Language of document : ECLI:EU:T:2009:467

URTEIL DES GERICHTS (Fünfte Kammer)

25. November 2009(*)

„Staatliche Beihilfen – Beihilfen für kleine und mittlere Unternehmen – Entscheidung über die Anordnung zur Auskunftserteilung bezüglich zweier Beihilferegelungen – Kontrollbefugnisse der Kommission nach Art. 9 Abs. 2 Satz 4 der Verordnung (EG) Nr. 70/2001“

In der Rechtssache T‑376/07

Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch M. Lumma, J. Möller und B. Klein als Bevollmächtigte,

Klägerin,

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch K. Gross und B. Martenczuk als Bevollmächtigte,

Beklagte,

wegen Nichtigerklärung der Entscheidung K (2007) 3226 der Kommission vom 18. Juli 2007 über die Anordnung zur Auskunftserteilung bezüglich zweier Beihilferegelungen, die unter die Verordnung (EG) Nr. 70/2001 der Kommission vom 12. Januar 2001 über die Anwendung der Artikel [87 EG] und [88 EG] auf staatliche Beihilfen an kleine und mittlere Unternehmen (ABl. L 10, S. 33) fallen,

erlässt

DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten M. Vilaras sowie der Richter M. Prek (Berichterstatter) und V. M. Ciucă,

Kanzler: T. Weiler, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Juni 2009

folgendes

Urteil

 Rechtlicher Rahmen

1        Art. 3 („Transparenz und Überwachung“) der Verordnung (EG) Nr. 994/98 des Rates vom 7. Mai 1998 über die Anwendung der Artikel [87 EG] und [88 EG] auf bestimmte Gruppen horizontaler Beihilfen (ABl. L 142, S. 1; im Folgenden: Grundverordnung) lautet:

„(1)      Beim Erlass von Verordnungen nach Artikel 1 erlegt die Kommission den Mitgliedstaaten genaue Regeln zur Gewährleistung der Transparenz und der Überwachung der gemäß diesen Verordnungen von der Anmeldungspflicht freigestellten Beihilfen auf. Diese Regeln haben insbesondere die in den Absätzen 2, 3 und 4 festgelegten Anforderungen zum Gegenstand.

(2)      Sobald Beihilferegelungen oder außerhalb einer Regelung gewährte Einzelbeihilfen, die gemäß den genannten Verordnungen freigestellt sind, angewandt werden, übermitteln die Mitgliedstaaten der Kommission im Hinblick auf die Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften eine Zusammenfassung der Angaben zu diesen freigestellten Beihilferegelungen oder Einzelbeihilfen.

(3)      Die Mitgliedstaaten zeichnen alle Angaben zur Durchführung der Gruppenfreistellungen auf und speichern sie. Liegen der Kommission Angaben vor, die Zweifel an der ordnungsgemäßen Durchführung einer Freistellungsverordnung aufkommen lassen, teilen die Mitgliedstaaten ihr alle Angaben mit, die sie für die Beurteilung der Vereinbarkeit einer Beihilfe mit der genannten Verordnung für notwendig erachtet.

(4)      Die Mitgliedstaaten übermitteln der Kommission mindestens einmal jährlich gemäß den besonderen Anforderungen der Kommission – vorzugsweise in automatisierter Form – einen Bericht über die Durchführung der Gruppenfreistellungen. Die Kommission gewährt allen Mitgliedstaaten Zugang zu diesen Berichten. Einmal jährlich werden diese Berichte von dem in Artikel 7 genannten Beratenden Ausschuss erörtert und ausgewertet.“

2        Der 20. Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 70/2001 der Kommission vom 12. Januar 2001 über die Anwendung der Artikel [87 EG] und [88 EG] auf staatliche Beihilfen an kleine und mittlere Unternehmen (ABl. L 10, S. 33) in der damals geltenden Fassung (im Folgenden: KMU-Freistellungsverordnung), die auf der Grundlage von Art. 1 der Grundverordnung erlassen wurde, lautet:

