafe“, die von einer Verwaltungsbehörde verhängt wird, die nicht selbst die in diesem Artikel vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt, wie es im vorliegenden Fall beim Direktorium der Fall ist, einer späteren Kontrolle durch ein Gericht unterliegt, das die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung der Verhältnismäßigkeit zwischen Fehler und Strafe hat (vgl. Urteil vom 15. Mai 2012, Nijs/Rechnungshof, T‑184/11 P, EU:T:2012:236, Rn. 85 und die dort angeführte Rechtsprechung; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 9. September 2010, Andreasen/Kommission, T‑17/08 P, EU:T:2010:374, Rn. 146 und 147; EGMR, 31. März 2015, Andreasen/Vereinigtes Königreich und 26 andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union, CE:ECHR:2015:0331DEC002882711, § 73). In diesem Rahmen prüft der Unionsrichter insbesondere, ob die Disziplinarbehörde die erschwerenden und mildernden Umstände in verhältnismäßiger Weise gewichtet hat (Urteil vom 16. März 2004, Afari/EZB, T‑11/03, EU:T:2004:77, Rn. 203).

b)      Erste Rüge des Klägers

198    Zum Nachweis eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit tritt der Kläger dem vom Disziplinarausschuss und später vom Direktorium angenommenen erschwerenden Umstand im Zusammenhang damit entgegen, dass er nicht vorgeschlagen hatte, die streitigen Beträge ganz oder teilweise zurückzuerstatten.

199    Der Disziplinarausschuss war der Ansicht, der Kläger habe seine Pflichten nur dadurch verletzt, dass er rechtsgrundlos die Erstattung der Physiotherapierechnungen erhalten habe, vertrat demgegenüber aber die Auffassung, die Vorfälle betreffend die Apothekenquittungen und die Rechnungen für Nachhilfeunterricht seien nicht hinreichend nachgewiesen. Demnach rechnete der Disziplinarausschuss dem Kläger lediglich den erschwerenden Umstand zu, keine Rückerstattung der unrechtmäßig erhaltenen Beträge angeboten zu haben, und beschränkte sich dabei auf den der Erstattung der Rechnungen der vermeintlichen Physiotherapeutin B entsprechenden Betrag von 56 041,09 Euro.

200    In der Entlassungsentscheidung hat das Direktorium jedoch die Auffassung vertreten, der Kläger habe rechtsgrundlos mehrere Jahre lang die Erstattung sämtlicher streitiger Rechnungen und Quittungen erhalten. In diesem Zusammenhang hat es sodann darauf hingewiesen, dass zu den vom Disziplinarausschuss ermittelten erschwerenden Umständen die Tatsache komme, dass der Kläger dem Vertrauen, das die EZB in ihn gesetzt habe, in keiner Weise gerecht geworden sei (vgl. hierzu unten Rn. 207 ff.).

201    Bei einer Gesamtbetrachtung der Entlassungsentscheidung ist der ausgesprochen knappe Verweis des Direktoriums auf die vom Disziplinarausschuss angenommenen erschwerenden Umstände demnach so zu verstehen, dass er sich auf die Tatsache bezieht, dass der Kläger nicht vorgeschlagen hatte, sämtliche erhaltenen Beträge, einschließlich der im Rahmen der Erstattung der Rechnungen für Nachhilfeunterricht erhaltenen Beträge, zurückzuerstatten.

202    Abgesehen davon legt der Kläger zur Stützung seiner Rüge zunächst dar, dass er den Betrag von 56 041,09 Euro nicht zurückzuerstatten habe, weil die Physiotherapierechnungen sachlich richtig seien.

203    Dieses Argument ist jedoch irrelevant, da das Direktorium es als erschwerenden Umstand gewertet hat, dass der Kläger die Beträge u. a. im Zusammenhang mit den Rechnungen für Nachhilfeunterricht nicht zurückerstattet hatte (vgl. oben Rn. 201), und in der Entlassungsentscheidung die Ansicht vertreten durfte, dass jeder der drei Verfahrensteile, die Verfehlungen im Rahmen von Anträgen auf Kostenerstattung betrafen, unter Berücksichtigung der finanziellen Zuständigkeiten der Bank das in ihn gesetzte Vertrauen unwiederbringlich erschüttert habe (vgl. oben Rn. 99).

204    Der Kläger bestreitet sodann, nie eine Rückerstattung angeboten zu haben. Er habe, um das Verfahren zu beenden, angeboten, der EZB das Äquivalent der vom Disziplinarausschuss vorgeschlagenen Strafe, nämlich eine vorübergehende Verringerung der Bezüge um 400 Euro über einen Zeitraum von zwölf Monaten, also 4 800 Euro, zu zahlen. Die EZB durfte diesen Vorschlag jedoch unberücksichtigt lassen, der weit unterhalb der in Rede stehenden Beträge lag, selbst wenn diese auf die Erstattungen der Rechnungen für Nachhilfeunterricht in Höhe von 29 070 Euro begrenzt waren.

