Language of document : ECLI:EU:C:2023:951

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

5. Dezember 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 27 und 29 – Maßnahmen zur Beschränkung der Freizügigkeit der Unionsbürger aus Gründen der öffentlichen Gesundheit – Maßnahmen mit allgemeiner Geltung – Nationale Regelung, die zum einen ein Verbot der Ausreise aus dem nationalen Hoheitsgebiet für nicht wesentliche Reisen in Mitgliedstaaten vorsieht, die im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie als Hochrisikogebiete eingestuft worden sind, und zum anderen die Verpflichtung für alle aus einem dieser Mitgliedstaaten in das nationale Hoheitsgebiet einreisenden Personen, sich Screeningtests zu unterziehen und eine Quarantäne einzuhalten – Schengener Grenzkodex – Art. 23 – Ausübung der polizeilichen Befugnisse im Bereich der öffentlichen Gesundheit – Gleichstellung mit der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen – Art. 25 – Möglichkeit der Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie – Kontrollen, die in einem Mitgliedstaat im Rahmen von Maßnahmen zum Verbot des Überschreitens der Grenzen zum Zweck nicht wesentlicher Reisen aus oder in Staaten des Schengen-Raums durchgeführt werden, die im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie als Hochrisikogebiete eingestuft worden sind“

In der Rechtssache C‑128/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel (niederländischsprachiges Gericht erster Instanz von Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 7. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Februar 2022, in dem Verfahren

Nordic Info BV

gegen

Belgische Staat

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, C. Lycourgos, E. Regan, F. Biltgen und Z. Csehi, der Richter J.–C. Bonichot, M. Safjan (Berichterstatter), S. Rodin, P. G. Xuereb, J. Passer und D. Gratsias sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún und des Richters M. Gavalec,

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: A. Lamote, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. Januar 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Nordic Info BV, vertreten durch F. Emmerechts und R. Pockelé-Dilles, Advocaten,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, C. Pochet und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte im Beistand von L. De Brucker, E. Jacubowitz und P. de Maeyer, Advocaten,

–        der rumänischen Regierung, vertreten durch M. Chicu und E. Gane als Bevollmächtigte,

–        der norwegischen Regierung, vertreten durch V. Hauan, A. Hjetland, T. B. Leming, I. Thue und P. Wennerås als Bevollmächtigte,

–        der Schweizer Regierung, vertreten durch L. Lanzrein und N. Marville-Dosen als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti, J. Tomkin und F. Wilman als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. September 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35) sowie der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1, berichtigt in ABl. 2018, L 272, S. 69) in der durch die Verordnung (EU) 2017/2225 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2017 (ABl. 2017, L 327, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Schengener Grenzkodex).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Nordic Info BV, einer Gesellschaft mit Sitz in Belgien, und dem Belgische Staat (Belgischer Staat) über den Ersatz des Schadens, der dieser Gesellschaft durch nationale Maßnahmen zur Beschränkung der Freizügigkeit entstanden sein soll, die während der Gesundheitskrise im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie erlassen worden waren.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2004/38

3        In den Erwägungsgründen 22, 25 bis 27 und 31 der Richtlinie 2004/38 heißt es:

„(22)      Der Vertrag sieht Beschränkungen des Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit vor. Um eine genauere Definition der Umstände und Verfahrensgarantien sicherzustellen, unter denen Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen die Erlaubnis zur Einreise verweigert werden kann oder unter denen sie ausgewiesen werden können, sollte die vorliegende Richtlinie die Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind [ABl. 1964, 56, S. 850], ersetzen.

(25)      Ferner sollten Verfahrensgarantien festgelegt werden, damit einerseits im Falle eines Verbots, in einen anderen Mitgliedstaat einzureisen oder sich dort aufzuhalten, ein hoher Schutz der Rechte des Unionsbürgers und seiner Familienangehörigen gewährleistet ist und andererseits der Grundsatz eingehalten wird, dass behördliche Handlungen ausreichend begründet sein müssen.

(26)      Der Unionsbürger und seine Familienangehörigen, denen untersagt wird, in einen anderen Mitgliedstaat einzureisen oder sich dort aufzuhalten, müssen stets die Möglichkeit haben, den Rechtsweg zu beschreiten.

(27)      Im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach die Mitgliedstaaten gegen die Begünstigten dieser Richtlinie kein Aufenthaltsverbot auf Lebenszeit verhängen dürfen, sollte bestätigt werden, dass ein Unionsbürger oder einer seiner Familienangehörigen, gegen den ein Mitgliedstaat ein Aufenthaltsverbot verhängt hat, nach einem angemessenen Zeitraum, in jedem Fall aber nach Ablauf von drei Jahren nach Vollstreckung des endgültigen Aufenthaltsverbots, einen neuen Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbots stellen kann.

