Language of document : ECLI:EU:C:2017:616

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PAOLO MENGOZZI

vom 26. Juli 2017(1)

Rechtssache C226/16

Eni SpA,

Eni Gas & Power France SA,

Union professionnelle des industries privées du gaz (Uprigaz)

gegen

Premier ministre,

Ministre de l’Environnement, de l’Énergie et de la Mer,

Beteiligte:

Storengy,

Total Infrastructures Gaz France (TIGF)

(Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État [Frankreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) Nr. 994/2010 – Sicherheit der Erdgasversorgung – Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 – Begriff ‚geschützte Kunden‘ – Art. 8 Abs. 2 – Zusätzliche, aus Gründen der Sicherheit der Versorgung auferlegte Verpflichtungen – Art. 8 Abs. 5 – Pflicht zur Speicherung von Erdgas im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats“






1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EU) Nr. 994/2010 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Erdgasversorgung(2).

2.        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten, die beim Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich), dem vorlegenden Gericht, eingereicht wurden und in denen die Rechtmäßigkeit des Dekrets Nr. 2014-328(3), das die französische Regelung im Bereich des Zugangs zu unterirdischen Erdgasspeichern geändert hat, beanstandet wird. Vor dem Conseil d’État (Staatsrat) machen die Kläger, die Gesellschaften Eni SpA und Eni Gas & Power France SA zum einen sowie Uprigaz zum anderen, zwei Lieferanten von Erdgas, u. a. Verstöße gegen mehrere Bestimmungen der Verordnung Nr. 994/2010 geltend.

3.        Es ist das erste Mal, dass der Gerichtshof aufgerufen ist, diese Verordnung auszulegen, die die Sicherheit der Erdgasversorgung, einen sehr sensiblen Sektor betrifft. Die Antworten des Gerichtshofs werden einem besseren Verständnis der Tragweite der Verpflichtungen dienen, die die Mitgliedstaaten im Rahmen des Systems, das durch diese Verordnung eingeführt wird, den Lieferanten von Erdgas zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit auferlegen können.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

4.        In Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 994/2010 heißt es:

„[Es] gelten folgende Begriffsbestimmungen:

1.      Der Ausdruck ‚geschützte Kunden‘ bezeichnet sämtliche Haushaltskunden, die an ein Erdgasverteilernetz angeschlossen sind, und kann sich, wenn der betreffende Mitgliedstaat dies so festlegt, außerdem auch auf folgende Kunden erstrecken:

a)      kleine und mittlere Unternehmen, sofern sie an ein Erdgasverteilernetz angeschlossen sind, und wesentliche soziale Einrichtungen, sofern sie an ein Erdgasverteilernetz oder ein Fernleitungsnetz angeschlossen sind, vorausgesetzt, dass diese zusätzlichen Kunden nicht mehr als 20 % des Gasendverbrauchs ausmachen, und/oder

b)      Fernwärmeanlagen, soweit sie Wärme an Haushaltskunden und an die unter Buchstabe a genannten Kunden liefern, sofern diese Anlagen keine Brennstoffwechsel vornehmen können und an ein Erdgasverteilernetz oder ein Fernleitungsnetz angeschlossen sind.“

5.        Art. 3 Abs. 6 der Verordnung Nr. 994/2010 bestimmt:

„Die Maßnahmen der Präventionspläne und der Notfallpläne zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit werden klar festgelegt, sind transparent, verhältnismäßig, nicht diskriminierend und überprüfbar, dürfen den Wettbewerb nicht unzulässig verfälschen und den Binnenmarkt für Erdgas nicht beeinträchtigen und die Sicherheit der Erdgasversorgung anderer Mitgliedstaaten oder der Union als Ganzes nicht gefährden.“

6.        Art. 8 („Versorgungsstandard“) der Verordnung Nr. 994/2010 sieht vor

„(1)      Die zuständige Behörde verpflichtet die Erdgasunternehmen, die sie bezeichnet, dazu, die Erdgasversorgung geschützter Kunden in den Mitgliedstaaten in folgenden Fällen zu gewährleisten:

a)      extreme Temperaturen an sieben aufeinander folgenden Tagen mit Spitzenlast, wie sie mit statistischer Wahrscheinlichkeit einmal in 20 Jahren vorkommt;

b)      ein außergewöhnlich hoher Gasverbrauch über einen Zeitraum von mindestens 30 Tagen, wie sie mit statistischer Wahrscheinlichkeit einmal in 20 Jahren vorkommt; und

c)      für einen Zeitraum von mindestens 30 Tagen bei Ausfall der größten einzelnen Gasinfrastruktur unter durchschnittlichen Winterbedingungen.

Die zuständige Behörde bezeichnet die in Unterabsatz 1 genannten Erdgasunternehmen spätestens bis 3. Juni 2012.

(2)      Ein erhöhter Versorgungsstandard, der die in Absatz 1 Buchstaben b und c genannten Zeiträume von 30 Tagen überschreitet, oder jede zusätzliche Verpflichtung, die aus Gründen der Sicherheit der Gasversorgung auferlegt wird, fußt auf der Risikobewertung gemäß Artikel 9, spiegelt sich im Präventionsplan wieder und

a)      entspricht den Bestimmungen von Artikel 3 Absatz 6;

b)      führt nicht zu unzulässigen Wettbewerbsverzerrungen oder Beeinträchtigungen des Binnenmarkts für Erdgas;

c)      wirkt sich nicht nachteilig auf die Fähigkeit der anderen Mitgliedstaaten aus, ihre geschützten Kunden bei einem nationalen, unionsweiten oder regionalen Notfall gemäß diesem Artikel zu versorgen, und

d)      entspricht den in Artikel 11 Absatz 5 festgelegten Kriterien im Fall eines unionsweiten oder regionalen Notfalls.

In dem Präventionsplan und dem Notfallplan legt die zuständige Behörde im Geiste der Solidarität fest, wie erhöhte Versorgungsstandards oder zusätzliche Verpflichtungen, die den Erdgasunternehmen auferlegt wurden, im Fall eines unionsweiten oder regionalen Notfalls zeitweilig eingeschränkt werden können.

(3)      Nach Ablauf der gemäß Absatz 1 und 2 von der zuständigen Behörde festgelegten Fristen oder unter Bedingungen, die strenger sind als die in Absatz 1 festgelegten, halten die zuständigen Behörden und die Erdgasunternehmen die Gasversorgung insbesondere der geschützten Kunden so lange wie möglich aufrecht.

(4)      Die den Erdgasunternehmen auferlegten Verpflichtungen für die Erfüllung der in diesem Artikel festgelegten Versorgungsstandards dürfen nicht diskriminierend sein und dürfen diese Unternehmen nicht ungebührlich belasten.

(5)      Die Erdgasunternehmen dürfen diese Verpflichtungen gegebenenfalls auf regionaler oder auf Unionsebene erfüllen. Die zuständige Behörde verlangt nicht, dass die in diesem Artikel festgelegten Standards mit der allein auf ihrem Hoheitsgebiet vorhandenen Infrastruktur erfüllt werden müssen.

(6)      Die zuständige Behörde stellt sicher, dass die Bedingungen für die Versorgung geschützter Kunden das reibungslose Funktionieren des Erdgasbinnenmarkts nicht beeinträchtigen und der Preis entsprechend dem Marktwert der Lieferungen festgelegt wird.“

B.      Französisches Recht

7.        In Frankreich wird die Lagerung von Erdgas in den Art. L. 421‑1 bis L. 421‑16 Energiegesetz geregelt. Diese Bestimmungen regeln den Zugang zur Lagerung von Gas im Rahmen gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen, wobei die Lieferanten die Kontinuität der Versorgung selbst in Ausnahmesituationen gewährleisten müssen.

