Language of document : ECLI:EU:C:2013:533

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

10. September 2013(*)

„Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr – Einwanderungspolitik – Illegale Einwanderung und illegaler Aufenthalt – Rückführung illegal aufhältiger Personen – Richtlinie 2008/115/EG – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Abschiebungsverfahren – Haftmaßnahme – Haftverlängerung – Art. 15 Abs. 2 und 6 – Verteidigungsrechte – Anspruch auf rechtliches Gehör – Verletzung – Folgen“

In der Rechtssache C‑383/13 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Niederlande) mit Entscheidung vom 5. Juli 2013, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Verfahren

M. G.,

N. R.

gegen

Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter G. Arestis, J.‑C. Bonichot (Berichterstatter), A. Arabadjiev und J. L. da Cruz Vilaça,

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: M.-A. Gaudissart, Referatsleiter,

aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts vom 5. Juli 2013, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs einem Eilverfahren zu unterwerfen,

aufgrund der Entscheidung der Zweiten Kammer vom 11. Juli 2013, diesem Antrag stattzugeben,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. August 2013,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Herrn G., vertreten durch N. C. Blomjous und M. Strooij, advocaten,

–        von Herrn R., vertreten durch L. M. Weber und R. M. Seth Paul, advocaten,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch J. Langer und M. Bulterman als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch K. Pawlowska und M. Arciszewski als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande, A. Bouquet und R. Troosters als Bevollmächtigte,

nach Anhörung des Generalanwalts

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98) und von Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten, die Herr G. und Herr R. gegen den Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (Staatssekretär für Sicherheit und Justiz) wegen der Rechtmäßigkeit von Entscheidungen führen, mit denen die gegen sie zum Zweck der Abschiebung erlassenen Haftmaßnahmen verlängert wurden.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Erwägungsgründe 11, 13 und 16 der Richtlinie 2008/115 lauten:

„(11) Um die Interessen der Betroffenen wirksam zu schützen, sollte für Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr eine Reihe gemeinsamer rechtlicher Mindestgarantien gelten. …

(13)      Der Rückgriff auf Zwangsmaßnahmen sollte im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele ausdrücklich den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Wirksamkeit unterliegen. … Die Mitgliedstaaten sollten über verschiedene Möglichkeiten verfügen, Rückführungen zu überwachen.

(16)      Das Mittel der Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung sollte nur begrenzt zum Einsatz kommen und sollte im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegen. Eine Inhaftnahme ist nur gerechtfertigt, um die Rückkehr vorzubereiten oder die Abschiebung durchzuführen und wenn weniger intensive Zwangsmaßnahmen ihren Zweck nicht erfüllen.“

4        Art. 1 der Richtlinie 2008/115 sieht vor:

„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschafts- und des Völkerrechts, einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der Menschenrechte, anzuwenden sind.“

5        Art. 2 der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

„(1)      Diese Richtlinie findet Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige.

…“

6        Art. 15 der Richtlinie 2008/115 lautet:

„(1)      Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn

a)      Fluchtgefahr besteht oder

b)      die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern.

Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.

(2)      Die Inhaftnahme wird von einer Verwaltungs- oder Justizbehörde angeordnet.

Die Inhaftnahme wird schriftlich unter Angabe der sachlichen und rechtlichen Gründe angeordnet.

Wurde die Inhaftnahme von einer Verwaltungsbehörde angeordnet, so gilt Folgendes:

a)      entweder lässt der betreffende Mitgliedstaat die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme so schnell wie möglich nach Haftbeginn innerhalb kurzer Frist gerichtlich überprüfen,

b)      oder der Mitgliedstaat räumt den betreffenden Drittstaatsangehörigen das Recht ein zu beantragen, dass die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme innerhalb kurzer Frist gerichtlich überprüft wird, wobei so schnell wie möglich nach Beginn des betreffenden Verfahrens eine Entscheidung zu ergehen hat. In einem solchen Fall unterrichtet der Mitgliedstaat die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich über die Möglichkeit, einen solchen Antrag zu stellen.

Ist die Inhaftnahme nicht rechtmäßig, so werden die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich freigelassen.

(3)      Die Inhaftnahme wird in jedem Fall – entweder auf Antrag der betreffenden Drittstaatsangehörigen oder von Amts wegen – in gebührenden Zeitabständen überprüft. Bei längerer Haftdauer müssen die Überprüfungen der Aufsicht einer Justizbehörde unterliegen.

