Language of document : ECLI:EU:C:2019:622

Rechtssache C411/17

Inter-Environnement Wallonie ASBL und Bond Beter Leefmilieu Vlaanderen ASBL

gegen

Conseil des ministres

(Vorabentscheidungsersuchen des Verfassungsgerichtshofs [Belgien])

 Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 29. Juli 2019

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Übereinkommen von Espoo – Übereinkommen von Aarhus – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Richtlinie 92/43/EWG – Art. 6 Abs. 3 – Begriff ‚Projekt‘ – Prüfung auf Verträglichkeit mit dem betreffenden Gebiet – Art. 6 Abs. 4 – Begriff ‚zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses‘ – Erhaltung der wildlebenden Vogelarten – Richtlinie 2009/147/EG – Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten – Richtlinie 2011/92/EU – Art. 1 Abs. 2 Buchst. a – Begriff ‚Projekt‘ – Art. 2 Abs. 1 – Art. 4 Abs. 1 – Umweltverträglichkeitsprüfung – Art. 2 Abs. 4 – Ausnahme von der Prüfung – Schrittweiser Ausstieg aus der Kernenergie – Nationale Rechtsvorschriften, die zum einen vorsehen, dass die industrielle Stromerzeugung eines abgeschalteten Kernkraftwerks für die Dauer von fast zehn Jahren wieder aufgenommen wird, so dass der Zeitpunkt, den der nationale Gesetzgeber ursprünglich für die Stilllegung und die Einstellung des Betriebs dieses Kraftwerks festgelegt hat, um zehn Jahre aufgeschoben wird, und zum anderen, dass der Endtermin, den der nationale Gesetzgeber ursprünglich für die Stilllegung und die Einstellung der industriellen Stromerzeugung eines in Betrieb befindlichen Kraftwerks vorgesehen hat, ebenfalls um zehn Jahre aufgeschoben wird – Fehlende Umweltverträglichkeitsprüfung“

1.        Umwelt – Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten Projekten – Richtlinie 2011/92 – Projekt – Begriff – Gesetzgebungsmaßnahmen zur Wiederinbetriebnahme eines Kernkraftwerks und zum Aufschub der Stilllegung eines anderen Kernkraftwerks – Mit diesen Maßnahmen untrennbar verbundene Modernisierungsmaßnahmen – Einbeziehung – Notwendigkeit nachfolgender neuer Genehmigungen für bestimmte Arbeiten – Keine Auswirkung

(Richtlinie 2011/92 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 1 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich)

(vgl. Rn. 61-71)

2.        Umwelt – Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten Projekten – Richtlinie 2011/92 – Prüfung von Projekten, die zu den in Anhang I aufgezählten Klassen gehören – Kernkraftwerke betreffende Projekte – Änderungen oder Erweiterungen eines Projekts – Begriff – Verlängerung der Genehmigung zur Stromerzeugung durch ein Kernkraftwerk – Einbeziehung

(Richtlinie 2011/92 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 2 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1 sowie Anhang I Nr. 2 Buchst. b und Nr. 24)

(vgl. Rn. 73-76, 78-81)

3.        Umwelt – Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten Projekten – Richtlinie 2011/92 – Verpflichtung der zuständigen Behörden, die Prüfung vor der Genehmigung durchzuführen – Begriff der Genehmigung – Gesetz, mit dem die wesentlichen Merkmale des Projekts festgelegt werden – Einbeziehung – Erforderlichkeit späterer Genehmigungen – Keine Auswirkung

(Richtlinie 2011/92 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 1 Abs. 2 Buchst. c und Art. 2 Abs. 1)

(vgl. Rn. 82-84, 87, 88, 91, 92, 94, Tenor 1)

4.        Umwelt – Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten Projekten – Richtlinie 2011/92 – Verpflichtung der zuständigen Behörden, die Prüfung vor der Genehmigung durchzuführen – Möglichkeit einer Ausnahme – Gefahr für die Stromversorgungssicherheit – Einbeziehung – Voraussetzungen

(Richtlinie 2011/92 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 2 Abs. 4 und Art. 7)

(vgl. Rn. 102, Tenor 2)

5.        Umwelt – Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten Projekten – Richtlinie 2011/92 – Geltungsbereich – Durch einen einzelstaatlichen Gesetzgebungsakt genehmigtes Projekt – Ausschluss – Voraussetzungen – Beurteilung durch das einzelstaatliche Gericht