205    Schließlich macht der Kläger vergeblich geltend, er habe an den Arbeiten des Disziplinarausschusses uneingeschränkt mitgewirkt. Diese Zusammenarbeit – ihr Vorliegen unterstellt – ändert nichts an der Tatsache, dass er nicht angeboten hatte, den fraglichen Betrag zurückzuerstatten. Sie wird außerdem von der EZB bestritten.

206    Folglich durfte die EZB (vgl. oben Rn. 196) es zu Lasten des Klägers als erschwerenden Umstand werten, dass er nicht vorgeschlagen hatte, die rechtsgrundlos erhaltenen Beträge zurückzuerstatten.

c)      Zweite Rüge des Klägers

207    Der Kläger beanstandet die erschwerenden Umstände, die von der EZB zusätzlich zu den bereits vom Disziplinarausschuss geltend gemachten Umständen in der Entlassungsentscheidung angenommen worden sind.

208    So vertritt der Kläger erstens die Auffassung, das Direktorium dürfe es nicht als erschwerenden Umstand werten, dass er das von der EZB in ihn gesetzte Vertrauen enttäuscht habe, da sich diese Feststellung nicht von den Verfehlungen unterscheide, die ihm ohnehin zur Last gelegt würden.

209    Es ist darauf hinzuweisen, dass ein erschwerender Umstand kein Tatbestandsmerkmal einer Zuwiderhandlung ist, dessen Feststellung den Nachweis objektiver und gegebenenfalls subjektiver Elemente erfordert. Folglich dient er nicht dazu, die Zuwiderhandlung als solche zu charakterisieren, sondern beeinflusst das Strafmaß, wenn erst einmal die Zuwiderhandlung bewiesen ist, um der Schwere der Tatumstände insgesamt Rechnung zu tragen und angesichts all dieser Umstände die repressive und abschreckende Wirkung der Strafe sicherzustellen.

210    In der Entlassungsentscheidung hat das Direktorium dem Kläger vorgeworfen, seine Pflicht zur Loyalität gegenüber der EZB verletzt zu haben, seiner Verpflichtung zur Achtung der gemeinsamen Werte der Bank sowie zum Führen seines Berufs- und Privatlebens im Einklang mit deren Status als Unionsorgan nicht nachgekommen zu sein, kontinuierlich gegen seine Pflicht verstoßen zu haben, die finanziellen Interessen des Organs zu wahren, und das Ansehen der Bank gefährdet zu haben. Es hat überdies die Tatsache als erschwerenden Umstand gewertet, dass der Kläger dem Vertrauen, das die EZB in ihn gesetzt hatte, in keiner Weise gerecht worden war.

211    Die Loyalitätspflicht wirkt sich zwar auf die Wahrung einer persönlichen Vertrauensbeziehung zwischen einem Organ und seinen Beamten aus, die eine Voraussetzung für die Aufrechterhaltung eines Beschäftigungsverhältnisses ist. Diese Pflicht gebietet nicht nur, dass die Beamten Verhaltensweisen unterlassen, die die Würde des Amtes sowie den Respekt dem Organ und seiner Funktionsträger gegenüber beeinträchtigen, sondern auch, dass sie ein über jeden Zweifel erhabenes Verhalten an den Tag legen, damit die Vertrauensbeziehungen zwischen diesem Organ und ihnen selbst stets gewahrt bleiben (Urteil vom 19. Mai 1999, Connolly/Kommission, T‑34/96 und T‑163/96, EU:T:1999:102, Rn. 128). Daraus folgt jedoch noch nicht, dass jede Verletzung der Loyalitätspflicht automatisch zum Verlust dieses Vertrauens und damit zur Entlassung als zwangsläufigem Ergebnis führen würde. Möglicherweise ist die Verletzung nur gelegentlich erfolgt bzw. lediglich geringfügig oder harmlos. In diesem Fall wäre eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses mit dem Umstand unvereinbar, dass die Beschäftigungsbedingungen kein festes Verhältnis zwischen den verschiedenen Arten von Verfehlungen und den möglichen Disziplinarstrafen festlegen.

212    Demnach ist der Verlust der Vertrauensbeziehung kein Tatbestandsmerkmal eines Disziplinarvergehens, das in einem Mangel an Loyalität besteht, sondern ein erschwerender Umstand, der auf die besondere Schädlichkeit und Schwere dieses Mangels zurückzuführen ist, vor allem dann, wenn der Beamte oder Bedienstete jeglichen Respekt gegenüber dem Organ hat vermissen lassen.