(4)      Stellt sich heraus, dass aus rechtlichen oder anderweitigen Erwägungen keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht oder dass die Bedingungen gemäß Absatz 1 nicht mehr gegeben sind, so ist die Haft nicht länger gerechtfertigt und die betreffende Person unverzüglich freizulassen.

(5)      Die Haft wird so lange aufrechterhalten, wie die in Absatz 1 dargelegten Umstände gegeben sind und wie dies erforderlich ist, um den erfolgreichen Vollzug der Abschiebung zu gewährleisten. Jeder Mitgliedstaat legt eine Höchsthaftdauer fest, die sechs Monate nicht überschreiten darf.

(6)      Die Mitgliedstaaten dürfen den in Absatz 5 genannten Zeitraum nicht verlängern; lediglich in den Fällen, in denen die Abschiebungsmaßnahme trotz ihrer angemessenen Bemühungen aufgrund der nachstehend genannten Faktoren wahrscheinlich länger dauern wird, dürfen sie diesen Zeitraum im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht um höchstens zwölf Monate verlängern:

a)      mangelnde Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Drittstaatsangehörigen oder

b)      Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten.“

 Niederländisches Recht

7        Nach Art. 2:1 Abs. 1 der Algemene wet bestuursrecht (Allgemeines Verwaltungsrechtsgesetz) kann sich jeder zur Wahrnehmung seiner Interessen im Verkehr mit der Verwaltung Beistand leisten oder durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen.

8        Nach Art. 4:8 Abs. 1 der Algemene wet bestuursrecht gibt die Verwaltung einem Beteiligten Gelegenheit, seinen Standpunkt vorzutragen, bevor sie eine Entscheidung erlässt, gegen die der Beteiligte, wenn er die Entscheidung nicht beantragt hat, voraussichtlich Einwände haben wird, sofern sich die Entscheidung auf Informationen über Umstände und Belange stützen soll, die den Beteiligten betreffen, und diese Informationen nicht vom Beteiligten selbst in dieser Sache vorgetragen worden sind.

9        Nach Art. 59 Abs. 1 Buchst. a der Vreemdelingenwet 2000 (Ausländergesetz 2000, im Folgenden: Vw 2000) kann, wenn die Belange der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit dies verlangen, ein Ausländer, dessen Aufenthalt nicht legal ist, vom Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie zum Zweck der Abschiebung in Haft genommen werden.

10      Nach Art. 59 Abs. 5 Vw 2000 beträgt die Dauer der Haft nach Art. 59 Abs. 1 höchstens sechs Monate.

11      Nach Art. 59 Abs. 6 Vw 2000 kann die Frist des Abs. 5 um zwölf Monate verlängert werden, wenn die Abschiebungsmaßnahme trotz aller angemessenen Bemühungen wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft des Ausländers oder noch fehlender Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten wahrscheinlich länger dauern wird.

12      Nach Art. 94 Abs. 4 Vw 2000 erklärt die Rechtbank den Rechtsbehelf gegen eine Haftmaßnahme für begründet, wenn sie zu dem Ergebnis gelangt, dass die Anwendung der Maßnahme gegen die Vw 2000 verstößt oder bei Abwägung aller davon betroffenen Belange vernünftigerweise nicht als gerechtfertigt erachtet werden kann. In diesem Fall ordnet die Rechtbank die Aufhebung der Maßnahme an.

13      Nach Art. 106 Abs. 1 Vw 2000 kann die Rechtbank, wenn sie die Aufhebung einer freiheitsentziehenden Maßnahme anordnet oder wenn der Freiheitsentzug bereits vor der Behandlung des Antrags auf Aufhebung dieser Maßnahme aufgehoben wird, dem Ausländer eine Entschädigung zulasten des Staates zuerkennen.

14      Nach Art. 106 Abs. 2 Vw 2000 findet dessen Abs. 1 entsprechende Anwendung, wenn die Abteilung Verwaltungsrechtsprechung des Raad van State die Aufhebung der freiheitsentziehenden Maßnahme anordnet.

