Language of document : ECLI:EU:C:2015:555

Rechtssache C‑105/14

Strafverfahren

gegen

Ivo Taricco u. a.

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Cuneo)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Strafverfahren betreffend Mehrwertsteuerdelikte – Art. 325 AEUV – Nationale Regelung, die absolute Verjährungsfristen vorsieht, die zur Straffreiheit der Delikte führen können – Potenzielle Beeinträchtigung der finanziellen Interessen der Europäischen Union – Pflicht des nationalen Gerichts, jede Bestimmung des innerstaatlichen Rechts, die die unionsrechtlichen Pflichten der Mitgliedstaaten beeinträchtigen kann, unangewendet zu lassen“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 8. September 2015

1.        Vorabentscheidungsverfahren – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Grenzen – Offensichtlich unerhebliche Fragen, hypothetische Fragen, die in einem eine zweckdienliche Antwort ausschließenden Zusammenhang gestellt werden, und Fragen, die in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stehen

(Art. 267 AEUV)

2.        Eigenmittel der Europäischen Union – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Bekämpfung von Betrug und sonstigen rechtswidrigen Handlungen – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, wirksame und abschreckende Sanktionen festzulegen – Umfang – Steuerstraftaten im Bereich der Mehrwertsteuer – Nationale Regelung, die eine Beschränkung der Gesamtdauer der strafrechtlichen Verjährung im Fall der Unterbrechung vorsieht und in zahlreichen Fällen zur Straffreiheit führen kann – Unzulässigkeit – Dem nationalen Gericht obliegende Prüfung

(Art. 4 Abs. 3 EUV; Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV; Richtlinie 2006/112 des Rates)

3.        Eigenmittel der Europäischen Union – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Bekämpfung von Betrug und sonstigen rechtswidrigen Handlungen – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, wirksame und abschreckende Sanktionen festzulegen – Umfang – Steuerstraftaten im Bereich der Mehrwertsteuer – Beurteilung der Vereinbarkeit einer Verjährungsregelung, die eine Beschränkung der Verlängerung im Anschluss an eine Unterbrechung nach sich zieht, durch das nationale Gericht – Auswirkung der Art. 101 AEUV, 107 AEUV und 119 AEUV – Fehlen

(Art. 4 Abs. 3 EUV; Art. 101 AEUV, 107 AEUV, 119 AEUV und 325 AEUV)

1.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 29, 30)

2.        Eine nationale Verjährungsregelung für Straftaten, die vorsieht, dass eine Unterbrechungshandlung im Rahmen der Strafverfolgung von schwerem Mehrwertsteuerbetrug die Wirkung hat, die Verjährungsfrist um lediglich ein Viertel ihrer ursprünglichen Dauer zu verlängern, kann die den Mitgliedstaaten durch Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV auferlegten Verpflichtungen beeinträchtigen, falls diese nationale Regelung die Verhängung von wirksamen und abschreckenden Sanktionen in einer beträchtlichen Anzahl von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten schweren Betrugsfällen verhindern oder für die Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen des betreffenden Mitgliedstaats längere Verjährungsfristen als für die Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union vorsehen sollte, was zu überprüfen Sache des nationalen Gerichts ist. Das nationale Gericht ist verpflichtet, Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV volle Wirkung zu verleihen, indem es erforderlichenfalls die Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet lässt, die die Wirkung hätten, den betreffenden Mitgliedstaat an der Erfüllung der ihm durch Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV auferlegten Verpflichtungen zu hindern.

In Bezug auf die Mehrwertsteuer geht nämlich aus der Richtlinie 2006/112 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV hervor, dass die Mitgliedstaaten nicht nur allgemein verpflichtet sind, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihren jeweiligen Hoheitsgebieten geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten, sondern auch den Betrug bekämpfen müssen. Auch wenn die Mitgliedstaaten zwar die anwendbaren Sanktionen – bei denen es sich um verwaltungsrechtliche oder strafrechtliche Sanktionen oder um eine Kombination der beiden handeln kann – frei wählen können, um die Erhebung der Einnahmen aus der Mehrwertsteuer in ihrer Gesamtheit und damit den Schutz der finanziellen Interessen der Union gemäß den Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 und Art. 325 AEUV zu gewährleisten, so können strafrechtliche Sanktionen doch unerlässlich sein, um bestimmte Fälle von schwerem Mehrwertsteuerbetrug wirksam und abschreckend zu bekämpfen.

(vgl. Rn. 36, 39, 58, Tenor 1)

3.        Eine Verjährungsregelung für Mehrwertsteuerdelikte, die absolute Verjährungsfristen vorsieht, die im Fall der Unterbrechung um nicht mehr als ein Viertel ihrer ursprünglichen Dauer verlängert werden können, kann nicht im Licht der Art. 101 AEUV, 107 AEUV und 119 AEUV beurteilt werden.

Erstens wirkt sich nämlich eine womöglich mangelhafte Durchsetzung der innerstaatlichen Strafvorschriften auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer nicht notwendigerweise auf mögliche Kollusionen zwischen Unternehmen aus, die gegen Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen. Zweitens kann zwar der nicht wirksame und/oder nicht abschreckende Charakter der auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer vorgesehenen Sanktionen den betreffenden Unternehmen eventuell einen finanziellen Vorteil verschaffen, doch kann eine Anwendung von Art. 107 AEUV nicht in Frage kommen, da alle Transaktionen der Mehrwertsteuerregelung unterliegen und abgesehen von den Sonderfällen, in denen die Verjährungsregelung bestimmte Straftaten von strafrechtlichen Konsequenzen ausnehmen könnte, jedes Mehrwertsteuerdelikt strafrechtlich geahndet wird. Drittens fällt die Frage, ob Bestimmungen des nationalen Rechts, die zur Straffreiheit bestimmter Mehrwertsteuerdelikte führen können, mit diesem Grundsatz der gesunden öffentlichen Finanzen in Einklang stehen, nicht in den Anwendungsbereich von Art. 119 AEUV, da ihr Zusammenhang mit dieser Pflicht der Mitgliedstaaten ein sehr mittelbarer ist.

(vgl. Rn. 60, 62, 64, 65, Tenor 2)