8.        Konkret bestimmt Art. L. 421‑3 Energiegesetz:

„Die Erdgasvorräte ermöglichen, bevorzugt sicherzustellen:

1.      das ordnungsgemäße Funktionieren und den Ausgleich der an die unterirdischen Erdgaslager angeschlossenen Netze;

2.      die unmittelbare oder mittelbare Deckung des Bedarfs der Haushaltskunden und der anderen Kunden, die nicht vertraglich einer Lieferung zugestimmt haben, die unterbrochen werden kann, oder die Aufgaben von allgemeinem Interesse erfüllen;

3.      die Einhaltung der anderen in Art. L. 121-32 vorgesehenen gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen.“

9.        Art. L. 421‑4 Energiegesetz bestimmt:

„Jeder Lieferant muss in Frankreich am 31. Oktober jeden Jahres unmittelbar oder mittelbar über einen Bevollmächtigten ausreichende Erdgasvorräte unter Berücksichtigung seiner anderen Anpassungsinstrumente zur Verfügung halten, um in dem Zeitraum 1. November bis 31. März seine vertraglichen Pflichten der direkten oder indirekten Versorgung der in Art. L. 421‑3 genannten Kunden zu gewährleisten …“

10.      Art. L 421‑7 Energiegesetz bestimmt, dass ein Dekret nach Stellungnahme des Conseil d’État (Staatsrat) die Voraussetzungen und Modalitäten der Anwendung u. a. von Art. L. 421‑4 festlegt.

11.      Das in Anwendung dieser Vorschrift erlassene und danach durch das Dekret 2014‑328 geänderte Dekret Nr. 2006/1034, das vor dem vorlegenden Gericht angefochten wird, regelt im Detail die Voraussetzungen für den Zugang zu Erdgasspeichern. Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass dieses Dekret in der geänderten Fassung zum einen jedem Lieferanten von Erdgas Rechte auf Zugang zu den Speicherkapazitäten oder „Speicherrechte“(4) zuweist, die entsprechend seinem Kunden-Portfolio festgelegt werden, damit ihm ermöglicht wird, seine Kunden im Winter zu versorgen, und zum anderen die Pflichten dieser Lieferanten festlegt.

12.      Art. 9 des Dekrets Nr. 2014‑328 hat das Dekret Nr. 2006/1034 geändert, indem er zum einen vorsieht, dass die Speicherpflichten der Lieferanten entsprechend den „Speicherrechten“ berechnet werden, die nicht mehr nur dem Jahresverbrauch ihrer Haushaltskunden und ihrer Kunden, die Aufträge im Allgemeininteresse sicherstellen, entsprechen, wie das Dekret in seiner vorigen Fassung vorsah, sondern auch den Verbrauch der Kunden, die an das Vertriebsnetz angeschlossen sind und die vertraglich keiner Lieferunterbrechung zugestimmt haben. Zum anderen setzte das Dekret Nr. 2014‑328 die Höhe des Prozentsatzes der Bevorratungspflicht von 85 % auf 80 % der Speicherrechte herab.

II.    Sachverhalt, nationales Verfahren und Vorlagefragen

13.      Mit zwei Klageschriften erhoben die Gesellschaften Eni SpA und Eni Gas & Power France SA (im Folgenden gemeinsam: ENI) zum einen und Uprigaz zum anderen Klage vor dem Conseil d’État (Staatsrat) und beantragten, das Dekret Nr. 2014‑328 wegen Befugnisüberschreitung aufzuheben.

14.      In ihren Klagen machen ENI und Uprigaz unter anderem geltend, dieses Dekret verstoße gegen die Verordnung Nr. 994/2010. Zum einen erweitere dieses Dekret auf unzulässige Art und Weise die Definition der geschützten Kunden in Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 dieser Verordnung. Zum anderen verpflichte es die Lieferanten von Erdgas unter Verstoß gegen Art. 8 Abs. 5 der Verordnung Nr. 994/2010, die Speicherkapazitäten in Frankreich vorzuhalten.

15.      In dieser Hinsicht führt das vorlegende Gericht zunächst aus, das Dekret Nr. 2014‑328 beziehe in die Definition der „geschützten Kunden“ an das Vertriebsnetz angeschlossene Nicht-Haushaltskunden ein, die vertraglich keiner eventuellen Lieferunterbrechung zugestimmt hätten und die nicht zwangsläufig „kleine und mittlere Unternehmen“ gemäß Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 994/2010 seien. Die Definition der „geschützten Kunden“ in dem Dekret könne somit über den Wortlaut der Definition in der Verordnung hinausgehen. Die französischen Behörden seien jedoch der Ansicht, dass es sich bei diesen zusätzlichen Kunden um kleinere Betriebsstätten handele, die, selbst wenn sie zu großen Unternehmen gehörten, zahlreiche Gemeinsamkeiten mit KMU aufwiesen. Im Übrigen sei eine solche erweiterte Definition an zusätzliche Verpflichtungen geknüpft, die aus Gründen der Sicherheit der Gasversorgung gemäß Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 994/2010 den Erdgasunternehmen auferlegt werden könnten.

16.      Unter diesen Umständen hänge die Rechtmäßigkeit des Dekrets Nr. 2014‑328 davon ab, ob Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 994/2010 dahin auszulegen sei, dass er nicht erlaube, dass ein Mitgliedstaat den Erdgaslieferanten zusätzliche Verpflichtungen auferlege, die daraus resultierten, dass in den Kreis der „geschützten Kunden“ auch Kunden einbezogen würden, die nicht in Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 994/2010 genannt seien.

17.      Das vorlegende Gericht führt zweitens aus, zur Sicherstellung einer ununterbrochenen Versorgung der Kunden mit Gas gebiete Art. L 421‑4 des Energiegesetzes den Lieferanten, in Frankreich ausreichende Erdgasvorräte zu halten, wobei andere ihnen zur Verfügung stehende Anpassungsinstrumente berücksichtigt würden, und das Dekret 2014‑328 impliziere, dass 80 % der Speicherrechte im Inland realisiert werden müssten, wobei es gleichwohl vorsehe, dass der Energieminister andere Anpassungsinstrumente des Gaslieferanten berücksichtige, um zu beurteilen, ob seine Speicherkapazitäten ausreichend seien, um die Einhaltung seiner Speicherverpflichtung zu gewährleisten. Die Rechtmäßigkeit des Dekrets Nr. 2014‑328 hänge davon ab, ob Art. 8 Abs. 5 der Verordnung Nr. 994/2010 dem entgegenstehe, dass ein Mitgliedstaat einem Gaslieferanten solche Verpflichtungen auferlege.

18.      Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 994/2010 dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, Erdgasversorgern zusätzliche Verpflichtungen aufzuerlegen, die sich daraus ergeben, dass als „geschützte Kunden“, deren Verbrauch für die Bestimmung des Umfangs der Speicherverpflichtungen zur Gewährleistung einer kontinuierlichen Versorgung beiträgt, Kunden einbezogen werden, die in Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 der Verordnung nicht aufgeführt sind?

2.      Ist Art. 8 Abs. 5 der Verordnung Nr. 994/2010 dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, Erdgasversorgern Verpflichtungen in Bezug auf gespeicherte Gasvolumina und darauf abgestimmte Entnahmemengen sowie in Bezug auf die Vorhaltung von Speicherkapazitäten, die aufgrund der Rechte erworben wurden, die der Verpflichtung zur Vorhaltung von Vorräten im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats entsprechen, aufzuerlegen, wobei der Minister bei der Beurteilung der von einem Versorger vorgehaltenen Speicherkapazitäten andere Anpassungsinstrumente, die dem Versorger zur Verfügung stehen, berücksichtigt?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

19.      Die Vorlageentscheidung ist am 20. April 2016 beim Gerichtshof eingegangen; ENI, Uprigaz, Storengy und TIGF, die französische und die polnische Regierung sowie die Europäische Kommission haben Erklärungen abgegeben und an der mündlichen Verhandlung vom 16. März 2017 teilgenommen.

IV.    Würdigung

20.      Bevor ich auf die beiden Vorlagefragen des vorlegenden Gerichts antworte, ist es notwendig, die Ziele der Verordnung Nr. 994/2010 und den Kontext, in dem sie steht, zu prüfen.

A.      Zu den Vorschriften des Unionsrechts betreffend die Sicherheit der Erdgasversorgung und insbesondere zur Verordnung Nr. 994/2010

21.      Art. 194 Abs. 1 Buchst. b AEUV ist zu entnehmen, dass die Sicherheit der Energieversorgung in der Union eines der grundlegenden Ziele der Unionspolitik im Bereich Energie darstellt(5).

22.      Den ersten gemeinsamen rechtlichen Rahmen mit dem Ziel, die Sicherheit der Versorgung mit Gas zu gewährleisten und zum ordnungsgemäßen Funktionieren des Gasbinnenmarkts bei Versorgungsunterbrechungen beizutragen, bildete im Jahr 2004 die Richtlinie 2004/67/EG(6).