(31)      Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und ‑freiheiten und den Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. Dem in der Charta enthaltenen Diskriminierungsverbot zufolge sollten die Mitgliedstaaten diese Richtlinie ohne Diskriminierung zwischen den Begünstigten dieser Richtlinie etwa aufgrund des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung umsetzen“.

4        Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2004/38 lautet:

„Diese Richtlinie regelt

a)      die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen;

b)      das Recht auf Daueraufenthalt der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten;

c)      die Beschränkungen der in den Buchstaben a) und b) genannten Rechte aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit.“

5        In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

1.      ‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt;

3.      ‚Aufnahmemitgliedstaat‘ den Mitgliedstaat, in den sich der Unionsbürger begibt, um dort sein Recht auf Freizügigkeit oder Aufenthalt auszuüben.“

6        Art. 3 („Berechtigte“) Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.“

7        Art. 4 („Recht auf Ausreise“) der Richtlinie 2004/38 lautet:

„(1)      Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften haben alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihre Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, das Recht, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben.

(2)      Für die Ausreise von Personen gemäß Absatz 1 darf weder ein Visum noch eine gleichartige Formalität verlangt werden.

(3)      Die Mitgliedstaaten stellen ihren Staatsangehörigen gemäß ihren Rechtsvorschriften einen Personalausweis oder einen Reisepass aus, der ihre Staatsangehörigkeit angibt, und verlängern diese Dokumente.

(4)      Der Reisepass muss zumindest für alle Mitgliedstaaten und die unmittelbar zwischen den Mitgliedstaaten liegenden Durchreiseländer gelten. Sehen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats keinen Personalausweis vor, so ist der Reisepass mit einer Gültigkeit von mindestens fünf Jahren auszustellen oder zu verlängern.“

8        In Art. 5 („Recht auf Einreise“) dieser Richtlinie heißt es:

„(1)      Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften gestatten die Mitgliedstaaten Unionsbürgern, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihren Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, die Einreise.

Für die Einreise von Unionsbürgern darf weder ein Visum noch eine gleichartige Formalität verlangt werden.

(5)      Der Mitgliedstaat kann von dem Betroffenen verlangen, dass er seine Anwesenheit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats innerhalb eines angemessenen und nicht diskriminierenden Zeitraums meldet. Die Nichterfüllung dieser Meldepflicht kann mit verhältnismäßigen und nicht diskriminierenden Sanktionen geahndet werden.“

9        Die Art. 6 und 7 der Richtlinie, die in deren Kapitel III über das Aufenthaltsrecht enthalten sind, betreffen das Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten bzw. das Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate.

10      Kapitel VI der Richtlinie 2004/38 regelt die „Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“ und umfasst die Art. 27 bis 33 dieser Richtlinie.

11      Art. 27 („Allgemeine Grundsätze“) der Richtlinie lautet:

„(1)      Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.

(2)      Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.

Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.

(3)      Um festzustellen, ob der Betroffene eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt, kann der Aufnahmemitgliedstaat bei der Ausstellung der Anmeldebescheinigung oder – wenn es kein Anmeldesystem gibt – spätestens drei Monate nach dem Zeitpunkt der Einreise des Betroffenen in das Hoheitsgebiet oder nach dem Zeitpunkt, zu dem der Betroffene seine Anwesenheit im Hoheitsgebiet gemäß Artikel 5 Absatz 5 gemeldet hat, oder bei Ausstellung der Aufenthaltskarte den Herkunftsmitgliedstaat und erforderlichenfalls andere Mitgliedstaaten um Auskünfte über das Vorleben des Betroffenen in strafrechtlicher Hinsicht ersuchen, wenn er dies für unerlässlich hält. Diese Anfragen dürfen nicht systematisch erfolgen. Der ersuchte Mitgliedstaat muss seine Antwort binnen zwei Monaten erteilen.

(4)      Der Mitgliedstaat, der den Reisepass oder Personalausweis ausgestellt hat, lässt den Inhaber des Dokuments, der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit aus einem anderen Mitgliedstaat ausgewiesen wurde, ohne jegliche Formalitäten wieder einreisen, selbst wenn der Personalausweis oder Reisepass ungültig geworden ist oder die Staatsangehörigkeit des Inhabers bestritten wird.“

12      Art. 29 („Öffentliche Gesundheit“) der Richtlinie 2004/38 sieht vor:

„(1)      Als Krankheiten, die eine die Freizügigkeit beschränkende Maßnahme rechtfertigen, gelten ausschließlich die Krankheiten mit epidemischem Potenzial im Sinne der einschlägigen Rechtsinstrumente der Weltgesundheitsorganisation [(WHO)] und sonstige übertragbare, durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten, sofern gegen diese Krankheiten Maßnahmen zum Schutz der Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats getroffen werden.