„Zum Zwecke der Transparenz und einer wirksamen Überwachung im Sinne von Artikel 3 der [Grundverordnung] soll ein Standardvordruck für die der Kommission von den Mitgliedstaaten in Kurzform zu übermittelnden Informationen bei Einführung einer Beihilferegelung oder Gewährung einer Einzelbeihilfe außerhalb einer Beihilferegelung, die aufgrund dieser Verordnung freigestellt ist, konzipiert werden. Die betreffenden Angaben werden anschließend im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht. Aus denselben Gründen sollten den Mitgliedstaaten auch Vorgaben in Bezug auf die von ihnen zu speichernden Angaben betreffend die nach dieser Verordnung freigestellten Beihilfen gemacht werden. Die Mitgliedstaaten sind ferner verpflichtet, der Kommission einmal jährlich einen Bericht vorzulegen; hier gilt es, Kriterien festzulegen, nach denen der Bericht zu erstellen ist, darunter die Vorlage in EDV-gestützter Form, da die entsprechende Technologie inzwischen nahezu überall vorhanden ist.“

3        Art. 9 („Transparenz und Überwachung“) Abs. 2 der KMU-Freistellungsverordnung sieht Folgendes vor:

„Die Mitgliedstaaten halten ausführliche Aufzeichnungen über die nach dieser Verordnung freigestellten Beihilferegelungen und darunter fallende Einzelbeihilfen sowie über die nach dieser Verordnung freigestellten Einzelbeihilfen, die außerhalb einer bestehenden Beihilferegelung gewährt werden, zur Verfügung. Die Aufzeichnungen müssen belegen, dass die in dieser Verordnung genannten Freistellungsvoraussetzungen erfüllt sind und dass es sich bei dem Unternehmen um ein KMU handelt. Aufzeichnungen über Einzelbeihilfen sind während zehn Jahren vom Zeitpunkt ihrer Gewährung an gerechnet zur Verfügung zu halten; bei Beihilferegelungen beträgt diese Frist zehn Jahre ab dem Zeitpunkt, zu dem zum letzten Mal eine Einzelbeihilfe nach der fraglichen Regelung gewährt wurde. Die Kommission kann von dem betreffenden Mitgliedstaat schriftlich alle Informationen anfordern, die ihrer Ansicht nach nötig sind, um zu beurteilen, ob die Voraussetzungen für eine Freistellung erfüllt sind. Die Informationen sind ihr binnen zwanzig Arbeitstagen zu übermitteln, sofern diese Frist in dem Auskunftsverlangen nicht verlängert wurde.“

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

4        Mit zwei Schreiben vom 26. Juli 2006 forderte die Kommission der Europäischen Gemeinschaften die Bundesrepublik Deutschland auf, ihr Informationen über die Beihilferegelungen XS 24/2002 und XS 29/2002 zu übermitteln, um zu überprüfen, ob diese Regelungen der KMU-Freistellungsverordnung entsprechen. Insbesondere wurde um Übermittlung einer Liste der Begünstigten, die aufgrund dieser Regelungen im Jahr 2005 Beihilfen von mehr als 200 000 Euro erhalten hatten, sowie um Auskünfte zu diesen Begünstigten ersucht. Die Bundesrepublik Deutschland kam dem Ersuchen betreffend die Beihilferegelung XS 24/2002 am 24. August 2006 und dem Ersuchen betreffend die Beihilferegelung XS 29/2002 am 1. September und 25. Oktober 2006 nach.