23.      Der im Jahr 2009 ausgebrochene russisch-ukrainische Gasstreit, der zu einer beispiellosen, bisher nie dagewesenen Störung der Erdgasversorgung in der Union führte, zeigte allerdings die Schwächen des in der Richtlinie 2004/67 vorgesehenen Systems. Diese Krise hat deutlich gemacht, dass es notwendig ist, in der Union harmonisierte Maßnahmen zu erlassen, die ein gemeinsames Mindestmaß an Vorbereitungen in allen Mitgliedstaaten für den Krisenfall bei schweren Störungen der Erdgasversorgung gewährleisten können(7).

24.      So hat der Unionsgesetzgeber auf der Grundlage der Erfahrung aus der Umsetzung der Richtlinie 2004/67 die Verordnung Nr. 994/2010 erlassen.

25.      Die Verordnung Nr. 994/2010 sieht ein umfassendes gemeinsames Konzept im Bereich der Versorgungssicherheit vor, das sich u. a. auf Solidarität und mit den Funktionsmechanismen des Binnenmarkts vereinbare Strategien stützt(8). Mit dieser Verordnung werden Bestimmungen zur Gewährleistung einer sicheren Erdgasversorgung erlassen, indem sichergestellt wird, dass der Binnenmarkt für Erdgas (im Folgenden auch: „Gas“) reibungslos und ununterbrochen funktioniert, indem außerordentliche Maßnahmen für den Fall ermöglicht werden, dass der Markt die notwendigen Erdgaslieferungen nicht mehr bereitstellen kann, und indem sowohl hinsichtlich der Prävention als auch der Reaktion auf konkrete Versorgungsstörungen eine klare Festlegung und Zuweisung der Zuständigkeiten der Erdgasunternehmen, der Mitgliedstaaten und der Union vorgesehen werden(9).

26.      Für einen gut funktionierenden Erdgasbinnenmarkt, insbesondere bei Versorgungsstörungen und Krisensituationen, sieht die Verordnung Nr. 994/2010 ganz speziell einen auf drei Ebenen beruhenden Ansatz vor: Zunächst sind die betreffenden Erdgasunternehmen, die nach Marktmechanismen arbeiten, zuständig, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten; falls die Marktmechanismen nicht greifen, liegt die Verantwortung bei den Mitgliedstaaten auf nationaler oder regionaler Ebene, und schließlich übernimmt die Union selbst eine solche Verantwortung(10).

27.      Die Verordnung Nr. 994/2010 schafft Mechanismen, die im Geiste der Solidarität die Vorbereitung und Reaktion auf Notsituationen auf der Ebene der Mitgliedstaaten, auf regionaler und auf Unionsebene koordinieren(11). Dazu sieht sie insbesondere die Umsetzung von zwei Plänen durch die Mitgliedstaaten vor: einem Plan mit Präventionsmaßnahmen, der die Maßnahmen enthält, die notwendig sind, um die Risiken, die die Sicherheit der Gasversorgung in dem Mitgliedstaat beeinträchtigen, zu beseitigen oder abzuschwächen, und einem Notfallplan mit Maßnahmen, um die Auswirkungen von Versorgungsunterbrechungen abzuschwächen oder zu beseitigen(12).

28.      Zur Sicherstellung der Gasversorgung im Krisenfall schafft die Verordnung Nr. 994/2010 zum einen Standards für Gasinfrastrukturen zur Verbesserung der Sicherheit der Gasversorgung(13) und zum anderen harmonisierte Standards für die Versorgungssicherheit. Diese letztgenannten Standards sehen die Verpflichtung vor, die Versorgung von „geschützten Kunden“ bei bestimmten Versorgungsstörungen oder einer außerordentlich hohen Nachfrage zu gewährleisten. Sie sollen zumindest eine Lage wie diejenige, die während der Gaskrise 2009 aufgetreten ist, bewältigen können(14).

29.      Genauer gesagt sollen die harmonisierten Standards der Versorgungssicherheit in Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 994/2010 die Aufrechterhaltung der Versorgung gewährleisten, insbesondere für Haushaltskunden sowie für eine begrenzte Zahl sonstiger Kunden, die besonders verletzlich sind und deshalb eines besonderen Schutzes bedürfen(15), nämlich die „geschützten Kunden“, wie sie in Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 dieser Verordnung definiert sind. Selbstverständlich darf eine weit gefasste Festlegung solcher „geschützten Kunden“ nicht im Widerspruch zu den europäischen Solidaritätsmechanismen stehen(16).

30.      Auch wenn die Verordnung Nr. 994/2010 darauf abzielt, eine gewisse Harmonisierung der Versorgungssicherheitsstandards zu erreichen, hat der Unionsgesetzgeber gleichwohl die Bedenken der Mitgliedstaaten anerkannt, die weiter reichende Standards zur Versorgungssicherheit festgelegt hatten. Vor diesem Hintergrund hat der Gesetzgeber in Art. 8 Abs. 2 dieser Verordnung festgelegt, dass die Mitgliedstaaten höhere Versorgungsstandards oder zusätzliche Verpflichtungen vorsehen können, die über die in Abs. 1 desselben Artikels vorgesehenen harmonisierten Standards der Versorgungssicherheit hinausgehen. Um jedoch zu vermeiden, dass das auf der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten beruhende und durch die Verordnung Nr. 994/2010 eingeführte System der Gewährleistung der Versorgungssicherheit beeinträchtigt wird, ist die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, solche Maßnahmen zu erlassen, nach Art. 8 Abs. 2 dieser Verordnung streng begrenzt.

31.      Insoweit spielt das Erfordernis der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten eine entscheidende Rolle in dem durch die Verordnung Nr. 994/2010 und allgemeiner im Rahmen der Energiepolitik der Union eingeführten System. Insoweit sind zu diesem Aspekt einige spezifische Erwägungen angebracht.

B.      Kurze Erwägungen zum Grundsatz der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten im Rahmen der Energiepolitik der Union

32.      Art. 194 AEUV, mit dem erstmals eine primärrechtliche Bestimmung zur Energiepolitik der Union in das Unionsrecht eingeführt wurde, sieht in seinem Abs. 1 vor, dass diese Politik „im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“ zu verfolgen ist.

33.      Dieser Hinweis auf die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, der in der Fassung des Wortlauts des Vertrags von Lissabon(17) hinzugefügt worden ist, steht in einem Kontext, in dem der Grundsatz der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten eine Bedeutung erlangt hat, die als „Verfassungsgrundsatz“ bezeichnet werden kann. Der Gedanke der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten kommt nämlich nicht nur an verschiedenen Stellen der Verträge(18) zum Ausdruck, sondern stellt nach Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 3 EUV eines der Ziele der Union dar.

34.      Im Übrigen kommt dem Grundsatz der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, wie sich sowohl aus Art. 194 Abs. 1 Buchst. b AEUV als auch aus Art. 122 Abs. 1 AEUV ergibt, eine besondere Bedeutung im Hinblick auf die Versorgung im Energiebereich zu.

35.      Vor diesem Hintergrund also basiert das mit der Verordnung Nr. 994/2010 geschaffene System dem Ansatz des Primärrechts entsprechend auf dem Erfordernis der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, das die gesamte Verordnung prägt. Der Gedanke der Solidarität wird nämlich ausdrücklich in mehreren Erwägungsgründen dieser Verordnung(19) sowie in mehreren ihrer Bestimmungen erwähnt(20).

36.      Wie sich insbesondere ausdrücklich aus dem 36. Erwägungsgrund ergibt, ist eines der Ziele der Verordnung, die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten im Fall einer Notsituation auf Unionsebene zu stärken und insbesondere die Mitgliedstaaten zu unterstützen, deren geografische oder geologische Bedingungen weniger günstig sind.

37.      Unter diesen Umständen ist es bei der Auslegung der Verordnung Nr. 994/2010 notwendig, die grundlegende Bedeutung, die dem Grundsatz der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten im Rahmen dieser Verordnung zukommt, zu berücksichtigen.

38.      In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass in einem neuen Vorschlag der Kommission für eine Verordnung zur Ersetzung der Verordnung Nr. 994/2010(21) der Grundsatz der Solidarität eine noch wichtigere Rolle spielt und ausdrücklich in den Text der Verordnung mit einem Artikel aufgenommen wird, der speziell der Solidarität gewidmet ist(22).

C.      Zur ersten Vorabentscheidungsfrage

1.      Vorbemerkungen

39.      Die erste Frage des vorlegenden Gerichts betrifft die Wechselbeziehung zwischen der Definition von „geschützten Kunden“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 der Verordnung Nr. 994/2010 und den zusätzlichen Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten nach Art. 8 Abs. 2 dieser Verordnung den Erdgaslieferanten auferlegen können.