(2)      Krankheiten, die nach Ablauf einer Frist von drei Monaten ab dem Zeitpunkt der Einreise auftreten, stellen keinen Ausweisungsgrund dar.

(3)      Wenn ernsthafte Anhaltspunkte dies rechtfertigen, können die Mitgliedstaaten für die Personen, die zum Aufenthalt berechtigt sind, binnen drei Monaten nach der Einreise eine kostenlose ärztliche Untersuchung anordnen, um feststellen zu lassen, dass sie nicht an einer Krankheit im Sinne von Absatz 1 leiden. Diese ärztlichen Untersuchungen dürfen nicht systematisch angeordnet werden.“

13      Art. 30 („Mitteilung der Entscheidungen“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Entscheidungen nach Artikel 27 Absatz 1 müssen dem Betroffenen schriftlich in einer Weise mitgeteilt werden, dass er deren Inhalt und Wirkung nachvollziehen kann.

(2)      Dem Betroffenen sind die Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, die der ihn betreffenden Entscheidung zugrunde liegen, genau und umfassend mitzuteilen, es sei denn, dass Gründe der Sicherheit des Staates dieser Mitteilung entgegenstehen.

(3)      In der Mitteilung ist anzugeben, bei welchem Gericht oder bei welcher Verwaltungsbehörde der Betroffene einen Rechtsbehelf einlegen kann, innerhalb welcher Frist der Rechtsbehelf einzulegen ist und gegebenenfalls binnen welcher Frist er das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu verlassen hat. Außer in ordnungsgemäß begründeten dringenden Fällen muss die Frist zum Verlassen des Hoheitsgebiets mindestens einen Monat, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Mitteilung, betragen.“

14      In Art. 31 („Verfahrensgarantien“) der Richtlinie heißt es:

„(1)      Gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit müssen die Betroffenen einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können.

(3)      Im Rechtsbehelfsverfahren sind die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und die Umstände, auf denen die Entscheidung beruht, zu überprüfen. Es gewährleistet, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Artikel 28 nicht unverhältnismäßig ist.

(4)      Die Mitgliedstaaten können dem Betroffenen verbieten, sich während des anhängigen Rechtsbehelfsverfahrens in ihrem Hoheitsgebiet aufzuhalten, dürfen ihn jedoch nicht daran hindern, sein Verfahren selbst zu führen, es sei denn, die öffentliche Ordnung oder Sicherheit können durch sein persönliches Erscheinen ernsthaft gestört werden oder der Rechtsbehelf richtet sich gegen die Verweigerung der Einreise in das Hoheitsgebiet.“

15      Art. 32 („Zeitliche Wirkung eines Aufenthaltsverbots“) der Richtlinie sieht vor:

„(1)      Personen, gegen die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ein Aufenthaltsverbot verhängt worden ist, können nach einem entsprechend den Umständen angemessenen Zeitraum, in jedem Fall aber drei Jahre nach Vollstreckung des nach dem Gemeinschaftsrecht ordnungsgemäß erlassenen endgültigen Aufenthaltsverbots einen Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbots unter Hinweis darauf einreichen, dass eine materielle Änderung der Umstände eingetreten ist, die das Aufenthaltsverbot gerechtfertigt haben.

Der betreffende Mitgliedstaat muss binnen sechs Monaten nach Einreichung des Antrags eine Entscheidung treffen.

(2)      Die Personen gemäß Absatz 1 sind nicht berechtigt, während der Prüfung ihres Antrags in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats einzureisen.“

 Schengener Grenzkodex

16      Die Erwägungsgründe 2 und 6 des Schengener Grenzkodex lauten:

„(2)      Der Erlass von Maßnahmen nach Artikel 77 Absatz 2 Buchstabe e [AEUV], die sicherstellen, dass Personen beim Überschreiten der Binnengrenzen nicht kontrolliert werden, ist Teil des Ziels der [Europäischen] Union nach Artikel 26 Absatz 2 AEUV, einen Raum ohne Binnengrenzen aufzubauen, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist.

(6)      Grenzkontrollen liegen nicht nur im Interesse des Mitgliedstaats, an dessen Außengrenzen sie erfolgen, sondern auch im Interesse sämtlicher Mitgliedstaaten, die die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft haben. Grenzkontrollen sollten zur Bekämpfung der illegalen Zuwanderung und des Menschenhandels sowie zur Vorbeugung jeglicher Bedrohung der inneren Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Gesundheit und der internationalen Beziehungen der Mitgliedstaaten beitragen.“

17      Art. 1 („Gegenstand und Grundsätze“) des Schengener Grenzkodex bestimmt:

„Diese Verordnung sieht vor, dass keine Grenzkontrollen in Bezug auf Personen stattfinden, die die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Union überschreiten.