15      Nach Art. 5.1a Abs. 1 des Vreemdelingenbesluit 2000 (Ausländerverordnung 2000) kann ein Ausländer, dessen Aufenthalt nicht legal ist, in Haft genommen werden, weil die Belange der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit dies erfordern, wenn

„a)      die Gefahr besteht, dass sich der Ausländer der Überwachung entziehen wird,

oder

b)      der Ausländer die Vorbereitung der Ausreise oder des Abschiebungsverfahrens umgeht oder behindert“.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16      Am 24. Oktober und am 11. November 2012 nahmen die niederländischen Behörden Herrn G. und Herrn R. im Rahmen eines Abschiebungsverfahrens in Haft. Mit Entscheidungen vom 19. und 29. April 2013 wurde ihre Haft um höchstens zwölf Monate verlängert, was u. a. mit mangelnder Kooperationsbereitschaft der Betroffenen im Rahmen des Abschiebungsverfahrens begründet wurde.

17      Herr G. und Herr R. erhoben Klage gegen die sie betreffende Verlängerungsentscheidung. Mit Urteilen vom 22. und 24. Mai 2013 stellte das erstinstanzliche Gericht, die Rechtbank Den Haag, eine Verletzung der Verteidigungsrechte fest, wies aber die Klagen ab, weil es der Ansicht war, dass dieser Fehler nicht dazu führe, dass die Verlängerungsentscheidungen aufzuheben seien. Herr G. und Herr R. legten gegen diese Urteile Berufung beim Raad van State ein.

18      Nach Auffassung dieses Gerichts fallen die Sachverhalte der Ausgangsrechtsstreitigkeiten in den Geltungsbereich der Richtlinie 2008/115. Fest stehe auch, dass die Verteidigungsrechte verletzt worden seien, weil die Betroffenen nicht unter Beachtung der Voraussetzungen des nationalen Rechts vor Erlass der in den Ausgangsverfahren fraglichen Verlängerungsentscheidungen ordnungsgemäß angehört worden seien.

19      Nach nationalem Recht bestimmten die Gerichte die Rechtsfolgen eines solchen Verstoßes unter Berücksichtigung der durch die Haftverlängerung geschützten Interessen und seien daher nicht verpflichtet, eine ohne vorherige Anhörung des Betroffenen ergangene Verlängerungsentscheidung aufzuheben, wenn das Interesse an der Aufrechterhaltung der Haft als vorrangig betrachtet werde.

20      Dem vorlegenden Gericht erscheint jedoch fraglich, ob diese Rechtsprechung im Einklang mit dem Unionsrecht steht. Es weist außerdem darauf hin, dass nach niederländischem Recht, wenn ein nationales Gericht feststelle, dass eine Haftentscheidung aufzuheben sei, die zuständigen Behörden keine neue Haftentscheidung erlassen könnten und der Betroffene unverzüglich freigelassen werden müsse.

21      Vor diesem Hintergrund hat der Raad van State das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Führt die Verletzung des allgemeinen Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte, der auch in Art. 41 Abs. 2 der Charta zum Ausdruck kommt, durch die nationale Verwaltung beim Erlass einer Verlängerungsentscheidung im Sinne von Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 ohne Weiteres in allen Fällen dazu, dass die Haft aufgehoben werden muss?

2.      Lässt dieser allgemeine Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte Spielraum für eine Interessenabwägung, bei der neben der Schwere der Verletzung dieses Grundsatzes und dem Gewicht der dadurch verletzten Belange des Ausländers auch die Belange des Mitgliedstaats berücksichtigt werden, denen die Verlängerung der Haft dient?

 Zum Vorabentscheidungsersuchen

 Zum Eilverfahren

22      Der Raad van State hat nach Art. 267 Abs. 4 AEUV und Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

23      Das vorlegende Gericht hat diesen Antrag damit begründet, dass die Kläger in den von ihm zu entscheidenden Rechtsstreitigkeiten inhaftierte Drittstaatsangehörige seien und dass ihre Situation in den Geltungsbereich der Bestimmungen von Titel V des AEU-Vertrags über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts falle. Sollte die erste Frage bejaht werden, sei die Haft unverzüglich aufzuheben. Sollte die erste Frage verneint werden, bedeute dies, dass Spielraum für eine Interessenabwägung bestehe und der Raad van State diese dann konkret durchzuführen und zügig zu entscheiden habe, ob sie zur Aufhebung der Haft führen müsse.