213    Im vorliegenden Fall erfolgten die Vorfälle betreffend die Erstattung der Rechnungen für Nachhilfeunterricht keineswegs gelegentlich, sondern erstreckten sich über mehrere Jahre, wie der Kläger selbst einräumt.

214    Folglich hat die EZB es im vorliegenden Fall zu Recht als erschwerenden Umstand eingestuft, dass der Kläger das in ihn gesetzte Vertrauen in keiner Weise gerechtfertigt hatte.

215    Der Kläger wirft der EZB zweitens vor, die Tatsache, dass eine niedrige Besoldungsgruppe und ein geringes Dienstalter keinerlei Auswirkungen auf die Möglichkeit der Mitglieder des Personals hätten, unter den gegebenen Umständen aus eigener Initiative einfache Überprüfungen vorzunehmen, als erschwerenden Umstand gewertet zu haben. Wiederum unterscheide sich dieser angebliche erschwerende Umstand nicht von den Zuwiderhandlungen, die ihm ohnehin zur Last gelegt würden. Außerdem habe er im vorliegenden Fall keinen Anlass zu solchen Überprüfungen gehabt.

216    Die vorliegende Rüge beruht jedoch auf einem unrichtigen Verständnis der Entlassungsentscheidung. Entgegen dem Vorbringen des Klägers hat das Direktorium seine niedrige Besoldungsgruppe und Dienstaltersstufe nicht als erschwerenden Umstand angesehen, sondern hat es – im Gegensatz zum Disziplinarausschuss – abgelehnt, darin einen mildernden Umstand zu sehen. Jedenfalls bestimmt Art. 45 fünfter Gedankenstrich der Beschäftigungsbedingungen zwar, dass die Besoldungsgruppe und die Dienstaltersstufe bei der Festsetzung des Strafmaßes berücksichtigt werden müssen. Gleichwohl durfte die Bank die Ansicht vertreten, dass eine niedrige Besoldungsgruppe und Dienstaltersstufe im vorliegenden Fall keinen mildernden Umstand darstellen, weil eine solche Besoldungsgruppe und Dienstaltersstufe keine Rechtfertigung dafür sind, dass ein Bediensteter es unterlässt, von sich aus einfache Überprüfungen vorzunehmen, die keine besondere Kompetenz erfordern, und weil jede halbwegs umsichtige Person sie unter den gegebenen Umständen, die Zweifel am Anspruch auf Erstattung der ausgelegten Beträge aufkommen lassen mussten, durchgeführt hätte.

217    Mit dem Argument, wonach im vorliegenden Fall kein Anlass zu wie auch immer gearteten Überprüfungen bestanden habe, wird letztlich das Vorliegen der Umstände bestritten, aus denen die EZB abgeleitet hat, dass die Rechnungen der Nachhilfelehrerin C sachlich unrichtig waren. Es überschneidet sich daher mit dem sechsten Klagegrund, der als unbegründet zurückgewiesen worden ist.

218    Der Kläger stellt drittens in Abrede, dass die EZB die Tatsache, dass ihre Glaubwürdigkeit auf dem Spiel gestanden habe, als erschwerenden Umstand geltend machen durfte, obwohl diese durch den positiven Ausgang der gegen ihn betriebenen Strafverfahren und insbesondere durch die Publizität des Urteils des Landgerichts Frankfurt am Main vom 18. Oktober 2017 gewahrt worden sei, das ihn in Bezug auf die Physiotherapierechnungen von den Vorwürfen des Betrugs und der Urkundenfälschung freigesprochen habe.

219    Abgesehen davon, dass der Kläger nicht klarstellt, welche Publizität das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main erfahren hat, durfte die EZB jedoch davon ausgehen, dass die Vorfälle ihr Ansehen und damit ihre Glaubwürdigkeit als Finanzinstitut hatten beeinträchtigen können. Gemäß Art. 45 zweiter Gedankenstrich der Beschäftigungsbedingungen kann die EZB als erschwerenden Umstand gerade das Risiko berücksichtigen, dem das Mitglied des Personals die Integrität, den Ruf oder die Interessen des Organs ausgesetzt hat, ohne nachweisen zu müssen, ob Außenstehende von dem Verhalten des Betroffenen wussten und – falls ja – wie viele (vgl. entsprechend Urteil vom 10. Juni 2016, HI/Kommission, F‑133/15, EU:F:2016:127, Rn. 204 und die dort angeführte Rechtsprechung).