5        In zwei Schreiben vom 30. Oktober 2006 betreffend die Beihilferegelungen XS 24/2002 und XS 29/2002 teilte die Kommission mit, dass die Beihilferegelungen die Bestimmungen der KMU-Freistellungsverordnung einzuhalten schienen. Nach einem Hinweis auf ihre bereits in ihren Schreiben vom 26. Juli 2006 geäußerte Absicht, anhand einer begrenzten Anzahl von Beihilfen die Einhaltung der genannten Verordnung zu prüfen, bat die Kommission bezüglich der Beihilferegelungen XS 24/2002 und XS 29/2002 um Übermittlung von Informationen zu den fünf Begünstigten mit den höchsten im Jahr 2005 erhaltenen Beihilfen.

6        Die Bundesrepublik Deutschland lehnte mit Schreiben, das am 10. November 2006 bei der Kommission einging, bezüglich der Beihilferegelung XS 24/2002 die Übermittlung weiterer Informationen zu den gegenständlichen Vorhaben ab. Die Kommission richtete am 21. Dezember 2006 erneut ein Auskunftsersuchen an die Bundesrepublik Deutschland und sodann am 9. Februar 2007 ein Erinnerungsschreiben. Am 18. April 2007 bekräftigte die Bundesrepublik Deutschland ihre Weigerung, die angeforderten Unterlagen zu übermitteln.

7        Bezüglich der Beihilferegelung XS 29/2002 richtete die Kommission, da sie kein Antwortschreiben auf ihr Schreiben vom 30. Oktober 2006 erhalten hatte, am 19. Dezember 2006 ein Erinnerungsschreiben an die Bundesrepublik Deutschland. Am 29. Januar 2007 lehnte die Bundesrepublik Deutschland die Übermittlung der verlangten Auskünfte ab. Diese Weigerung wurde am 18. April 2007 bekräftigt.

8        Am 18. Juli 2007 erließ die Kommission die Entscheidung K (2007) 3226, mit der sie die Erteilung bestimmter Auskünfte zu den Beihilferegelungen XS 24/2002 und XS 29/2002 durch die Bundesrepublik Deutschland anordnete (im Folgenden: angefochtene Entscheidung).

9        Mit Schreiben vom 30. August 2007 erteilte die Bundesrepublik Deutschland der Kommission die verlangten Auskünfte, hielt jedoch an ihrer Auffassung fest, dass die Kommission nicht befugt sei, die Erteilung von Auskünften anzuordnen, solange sie keine Zweifel an der Erfüllung der Verpflichtungen nach der KMU-Freistellungsverordnung habe.

 Angefochtene Entscheidung

10      In den Randnrn. 14 bis 25 („Allgemeine Anmerkungen“) der angefochtenen Entscheidung wird ausgeführt:

„14      Die von der Bundesrepublik Deutschland auf [das] Auskunftsersuchen [vom 26. Juli 2006] hin übermittelten Informationen sind unvollständig und ermöglichen der Kommission keine Bewertung der Vereinbarkeit der oben genannten Beihilferegelungen mit der [KMU-Freistellungsverordnung].

15      Die Bundesrepublik Deutschland verweigert die Übermittlung von Informationen zu einzelnen Anwendungsfällen der ausgewählten Beihilferegelungen mit der Begründung, dass gemäß Art. 3 Abs. 3 der [Grundverordnung] die Kommission konkrete Zweifel an der ordnungsgemäßen Durchführung [der KMU- Freistellungsverordnung] haben müsse, um ein Auskunftsersuchen an den Mitgliedstaat zu richten.

16      Die deutschen Behörden argumentieren, dass die in Art. 9 der [KMU-Freistellungsverordnung] enthaltenen Transparenz- und Überwachungsbestimmungen, wonach die Kommission alle Informationen anfordern kann, die ihrer Ansicht nach notwendig sind, um zu beurteilen, ob die Freistellungsvoraussetzungen erfüllt sind, der Kommission kein allgemeines Recht zur Kontrolle geben, sondern dieses auf Verdachtsmomente begrenzen.