24      Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung der Richtlinie 2008/115 betrifft, die unter Titel V im dritten Teil des AEU-Vertrags fällt. Es ist daher geeignet, dem Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 107 der Verfahrensordnung unterworfen zu werden.

25      Zweitens ist den Klägern des Ausgangsverfahrens, wie das vorlegende Gericht hervorhebt, derzeit die Freiheit entzogen, und die Entscheidung der Ausgangsrechtsstreitigkeiten kann bewirken, dass dieser Freiheitsentzug unverzüglich beendet wird.

26      Aus diesen Gründen hat die Zweite Kammer des Gerichtshofs am 11. Juli 2013 auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.

 Zu den Vorlagefragen

27      Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere Art. 15 Abs. 2 und 6 der Richtlinie 2008/115, dahin auszulegen ist, dass die Haft unverzüglich zu beenden ist, wenn in einem Verwaltungsverfahren die Verlängerung einer Haftmaßnahme unter Missachtung des Anspruchs auf rechtliches Gehör beschlossen wurde, oder ob das mit der Beurteilung der Rechtmäßigkeit dieser Verlängerungsentscheidung betraute Gericht die Haft aufrechterhalten kann, wenn es nach Abwägung der betroffenen Belange der Ansicht ist, dass sie gerechtfertigt bleibt.

28      Das vorlegende Gericht sieht es als erwiesen an, dass unter den Gegebenheiten der bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten die Entscheidungen, mit denen die Haft verlängert wurde, unter Missachtung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ergangen sind. Der Gerichtshof hat sich daher im Rahmen des vorliegenden Eilvorabentscheidungsverfahren nicht zu den unionsrechtlichen Voraussetzungen für einen Verstoß gegen die Pflicht zur Gewährleistung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zu äußern, sondern dem vorlegenden Gericht nur mitzuteilen, welche Folgen das Unionsrecht an einen solchen Verstoß knüpft.

29      In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Richtlinie 2008/115 in Kapitel III („Verfahrensgarantien“) die Formerfordernisse für Abschiebungsentscheidungen festlegt – die u. a. schriftlich ergehen und eine Begründung enthalten müssen – und die Mitgliedstaaten verpflichtet, wirksame Rechtsbehelfe gegen diese Entscheidungen einzuführen. In Kapitel IV, das die Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung betrifft, sieht die Richtlinie u. a. in Art. 15 Abs. 2 vor, dass die Inhaftnahme von einer Verwaltungs- oder Justizbehörde schriftlich und unter Angabe der der Haftentscheidung zugrunde liegenden sachlichen und rechtlichen Gründe angeordnet wird, und regelt die Voraussetzungen der gerichtlichen Überprüfung solcher Entscheidungen, sofern sie von der Verwaltungsbehörde erlassen werden. Außerdem bestimmt Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 4 der Richtlinie 2008/115, dass die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich freizulassen sind, wenn die Inhaftnahme nicht rechtmäßig ist.

30      Weiter ist darauf hinzuweisen, dass Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 die Mitgliedstaaten zwar ermächtigt, die Haftdauer für die Zwecke der Abschiebung bei Vorliegen bestimmter materieller Voraussetzungen im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht um höchstens zwölf Monate zu verlängern, doch enthält diese Bestimmung keinerlei Verfahrensvorschrift.

31      Daher ist festzustellen, dass die Verfasser der Richtlinie 2008/115 zwar die Garantien, die den betroffenen Drittstaatsangehörigen sowohl hinsichtlich der Abschiebungsentscheidung als auch hinsichtlich der Haftentscheidung gewährt werden, detailliert regeln wollten, doch haben sie weder festgelegt, ob und unter welchen Bedingungen der Anspruch der Drittstaatsangehörigen auf rechtliches Gehör zu wahren ist, noch, welche Konsequenzen aus einer Missachtung dieses Anspruchs zu ziehen sind, sieht man von dem allgemeinen Erfordernis der Freilassung bei Rechtswidrigkeit der Haft ab.