220    Desgleichen durfte die EZB es entgegen dem Vorbringen des Klägers als erschwerenden Umstand werten, dass dieser gegen die finanziellen Interessen des Organs, die er doch zu schützen verpflichtet war, gehandelt hatte. Insoweit genügt nämlich die Feststellung, dass sich die rechtsgrundlosen Erstattungsanträge des Klägers notwendigerweise auf die Finanzen der EZB, zu deren Lasten die entsprechenden Kosten letztlich gingen, ausgewirkt haben.

d)      Dritte Rüge des Klägers

221    Der Kläger trägt vor, das Direktorium habe die Rolle der mildernden Umstände verkannt, als es geltend gemacht habe, die vom Disziplinarausschuss angenommenen Umstände schmälerten den Vertrauensverlust der EZB ihm gegenüber in keiner Weise.

222    Der Disziplinarausschuss hatte im vorliegenden Fall die niedrige Besoldungsgruppe und das geringe Dienstalter des Klägers, die fehlende disziplinarische Vorgeschichte sowie die Tatsache als mildernde Umstände gewertet, dass nicht sicher sein konnte, ob sich die Gesellschaft A geweigert hätte, die Rechnungen von B zu erstatten, wenn auf der ersten von ihnen nicht der Stempel „Kosmetikerin“ weggelassen worden wäre.

223    Ohne ihr Wesen als mildernde Umstände zu verkennen, durfte das Direktorium jedoch die Auffassung vertreten, dass diese Umstände keinesfalls den Vertrauensverlust der EZB gegenüber dem Kläger aufwogen.

224    Insbesondere ergibt sich aus Rn. 216 oben, dass sich das Direktorium – im Gegensatz zum Disziplinarausschuss – weigern durfte, die niedrige Besoldungsgruppe und das geringe Dienstalter des Klägers als mildernden Umstand zu betrachten. Außerdem bestimmt Art. 45 achter Gedankenstrich der Beschäftigungsbedingungen zwar, dass bei der Auswahl der Disziplinarstrafe das Verhalten des Mitglieds des Personals während seiner gesamten Laufbahn berücksichtigt werden muss. Diese Vorschrift macht die Zerstörung der Vertrauensbasis jedoch nicht zwingend vom Vorliegen eines Wiederholungsfalls abhängig. Die Zerstörung kann sich aus einem einzigen Vorfall oder Verhalten ergeben. In Anbetracht der Aufgaben der EZB durfte das Direktorium den Schwerpunkt im vorliegenden Fall berechtigterweise auf die Gewissenhaftigkeit legen, die von jedem Bediensteten in finanziellen Angelegenheiten verlangt wird.

e)      Vierte Rüge des Klägers

225    Der Kläger vertritt die Auffassung, die mildernden Umstände, die er vor dem Disziplinarausschuss und in seinen Erklärungen vom 30. April 2018 geltend gemacht und denen die EZB keine Rechnung getragen habe, seien zu berücksichtigen.

226    Der Kläger führt erstens das Leid an, das seine Familie und er im gesamten Verlauf des Verfahrens, während dessen er seines Dienstes enthoben worden sei, habe erdulden müssen. Er beruft sich darüber hinaus auf sein Recht, wieder inneren Frieden zu finden und seine Ehre wiederherstellen zu können.

227    Die Dauer des Disziplinarverfahrens gehört jedoch nicht zu den Gesichtspunkten, die in Art. 45 der Beschäftigungsbedingungen als mildernde Umstände aufgeführt werden, und ist für die Festlegung der Disziplinarstrafe, die gemäß diesem Artikel in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des begangenen Fehlers stehen muss, irrelevant (vgl. entsprechend Urteil vom 10. Juni 2016, HI/Kommission, F‑133/15, EU:F:2016:127, Rn. 200).

228    Außerdem substantiiert der Kläger seine Rüge nicht. Er macht keine konkreten Angaben zu dem Leid, das seine Familie und er wegen des Verfahrens und dessen Dauer erfahren haben wollen – insbesondere dazu, inwiefern es die Ängste und die Unsicherheit, die Straf- und Disziplinarverfahren unweigerlich erzeugen, überstiegen haben soll – und dem die EZB als mildernden Umstand hätte Rechnung tragen müssen.

229    Ebenso wenig führt der Kläger die Rüge aus, die er aus seinem vermeintlichen Recht, wieder inneren Frieden zu finden, und auf Wiederherstellung seiner Ehre herleitet. Dies trifft ganz besonders im Kontext des vorliegenden Klagegrundes zu, der – hilfsweise geltend gemacht und auf das Bestreiten der Verhältnismäßigkeit der Strafe beschränkt – voraussetzt, dass das Disziplinarvergehen nachgewiesen ist.

230    Der Kläger führt zweitens seine sehr gute Bilanz innerhalb der EZB ins Feld und trägt vor, diese hätte als mildernder Umstand berücksichtigt werden müssen.

231    Wie sich oben aus Rn. 224 ergibt, durfte das Direktorium jedoch davon ausgehen, dass das Vertrauen der EZB in den Kläger trotz des Umstands verloren gegangen war, dass die zur Last gelegten Taten seine erste Verfehlung darstellten.