40.      Insbesondere möchte der Conseil d’État (Staatsrat) wissen, ob ein Mitgliedstaat bei der Einführung einer solchen zusätzlichen Verpflichtung über die in Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 der Verordnung Nr. 994/2010 enthaltene Definition der „geschützten Kunden“ „hinausgehen“ und in den Rahmen der zusätzlichen Verpflichtung Kunden einbeziehen darf, die nicht unter diese Begriffsbestimmung fallen.

41.      Diese Frage beruht auf der Tatsache, dass die Definition der „geschützten Kunden“ in der französischen Gesetzgebung nach Verabschiedung des Dekrets Nr. 2014‑328 „an das Vertriebsnetz angeschlossene Nicht-Haushaltskunden, die vertraglich keiner eventuellen Lieferunterbrechung zugestimmt haben“, einbezieht. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts gehören zu dieser Kategorie Nicht-Haushaltskunden, die nicht notwendigerweise unter das in Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 994/2010 vorgesehene Konzept der kleinen und mittleren Unternehmen (im Folgenden: KMU) fallen.

42.      Die Beteiligten, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, vertreten gegensätzliche Auffassungen, was die Antwort auf die erste Vorlagefrage angeht.

43.      Zum einen meinen die französische und die polnische Regierung sowie die Erdgasspeicherunternehmen Storengy und TIGF im Wesentlichen, dass die Verordnung Nr. 994/2010 einen Mitgliedstaat nicht daran hindere, Erdgaslieferanten eine zusätzliche Verpflichtung aufzuerlegen, die sich auch auf Kunden erstrecke, die nicht unter den in Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 dieser Verordnung genannten geschützten Kunden aufgeführt seien. Die französische Regierung macht in erster Linie geltend, dass sich die Frage der Vereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschriften mit der Verordnung Nr. 994/2010 nicht stelle, weil die Definition der „geschützten Kunden“ im nationalen Recht nicht weiter sei als die in Art. 2 dieser Verordnung.

44.      Die Erdgaslieferanten ENI und Uprigaz machen dagegen geltend, Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 994/2010 verbiete, dass ein Mitgliedstaat Erdgaslieferanten zusätzliche Verpflichtungen auferlege, die sich aus einer weiteren als der in Art. 2 dieser Verordnung vorgesehenen Definition der „geschützten Kunden“ ergäben.

45.      Die Kommission vertritt einen differenzierten Standpunkt. Sie scheint nicht die Möglichkeit auszuschließen, dass ein Mitgliedstaat eine zusätzliche Verpflichtung auferlegt, indem er die Definition der „geschützten Kunden“ über die in Art. 2 der Verordnung Nr. 994/2010 vorgesehenen Grenzen hinaus erweitert. Sie hebt jedoch hervor, dass die strengen Anforderungen dieser Verordnung für zusätzliche Verpflichtungen eingehalten werden müssten.

46.      Meines Erachtens sind zunächst einige Erwägungen zur Tragweite der Definition der „geschützten Kunden“ in Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 der Verordnung Nr. 994/2010 erforderlich. Diese Erwägungen ermöglichen dem vorlegenden Gericht offenbar, das Vorbringen der französischen Regierung, wonach die Definition des Begriffs „geschützte Kunden“ im nationalen Recht nicht über die Definition desselben Begriffs in der Verordnung Nr. 994/2010 hinausgeht, zu prüfen. Dann werde ich auf der Grundlage dieser Erwägungen die Frage der Wechselbeziehung zwischen der Definition der „geschützten Kunden“ in Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 der Verordnung Nr. 994/2010 und der Möglichkeit, zusätzliche Verpflichtungen gemäß Art. 8 Abs. 2 dieser Verordnung aufzuerlegen, behandeln.

2.      Zur Tragweite der Definition der „geschützten Kunden“ in Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 994/2010

47.      Nach Ansicht der französischen Regierung ging das Dekret Nr. 2014‑328 dadurch, dass es nicht nur Haushalte, sondern auch „an das Vertriebsnetz angeschlossene Nicht-Haushaltskunden, die vertraglich keiner eventuellen Lieferunterbrechung zugestimmt haben“, in den Kreis der geschützten Kunden einbezogen hat, nicht über die Definition der „geschützten Kunden“ in Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 994/2010 hinaus.

48.      Diese Kundenkategorie umfasse kleinere Einheiten wie kleine Unternehmen, kleine Niederlassungen großer Unternehmen, kleine Geschäfte, die Teil von Vertriebsnetzen seien, oder kleine Industriebetriebe, die zu einem größeren Unternehmen gehörten, und größere Unternehmen, die nicht an das Vertriebsnetz, sondern direkt an das Transportnetz angeschlossen seien.

49.      Nach Ansicht der französischen Regierung ist die Bezugnahme auf KMU in der Verordnung Nr. 994/2010 so zu verstehen, dass sie nicht auf Einrichtungen beschränkt ist, die rechtlich den Status eines KMU haben, sondern im Licht der Ziele dieser Verordnung auch Einrichtungen einbezieht, die faktisch autonome Einheiten bilden, deren Gasverbrauch dem eines KMU gleichkommt.

50.      Ein solcher Ansatz sei aus praktischer Sicht für die Steuerung der Lieferkürzungen im Fall einer unzureichenden Versorgung erforderlich. Er entspreche auch dem Spielraum, der den Mitgliedstaaten durch die Verordnung Nr. 994/2010 vorbehalten sei. Schließlich sei dieser Ansatz auch durch den Gleichbehandlungsgrundsatz geboten, dem zufolge der Begriff der KMU dahin ausgelegt werden müsse, dass er Einrichtungen einbeziehe, die in gleicher Weise verletzlich seien.

51.      Es ist darauf hinzuweisen, dass die Definition der „geschützten Kunden“ in Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 der Verordnung Nr. 994/2010 zunächst vorsieht, dass sämtliche Haushaltskunden, die an ein Erdgasverteilernetz angeschlossen sind, zwingend als „geschützte Kunden“ anzusehen sind. Sodann erlaubt sie den Mitgliedstaaten, in den Buchst. a und b, zwei spezifische Kategorien geschützter Kunden hinzuzufügen.

52.      Was spezifisch die vorliegende Rechtssache betrifft, so können die Mitgliedstaaten nach Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 994/2010 „kleine und mittlere Unternehmen [als geschützte Kunden ansehen], sofern sie an ein Erdgasverteilernetz angeschlossen sind… und diese zusätzlichen Kunden nicht mehr als 20 % des Gesamtverbrauchs an Gas ausmachen“.

53.      Aus dem Umstand, dass eine begrenzte Liste möglicher „geschützter Kunden“ vorgesehen ist, folgt, dass die Verordnung Nr. 994/2010 zwar den Mitgliedstaaten einen gewissen Handlungsspielraum bei der Definition des „geschützten Kunden“ einräumt; dieser Spielraum wird jedoch durch diese Verordnung eng begrenzt. Der Grund für diese enge Begrenzung ergibt sich offensichtlich aus dem 10. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 994/2010, der die Gefahr hervorhebt, dass eine weit gefasste Festlegung der „geschützten Kunden“ im Widerspruch zu den Mechanismen der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten stehen könne.

54.      Wie die Kommission in ihren Erklärungen zutreffend ausgeführt hat, lag der Harmonisierung des Begriffs „geschützte Kunden“ der Gedanke zugrunde, zu verhindern, dass auf nationaler Ebene der Schutz eines übermäßig großen Personenkreises vorgesehen wird, der womöglich das Funktionieren der in der Verordnung Nr. 994/2010 vorgesehenen europäischen Solidaritätsmechanismen beeinträchtigt und so zusätzliche Risiken für die geschützten Kunden in den anderen Mitgliedstaaten schafft(23). Aus derselben Sichtweise nennt der 29. Erwägungsgrund dieser Verordnung neben den Haushalten eine begrenzte Zahl „sonstiger Kunden“.

55.      Die Definition der „geschützten Kunden“ zielt darauf ab, die Versorgungssicherheit im Krisenfall für die schwächsten Kunden sicherzustellen. Ein solcher Schutz auf höchstem Niveau kann nicht für alle Kunden gewährleistet werden, da sonst das System der garantierten Gasversorgung nach der Verordnung Nr. 994/2010 ausgehöhlt würde. Die Definition der „geschützten Kunden“ bestimmt somit den persönlichen Anwendungsbereich der Versorgungsstandards.