32      Nach ständiger Rechtsprechung gehören die Verteidigungsrechte, die den Anspruch auf rechtliches Gehör und das Recht auf Akteneinsicht umfassen, zu den Grundrechten, die Bestandteil der Unionsrechtsordnung und in der Charta verankert sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juli 2013, Kommission u. a./Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, Randnrn. 98 und 99 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Diese Rechte sind auch dann zu wahren, wenn die anwendbare Regelung solche Verfahrensrechte nicht ausdrücklich vorsieht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2012, M., C‑277/11, Randnr. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33      Der Gerichtshof hat jedoch bereits entschieden, dass Grundrechte wie das Recht auf Beachtung der Verteidigungsrechte nicht schrankenlos gewährleistet sind, sondern Beschränkungen unterworfen werden können, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen entsprechen, die mit der fraglichen Maßnahme verfolgt werden, und keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und untragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet (Urteil vom 15. Juni 2006, Dokter u. a., C‑28/05, Slg. 2006, I‑5431, Randnr. 75).

34      Ob eine Verletzung der Verteidigungsrechte vorliegt, ist zudem anhand der besonderen Umstände jedes Einzelfalls zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2011, Solvay/Kommission, C‑110/10 P, Slg. 2011, I‑10439, Randnr. 63), insbesondere anhand des Inhalts des betreffenden Rechtsakts, des Kontexts seines Erlasses sowie der Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (Urteil Kommission u. a./Kadi, Randnr. 102 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Die Pflicht zur Wahrung der Verteidigungsrechte der Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, ist somit grundsätzlich den Verwaltungen der Mitgliedstaaten auferlegt, wenn sie Maßnahmen treffen, die in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen. Sind wie im vorliegenden Fall weder die Bedingungen, unter denen die Wahrung der Verteidigungsrechte illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger zu gewährleisten ist, noch die Folgen der Missachtung dieser Rechte unionsrechtlich festgelegt, richten sich diese Bedingungen und Folgen nach nationalem Recht, sofern die in diesem Sinne getroffenen Maßnahmen denen entsprechen, die für den Einzelnen in vergleichbaren unter das nationale Recht fallenden Situationen gelten (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 18. Dezember 2008, Sopropé, C‑349/07, Slg. 2008, I‑10369, Randnr. 38, und vom 19. Mai 2011, Iaia u. a., C‑452/09, Slg. 2011, I‑4043, Randnr. 16).

36      Deswegen steht es den Mitgliedstaaten zwar frei, die Ausübung der Verteidigungsrechte von Drittstaatsangehörigen nach denselben Modalitäten zu erlauben, wie sie für innerstaatliche Sachverhalte festgelegt sind, doch müssen diese Modalitäten im Einklang mit dem Unionsrecht stehen und dürfen insbesondere die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 2008/115 nicht in Frage stellen.

37      Die Mitgliedstaaten müssen demnach den Gesamtzusammenhang der Rechtsprechung zur Wahrung der Verteidigungsrechte und des Systems der Richtlinie 2008/115 beachten, wenn sie im Rahmen ihrer Verfahrensautonomie die Bedingungen festlegen, unter denen die Wahrung des Anspruchs illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger auf rechtliches Gehör zu gewährleisten ist, und die Konsequenzen aus einer Missachtung dieses Anspruchs ziehen.

38      Angesichts der Fragen des vorlegenden Gerichts ist hervorzuheben, dass nach dem Unionsrecht eine Verletzung der Verteidigungsrechte, insbesondere des Anspruchs auf rechtliches Gehör, nur dann zur Nichtigerklärung der Entscheidung führt, die am Ende des fraglichen Verwaltungsverfahrens erlassen wird, wenn das Verfahren ohne diese Regelwidrigkeit zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 14. Februar 1990, Frankreich/Kommission, C‑301/87, Slg. 1990, I‑307, Randnr. 31, vom 5. Oktober 2000, Deutschland/Kommission, C‑288/96, Slg. 2000, I‑8237, Randnr. 101, vom 1. Oktober 2009, Foshan Shunde Yongjian Housewares & Hardware/Rat, C‑141/08 P, Slg. 2009, I‑9147, Randnr. 94, und vom 6. September 2012, Storck/HABM, C‑96/11 P, Randnr. 80).

39      Somit kann nicht jede Regelwidrigkeit bei der Ausübung der Verteidigungsrechte während eines Verwaltungsverfahrens, das die Verlängerung der Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen für die Zwecke seiner Abschiebung betrifft, eine Verletzung dieser Rechte darstellen. Folglich führt auch nicht jeder Verstoß insbesondere gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör systematisch zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung im Sinne von Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 4 der Richtlinie 2008/115, die automatisch die Freilassung des betroffenen Drittstaatsangehörigen erforderlich macht.