(Richtlinie 2011/92 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 1 Abs. 4)

(vgl. Rn. 104-108, 110, 111, 114, Tenor 3)

6.        Umwelt – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Richtlinie 92/43 – Besondere Schutzgebiete – Verpflichtungen der Mitgliedstaaten – Angemessene Verträglichkeitsprüfung eines Plans oder Projekts – Begriff des Projekts – Verlängerung der Genehmigung zur Stromerzeugung durch ein Kernkraftwerk – Einbeziehung – Voraussetzungen

(Richtlinie 92/43 des Rates, Art. 6 Abs. 3; Richtlinie 2011/92 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 1 Abs. 2 Buchst. a)

(vgl. Rn. 124-133)

7.        Umwelt – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Richtlinie 92/43 – Besondere Schutzgebiete – Verpflichtungen der Mitgliedstaaten – Angemessene Verträglichkeitsprüfung eines Plans oder Projekts – Voraussetzungen – Gefahr einer erheblichen Beeinträchtigung des betroffenen Gebiets – Begriff – Verlängerung der Genehmigung zur Stromerzeugung durch ein Kernkraftwerk in der Nähe eines Schutzgebiets – Einbeziehung

(Richtlinie 92/43 des Rates, Art. 6 Abs. 3)

(vgl. Rn. 134-139)

8.        Umwelt – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Richtlinie 92/43 – Besondere Schutzgebiete – Verpflichtungen der Mitgliedstaaten – Angemessene Verträglichkeitsprüfung eines Plans oder Projekts – Pflicht zur Durchführung der Prüfung vor der Genehmigung des Plans oder Projekts durch die zuständigen Behörden

(Richtlinie 92/43 des Rates, Art. 6 Abs. 3)

(vgl. Rn. 140-145, Tenor 4)

9.        Umwelt – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Richtlinie 92/43 – Genehmigung eines Plans oder Projekts für ein Schutzgebiet aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses – Zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses – Begriff – Stromversorgungssicherheit – Einbeziehung – Voraussetzungen – Öffentliche Sicherheit – Tatsächliche und schwerwiegende Gefahr einer Unterbrechung der Stromversorgung – Einbeziehung

(Art. 194 Abs. 1 Buchst. b AEUV; Richtlinie 92/43 des Rates, Art. 6 Abs. 4)

(vgl. Rn. 155-159, Tenor 5)

10.      Umwelt – Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme – Richtlinien 92/43 und 2011/92 – Nichtigerklärung von Maßnahmen, die mit den Verpflichtungen aus den Richtlinien unvereinbar sind, durch den nationalen Richter – Möglichkeit, die Wirkungen der fraglichen Maßnahmen aufrechtzuerhalten – Voraussetzungen

(Art. 4 Abs. 3 EUV; Richtlinie 92/43 des Rates, Art. 6 Abs. 3; Richtlinie 2011/92 des Europäischen Parlaments und des Rates)

(vgl. Rn. 170-182, Tenor 6)

Zusammenfassung

Mit ihrem am 29. Juli 2019 erlassenen Urteil Inter-Environnement Wallonie und Bond Beter Leefmilieu Vlaanderen (C‑411/17) hat die Große Kammer des Gerichtshofs über die Auslegung der Richtlinie 92/43 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen(1) und der Richtlinie 2011/92 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten(2) entschieden. Dieses Urteil ist im Rahmen eines Rechtsstreits ergangen, in dem zwei Vereinigungen, die Inter-Environnement Wallonie ASBL und die Bond Beter Leefmilieu ASBL, deren Zweck der Schutz der Umwelt und des Lebensumfelds ist, dem Conseil des ministres (Ministerrat, Belgien) gegenüberstehen und dessen Gegenstand ein Gesetz ist, mit dem das Königreich Belgien zum einen vorgesehen hat, die industrielle Stromerzeugung eines abgeschalteten Kernkraftwerks für die Dauer von fast zehn Jahren wieder aufzunehmen, und zum anderen den Endtermin, der ursprünglich für die Außerbetriebnahme und die Einstellung der industriellen Stromerzeugung eines in Betrieb befindlichen Kernkraftwerks vorgesehen war, um zehn Jahre aufgeschoben hat. Die beiden Vereinigungen beanstanden im Wesentlichen, dass die belgischen Behörden dieses Gesetz erlassen hätten, ohne dass die Erfordernisse einer vorherigen Prüfung beachtet worden seien, die sich aus diesen Richtlinien ergäben.