56.      Was im Übrigen ganz allgemein den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten betrifft, so ist dem fünften Erwägungsgrund dieser Verordnung, auf den die französische Regierung Bezug nimmt, um ihre Ansicht zu stützen, ganz klar zu entnehmen, dass zwar die vor dieser Verordnung erlassenen Maßnahmen betreffend die Sicherheit der Gasversorgung den Mitgliedstaaten einen weiten Spielraum hinsichtlich der Wahl der Mittel einräumten, dass aber die Verordnung Nr. 994/2010 mehr darauf abzielt, diesen Spielraum einzugrenzen, um zu verhindern, dass von einem Mitgliedstaat erlassene einseitige Maßnahmen das ordnungsgemäße Funktionieren des Gasbinnenmarkts und die Versorgung der Kunden mit Gas beeinträchtigen, indem sie eine Gasknappheit in den Nachbarstaaten nach sich ziehen(24).

57.      Unter diesen Umständen kann die Bezugnahme in Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 994/2010 auf KMU nicht als offener Verweis verstanden werden, der von den Mitgliedstaaten frei ausgelegt werden kann. Es ist vielmehr ein Verweis auf einen präzisen Rechtsbegriff. Auch wenn in der Verordnung Nr. 994/2010 der Begriff „KMU“ nicht ausdrücklich definiert ist, kann er mangels eines Verweises auf das nationale Recht nicht unter Bezugnahme auf die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten definiert werden(25). Ganz im Gegenteil, im Hinblick auf das Ziel der Verordnung Nr. 994/2010 und den Kontext, in dem ihr Art. 2 steht, ist davon auszugehen, dass diese Bestimmung auf den im Unionsrecht verwendeten Begriff „KMU“ verweist(26).

58.      In diesem Zusammenhang wird die Empfehlung 2003/361/EG der Kommission vom 6. Mai 2003 betreffend die Definition der Kleinstunternehmer sowie der kleinen und mittleren Unternehmen erheblich(27). Diese Empfehlung sieht genaue Kriterien für die Identifizierung dieser Kategorie von Unternehmen vor(28), und es ist diese Empfehlung, die für die Bestimmung dieses Begriffs herangezogen werden muss(29). Im Übrigen ergibt sich aus den Angaben in den Erklärungen der französischen Regierung, dass die Definition der „KMU“ im französischen Recht derjenigen entspricht, die in diesen Empfehlungen vorgeschlagen wird.

59.      Was die Berufung der französischen Regierung auf den Grundsatz der Gleichbehandlung betrifft, beruht sie auf der These, dass eine Niederlassung oder Tochtergesellschaft eines großen Unternehmens ebenso verletzlich ist wie ein KMU. Meines Erachtens ist diese Prämisse jedoch offensichtlich falsch. Die Zugehörigkeit zu einer Einheit (einem Konzern) von bedeutendem Ausmaß macht diesen Einheiten nämlich (wirtschaftliche oder technische) Ressourcen zugänglich, über die KMU im Allgemeinen nicht verfügen und die es ermöglichen können, Krisensituationen in der Energieversorgung zu meistern. Somit sind Niederlassungen und Tochtergesellschaften von Großunternehmen und KMU objektiv nicht in derselben Situation.

60.      Im Übrigen benutzt der Gesetzgeber für die Bestimmung der verletzlichen Kunden, die einen erhöhten Schutzbedarf haben, nicht das Kriterium des Energieverbrauchs. Die französische Regierung kann sich also nicht darauf berufen, um eine Analogie zwischen den KMU und den Niederlassungen oder Tochtergesellschaften der Großunternehmen zu begründen.

61.      Letztendlich ist es zwar Sache des vorlegenden Gerichts und nicht des Gerichtshofs, festzustellen, ob die in Rede stehenden nationalen Vorschriften mit der Verordnung Nr. 994/2010 vereinbar sind; im Licht der von der französischen Regierung selbst vorgetragenen Argumente stimmt die Definition der „geschützten Kunden“ in den französischen Vorschriften jedoch augenscheinlich nicht mit der Definition in Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 dieser Verordnung überein. Im Übrigen scheint auch das vorlegende Gericht dieser Meinung zu sein(30).

3.      Zur Möglichkeit, im Hinblick auf Kunden, die nicht unter die Definition des „geschützten Kunden“ fallen, zusätzliche Verpflichtungen aufzuerlegen

62.      Ich habe mich nun vor dem Hintergrund all der vorausgehenden Erwägungen mit der Frage zu beschäftigen, ob ein Mitgliedstaat den Erdgaslieferanten eine zusätzliche Verpflichtung nach Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 994/2010 auferlegen kann, die auch für Kunden gilt, die nicht unter die Definition der „geschützten Kunden“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 der Verordnung Nr. 994/2010 fallen.

63.      Wie ich in Nr. 30 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, haben die Mitgliedstaaten nach Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 994/2010 die Möglichkeit, zwei Arten von Maßnahmen zu erlassen, die über die in Abs. 1 desselben Artikels vorgesehenen harmonisierten Standards der Versorgungssicherheit hinausgehen: erhöhte Versorgungsstandards und zusätzliche Verpflichtungen.

64.      Meines Erachtens handelt es sich um zwei unterschiedliche Kategorien von Maßnahmen, deren Tragweite sich aus ihrer Bezeichnung selbst ergibt.

65.      Bei der ersten Kategorie handelt es sich um „Versorgungsstandards“, wie sie in Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 994/2010 vorgesehen sind, auf den Abs. 2 im Übrigen ausdrücklich verweist; es handelt sich jedoch um „erhöhte“ Standards, die sich auf einen längeren Zeitraum erstrecken, d. h. den „Zeit[raum] von 30 Tagen überschreite[n]“. Dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 ist zu entnehmen, dass die Versorgungsstandards ausschließlich den Schutz der geschützten Kunden betreffen.

66.      Dagegen handelt es sich bei der zweiten Kategorie von Maßnahmen um „zusätzliche“ Verpflichtungen, die Erdgasunternehmen auferlegt werden können. Die Verwendung des Begriffs „zusätzliche“ macht deutlich, dass es sich um weitere Verpflichtungen handelt, die sich nach ihrer Art von den in Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 994/2010 genannten Versorgungsstandards unterscheiden, auf den die in Rede stehende Vorschrift für diese zweite Kategorie von Maßnahmen im Übrigen nicht verweist.

67.      Aus dieser Analyse des Wortlauts von Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 994/2010 folgt, dass es einem Mitgliedstaat freisteht, den Erdgasunternehmen eine zusätzliche Verpflichtung aufzuerlegen, die für einen größeren Kundenkreis gelten würde als denjenigen, den die Definition der „geschützten Kunden“ gemäß dieser Verordnung vorsieht.

68.      Derselben Vorschrift ist jedoch im Licht der Ziele der Verordnung Nr. 994/2010 zu entnehmen, dass eine solche Möglichkeit sehr strengen Voraussetzungen unterliegt. Der genannte Art. 8 Abs. 2 dieser Verordnung begrenzt diese Möglichkeit nämlich dadurch, dass er mehrere Bedingungen nennt, die erfüllt sein müssen, um eine solche zusätzliche Verpflichtung als mit der Verordnung vereinbar betrachten zu können.

69.      So muss erstens gemäß dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung Nr. 994/2010 diese zusätzliche Verpflichtung „aus Gründen der Sicherheit der Gasversorgung“ auferlegt worden sein. Diese Bedingung ist nur erfüllt, wenn mit der zusätzlichen Verpflichtung die Widerstandsfähigkeit des Systems der Gasversorgung gegenüber außergewöhnlichen und unvorhergesehenen Ereignissen, die die Versorgungskapazität bedrohen, gestärkt werden soll.

70.      Zweitens muss auch noch gemäß Art. 8 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung Nr. 994/2010 eine solche zusätzliche Verpflichtung auf der Bewertung der Risiken nach Art. 9 dieser Verordnung fußen, die die Sicherheit der Gasversorgung in dem betreffenden Mitgliedstaat gefährden.

71.      Drittens muss nach dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 994/2010 eine solche zusätzliche Verpflichtung den Anforderungen des Art. 3 Abs. 6 dieser Verordnung entsprechen. So muss sie klar festgelegt, transparent, verhältnismäßig, nicht diskriminierend und überprüfbar sein; darf den Wettbewerb nicht unzulässig verfälschen und den Binnenmarkt für Erdgas nicht beeinträchtigen(31) und darf die Sicherheit der Erdgasversorgung anderer Mitgliedstaaten oder der Union als Ganzes nicht gefährden.

