Language of document : ECLI:EU:C:2017:881

Rechtssache C-251/16

Edward Cussens u. a.

gegen

T. G. Brosnan

(Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court [Irland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Sechste Richtlinie 77/388/EWG – Art. 4 Abs. 3 Buchst. a und Art. 13 Teil B Buchst. g – Befreiung anderer als der in Art. 4 Abs. 3 Buchst. a genannten Lieferungen von Gebäuden und dem dazugehörigen Grund und Boden – Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken – Anwendbarkeit bei Fehlen nationaler Bestimmungen zur Umsetzung dieses Grundsatzes – Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 22. November 2017

1.        Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen nach der Sechsten Richtlinie – Befreiung der Lieferungen von Gebäuden und des dazugehörigen Grund und Bodens – Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken – Unmittelbare Geltung – Nationale Regelung, die keine Umsetzung dieses Grundsatzes in nationales Recht vorsieht – Keine Auswirkung – Zeitliche Wirkung auf Umsätze, die vor der Festlegung dieses Grundsatzes im Steuerbereich getätigt wurden – Rückwirkung – Verletzung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes – Fehlen

(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 13 Teil B Buchst. g)

2.        Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen nach der Sechsten Richtlinie – Befreiung der Lieferungen von Gebäuden und des dazugehörigen Grund und Bodens – Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken – Umqualifizierung von Umsätzen in Anwendung dieses Grundsatzes – Möglichkeit, die Umsätze, die keine missbräuchliche Praktik darstellen, auf der Grundlage der einschlägigen Vorschriften der nationalen Regelung zu besteuern

(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 13 Teil B Buchst. g)

3.        Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen nach der Sechsten Richtlinie – Befreiung der Lieferungen von Gebäuden und des dazugehörigen Grund und Bodens – Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken – Geltungsbereich – Umsätze, mit denen im Wesentlichen ein dem Ziel der Sechsten Richtlinie zuwiderlaufender Steuervorteil erlangt werden soll – Kriterien – Steuervorteil, der sich aus Mietverträgen ergibt, die vor dem Verkauf der von diesen Verträgen erfassten Immobilien geschlossen wurden – Ermittlung des Inhalts und der tatsächlichen Bedeutung der fraglichen Umsätze – Berücksichtigung des rein künstlichen Charakters sowie der rechtlichen, wirtschaftlichen und/oder personellen Verbindungen zwischen den fraglichen Wirtschaftsteilnehmern

(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 13 Teil B Buchst. g)

4.        Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen nach der Sechsten Richtlinie – Befreiung der Lieferungen von Gebäuden und des dazugehörigen Grund und Bodens – Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken – Geltungsbereich – Immobilien, die vor ihrem Verkauf noch nicht tatsächlich genutzt worden sind – Einbeziehung – Voraussetzung – Erlangung eines dem Ziel der einschlägigen Vorschriften zuwiderlaufenden Steuervorteils – Dem nationalen Gericht obliegende Prüfung

(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 13 Teil B Buchst. g)

5.        Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen nach der Sechsten Richtlinie – Befreiung der Lieferungen von Gebäuden und des dazugehörigen Grund und Bodens – Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken – Geltungsbereich – Immobilien, die vor ihrem Verkauf noch nicht tatsächlich genutzt worden sind – Einbeziehung

(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 13 Teil B Buchst. g)

1.      Der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken ist dahin auszulegen, dass er unabhängig von einer nationalen Maßnahme zu seiner Durchsetzung in der innerstaatlichen Rechtsordnung unmittelbar angewandt werden kann, um Immobilienverkäufen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die vor dem Erlass des Urteils vom 21. Februar 2006, Halifax u. a. (C‑255/02, EU:C:2006:121), durchgeführt wurden, die Befreiung von der Mehrwertsteuer zu versagen, ohne dass die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes dem entgegenstehen.

Der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken, wie er in der mit dem Urteil Halifax begründeten Rechtsprechung auf den Bereich der Mehrwertsteuer angewandt wird, weist somit den allgemeinen Charakter auf, der den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts naturgemäß innewohnt (vgl. entsprechend Urteil vom 15. Oktober 2009, Audiolux u. a., C‑101/08, EU:C:2009:626, Rn. 50).

Dem ist noch hinzuzufügen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Versagung eines Rechts oder eines Vorteils wegen missbräuchlicher oder betrügerischer Tätigkeiten nur die einfache Folge der Feststellung ist, dass im Fall von Betrug oder Rechtsmissbrauch die objektiven Voraussetzungen für die Erlangung des ersuchten Vorteils in Wirklichkeit nicht erfüllt sind und daher für diese Versagung keine spezielle Rechtsgrundlage erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Dezember 2000, Emsland-Stärke, C‑110/99, EU:C:2000:695, Rn. 56, Halifax, Rn. 93, und vom 4. Juni 2009, Pometon, C‑158/08, EU:C:2009:349, Rn. 28).