232    Zudem beschränkt sich der Kläger auf die Vorlage von Bewertungsberichten, die offensichtlich am Ende der Jahre 2008 und 2010 erstellt worden sind, sowie einer Kurzwürdigung in einer E‑Mail vom 29. September 2011. Diese Schriftstücke sagen nichts darüber aus, in welcher Art und Weise er seinen Dienst zwischen 2011 und dem 21. Oktober 2014, dem Tag seiner Beurlaubung, ab dem er nicht mehr bewertet worden ist, in der Regel ausgeführt hat.

233    Demnach hat die EZB die Bilanz des Klägers innerhalb der Bank zu Recht nicht als mildernden Umstand gewertet (vgl. oben Rn. 196).

234    Drittens wirft der Kläger der EZB vor, die Tatsache, dass er nicht die Absicht gehabt habe, seine Dienstpflichten zu verletzen, dass er nicht aus persönlichem Interesse gehandelt habe und dass das Organ keinerlei Schaden erlitten habe, nicht berücksichtigt zu haben.

235    Gemäß Art. 45 dritter Gedankenstrich der Beschäftigungsbedingungen ist das Ausmaß des Vorsatzes ein Gesichtspunkt, dem die EZB bei der Festlegung der Disziplinarstrafe Rechnung tragen muss.

236    Wie sich jedoch aus der gemeinsamen Prüfung des dritten und des siebten sowie aus dem sechsten Klagegrund und außerdem oben aus Rn. 216 ergibt, durfte die EZB davon ausgehen, dass die Rechnungen für Nachhilfeunterricht ausweislich ihres Wortlauts sachlich unrichtig waren, dass die objektiven Umstände des Falls, die Zweifel am Anspruch auf Erstattung dieser Rechnungen begründeten, einfache, für den Kläger verständliche Überprüfungen erforderten und dass er – wie jede halbwegs umsichtige Person – die Verwaltung zumindest darüber hätte informieren und mit ihr hätte zusammenarbeiten müssen.

237    Unter diesen Umständen durfte das Direktorium zu Recht (vgl. oben Rn. 196) davon absehen, den fehlenden Vorsatz des Klägers als mildernden Umstand zu werten.

238    Gleiches gilt für die Behauptung des Klägers, dass er nicht aus persönlichem Interesse gehandelt habe, da er in den Genuss der streitigen Erstattungen gekommen ist.

239    Dasselbe gilt weiter auch für die Tatsache, dass die EZB keinerlei Schaden erlitten haben soll, da dem Kläger nicht verborgen bleiben konnte, dass die Erstattung der Unterrichtskosten zu Lasten der EZB ging. Über diesen materiellen Schaden hinaus geht aus der Prüfung der zweiten Rüge, die der Kläger im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes erhoben hat, ferner hervor, dass die EZB vernünftigerweise annehmen konnte, dass das Verhalten des Klägers ihr Ansehen und damit ihre Glaubwürdigkeit als Finanzinstitut möglicherweise beeinträchtigt hatte (vgl. oben Rn. 219), so dass ihr auch ein immaterieller Schaden zugefügt worden sei.

240    Viertens macht der Kläger geltend, die EZB habe nicht berücksichtigt, dass er nicht verwarnt worden sei, obwohl sich die streitigen Vorfälle in Bezug auf die Rechnungen für Nachhilfeunterricht unter den Augen der EZB über einen Zeitraum von vier Jahren erstreckt hätten.

241    Der vorliegende Verfahrensteil betrifft jedoch Erstattungsanträge, die in den Jahren 2010, 2012 und 2014 sowie im Januar 2017 eingereicht worden sind. Aus der Prüfung des zweiten Klagegrundes ergibt sich, dass der Disziplinarausschuss den Sachverhalt erst im Laufe des Monats März 2017 – bei einer eingehenden Prüfung der Akte des Klägers, zu der ihn die Verfahrensteile betreffend die Physiotherapierechnungen und die Apothekenquittungen veranlasst hatten – festgestellt hat. Überdies hat die EZB dem Kläger – im Anschluss an einige zusätzliche Untersuchungen – am 19. Juni 2017, also nur rund drei Monate nach der Feststellung des Sachverhalts, den Entwurf des künftigen Berichts Nr. 2 zugestellt. Unter diesen Umständen muss sich die Bank nicht den Vorwurf gefallen lassen, den Kläger wegen der Rechnungen für Nachhilfeunterricht nicht verwarnt zu haben.

242    Der Kläger trägt darüber hinaus vor, die sich auf die Physiotherapierechnungen und die Apothekenquittungen beziehenden Vorfälle hätten sich ohne weitere Verwarnung über einen Zeitraum von fünf Jahren erstreckt.