72.      Viertens darf sich die zusätzliche Verpflichtung nach Art. 8 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 994/2010 im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, auf dem das mit dieser Verordnung errichtete System gründet, nicht nachteilig auf die Fähigkeit der anderen Mitgliedstaaten auswirken, ihre geschützten Kunden bei einem nationalen, unionsweiten oder regionalen Notfall zu versorgen.

73.      Fünftens muss eine solche Verpflichtung den in Art. 11 Abs. 5 der Verordnung Nr. 994/2010 festgelegten Kriterien im Fall eines unionsweiten oder regionalen Notfalls entsprechen(32).

74.      Sechstens ist es nach Art. 8 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 994/2010 notwendig, dass die zuständige Behörde im Präventionsplan und im Notfallplan im Geiste der Solidarität festlegt, wie diese zusätzliche Verpflichtung im Fall eines unionsweiten oder regionalen Notfalls zeitweilig eingeschränkt werden kann.

75.      Im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens ist es Sache des vorlegenden Gerichts, die Vereinbarkeit nationaler Maßnahmen mit dem Unionsrecht zu beurteilen, da der Gerichtshof nur zuständig ist, ihm insoweit alle erforderlichen Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es ihm ermöglichen können, eine solche Vereinbarkeit zu beurteilen. Es ist somit Sache dieses Gerichts, festzustellen, ob eine zusätzliche Verpflichtung, nach der die Erdgaslieferanten die Erdgasspeicherung zu erweitern haben, um die Sicherheit der Gasversorgung im Krisenfall für „an das Verteilernetz angeschlossene Nicht-Haushaltskunden, die vertraglich keiner eventuellen Lieferunterbrechung zugestimmt haben“, zu gewährleisten, die keine KMU sind, im vorliegenden Fall den in den Nrn. 69 bis 74 dieser Schlussanträge genannten Voraussetzungen entspricht. Bei der Beurteilung dieser Vereinbarkeit wird das vorlegende Gericht jedoch die vom Gerichtshof gegebenen Auslegungshinweise zu berücksichtigen haben(33).

76.      In diesem Zusammenhang beschränke ich mich auf einige Bemerkungen zu zwei Aspekten: zum einen der Bedingung, dass die zusätzliche Verpflichtung „aus Gründen der Sicherheit der Gasversorgung“ auferlegt wird, und zum anderen dem oben in Nr. 71 der vorliegenden Schlussanträge genannten Erfordernis der Verhältnismäßigkeit der zusätzlichen Verpflichtung.

a)      Zum Erfordernis, dass die zusätzliche Verpflichtung aus Gründen der Sicherheit der Erdgasversorgung auferlegt wird

77.      Die erste Voraussetzung, die beachtet werden muss, damit eine zusätzliche Verpflichtung, die ein Mitgliedstaat zulasten der Erdgasunternehmen vorsieht, mit der Verordnung Nr. 994/2010 vereinbar ist, besteht darin, dass sie aus Gründen der Sicherheit der Gasversorgung auferlegt wird.

78.      Die französische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dass die zusätzliche Verpflichtung zweifellos diese Bedingung erfülle, da sie darauf gerichtet sei, die Versorgungssicherheit für zusätzliche Kunden sicherzustellen, die aus technischen Gründen nicht von den geschützten Kunden unterschieden werden könnten. In demselben Kontext hat sie ferner ausgeführt, dass eine solche zusätzliche Verpflichtung, die auf „zusätzliche“ geschützte Kunden gerichtet sei, den Schutz der geschützten Kunden, wie sie in der Verordnung Nr. 994/2010 definiert seien, und damit die praktische Wirksamkeit von Art. 2 und Art. 8 Abs. 2 dieser Verordnung nicht beeinträchtige.

79.      Insoweit bin ich nicht sicher, ob das bloße Erfordernis, weitere Kundengruppen zu schützen, das auf angebliche technische Gründe gestützt wird, deren Vorliegen im Übrigen heftig bestritten wird, tatsächlich einen die Sicherheit der Gasversorgung betreffenden Grund darstellen kann, der darauf gerichtet ist, die Widerstandskraft des Versorgungssystems – wie sie in Nr. 69 der vorliegenden Schlussanträge herausgestellt wurde – zu stärken, die den Erlass einer zusätzlichen Verpflichtung wie der hier in Rede stehenden rechtfertigen kann. Eine solche zusätzliche Verpflichtung muss darauf gerichtet sein, Risiken, die die Sicherheit der Gasversorgung in dem in Rede stehenden Mitgliedstaat beeinträchtigen und die in der in Art. 9 der Verordnung Nr. 994/2010 genannten Risikobewertung festgestellt wurden, auf der, wie in Nr. 70 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, diese zusätzliche Verpflichtung basieren muss, herabzusetzen.

80.      Diese Zweifel verstärken sich weiter, wenn man bedenkt, dass, wie in Nr. 54 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, ein auf nationaler Ebene vorgesehener Schutz eines übermäßig großen Personenkreises dazu führen kann, dass zusätzliche Risiken für die geschützten Kunden in den anderen Mitgliedstaaten entstehen und die von der Verordnung Nr. 994/2010 geschaffenen europäischen Solidaritätsmechanismen beeinträchtigt werden.

81.      Es ist jedenfalls Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob im vorliegenden Fall die Auferlegung der in Rede stehenden zusätzlichen Verpflichtung tatsächlich auf Gründen der Sicherheit der Erdgasversorgung basiert.

b)      Zur Verhältnismäßigkeit der zusätzlichen Verpflichtung

82.      Wie schon in Nr. 71 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, muss die zusätzliche Verpflichtung, die nach Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 994/2010 den Erdgasunternehmen auferlegt werden darf, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Dies setzt voraus, dass die zusätzliche Verpflichtung geeignet ist, das angestrebte Ziel zu erreichen, d. h. die Sicherheit der Gasversorgung zu gewährleisten, und dass sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.

83.      Insoweit bin ich, ebenso wie die Kommission ausgeführt hat, der Meinung, dass sich das vorlegende Gericht zwar bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der in Rede stehenden zusätzlichen Verpflichtung an der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den regulierten Gas- und Strompreisen orientieren kann(34), die Maßgeblichkeit dieser Rechtsprechung in einem Fall wie dem vorliegenden jedoch überprüft werden muss.

84.      Wie die französische Regierung ausgeführt hat, besteht nämlich ein wesentlicher Unterschied zwischen dem tatsächlichen und rechtlichen Rahmen der in dieser Rechtsprechung untersuchten Sachverhalte, die nationale Maßnahmen betrafen, mit denen ein Marktpreis vorgeschrieben wurde, und demjenigen der vorliegenden Rechtssache, der sich auf Maßnahmen der Versorgungssicherheit bezieht(35).

4.      Ergebnis zur ersten Vorlagefrage

85.      Nach alledem ist meines Erachtens auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 994/2010 es einem Mitgliedstaat nur dann nicht verwehrt, den Erdgaslieferanten eine zusätzliche Verpflichtung aufzuerlegen, die sich auf Kunden erstreckt, die nicht unter die Definition in Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 dieser Verordnung fallen, wenn nachgewiesen wird – was vom vorlegenden Gericht einer gründlichen Prüfung zu unterziehen ist –, dass die in Art. 8 Abs. 2 vorgesehenen Bedingungen, wie sie in den Nrn. 68 bis 74 der vorliegenden Schlussanträge präzisiert wurden, genau eingehalten sind.

D.      Zur zweiten Vorlagefrage

86.      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 8 Abs. 5 der Verordnung Nr. 994/2010 dem entgegensteht, dass eine Regelung eines Mitgliedstaats den Erdgaslieferanten vorschreibt, in seinem Hoheitsgebiet Gasvorräte zu halten, um im Krisenfall die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, und dabei vorsieht, dass die zuständige Behörde bei ihrer Beurteilung der Speicherkapazitäten des Lieferanten andere Anpassungsinstrumente berücksichtigt, über die dieser verfügt.