17      Die deutschen Behörden sind der Auffassung, dass Art. 9 der [KMU-Freistellungsverordnung] der Kommission keine Befugnisse einräumen kann, die nicht aus Art. 3 Abs. 3 der [Grundverordnung] hergeleitet werden können. Aus diesem Grund müsse das Merkmal des Zweifels als Restriktion der Kontrollbefugnisse der Kommission gesehen werden.

18      Die Kommission erwiderte, dass die Überwachungsmaßnahme erst dann als abgeschlossen angesehen werden kann, wenn mehrere auf der Grundlage der ausgewählten Beihilferegelungen gewährte Einzelbeihilfen beurteilt wurden.

19      Die Kommission führte aus, dass die Regelung von Art. 3 der [Grundverordnung] die allgemeinen Mindestanforderungen für Transparenz und Überwachung festlegt, nicht aber die Kontrollbefugnisse der Kommission auf Verdachtsmomente beschränkt.

20      Die Verpflichtung der Kommission, Überwachungsregelungen gemäß Art. 3 Abs. 1 der [Grundverordnung] einzuführen, muss im Lichte des 10. Erwägungsgrundes gesehen werden, wonach ‚die Kommission verpflichtet ist, in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten alle bestehenden Beihilferegelungen fortlaufend zu überprüfen‘, wie in Art. 88 Abs. 1 [EG] festgeschrieben.

21      Aus diesem Grund kann Art. 9 der [KMU-Freistellungsverordnung] nicht als gegenläufig zur [Grundverordnung] gesehen werden.

22      Hieraus ergibt sich, dass die Bundesrepublik Deutschland durch die Weigerung, die angeforderten Informationen zu übermitteln, ihrer in Art. 9 der [KMU-Freistellungsverordnung] niedergelegten Verpflichtung, die auf Art. 3 der [Grundverordnung] und Art. 88 Abs. l [EG] basiert, nicht nachkommt.

23      Es ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof festgestellt hat, dass die Kommission ermächtigt ist, sichernde Maßnahmen anzuwenden, um den status quo dort zu erhalten, wo die Verfahrenspraxis gewisser Mitgliedstaaten dazu führt, dass das durch Art. [87 EG] und [88 EG] eingeführte System unterlaufen wird.

24      Die Einhaltung der Transparenz- und Überwachungsbestimmungen der [KMU-Freistellungsverordnung] ist unerlässliche Bedingung für die Freistellung einer Beihilfe von der Anmeldungspflicht gemäß Art. 88 Abs. 3 [EG]. Aus diesem Grund ist die Kommission unter diesen Umständen noch immer nicht in der Lage festzustellen, ob jede Beihilfe, die aufgrund solcher Beihilferegelungen vergeben werden kann, sämtliche Bedingungen der [KMU-Freistellungsverordnung] erfüllt, wie es Art. 3 Abs. 2 Buchstabe a) der Verordnung verlangt.

25      Die Kommission hat deshalb entschieden, eine Anordnung zur Auskunftserteilung an die Bundesrepublik Deutschland zu richten, um die Informationen zu erhalten, die sie zuvor auf Grundlage von Art. 9 der [KMU-Freistellungsverordnung] erfragt hat. Die erbetenen Informationen sollten der Kommission innerhalb von 20 Arbeitstagen übermittelt werden.“

 Verfahren und Anträge der Parteien

11      Mit Klageschrift, die am 26. September 2007 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Bundesrepublik Deutschland die vorliegende Klage erhoben.

12      Die Bundesrepublik Deutschland beantragt,

–        die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären;

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

13      Die Kommission beantragt,

–        die Klage abzuweisen;

–        der Bundesrepublik Deutschland die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

14      Die Bundesrepublik Deutschland macht zwei Klagegründe geltend, mit denen sie die fehlende Befugnis der Kommission zum Erlass der angefochtenen Entscheidung und einen Verstoß gegen das Verbot des venire contra factum proprium rügt.