243    Das letztgenannte Argument ist jedoch irrelevant, da die EZB der Ansicht sein durfte, dass jeder der drei Verfahrensteile – auch für sich genommen – das dem Verhältnis zu ihrem Personal zugrunde liegende Vertrauen unwiderruflich erschüttert hatte (vgl. oben Rn. 99), so dass der sich auf die Rechnungen für Nachhilfeunterricht beziehende Verfahrensteil, der mit keinem Rechtsfehler behaftet ist, genügte, um die Entlassungsentscheidung zu rechtfertigen.

f)      Ergebnisse zum zehnten Klagegrund und zum Aufhebungsantrag

244    Aus dem Vorstehenden geht hervor, dass die vom Kläger im Rahmen seines zehnten Klagegrundes erhobenen Rügen nicht berechtigt sind und die mangelnde Verhältnismäßigkeit (vgl. oben Rn. 197) der Entlassungsentscheidung dementsprechend nicht erwiesen ist.

245    Der zehnte Klagegrund ist somit unbegründet.

246    Da die teilweise Begründetheit des zweiten Klagegrundes nicht genügt, um die Aufhebung der Entlassungsentscheidung und damit die Aufhebung der Ablehnung der Wiederaufnahme des Verfahrens zu rechtfertigen (vgl. oben Rn. 100), und auch kein anderer Klagegrund begründet ist, ist der Aufhebungsantrag insgesamt zurückzuweisen.

B.      Zweiter Antrag: Anordnung der Wiedereinsetzung des Klägers

247    Mit seinem zweiten Antrag beantragt der Kläger die Anordnung seiner Wiedereinsetzung.

248    Dieser Antrag ist jedoch wegen mangelnder Zuständigkeit des Gerichts zurückzuweisen, da dieses nicht befugt ist, der Verwaltung Anordnungen zu erteilen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 22. September 2016, Gaki/Kommission, C‑130/16 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:731, Rn. 14 und die dort angeführte Rechtsprechung). Außerdem ist, da der Aufhebungsantrag zurückgewiesen worden ist, demzufolge auch der vorliegende Antrag zurückzuweisen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 25. Mai 2011, Meierhofer/Kommission, F‑74/07 RENV, EU:F:2011:63, Rn. 69).

C.      Dritter Antrag: Ersatz des dem Kläger angeblich entstandenen Schadens

249    Der Kläger beantragt, die EZB zum Ersatz des ihm angeblich entstandenen immateriellen Schadens zu verurteilen, den er nach billigem Ermessen auf 20 000 Euro beziffert.

250    Es ist darauf hinzuweisen, dass die Haftung eines Organs, einer Einrichtung oder einer sonstigen Stelle der Union vom Vorliegen einer Reihe von Voraussetzungen abhängt, nämlich von der Rechtswidrigkeit des beanstandeten Verhaltens, dem tatsächlichen Bestehen des Schadens und der Existenz eines Kausalzusammenhangs zwischen dem behaupteten Verhalten und dem geltend gemachten Schaden, wobei diese drei Voraussetzungen kumulativ vorliegen müssen (vgl. Urteil vom 3. Oktober 2019, DQ u. a./Parlament, T‑730/18, EU:T:2019:725, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

251    Zur Voraussetzung der Rechtswidrigkeit des Verhaltens ist zu bemerken, dass ein Schadensersatzantrag, der zusammen mit einem jeder rechtlichen Grundlage entbehrenden Nichtigkeitsantrag gestellt wird, nach ständiger Rechtsprechung selbst einer solchen Grundlage entbehrt, wenn er mit diesem eng verknüpft ist (Urteile vom 30. September 2003, Martínez Valls/Parlament, T‑214/02, EU:T:2003:254, Rn. 43, und vom 28. Februar 2018, Paulini/EZB, T‑764/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:101, Rn. 86).

252    Da der Aufhebungsantrag als jeder rechtlichen Grundlage entbehrend zurückgewiesen wird (vgl. oben Rn. 246), ist folglich auch der Schadensersatzantrag zurückzuweisen, soweit er auf den angeblich „rauen“ Ton der Entlassungsentscheidung, die Tatsache, dass diese auf einer angeblich irreversiblen Verletzung des Vertrauensverhältnisses beruht, ohne dass die EZB erläutert hätte, inwiefern dieses Vertrauen unwiederbringlich erschüttert worden sein soll, und auf eine Schädigung des Rufs des Klägers durch die angefochtenen Entscheidungen gestützt wird.

253    Der Kläger leitet seinen Schaden jedoch auch aus dem Zustand der Ungewissheit ab, in dem er sich wegen der angeblich unangemessen langen Dauer des Verfahrens befunden hat.