87.      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 8 Abs. 5 der Verordnung Nr. 994/2010 zwei Vorschriften enthält: erstens eine Erlaubnis, zweitens ein Verbot. Abs. 5 Satz 1 bestimmt nämlich, dass die Erdgasunternehmen die ihnen auferlegten Verpflichtungen für die Erfüllung der in Art. 8 vorgesehenen Versorgungsstandards gegebenenfalls auf regionaler oder auf Unionsebene erfüllen dürfen. Abs. 5 Satz 2 bestimmt dagegen, dass die zuständige nationale Behörde nicht verlangen kann, dass die Gasunternehmen diese Verpflichtungen mit der allein auf ihrem Hoheitsgebiet vorhandenen Infrastruktur erfüllen müssen.

88.      Art. 8 Abs. 5 der Verordnung Nr. 994/2010 ist darauf gerichtet, die Verwirklichung eines echten Erdgasbinnenmarkts sicherzustellen und – gemäß dem 12. Erwägungsgrund dieser Verordnung – zu verhindern, dass die Maßnahmen, die zur Gewährleistung einer sicheren Erdgasversorgung ergriffen werden, in unangemessener Weise den Wettbewerb verzerren oder das reibungslose Funktionieren des Erdgasbinnenmarkts behindern.

89.      Im vorliegenden Fall verpflichtet nun Art. 9 des Dekrets Nr. 2014‑328 in Verbindung mit Art. L. 421‑4 des Energiegesetzes die Gaslieferanten, am 31. Oktober jeden Jahres auf dem französischen Hoheitsgebiet Gasvorräte in Höhe von mindestens 80 % der Speicherrechte zu halten, die mit den von der Verpflichtung umfassten Verbrauchern verknüpft sind. Der zuständige Minister berücksichtigt jedenfalls die anderen Anpassungsinstrumente, über die der Lieferant verfügt, um zu überprüfen, ob dieser seine Verpflichtungen einhält.

90.      Insoweit verweise ich darauf, dass, wie die Kommission hervorgehoben hat, die französische Regelung von Rechts wegen verlangt, dass die Lieferanten in Frankreich ausreichende Erdgasspeicher halten, um ihre Verpflichtungen zu erfüllen. Für sich allein genommen ist eine Verpflichtung dieser Art unvereinbar mit der zweiten Vorschrift in Art. 8 Abs. 5 der Verordnung Nr. 994/2010, da sie die Erdgasunternehmen verpflichtet, ihre Verpflichtungen aus Art. 8 dieser Verordnung zwingend mit der auf ihrem Hoheitsgebiet vorhandenen Infrastruktur zu erfüllen.

91.      Die französischen Vorschriften erlauben dem zuständigen Minister gleichwohl, „andere Anpassungsinstrumente“ des in Rede stehenden Lieferanten zu berücksichtigen. Das vorlegende Gericht hat jedoch keine ausreichenden Informationen vorgelegt, die es ermöglichen, die praktische Tragweite der vom zuständigen Minister vorgenommenen Beurteilung zu erkennen.

92.      Zunächst einmal gibt es keinen Anhaltspunkt, aufgrund dessen die Bedeutung des Begriffs „Anpassungsinstrument“ erkennbar würde. In Beantwortung einer in der mündlichen Verhandlung gestellten präzisen Frage nach der Bedeutung dieses Begriffs hat sich die französische Regierung ausschließlich auf Gasspeicherreserven bezogen, die der in Rede stehende Lieferant eventuell in anderen Mitgliedstaaten hält. Meines Erachtens muss jedoch, wie die polnische Regierung ausgeführt hat, ein Lieferant in der Lage sein, zu beweisen, dass er die ihm auferlegten Verpflichtungen zur Einhaltung der Versorgungsstandards oder der zusätzlichen Verpflichtungen, die in Art. 8 der Verordnung Nr. 994/2010 vorgesehen sind, erfüllen kann, auch mittels der in Anhang II der Verordnung Nr. 994/2010 beispielhaft genannten Marktinstrumente. Die Beurteilung der Fähigkeit, diese Verpflichtungen zu erfüllen, muss nämlich die individuelle Gesamtsituation jedes Lieferanten berücksichtigen.

93.      Sodann ist nicht klar, ob die Analyse, die der zuständige Minister durchführt, um „die anderen Anpassungsinstrumente zu berücksichtigen“, geeignet ist, den Erdgaslieferanten in der Praxis tatsächlich die Möglichkeit zu gewährleisten, ihre Verpflichtungen auf regionaler oder Unionsebene zu erfüllen. Es ist insbesondere zu prüfen, ob eine solche Beurteilung in ihrer konkreten Anwendung auf genauen und überprüfbaren Kriterien beruht.

94.      Unter diesen Umständen ist meines Erachtens auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 5 der Verordnung Nr. 994/2010 einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die den Erdgaslieferanten gebietet, ihre Verpflichtungen aus Art. 8 dieser Verordnung, Gasvorräte zu halten, zwingend und ausschließlich mit der im Inland vorhandenen Infrastruktur zu erfüllen. Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht jedoch zu überprüfen, ob die Möglichkeit, die die nationale Regelung dem zuständigen Minister einräumt, „andere Anpassungsinstrumente“ der betroffenen Lieferanten zu berücksichtigen, diesen tatsächlich die Möglichkeit gewährleistet, in der Praxis ihre Verpflichtungen auf regionaler oder Unionsebene zu erfüllen.

V.      Ergebnis

95.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Conseil d’État (Staatsrat) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

Art. 8 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 994/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Erdgasversorgung und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/67/EG des Rates ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nur dann nicht verwehrt, den Erdgaslieferanten eine zusätzliche Verpflichtung aufzuerlegen, die sich auf Kunden erstreckt, die nicht unter die Definition in Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 dieser Verordnung fallen, wenn nachgewiesen wird – was vom vorlegenden Gericht einer gründlichen Prüfung zu unterziehen ist –, dass die folgenden Voraussetzungen genau eingehalten sind:

–      erstens, eine solche zusätzliche Verpflichtung wird aus echten Gründen der Versorgungssicherheit auferlegt;

–      zweitens, eine solche zusätzliche Verpflichtung fußt auf der in Art. 9 dieser Verordnung genannten Bewertung der Risiken, die die Sicherheit der Gasversorgung im betreffenden Mitgliedstaat beeinträchtigen;

–      drittens, eine solche Verpflichtung ist gemäß Art. 3 Abs. 6 dieser Verordnung klar festgelegt, transparent, verhältnismäßig, nicht diskriminierend und überprüfbar, ohne den Wettbewerb unzulässig zu verfälschen oder den Binnenmarkt für Erdgas zu beeinträchtigen und ohne die Sicherheit der Erdgasversorgung anderer Mitgliedstaaten oder der Union als Ganzes zu gefährden;

–      viertens, eine solche zusätzliche Verpflichtung wirkt sich gemäß dem Grundsatz der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, welcher der Verordnung Nr. 994/2010 zugrunde liegt, nicht nachteilig auf die Fähigkeit der anderen Mitgliedstaaten aus, ihre geschützten Kunden gemäß Art. 8 dieser Verordnung bei einem nationalen, unionsweiten oder regionalen Notfall zu versorgen;

–      fünftens, eine solche zusätzliche Verpflichtung entspricht im Fall eines unionsweiten oder regionalen Notfalls den präzisen Kriterien in Art. 11 Abs. 5 dieser Verordnung;

–      sechstens, im Präventionsplan und im Notfallplan wird die Art und Weise festgelegt, wie unter Beachtung des Grundsatzes der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten eine solche zusätzliche Verpflichtung im Fall eines unionsweiten oder regionalen Notfalls zeitweilig eingeschränkt werden kann.

Art. 8 Abs. 5 der Verordnung Nr. 994/2010 steht einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegen, die den Erdgaslieferanten gebietet, ihre Verpflichtungen aus Art. 8 dieser Verordnung, Gasvorräte zu halten, zwingend und ausschließlich mit der im Inland vorhandenen Infrastruktur zu erfüllen. Das vorlegende Gericht hat jedoch zu überprüfen, ob die Möglichkeit, die die nationale Regelung dem zuständigen Minister einräumt, „andere Anpassungsinstrumente“ der betroffenen Lieferanten zu berücksichtigen, diesen tatsächlich die Möglichkeit gewährleistet, in der Praxis ihre Verpflichtungen auf regionaler oder Unionsebene zu erfüllen.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Verordnung (EU) Nr. 994/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Erdgasversorgung und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/67/EG des Rates (ABl. 2010, L 295, S. 1).