 Zum ersten Klagegrund: Fehlende Befugnis der Kommission zum Erlass der angefochtenen Entscheidung

 Vorbringen der Parteien

15      Die Bundesrepublik Deutschland ist der Auffassung, der Kommission fehle die Befugnis zum Erlass der angefochtenen Entscheidung, da ihr Art. 9 Abs. 2 Satz 4 der KMU-Freistellungsverordnung bei einer Auslegung im Licht von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 der Grundverordnung nicht die Befugnis verleihe, Auskünfte zu Beihilferegelungen anzufordern, die unter die KMU-Freistellungsverordnung fielen, wenn keine Angaben vorlägen, die Zweifel an der Erfüllung der in dieser Verordnung aufgestellten Voraussetzungen aufkommen ließen.

16      Art. 9 Abs. 2 Satz 4 der KMU-Freistellungsverordnung müsse aufgrund seiner Ungenauigkeit im Licht von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 der Grundverordnung ausgelegt werden. In Art. 9 Abs. 2 Satz 4 der KMU-Freistellungsverordnung sei nur festgelegt, dass die Kommission vom betreffenden Mitgliedstaat zur Überprüfung der Erfüllung der Freistellungsvoraussetzungen Informationen anfordern könne. Daher könne dieser Bestimmung bei isolierter Betrachtung nicht entnommen werden, ob ein Auskunftsersuchen nur bei Vorliegen eines Anlasses oder anlassunabhängig gestellt werden könne.

17      Art. 3 Abs. 3 Satz 2 der Grundverordnung erlaube der Kommission jedoch nur dann, von einem Mitgliedstaat Auskünfte zu verlangen, wenn ihr Angaben vorlägen, die Zweifel an der Erfüllung der in einer Freistellungsverordnung aufgestellten Voraussetzungen aufkommen ließen.

18      In Anbetracht des Wortlauts von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 der Grundverordnung beziehe sich daher das Ermessen der Kommission nach Art. 9 Abs. 2 Satz 4 nur auf den Umfang der zu erteilenden Informationen, nicht hingegen auf den Anlass dieser Informationsanforderung.

19      Die Bundesrepublik Deutschland vertritt darüber hinaus unter Verweis auf den 20. Erwägungsgrund der KMU-Freistellungsverordnung die Ansicht, dass Sinn und Zweck von Art. 9 dieser Verordnung nicht pauschal eine wirksame Kontrolle, sondern vielmehr eine wirksame Überwachung im Sinne von Art. 3 der Grundverordnung sei. Der eigentliche Maßstab, anhand dessen der Umfang der Kontrollbefugnisse der Kommission zu messen sei, sei daher allein Art. 3 dieser Verordnung.

20      Die Kommission beantragt, diesen Klagegrund zurückzuweisen.

 Würdigung durch das Gericht

21      Zunächst ist festzustellen, dass das Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland zu einer fehlenden Befugnis der Kommission zum Erlass der angefochtenen Entscheidung weder ausdrücklich noch schlüssig eine Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 9 Abs. 2 Satz 4 der KMU-Freistellungsverordnung enthält, wonach diese Bestimmung Art. 3 Abs. 3 Satz 2 der Grundverordnung widerspreche, was die Bundesrepublik Deutschland in der mündlichen Verhandlung anerkannt und das Gericht zur Kenntnis genommen hat. Das Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland ist demnach ausschließlich darauf gestützt, dass Art. 9 Abs. 2 Satz 4 der KMU-Freistellungsverordnung mehrdeutig sei und deshalb im Licht der Grundverordnung ausgelegt werden müsse.