Sie legt Regeln für die Grenzkontrollen in Bezug auf Personen fest, die die Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Union überschreiten.“

18      Art. 2 Nrn. 1, 8, 10 bis 12 und 21 des Schengener Grenzkodex enthält folgende Begriffsbestimmungen:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

1.      ‚Binnengrenzen‘

a)      die gemeinsamen Landgrenzen der Mitgliedstaaten, einschließlich der Fluss- und Binnenseegrenzen,

b)      die Flughäfen der Mitgliedstaaten für Binnenflüge,

c)      die See‑, Flussschifffahrts- und Binnenseehäfen der Mitgliedstaaten für regelmäßige interne Fährverbindungen;

8.      ‚Grenzübergangsstelle‘ einen von den zuständigen Behörden für das Überschreiten der Außengrenzen zugelassenen Ort des Grenzübertritts;

10.      ‚Grenzkontrollen‘ die an einer Grenze nach Maßgabe und für die Zwecke dieser Verordnung unabhängig von jedem anderen Anlass ausschließlich aufgrund des beabsichtigten oder bereits erfolgten Grenzübertritts durchgeführten Maßnahmen, die aus Grenzübertrittskontrollen und Grenzüberwachung bestehen;

11.      ‚Grenzübertrittskontrollen‘ die Kontrollen, die an den Grenzübergangsstellen erfolgen, um festzustellen, ob die betreffenden Personen mit ihrem Fortbewegungsmittel und den von ihnen mitgeführten Sachen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreisen oder aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ausreisen dürfen;

12.      ‚Grenzüberwachung‘ die Überwachung der Grenzen zwischen den Grenzübergangsstellen und die Überwachung der Grenzübergangsstellen außerhalb der festgesetzten Verkehrsstunden, um zu vermeiden, dass Personen die Grenzübertrittskontrollen umgehen;

21.      ‚Gefahr für die öffentliche Gesundheit‘ eine Krankheit mit epidemischem Potenzial im Sinne der Internationalen Gesundheitsvorschriften der [WHO] und sonstige übertragbare, durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten, sofern gegen diese Krankheiten Maßnahmen zum Schutz der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten getroffen werden“.

19      Art. 3 („Anwendungsbereich“) des Schengener Grenzkodex lautet:

„Diese Verordnung findet Anwendung auf alle Personen, die die Binnengrenzen oder die Außengrenzen eines Mitgliedstaats überschreiten, unbeschadet

a)      der Rechte der Personen, die nach dem Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr haben;

b)      der Rechte der Flüchtlinge und Personen, die um internationalen Schutz ersuchen, insbesondere hinsichtlich der Nichtzurückweisung.“

20      Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex sieht u. a. vor, dass Drittstaatsangehörige, die über eine Außengrenze in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen wollen, keine Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellen dürfen.

21      In Bezug auf Kontrollen an den Außengrenzen schreibt Art. 8 Abs. 2 und 3 des Schengener Grenzkodex im Wesentlichen vor, zu überprüfen, ob Personen, die nach Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr haben, sowie Drittstaatsangehörige nicht, u. a., als Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit angesehen werden.

22      Art. 22 („Überschreiten der Binnengrenzen“) des Schengener Grenzkodex lautet:

„Die Binnengrenzen dürfen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden.“

23      Art. 23 („Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets“) des Schengener Grenzkodex bestimmt:

„Das Ausbleiben der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen berührt nicht:

a)      die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat; dies gilt auch in Grenzgebieten. Im Sinne von Satz 1 darf die Ausübung der polizeilichen Befugnisse insbesondere nicht der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen gleichgestellt werden, wenn die polizeilichen Maßnahmen

i)      keine Grenzkontrollen zum Ziel haben;

ii)      auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen;

iii)      in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet;

iv)      auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden;

…“

24      Art. 25 („Allgemeiner Rahmen für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen“) des Schengener Grenzkodex lautet:

„(1)      Ist im Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht, so ist diesem Mitgliedstaat unter außergewöhnlichen Umständen die Wiedereinführung von Kontrollen an allen oder bestimmten Abschnitten seiner Binnengrenzen für einen begrenzten Zeitraum von höchstens 30 Tagen oder für die vorhersehbare Dauer der ernsthaften Bedrohung, wenn ihre Dauer den Zeitraum von 30 Tagen überschreitet, gestattet. Die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen darf in Umfang und Dauer nicht über das Maß hinausgehen, das zur Bewältigung der ernsthaften Bedrohung unbedingt erforderlich ist.