3      Dekret Nr. 2014‑328 vom 12. März 2014 zur Änderung des Dekrets Nr. 2006/1034 vom 21. August 2006 über den Zugang zu unterirdischen Erdgasspeichern.


4      Gemäß Art. R. 421‑6 des Energiegesetzes entspricht das Recht auf Zugang zu den Speicherkapazitäten eines Lieferanten der Summe der Speicherrechte der Kunden, die dieser Lieferant versorgt, entsprechend dem Verbrauchsprofil der geografischen Zone jedes Kunden.


5      Vgl. insoweit Urteil vom 7. September 2016, ANODE (C‑121/15, EU:C:2016:637, Rn. 47 und 48), sowie meine Schlussanträge in derselben Rechtssache (C‑121/15, EU:C:2016:248, Nr. 56).


6      Richtlinie 2004/67/EG des Rates vom 26. April 2004 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Erdgasversorgung (ABl. 2004, L 127, S. 92).


7      Vgl. insoweit das dem Vorschlag für eine Verordnung beigefügte Dokument der Kommission (SEK[2009] 979 endgültig, S. 3 und 17) und das Dokument „Report on the implementation of Regulation (EU) 994/2010 and its contribution to solidarity and preparedness for gas disruptions in the EU“ der Kommission vom 16. Oktober 2014 (SWD[2014] 325 final). Die Erwägungsgründe 26 und 27 der Verordnung Nr. 994/2010 beziehen sich auch ausdrücklich auf die Gaskrise vom Januar 2009.


8      Vgl. 22. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 994/2010.


9      Vgl. Art. 1 sowie die Erwägungsgründe 3, 5, 23 und 24 der Verordnung Nr. 994/2010.


10      Vgl. Art. 3 und 24. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 994/2010. Vgl. auch S. 2 des Dokuments „Report on the implementation of Regulation [EU] 994/2010 and its contribution to solidarity and preparedness for gas disruptions in the EU“ der Kommission vom 16. Oktober 2014 (SWD[2014] 325 final).


11      Vgl. Art. 1 der Verordnung Nr. 994/2010.


12      Vgl. Art. 4 der Verordnung Nr. 994/2010, insbesondere Abs. 1.


13      Vgl. Art. 6 sowie die Erwägungsgründe 13 und 15 der Verordnung Nr. 994/2010.


14      Vgl. 26. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 994/2010.


15      Vgl. Erwägungsgründe 10 und 29 der Verordnung Nr. 994/2010 (Hervorhebung nur hier).


16      Vgl. zehnter Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 994/2010.


17      Art. III‑256 des am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichneten Vertrags über eine Verfassung für Europa (ABl. 2004, C 310, S. 1), der Grundlage für die Fassung von Art. 194 AEUV war, enthielt keine Bezugnahme auf die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten.


18      So erklären die Mitgliedstaaten in der Präambel des EU-Vertrags, dass mit der Gründung der Union auch der Wunsch verbunden war, die Solidarität zwischen ihren Völkern zu stärken. Die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten wird sodann ausdrücklich in Art. 67 Abs. 2 AEUV für den Bereich Asyl, Einwanderung und Kontrollen der Außengrenzen genannt; in Titel VIII des Dritten Teils, spezifisch im Kapitel zur Wirtschaftspolitik, bezieht sich Art. 122 Abs. 1 ebenfalls ausdrücklich auf die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Vgl. insoweit Nrn. 142 ff. der Stellungnahme von Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Pringle (C‑370/12, EU:C:2012:675).


19      Vgl. die Erwägungsgründe 10, 22, 25, 36 und 38 der Verordnung Nr. 994/2010.


20      Spezifisch in Art. 1, Art. 8 Abs. 2 Unterabs. 2, Art. 14 Abs. 2 Buchst. b sowie in Anhang IV.


21      Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2016 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 994/2010 (COM[2016] 52 final).


22      Vgl. Art. 12 des in der vorhergehenden Fußnote genannten Vorschlags.


23      Vgl. insoweit auch das Dokument „Report on the implementation of Regulation [EU] 994/2010 and its contribution to solidarity and preparedness for gas disruptions in the EU“ der Kommission vom 16. Oktober 2014 (SWD[2014] 325 final, S. 2).


24      Wie die Kommission in der Begründung ihres Vorschlags vom 16. Februar 2016 für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 994/2010 (COM[2016] 52 final) ausführte, „besteht klarer Handlungsbedarf auf EU-Ebene, da eine nationale Vorgehensweise zu suboptimalen Maßnahmen führt und die Folgen einer Krise noch verschärft“ (vgl. S. 3.)


25      Vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 11. November 2015, Pujante Rivera (C‑422/14, EU:C:2015:743, Rn. 48).


26      Vgl. insoweit in diesem Sinne im Hinblick auf die verschiedenen Bereiche Urteil vom 9. November 2016, Wathelet (C‑149/15, EU:C:2016:840, Rn. 29), und Urteil vom 2. März 2017, J. D. (C‑4/16, EU:C:2017:153, Rn. 24).


27      ABl. 2003, L 124, S. 36.


28      Vgl. Art. 2 des Anhangs zur Empfehlung.


29      Mehrere Unionsrechtsakte, insbesondere Verordnungen, stützen sich ausdrücklich auf die in dieser Empfehlung enthaltene Definition, um den Begriff „KMU“ zu definieren. Vgl. z. B. Verordnung (EU) Nr. 651/2014 der Kommission vom 17. Juni 2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt in Anwendung der Art. 107 und 108 des Vertrags (Text von Bedeutung für den EWR) (ABl. 2014, L 187, S. 1; vgl. dritter Erwägungsgrund und Anhang I), oder Verordnung (EU) 2015/1017 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Juni 2015 über den Europäischen Fonds für strategische Investitionen, die europäische Plattform für Investitionsberatung und das europäische Investitionsvorhabenportal sowie zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1291/2013 und (EU) Nr. 1316/2013 – der Europäische Fonds für strategische Investitionen (ABl. 2015, L 169, S. 1, vgl. Art. 2 Ziff. 4).


30      Vgl. Nr. 15 der vorliegenden Schlussanträge.


31      Diese Bedingung wird in Art. 8 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 994/2010 wiederholt.


32      Art. 11 Abs. 5 der Verordnung Nr. 994/2010 sieht vor, dass a) keine Maßnahmen ergriffen werden, durch die zu irgendeinem Zeitpunkt die Lastflüsse innerhalb des Binnenmarkts ungebührlich eingeschränkt werden, insbesondere die Gasflüsse zu den betroffenen Märkten; b) keine Maßnahmen ergriffen werden, durch die wahrscheinlich die Gasversorgung in einem anderen Mitgliedstaat ernsthaft gefährdet wird, und c) der grenzüberschreitende Zugang zu den Infrastrukturen nach der Verordnung (EG) Nr. 715/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1775/2005 (ABl. 2009, L 211, S. 36) gemäß dem Notfallplan soweit technisch und sicherheitstechnisch möglich aufrechterhalten wird.


33      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. April 2010, Federutility u. a. (C‑265/08, EU:C:2010:205, Rn. 34), und vom 7. September 2016, ANODE (C‑121/15, EU:C:2016:637, Rn. 54).


34      Vgl. u. a. Urteile vom 20. April 2010, Federutility u. a. (C‑265/08, EU:C:2010:205, Rn. 69), vom 21. Dezember 2011, ENEL (C‑242/10, EU:C:2011:861, Rn. 55 ff.), vom 10. September 2015, Kommission/Polen (C‑36/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:570, Rn. 45 ff.), und vom 7. September 2016, ANODE (C‑121/15, EU:C:2016:637, Rn. 53 ff.).


35      Diese Bemerkung ist offensichtlich besonders relevant, was die periodische Überprüfung der Maßnahme, wie sie in Rn. 35 des Urteils vom 20. April 2010, Federutility u. a. (C‑265/08, EU:C:2010:205), vorgesehen war, betrifft. Der Gerichtshof hat nämlich in diesem Urteil das Erfordernis einer solchen Überprüfung gerechtfertigt, indem er sich darauf bezog, dass die in Rede stehende Maßnahme ihrer Natur nach selbst ein Hindernis für die Durchführung eines Binnenmarkts für Gas war. Eine Überprüfung könnte sich jedoch in dem Fall als notwendig erweisen, in dem sich die Bedingungen, unter denen die Maßnahme erlassen wurde, geändert haben (z. B. im Verhältnis zur Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten oder zur Situation der Infrastrukturen).