Folglich kann der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken einem Steuerpflichtigen entgegengehalten werden, um ihm u. a. das Recht auf Befreiung von der Mehrwertsteuer zu versagen, auch wenn das nationale Recht keine Bestimmungen enthält, die eine solche Versagung vorsehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti u. a., C‑131/13, C‑163/13 und C‑164/13, EU:C:2014:2455, Rn. 62).

Eine solche Anwendung des Unionsrechts ist indessen mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vereinbar (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 22. Januar 2015, Balazs, C‑401/13 und C‑432/13, EU:C:2015:26, Rn. 49 und 50 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 19. April 2016, DI, C‑441/14, EU:C:2016:278, Rn. 38 bis 40).

Durch die Auslegung des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV vornimmt, wird nämlich erforderlichenfalls erläutert und verdeutlicht, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite dieses Recht seit seinem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, dass abgesehen von ganz außergewöhnlichen Umständen, deren Vorliegen hier jedoch nicht geltend gemacht worden ist, der Richter das Unionsrecht in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden muss, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieses Rechts betreffenden Streit erfüllt sind (vgl. u. a. Urteile vom 29. September 2015, Gmina Wrocław, C‑276/14, EU:C:2015:635, Rn. 44 und 45 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 19. April 2016, DI, C‑441/14, EU:C:2016:278, Rn. 40).

(vgl. Rn. 31-33, 40, 41, 44, Tenor 1)

2.      Die Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ist dahin auszulegen, dass in dem Fall, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Umsätze in Anwendung des Grundsatzes des Verbots missbräuchlicher Praktiken umzuqualifizieren sein sollten, diejenigen Umsätze, die keine solche Praxis darstellen, auf der Grundlage der einschlägigen Vorschriften der nationalen Regelung, die eine entsprechende Steuerpflichtigkeit vorsieht, mit der Mehrwertsteuer besteuert werden können.

(vgl. Rn. 51, Tenor 2)

3.      Der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken ist dahin auszulegen, dass, um auf der Grundlage von Rn. 75 des Urteils vom 21. Februar 2006, Halifax u. a. (C‑255/02, EU:C:2006:121), zu bestimmen, ob mit den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird oder nicht, das Ziel der Mietverträge, die den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Immobilienverkäufen vorausgingen, isoliert zu betrachten ist.

Insoweit ist zunächst hervorzuheben, dass entgegen dem, was die Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens in ihren beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen vortragen, die aus dem Urteil Halifax hervorgegangene Rechtsprechung nicht verlangt, darzutun, dass das einzige Ziel der in Rede stehenden Umsätze darin besteht, einen Steuervorteil zu erlangen. Zwar können Umsätze, mit denen ausschließlich ein solches Ziel verfolgt wird, das sich aus dieser Rechtsprechung ergebende Erfordernis erfüllen, der Gerichtshof hat jedoch in Rn. 45 seines Urteils vom 21. Februar 2008, Part Service (C‑425/06, EU:C:2008:108), klargestellt, dass es sich ebenso verhält, wenn mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil erlangt werden soll.

Für die Bestimmung des Inhalts und der tatsächlichen Bedeutung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Mietverträge kann das vorlegende Gericht u. a. den rein künstlichen Charakter dieser Umsätze sowie die rechtlichen, wirtschaftlichen und/oder personellen Verbindungen zwischen den fraglichen Wirtschaftsteilnehmern berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil Halifax, Rn. 75 und 81). Solche Umstände zeigen, dass im Wesentlichen die Erlangung eines Steuervorteils angestrebt wurde, auch wenn es im Übrigen um die Verfolgung wirtschaftlicher Ziele gegangen sein mag (Urteil vom 21. Februar 2008, Part Service, C‑425/06, EU:C:2008:108, Rn. 62).

(vgl. Rn. 53, 60, 62, Tenor 3)

4.      Der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken ist dahin auszulegen, dass Lieferungen von Immobilien wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zur Erlangung eines Steuervorteils führen können, der dem Ziel der einschlägigen Vorschriften der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG zuwiderläuft, wenn diese Immobilien vor ihrem Verkauf an Dritte noch nicht von ihrem Eigentümer oder ihrem Mieter tatsächlich genutzt worden sind. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits der Fall ist.

Somit betrifft die in Art. 13 Teil B Buchst. g der Sechsten Richtlinie vorgesehene Steuerbefreiung die Lieferung von Immobilien, nachdem diese tatsächlich von ihrem Eigentümer oder ihrem Mieter genutzt worden sind. Dagegen ist die erste Lieferung eines Neubaus an den Endverbraucher nicht von der Steuer befreit.

(vgl. Rn. 72, 75, Tenor 4)

5.      Der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken ist dahin auszulegen, dass er in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anwendbar ist, die die eventuelle Mehrwertsteuerbefreiung eines Umsatzes der Lieferung von Immobilien betrifft.

(vgl. Rn. 80, Tenor 5)