(2)      Kontrollen an den Binnengrenzen werden nur als letztes Mittel und im Einklang mit den Artikeln 27, 28 und 29 wiedereingeführt. Wird ein Beschluss zur Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen nach Artikel 27, 28 oder 29 in Betracht gezogen, so sind die in Artikel 26 beziehungsweise 30 genannten Kriterien in jedem einzelnen Fall zu Grunde zu legen.

(3)      Hält die ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit in dem betreffenden Mitgliedstaat über den in Absatz 1 des vorliegenden Artikels genannten Zeitraum hinaus an, so kann dieser Mitgliedstaat die Kontrollen an seinen Binnengrenzen unter Zugrundelegung der in Artikel 26 genannten Kriterien und gemäß Artikel 27 aus den in Absatz 1 des vorliegenden Artikels genannten Gründen und unter Berücksichtigung neuer Umstände für weitere Zeiträume von höchstens 30 Tagen verlängern.

(4)      Der Gesamtzeitraum, innerhalb dessen Kontrollen an den Binnengrenzen wiedereingeführt werden können, einschließlich etwaiger Verlängerungen nach Absatz 3 dieses Artikels, beträgt höchstens sechs Monate. Liegen außergewöhnliche Umstände im Sinne von Artikel 29 vor, so kann dieser Gesamtzeitraum gemäß Artikel 29 Absatz 1 auf eine Höchstdauer von zwei Jahren verlängert werden.“

25      In Art. 26 („Kriterien für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen“), Art. 27 („Bei der vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen anzuwendendes Verfahren nach Artikel 25“) und Art. 28 („Besonderes Verfahren für Fälle, die sofortiges Handeln erfordern“) des Schengener Grenzkodex sind die materiellen und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen festgelegt, die die Mitgliedstaaten erfüllen müssen, um gemäß Art. 25 vorübergehend wieder Kontrollen an den Binnengrenzen einführen zu können.

 Empfehlung (EU) 2020/912

26      Die Empfehlung (EU) 2020/912 des Rates vom 30. Juni 2020 zur vorübergehenden Beschränkung nicht unbedingt notwendiger Reisen in die [Europäische Union] und möglichen Aufhebung dieser Beschränkung (ABl. 2020, L 208, S. 1, berichtigt in ABl. 2021, L 327, S. 42) enthält einen Anhang II mit folgendem Inhalt:

„Spezifische Kategorien von Reisenden, die eine wichtige Funktion ausüben oder deren Reise zwingend notwendig ist:

i)      Gesundheitspersonal, Gesundheitsforscher und Altenpflegepersonal;

ii)      Grenzgänger;

iii)      Saisonarbeiter in der Landwirtschaft;

iv)      Transportpersonal;

v)      Diplomaten, Personal internationaler Organisationen, von internationalen Organisationen eingeladene Personen, deren Anwesenheit für das reibungslose Funktionieren dieser Organisationen erforderlich ist, militärisches Personal, humanitäre Helfer und Katastrophenschutzkräfte in Ausübung ihrer Tätigkeit;

vi)      Passagiere im Transitverkehr;

vii)      Passagiere, die aus zwingenden familiären Gründen reisen;

viii)      Seeleute;

ix)      Personen, die internationalen Schutz oder Schutz aus anderen humanitären Gründen benötigen;

x)      Drittstaatsangehörige, die zu Studienzwecken einreisen;

xi)      hoch qualifizierte Arbeitnehmer aus Drittstaaten, deren Arbeitskraft aus wirtschaftlicher Sicht notwendig ist und deren Arbeit nicht aufgeschoben oder im Ausland ausgeführt werden kann.“

 Belgisches Recht

27      Art. 18 des Ministerieel besluit houdende dringende maatregelen om de verspreiding van het coronavirus COVID‑19 te beperken (Ministerieller Erlass zur Festlegung von Dringlichkeitsmaßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus COVID‑19) vom 30. Juni 2020 (Belgisch Staatsblad vom 30. Juni 2020, S. 48715) in der durch Art. 3 des Ministerieel besluit houdende wijziging van het ministerieel besluit van 30 juni 2020 houdende dringende maatregelen om de verspreiding van het coronavirus COVID‑19 te beperken (Ministerieller Erlass zur Abänderung des Ministeriellen Erlasses vom 30. Juni 2020 zur Festlegung von Dringlichkeitsmaßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus COVID‑19) vom 10. Juli 2020 (Belgisch Staatsblad vom 10. Juli 2020, S. 51609) (im Folgenden: geänderter Ministerieller Erlass) bestimmte:

„§ 1 – Nicht wesentliche Reisen aus Belgien heraus und nach Belgien sind verboten.