254    Auch wenn ein Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer grundsätzlich nicht die Aufhebung einer am Ende eines Verwaltungsverfahrens getroffenen Entscheidung rechtfertigen kann (vgl. oben Rn. 178), kann dieser Verstoß bei der Behandlung des Schadensersatzantrags berücksichtigt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. April 2019, AV/Kommission, T‑303/18 RENV, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:239, Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung).

255    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein Disziplinarverfahren jeden Beamten oder Bediensteten im Hinblick auf seine berufliche Zukunft in einen Zustand der Ungewissheit versetzt und bei ihm zwangsläufig einen gewissen Stress und eine gewisse Angst hervorruft, und dass, wenn diese Ungewissheit übermäßig lange andauert, der Stress und die Angst das zumutbare Maß übersteigen (Urteil vom 13. Januar 2010, A und G/Kommission, F‑124/05 und F‑96/06, EU:F:2010:2, Rn. 147) und grundsätzlich einen immateriellen Schaden darstellen können.

256    Was den Kausalzusammenhang angeht, so muss der Kläger nach der einschlägigen Rechtsprechung im vorliegenden Fall jedoch den Beweis für einen unmittelbaren und sicheren ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Fehler des Organs und dem geltend gemachten Schaden erbringen (Urteile vom 28. September 1999, Hautem/EIB, T‑140/97, EU:T:1999:176, Rn. 85, und vom 5. Juli 2011, V/Parlament, F‑46/09, EU:F:2011:101, Rn. 158). Das beanstandete Verhalten muss somit die ausschlaggebende Ursache für den Schaden sein (Beschluss vom 31. März 2011, Mauerhofer/Kommission, C‑433/10 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2011:204, Rn. 127, sowie Urteil vom 8. November 2018, Cocchi und Falcione/Kommission, T‑724/16 P, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:759, Rn. 96).

257    Der Kläger stützt seinen Schadensersatzantrag auf eine ärztliche Bescheinigung vom 30. Oktober 2017, wonach die Tatsache, dass sich bei ihm mit der Zeit Schlafstörungen, Gewichtsverlust und Kopfschmerzen eingestellt haben, kurzerhand auf die „durch die EZB geschaffene Arbeitssituation“ zurückgeführt wird.

258    Um beurteilen zu können, welchen Beweiswert diese Bescheinigung hat, sind sämtliche Umstände des Falls zu berücksichtigen.

259    Insoweit ist insbesondere festzuhalten, dass gegen den Kläger, auch wenn er seit seiner Beurlaubung vom 21. Oktober 2014 dem Risiko einer Disziplinarstrafe ausgesetzt war, und zwar bis zur Entlassungsentscheidung vom 7. Mai 2019, gleichzeitig mehrere Strafverfahren liefen. So ist gegen den Kläger im Zusammenhang mit den Physiotherapierechnungen ein Ermittlungsverfahren wegen Betrugs und Urkundenfälschung im Sinne der §§ 263 Abs. 1 und 267 des deutschen Strafgesetzbuchs geführt worden (vgl. oben Rn. 7). Diese beiden Delikte waren mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bedroht. Auch ist bereits am 16. Oktober 2014 sein Haus durchsucht worden. Anschließend ist das Ermittlungsverfahren auf den Verfahrensteil betreffend die Apothekenquittungen ausgeweitet worden. Am 12. September 2016 hat die Staatsanwaltschaft, die zwar den Teil betreffend die Apothekenquittungen eingestellt, den Kläger für den die Physiotherapierechnungen betreffenden Teil aber formell des Betrugs und der Urkundenfälschung beschuldigt und dem Strafrichter vorgeführt hatte, gegen ihn Anklage erhoben (vgl. oben Rn. 7). Mit dem Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 18. Oktober 2017 ist der Kläger von diesen Taten freigesprochen worden (vgl. oben Rn. 14). Zur gleichen Zeit ist der Kläger jedoch im Hinblick auf die Rechnungen für Nachhilfeunterricht wegen Betrugs verfolgt worden. Über das Ende der ihn betreffenden Strafverfahren ist er erst durch das Schreiben der Staatsanwaltschaft vom 30. April 2019 (vgl. oben Rn. 23), mit dem ihm die Einstellung des letztgenannten Teils mitgeteilt wurde, unterrichtet worden.

260    Folglich sind gegen den Kläger Strafverfahren geführt worden, in deren Rahmen eine Hausdurchsuchung stattgefunden hat, und er ist während der gesamten Dauer des streitigen Verfahrens, die er für unangemessen hält, der beängstigenden Perspektive einer strafrechtlichen Verurteilung ausgesetzt gewesen.