In diesem Kontext hat der Gerichtshof entschieden, dass die streitigen Maßnahmen zur Verlängerung der Stromerzeugung eines Kernkraftwerks ein „Projekt“ im Sinne der Richtlinien 2011/92 und 92/43 darstellt, da sie zwangsläufig mit umfangreichen Arbeiten einhergehen, die den materiellen Zustand der betroffenen Gebiete verändern. Ein solches Projekt muss grundsätzlich vor dem Erlass dieser Maßnahmen einer Prüfung seiner Verträglichkeit mit der Umwelt und den betroffenen geschützten Gebieten unterzogen werden. Der Umstand, dass die Durchführung dieser Maßnahmen mit weiteren Rechtsakten, wie der Erteilung einer neuen individuellen Genehmigung für Stromerzeugung zu industriellen Zwecken an eines der betroffenen Kraftwerke, einhergeht, ist insoweit nicht ausschlaggebend. Die mit diesen Maßnahmen untrennbar verbundenen Arbeiten müssen ebenfalls vor dem Erlass der Maßnahmen einer solchen Prüfung unterzogen werden, falls ihre Natur und ihre potenziellen Auswirkungen auf die Umwelt in diesem Stadium hinreichend ermittelbar sind.

Einem Mitgliedstaat ist es nur dann gestattet, ein Projekt nach der Richtlinie 2011/92 von einer Prüfung seiner Auswirkungen auf die Umwelt auszunehmen, um die Sicherheit seiner Stromversorgung zu gewährleisten, wenn er dartut, dass die Gefahr für die Stromversorgungssicherheit bei vernünftiger Betrachtung wahrscheinlich ist und das fragliche Projekt so dringlich ist, dass es das Unterbleiben einer solchen Prüfung zu rechtfertigen vermag. Diese Ausnahme wirkt sich jedoch nicht auf die Pflicht zur Umweltverträglichkeitsprüfung bei Projekten aus, die wie das im Ausgangsverfahren streitige grenzüberschreitende Auswirkungen haben.

Im Übrigen stellt zwar das Ziel, die Stromversorgungssicherheit eines Mitgliedstaats jederzeit zu gewährleisten, einen zwingenden Grund des überwiegenden öffentlichen Interesses im Sinne der Richtlinie 92/43 dar, der die Durchführung des Projekts trotz negativer Ergebnisse der Prüfung und in Ermangelung einer Alternativlösung rechtfertigt. Dies gilt jedoch nicht, wenn das geschützte Gebiet, das durch ein Projekt beeinträchtigt werden könnte, einen prioritären natürlichen Lebensraumtyp oder eine prioritäre Art einschließt. In diesem Fall kann nur die Notwendigkeit der Abwendung einer tatsächlichen und schwerwiegenden Gefahr, dass die Stromversorgung des betreffenden Mitgliedstaats unterbrochen wird, einen Grund der öffentlichen Sicherheit im Sinne dieser Richtlinie darstellen und kommt als eine solche Rechtfertigung in Frage. Schließlich hat der Gerichtshof entschieden, dass ein nationales Gericht, wenn das innerstaatliche Recht es zulässt, die Wirkungen von Maßnahmen wie den im Ausgangsverfahren streitigen, die unter Verstoß gegen die in den Richtlinie 2011/92 und 92/43 aufgestellten Pflichten erlassen wurden, ausnahmsweise aufrechterhalten darf, wenn ihre Aufrechterhaltung durch zwingende Erwägungen gerechtfertigt ist, die mit der Notwendigkeit zusammenhängen, die tatsächliche und schwerwiegende Gefahr einer Unterbrechung der Stromversorgung des betreffenden Mitgliedstaats abzuwenden, der nicht mit anderen Mitteln und Alternativen, insbesondere im Rahmen des Binnenmarkts, entgegengetreten werden kann. Diese Aufrechterhaltung darf jedoch nur für den Zeitraum gelten, der absolut notwendig ist, um die betreffende Rechtswidrigkeit zu beseitigen.


1      Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. 1992, L 206, S. 7) in der durch die Richtlinie 2013/17/EG des Rates vom 13. Mai 2013 (ABl. 2013, L 158, S. 193) geänderten Fassung.


2      Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. 2012, L 26, S. 1).