§ 2 – In Abweichung von § 1 und unbeschadet des Artikels 20 ist es erlaubt:

1.      von Belgien aus in alle Länder der Europäischen Union, des Schengen-Raums und in das Vereinigte Königreich zu reisen und von diesen Ländern aus nach Belgien zu reisen, mit Ausnahme der als rote Zone bestimmten Gebiete, deren Liste auf der Website des Föderalen Öffentlichen Dienstes Auswärtige Angelegenheiten veröffentlicht ist,

…“

28      Art. 22 des geänderten Ministeriellen Erlasses sah vor:

„Mit den in Artikel 187 des Gesetzes vom 15. Mai 2007 über die zivile Sicherheit vorgesehenen Strafen werden Verstöße gegen folgende Artikel geahndet:

–        die Artikel 11, 16, 18, 19 und 21bis.“

29      Art. 187 des Gesetzes vom 15. Mai 2007 über die zivile Sicherheit (Belgisch Staatsblad vom 31. Juli 2007) sieht vor:

„Die Weigerung oder das Versäumnis, die in Anwendung der Artikel 181 § 1 und 182 angeordneten Maßnahmen zu befolgen, wird in Friedenszeiten mit einer Gefängnisstrafe von acht Tagen bis zu drei Monaten und mit einer Geldbuße von sechsundzwanzig bis zu fünfhundert Euro oder mit nur einer dieser Strafen bestraft.

Der Minister oder gegebenenfalls der Bürgermeister beziehungsweise der Zonenkommandant kann außerdem die genannten Maßnahmen von Amts wegen auf Kosten der sich weigernden und säumigen Personen durchführen lassen.“

30      Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht ferner hervor, dass nicht wesentliche Reisen im Sinne von Art. 18 des geänderten Ministeriellen Erlasses definiert waren als andere Reisen als unbedingt notwendige Reisen, die unter den auf der Website info-coronavirus.be abrufbaren häufig gestellten Fragen (FAQ) angeführt waren und der Liste der unbedingt notwendigen Reisen in der Empfehlung 2020/912 entsprachen.

31      Aus diesen Akten geht auch hervor, dass sich jeder Reisende, der aus einer roten Zone im Sinne von Art. 18 des geänderten Ministeriellen Erlasses kam, Tests unterziehen und eine Quarantäne einhalten musste. Diese Verpflichtung war in Bestimmungen vorgesehen, die von der Flämischen Region, der Wallonischen Region, der Region Brüssel-Hauptstadt und der Deutschsprachigen Gemeinschaft erlassen worden waren.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

32      Am 11. März 2020 stufte die WHO die Epidemie des Coronavirus Covid‑19 als Pandemie ein und rief am 16. März 2020 die höchste Warnstufe in Bezug auf diese Pandemie aus.

33      Vor diesem Hintergrund erließ das Königreich Belgien am 10. Juli 2020 Art. 18 des geänderten Ministeriellen Erlasses, um nicht wesentliche Reisen mit als Abreise- bzw. Ankunftsort auf der einen Seite in Belgien und auf der anderen Seite in den Ländern der Union und des Schengen-Raums sowie im Vereinigten Königreich zu untersagen, sofern diese Länder in Anbetracht ihrer epidemiologischen Lage oder des Umfangs der von ihren Behörden ergriffenen restriktiven Gesundheitsmaßnahmen als „rote Zonen“ bestimmt worden waren. Zudem musste sich jeder Reisende, der aus einem solchen als rote Zone eingestuften Land kam, in Belgien einem Screeningtest unterziehen und eine Quarantäne einhalten. Die Liste der als rote Zonen bestimmten Länder konnte erstmals am 12. Juli 2020 auf der Website des Föderalen Öffentlichen Dienstes Auswärtige Angelegenheiten eingesehen werden. Schweden gehörte zu den als rote Zonen eingestuften Ländern.

34      Nach eigenen Angaben stornierte Nordic Info, eine auf Reisen nach und von Skandinavien spezialisierte Reiseagentur, alle für die Sommersaison von Belgien nach Schweden geplanten Reisen, um den belgischen Bestimmungen nachzukommen. Außerdem habe sie Maßnahmen ergriffen, um in Schweden befindliche Reisende bezüglich ihrer Rückkehr nach Belgien zu informieren und zu unterstützen.

35      Am 15. Juli 2020 wurde die in Rn. 33 des vorliegenden Urteils genannte Liste aktualisiert und Schweden in die orange Zone eingestuft, was bedeutete, dass Reisen nach und von dort nicht mehr verboten waren, sondern nur noch davon abgeraten wurde, und dass für die Einreise von Reisenden aus diesem Land in das belgische Hoheitsgebiet andere Regeln galten.