22      Nach ständiger Rechtsprechung ist zwar eine auslegungsbedürftige Bestimmung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts nach Möglichkeit so auszulegen, dass sie mit den Vorschriften des Vertrags vereinbar ist. Außerdem ist eine Durchführungsverordnung, wenn möglich, so auszulegen, dass sie mit den Bestimmungen der Grundverordnung vereinbar ist (Urteile des Gerichtshofs vom 10. September 1996, Kommission/Deutschland, C‑61/94, Slg. 1996, I‑3989, Randnr. 52, und vom 24. Juni 1993, Dr. Tretter, C‑90/92, Slg. 1993, I‑3569, Randnr. 11). Diese Rechtsprechung ist jedoch auf eine Bestimmung einer Durchführungsverordnung, deren Bedeutung klar und eindeutig ist und die daher keiner Auslegung bedarf, nicht anwendbar.

23      Die genaue Bedeutung von Art. 9 Abs. 2 Satz 4 der KMU-Freistellungsverordnung ist nach seinem Wortlaut unmissverständlich. Aus ihm geht klar hervor, dass die Kommission von den Mitgliedstaaten alle Informationen anfordern kann, die ihrer Ansicht nach nötig sind, um zu beurteilen, ob die in der KMU-Freistellungsverordnung aufgestellten Voraussetzungen erfüllt sind.

24      Aus dem klaren und eindeutigen Wortlaut von Art. 9 Abs. 2 Satz 4 der KMU-Freistellungsverordnung folgt daher zwingend, dass die Kommission nach dieser Bestimmung das Recht hat, von einem Mitgliedstaat unter allen Umständen Informationen anzufordern.

25      Der Verweis der Bundesrepublik Deutschland auf den 20. Erwägungsgrund der KMU-Freistellungsverordnung steht diesem Ergebnis nicht entgegen. Aus dem Wortlaut des 20. Erwägungsgrundes ergibt sich kein Widerspruch zu Art. 9 Abs. 2 Satz 4 der KMU-Freistellungsverordnung, der zu Unklarheiten hinsichtlich der Bedeutung dieser Bestimmung führte. Dieser Erwägungsgrund enthält nämlich keine Bezugnahmen auf Umstände, unter denen die Kommission das Recht hätte, von einem Mitgliedstaat Informationen zu freigestellten Beihilferegelungen anzufordern.

26      Aus dem klaren Wortlaut von Art. 9 Abs. 2 Satz 4 der KMU-Freistellungsverordnung folgt daher zum einen, dass diese Bestimmung nicht im Licht von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 der Grundverordnung auszulegen ist, und zum anderen, dass die Kommission durch den Erlass der angefochtenen Entscheidung ihre Befugnisse nach dieser Bestimmung nicht überschritten hat.

27      Der erste Klagegrund ist daher zurückzuweisen, ohne dass es erforderlich wäre, den Umfang der der Kommission durch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 der Grundverordnung eingeräumten Befugnisse zu prüfen.

 Zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen das Verbot des venire contra factum proprium

 Vorbringen der Parteien

28      Die Bundesrepublik Deutschland trägt vor, die Kommission habe im Rahmen der Reform des Beihilferechts einige Änderungsvorschläge veröffentlicht, denen entnommen werden könne, dass sie nicht befugt sei, anlassunabhängige Kontrollen durchzuführen.

29      Erstens folge aus den Randnrn. 52 und 54 des Aktionsplans Staatliche Beihilfen, auf den die Kommission in ihren Schreiben vom 26. Juli 2006 verwiesen habe, dass nach diesem Plan „die Kommission im Falle einer Beschwerde oder bei Zweifeln die Rechtmäßigkeit der Beihilfevergabe überprüfen“ können solle.

30      Zweitens beruft sich die Bundesrepublik Deutschland auf einen Änderungsvorschlag zur Grundverordnung, der bezwecke, der Kommission die Möglichkeit zur Durchführung stichprobenartiger Kontrollen zu geben, wenn ihr keine Anhaltspunkte vorlägen, die Zweifel an der ordnungsgemäßen Anwendung einer Verordnung aufwürfen. Daraus folge zwingend, dass ihr die geltenden Vorschriften diese Möglichkeit nicht einräumten.