261    Im Übrigen ist zu bemerken, dass der Kläger während der gesamten disziplinarischen Untersuchung und im vorliegenden Klageverfahren mit besonderem Nachdruck vorgetragen hat, die EZB hätte das Disziplinarverfahren aussetzen müssen und nicht abschließen dürfen, bevor sie nicht Kenntnis vom Ausgang der Strafverfahren gehabt habe. Der Kläger ist daher notwendigerweise davon ausgegangen, dass den Strafverfahren in seinem Fall eine zentrale Bedeutung zukomme.

262    Die EZB kann jedoch nicht für die Dauer der nationalen Strafverfahren verantwortlich gemacht werden.

263    Deshalb stellt die vom Kläger eingereichte ärztliche Bescheinigung vom 30. Oktober 2017, die nicht ausführlich ist, keine Anamnese enthält und nicht einmal auf die Strafverfahren verweist, in diesem Kontext allein keinen hinreichenden Beweis dafür dar, dass die Schlafstörungen, der Gewichtsverlust und die Kopfschmerzen, die darin aufgeführt sind, ihre ausschlaggebende Ursache in den Ungewissheiten im Zusammenhang mit der Dauer des Disziplinarverfahrens fanden.

264    Unter Berücksichtigung des Vorstehenden ist der Schluss zu ziehen, dass der Kläger, dem die Beweislast obliegt (vgl. oben Rn. 256), den Kausalzusammenhang zwischen dem angeblich fehlerhaften Verhalten der EZB und dem geltend gemachten Schaden rechtlich nicht hinreichend nachweist. Wie oben in Rn. 256 dargelegt wird, ist dieser Zusammenhang eine der kumulativen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit die Haftung eines Organs ausgelöst werden kann.

265    Demnach ist der Schadensersatzantrag des Klägers zurückzuweisen.

266    Folglich ist die Klage des Klägers insgesamt abzuweisen.

D.      Antrag der EZB auf Anhörung des Klägers, seiner Ehefrau und seiner Kinder sowie gegebenenfalls von B

267    Die EZB beantragt, erforderlichenfalls den Kläger, seine Ehefrau und seine Kinder sowie gegebenenfalls die vermeintliche Physiotherapeutin B als Zeugen zu benennen, um sie zu den Physiotherapierechnungen anzuhören, oder zumindest den Kläger als Partei des Rechtsstreits dazu anzuhören.

268    Da entschieden worden ist, dass die Vorfälle im Zusammenhang mit diesen Rechnungen verjährt waren (vgl. oben Rn. 89), ist dem Antrag nicht stattzugeben.

IV.    Kosten

269    Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Nach Art. 135 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann das Gericht jedoch aus Gründen der Billigkeit entscheiden, dass eine unterliegende Partei neben ihren eigenen Kosten nur einen Teil der Kosten der Gegenpartei trägt oder gar nicht zur Tragung dieser Kosten zu verurteilen ist. Außerdem kann das Gericht nach Art. 135 Abs. 2 der Verfahrensordnung auch eine obsiegende Partei zur Tragung eines Teils der Kosten oder sämtlicher Kosten verurteilen, wenn dies wegen ihres Verhaltens, auch vor Klageerhebung, gerechtfertigt erscheint.

270    Im vorliegenden Fall geht oben aus den Rn. 82 und 89 hervor, dass die EZB das Disziplinarverfahren abgeschlossen und zu Lasten des Klägers angenommen hat, dass er seinen Pflichten in den Verfahrensteilen betreffend die Physiotherapierechnungen und die Apothekenquittungen ungeachtet ihrer Verjährung nicht nachgekommen war.

271    Unter diesen Umständen erscheint es nach den oben in Rn. 269 angeführten Bestimmungen sachgerecht, dass der Kläger verurteilt wird, neben seinen eigenen Kosten drei Viertel der Kosten der EZB zu tragen, und diese zur Tragung des verbleibenden Viertels ihrer eigenen Kosten verurteilt wird.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Vierte erweiterte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      DI trägt seine eigenen Kosten und drei Viertel der Kosten der Europäischen Zentralbank (EZB), die den Rest ihrer Kosten trägt.

Gervasoni

Madise

Nihoul

Frendo

 

      Martín y Pérez de Nanclares

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 9. Juni 2021.

Unterschriften


Inhaltsverzeichnis



*      Verfahrenssprache: Englisch.


i      Die vorliegende Sprachfassung ist in den Schlüsselwörtern und in den Rn. 1, 2, 4, 6, 7, 8, 10, 11, 14, 15, 16, 17, 19, 20, 21, 22, 24, 25, 26, 40, 41, 43, 44, 46, 47, 49, 51, 54, 55, 61, 63, 64, 66, 69, 78, 80, 81, 82, 91, 92, 119, 120, 134, 135, und 151 gegenüber der ursprünglich online gestellten Fassung geändert worden.