36      Da Nordic Info der Ansicht war, dass der Belgische Staat bei der Ausarbeitung des geänderten Ministeriellen Erlasses Fehler begangen habe, erhob sie bei der Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel (niederländischsprachiges Gericht Erster Instanz von Brüssel, Belgien), dem vorlegenden Gericht, Klage auf Ersatz des Schadens, der ihr durch die Einführung und anschließende Änderung der in diesem Ministeriellen Erlass vorgesehenen Farbcodes entstanden sein soll. Der Belgische Staat beantragt, die Klage als unbegründet abzuweisen.

37      Konkret macht Nordic Info u. a. geltend, dass der Belgische Staat zum einen gegen die Richtlinie 2004/38 sowie gegen die nationalen Bestimmungen zur Umsetzung der Art. 27 bis 31 dieser Richtlinie und zum anderen gegen den Schengener Grenzkodex verstoßen habe.

38      In Bezug auf die Rüge eines Verstoßes gegen die Richtlinie 2004/38 weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass Nordic Info zwar bei der Beschreibung ihres Schadens und in ihrem Vorbringen allgemein auf das Verbot der Ausreise aus dem belgischen Hoheitsgebiet, das belgischen Staatsangehörigen und nichtbelgischen Unionsbürgern mit Wohnsitz in Belgien sowie deren Familienangehörigen auferlegt wurde, und auf das Verbot der Einreise in dieses Hoheitsgebiet, das allen Unionsbürgern, belgischen und nichtbelgischen, sowie deren Familienangehörigen auferlegt wurde, abstellt, dieses Unternehmen jedoch nur die Rechtmäßigkeit zum einen des genannten Ausreiseverbots und zum anderen der Beschränkungen des Rechts auf Einreise in das genannte Hoheitsgebiet, die nichtbelgischen Unionsbürgern und deren Familienangehörigen auferlegt wurden und die darin bestanden, dass diese verpflichtet waren, sich bei der Einreise in dieses Hoheitsgebiet Screeningtests zu unterziehen und eine Quarantäne einzuhalten, in Abrede stellt.

39      In diesem Zusammenhang sei zu klären, ob Art. 27 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 29 Abs. 1 dieser Richtlinie zu lesen sei und somit aus Gründen der öffentlichen Gesundheit nur Beschränkungen des Rechts auf Einreise rechtfertigen könne, oder ob diese beiden Bestimmungen vielmehr unabhängige Rechtfertigungsgründe enthielten, so dass die erste dieser Bestimmungen für sich genommen genüge, um Beschränkungen sowohl des Rechts auf Einreise als auch des Rechts auf Ausreise aus solchen Gründen zu rechtfertigen.

40      Unabhängig von der Auslegung von Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 möchte das vorlegende Gericht außerdem wissen, ob ein Mitgliedstaat auf der Grundlage dieser Bestimmungen eine nicht diskriminierende Maßnahme, wie sie mit Art. 18 der geänderten Ministeriellen Erlasses eingeführt wurde, in Form eines Rechtsakts mit allgemeiner Geltung erlassen kann. Eine solche Möglichkeit könne aus der Feststellung abgeleitet werden, dass der die öffentliche Gesundheit betreffende Grund nicht in Art. 27 Abs. 2 dieser Richtlinie, sondern in Art. 29 der Richtlinie gesondert behandelt werde.

41      Für den Fall, dass die letztgenannte Frage verneint wird, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine solche allgemeine nicht diskriminierende Beschränkung unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf die Art. 20 und 21 AEUV und/oder auf einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts gestützt werden könnte, um das legitime Ziel der Bekämpfung einer Pandemie zu erreichen.

42      Im Rahmen ihrer Rüge eines Verstoßes gegen den Schengener Grenzkodex macht Nordic Info geltend, dass der geänderte Ministerielle Erlass, indem er vorsehe, dass Beschränkungen des Rechts auf Ausreise und des Rechts auf Einreise von den zuständigen belgischen Behörden kontrolliert und von Amts wegen umgesetzt werden könnten und dass die Nichtbeachtung solcher Beschränkungen von diesen Behörden mit Sanktionen belegt werden könne, auf die Einführung von Kontrollen an den Binnengrenzen unter Verstoß gegen die Art. 25 ff. des Schengener Grenzkodex hinauslaufe. Diese Bestimmungen erlaubten die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen nämlich nur im Fall einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit, nicht aber im Fall einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Gesundheit.