31      Drittens sei aus dem von der Kommission 2007 vorgelegten Entwurf einer Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung für staatliche Beihilfen (ABl. C 210, S. 14) derselbe Schluss zu ziehen. Die Kommission schlage nämlich die Einfügung eines neuen Art. 9 Abs. 7 vor, wonach sie „regelmäßig die Beihilfemaßnahmen [überprüft], von denen sie nach Absatz 1 unterrichtet wurde“.

32      Aus alledem leitet die Bundesrepublik Deutschland ab, die Kommission habe gegen das Verbot des venire contra factum proprium verstoßen. In ihrer Erwiderung fügt sie hinzu, dass die Kommission gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoße, indem sie von dieser früheren Position abrücke. In der mündlichen Verhandlung hat sie sich überdies auf eine ständige Praxis der Kommission berufen, nur bei Vorliegen von Zweifeln an der Erfüllung der Voraussetzungen der KMU-Freistellungsverordnung Kontrollen durchzuführen.

33      Auf die Behauptung der Kommission, das Verbot des venire contra factum proprium stelle keinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts dar, erwidert die Bundesrepublik Deutschland, die Gemeinschaftsgerichte hätten mehrfach auf dieses Verbot Bezug genommen. Zudem stehe es nicht nur dem Grundsatz des Vertrauensschutzes, sondern auch dem Grundsatz der Rechtssicherheit sachlich nahe.

34      Sie weist außerdem die Auffassung der Kommission zurück, der vorliegende Klagegrund sei nicht auf Vorbringen zum Nachweis eines schutzwürdigen Vertrauens gestützt.

35      Zum Argument der Kommission, es könne kein Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes vorliegen, da Art. 9 Abs. 2 Satz 4 der KMU-Freistellungsverordnung Kontrollen auch bei Fehlen von Zweifeln erlaube, verweist die Bundesrepublik Deutschland auf ihr Vorbringen im Rahmen des ersten Klagegrundes zur Bedeutung, die dieser Bestimmung beizulegen sei. Daraus folge, dass die Änderung der Praxis der Kommission sehr wohl eine Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes darstelle.

36      Die Behauptung der Kommission, ihr Änderungsvorschlag zur Grundverordnung habe nur der Klarstellung ihrer Befugnis zur Vornahme von Kontrollen unabhängig von Zweifeln gedient, sei nicht überzeugend. Im Wesentlichen macht die Bundesrepublik Deutschland geltend, die Notwendigkeit einer solchen Klarstellung zeige, dass die Kommission nicht davon ausgegangen sei, dass Art. 3 der Grundverordnung ihr solche Kontrollen gestatte.

37      Schließlich vertritt die Bundesrepublik Deutschland zu den Schlüssen, die die Kommission aus dem Umstand ziehe, dass ihr Entwurf einer allgemeinen Freistellungsverordnung auf die Grundverordnung gestützt sei, im Wesentlichen die Ansicht, sie beruhten auf einer fehlerhaften Auslegung dieser Verordnung.

38      Die Kommission beantragt, diesen Klagegrund zurückzuweisen.

 Würdigung durch das Gericht

39      Im Rahmen dieses Klagegrundes vertritt die Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen die Auffassung, die Kommission selbst habe Art. 9 Abs. 2 Satz 4 der KMU-Freistellungsverordnung dahin ausgelegt, dass er ihr bei Fehlen von Zweifeln an der Erfüllung der aufgestellten Voraussetzungen keine Kontrollen erlaube, was sich in ihrer Entscheidungspraxis widergespiegelt habe. Sie habe daher nicht das Recht, von dieser Auslegung abzugehen. Dies kann dem Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland zum Verstoß gegen die Formel non venire contra factum proprium und später, in ihrer Erwiderung, zum Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes entnommen werden.