40      Um eine solche Rechtswidrigkeit festzustellen, obliegt es nämlich dem nationalen Gericht, falls seines Erachtens eine den Anspruch auf rechtliches Gehör beeinträchtigende Regelwidrigkeit vorliegt, zu prüfen, ob das fragliche Verwaltungsverfahren unter den speziellen tatsächlichen und rechtlichen Umständen des konkreten Falles zu einem anderen Ergebnis hätte führen können, weil die betroffenen Drittstaatsangehörigen Gesichtspunkte hätten geltend machen können, die geeignet gewesen wären, die Beendigung ihrer Haft zu rechtfertigen.

41      Würde dem nationalen Gericht kein solcher Beurteilungsspielraum zuerkannt und vorgeschrieben, dass jede Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör automatisch zur Aufhebung der Haftverlängerungsentscheidung und zur Beendigung der Haft führt, obwohl sich eine solche Regelwidrigkeit in der Praxis möglicherweise nicht auf die Verlängerungsentscheidung auswirkt und die Haft die materiell-rechtlichen Voraussetzungen von Art. 15 der Richtlinie 2008/115 erfüllen würde, könnte die praktische Wirksamkeit dieser Richtlinie beeinträchtigt werden.

42      Zum einen ist nämlich zu beachten, dass mit der Richtlinie 2008/115 nach ihrem zweiten Erwägungsgrund eine wirksame Rückkehr‑ und Rückübernahmepolitik festgelegt werden soll, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung ihrer Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden. Ebenso soll nach dem 13. Erwägungsgrund der Richtlinie der Rückgriff auf Zwangsmaßnahmen im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele ausdrücklich nicht nur dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sondern auch dem der Wirksamkeit unterliegen.

43      Zum anderen hat die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger nach dem System der Richtlinie 2008/115 Priorität für die Mitgliedstaaten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2011, Achughbabian, C‑329/11, Slg. 2011, I‑12695, Randnr. 38).

44      Die Kontrolle durch das nationale Gericht in Bezug auf eine gerügte Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör während eines Verwaltungsverfahrens zum Erlass einer Haftverlängerungsentscheidung im Sinne von Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 hat daher darin zu bestehen, dass anhand der speziellen tatsächlichen und rechtlichen Umstände des jeweiligen Falles geprüft wird, ob die Verfahrensfehler denjenigen, die sich auf sie berufen, tatsächlich die Möglichkeit genommen haben, sich in solchem Maße besser zu verteidigen, dass dieses Verwaltungsverfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können.

45      Nach alledem ist auf die Fragen zu antworten, dass das Unionsrecht, insbesondere Art. 15 Abs. 2 und 6 der Richtlinie 2008/115, dahin auszulegen ist, dass das nationale Gericht, das mit der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer in einem Verwaltungsverfahren unter Missachtung des Anspruchs auf rechtliches Gehör beschlossenen Verlängerung einer Haftmaßnahme betraut ist, die Haftmaßnahme nur dann aufheben darf, wenn es aufgrund aller tatsächlichen und rechtlichen Umstände des jeweiligen Falles der Ansicht ist, dass dieser Verstoß demjenigen, der sich darauf beruft, tatsächlich die Möglichkeit genommen hat, sich in solchem Maße besser zu verteidigen, dass dieses Verwaltungsverfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können.

 Kosten

46      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Das Unionsrecht, insbesondere Art. 15 Abs. 2 und 6 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ist dahin auszulegen, dass das nationale Gericht, das mit der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer in einem Verwaltungsverfahren unter Missachtung des Anspruchs auf rechtliches Gehör beschlossenen Verlängerung einer Haftmaßnahme betraut ist, die Haftmaßnahme nur dann aufheben darf, wenn es aufgrund aller tatsächlichen und rechtlichen Umstände des jeweiligen Falles der Ansicht ist, dass dieser Verstoß demjenigen, der sich darauf beruft, tatsächlich die Möglichkeit genommen hat, sich in solchem Maße besser zu verteidigen, dass dieses Verwaltungsverfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Niederländisch.