40      Dieses Vorbringen ist nicht überzeugend. Angesichts des klaren Wortlauts von Art. 9 Abs. 2 Satz 4 der KMU-Freistellungsverordnung konnte die Bundesrepublik Deutschland keine Zweifel bezüglich des Umfangs der Befugnisse der Kommission nach dieser Bestimmung haben. Sie kann sich daher nicht auf eine Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes berufen, um den Umfang der Befugnisse, die die Kommission aus dieser Bestimmung ableitet, einzuschränken.

41      Jedenfalls können die verschiedenen Umstände, die die Bundesrepublik Deutschland geltend macht, kein berechtigtes Vertrauen im Hinblick darauf begründen, wie die Kommission gedenkt, von ihren Befugnissen nach Art. 9 Abs. 2 Satz 4 der KMU-Freistellungsverordnung Gebrauch zu machen.

42      Was erstens das Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland in der mündlichen Verhandlung anbelangt, es habe zwischen dem Inkrafttreten der KMU-Freistellungsverordnung und den Auskunftsersuchen, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegen, eine Praxis der Kommission bestanden, nur bei Vorliegen von Zweifeln an der Erfüllung der Voraussetzungen dieser Verordnung Kontrollen durchzuführen, ist hervorzuheben, dass es nach ständiger Rechtsprechung kein berechtigtes Vertrauen auf die Beibehaltung einer bestehenden Situation geben kann, die die Kommission im Rahmen ihres Ermessens ändern kann (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil des Gerichtshofs vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri u. a./Kommission, C‑189/02 P, C‑202/02 P, C‑205/02 P bis C‑208/02 P und C‑213/02 P, Slg. 2005, I‑5425, Randnr. 171 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Zweitens beruft sich die Bundesrepublik Deutschland darauf, die Kommission habe in Randnr. 52 ihres Aktionsplans Staatliche Beihilfen geschrieben, dass sich „[d]ie Mitgliedstaaten … aktiver dafür einsetzen [sollten], dass sämtliche Freistellungsvoraussetzungen erfüllt und … die notwendigen Daten gespeichert werden, damit die Kommission im Falle einer Beschwerde oder bei Zweifeln die Rechtmäßigkeit der Beihilfenvergabe überprüfen kann“. Wie die Bundesrepublik Deutschland jedoch selbst anerkennt, ist diese Passage in Verbindung mit Randnr. 54 dieses Plans zu lesen, in der die Kommission die Verstärkung ihrer Kontrolle hervorhebt. Diesen beiden Randnummern ist daher, liest man sie gemeinsam, keine genaue Willensäußerung der Kommission zu entnehmen, ihre Befugnis zur Kontrolle der Erfüllung der Voraussetzungen der KMU-Freistellungsverordnung auf Fälle einzuschränken, in denen Zweifel bestehen.

44      Drittens muss der Umstand, dass die Kommission in ihrem Entwurf einer Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung ins Auge gefasst hatte, ihre Befugnisse hinsichtlich der Kontrolle freigestellter Beihilfen anders zu regeln, ohne Auswirkung auf die klare Bedeutung des im vorliegenden Fall allein anwendbaren Art. 9 Abs. 2 Satz 4 der KMU-Freistellungsverordnung bleiben.

45      Viertens betrifft der Umstand, dass der Änderungsvorschlag der Kommission zur Grundverordnung darauf abgezielt habe, ihr nach dieser Verordnung die Befugnis zur Durchführung stichprobenartiger Kontrollen zuzuerkennen, die Auslegung von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 der Grundverordnung und kann daher nicht berücksichtigt werden. Mangels Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 9 Abs. 2 Satz 4 der KMU-Freistellungsverordnung und angesichts des klaren Wortlauts dieser Bestimmung ist nämlich die Bedeutung von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 für den Ausgang des vorliegenden Verfahrens nicht von Belang.

46      Daher ist der zweite Klagegrund zurückzuweisen und damit die Klage insgesamt abzuweisen.

 Kosten

47      Nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Bundesrepublik Deutschland unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Fünfte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten.

Vilaras

Prek

Ciucă

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 25. November 2009.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.