43      Außerdem könnten die sich aus dem geänderten Ministeriellen Erlass ergebenden Maßnahmen nicht als unter Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex fallend angesehen werden, da die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen belgischen Behörden im vorliegenden Fall die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen gehabt habe und diese Befugnisse jedenfalls nur im Bereich der öffentlichen Sicherheit und nicht im Bereich der öffentlichen Gesundheit ausgeübt werden dürften.

44      Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob in Anbetracht der Argumente, die der Belgische Staat vor ihm vorgebracht hat, eine übertragbare Krankheit in Krisenzeiten einer Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen/inneren Sicherheit im Sinne der Art. 23 und 25 des Schengener Grenzkodex gleichgestellt werden kann, so dass in einer solchen Situation die Ausübung der polizeilichen Befugnisse und die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen auf der Grundlage jeder dieser Bestimmungen möglich sind.

45      Unter diesen Umständen hat die Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel (niederländischsprachiges Gericht erster Instanz von Brüssel) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind die Art. 2, 4, 5, 27 und 29 der Richtlinie 2004/38, mit denen die Art. 20 und 21 AEUV umgesetzt werden, dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats (vorliegend die Art. 18 und 22 des geänderten Ministeriellen Erlasses) nicht entgegenstehen, durch die mittels einer allgemeinen Maßnahme

–        belgischen Staatsangehörigen und ihren Familienangehörigen sowie Unionsbürgern, die im belgischen Hoheitsgebiet ansässig sind, und ihren Familienangehörigen ein grundsätzliches Ausreiseverbot bei nicht wesentliche Reisen aus Belgien in Länder der Europäischen Union und des Schengen-Raums, die nach einem auf der Grundlage epidemiologischer Daten ausgearbeiteten Farbcode rot markiert sind, auferlegt wird;

–        nicht belgischen Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen (ob mit oder ohne Aufenthaltsrecht im belgischen Hoheitsgebiet) Einreisebeschränkungen (in Form von Quarantäne und Tests) bei nicht wesentliche Reisen aus Ländern der Europäischen Union und des Schengen-Raums, die nach einem auf der Grundlage epidemiologischer Daten ausgearbeiteten Farbcode rot markiert sind, nach Belgien auferlegt werden?

2.      Sind die Art. 1, 3 und 22 des Schengener Grenzkodex dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats (vorliegend die Art. 18 und 22 des geänderten Ministeriellen Erlasses) nicht entgegenstehen, mit der ein Ausreiseverbot für nicht wesentliche Reisen aus Belgien in Länder der Europäischen Union und des Schengen-Raums sowie ein Verbot der Einreise aus diesen Ländern nach Belgien verhängt werden, die nicht nur kontrolliert und mit Sanktionen belegt, sondern auch vom Minister, vom Bürgermeister und vom Zonenkommandant von Amts wegen umgesetzt werden können?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

46      Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteil vom 15. Juli 2021, Ministrstvo za obrambo, C‑742/19, EU:C:2021:597, Rn. 31).

47      Im vorliegenden Fall ist erstens festzustellen, dass bei der Beantwortung der ersten Frage in Anbetracht dessen, dass zum einen Nordic Info nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts ihre Schadensersatzklage auf den Schaden stützt, der ihr im Zusammenhang mit organisierten Reisen zwischen Belgien und Schweden entstanden sein soll, und sich zum anderen diese Frage nur insoweit auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehende belgische Regelung bezieht, als diese Unionsbürger und ihre Familienangehörigen betraf, nicht zu berücksichtigen ist, dass sich diese Regelung neben den Mitgliedstaaten der Union auch auf die nicht der Union angehörenden Länder des Schengen-Raums bezog.

48      Zweitens erwähnt das vorlegende Gericht in der ersten Frage zwar Art. 2 der Richtlinie 2004/38, doch ist die Auslegung dieser Bestimmung, die sich auf die Definition der in dieser Richtlinie verwendeten Begriffe beschränkt, als solche für die Beantwortung dieser Frage nicht erforderlich.

49      Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage wissen möchte, ob die Art. 27 und 29 in Verbindung mit den Art. 4 und 5 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung mit allgemeiner Geltung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die aus Gründen der öffentlichen Gesundheit im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Covid‑19-Pandemie zum einen Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit verbietet, von diesem Mitgliedstaat aus nicht wesentliche Reisen in andere Mitgliedstaaten zu unternehmen, die von diesem Mitgliedstaat auf der Grundlage der restriktiven Gesundheitsmaßnahmen oder der epidemiologischen Lage in diesen anderen Mitgliedstaaten als Hochrisikogebiete eingestuft worden sind, und zum anderen Unionsbürgern, die nicht Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats sind, die Verpflichtung auferlegt, sich bei der Einreise aus einem dieser anderen Mitgliedstaaten in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats Screeningtests zu unterziehen und eine Quarantäne einzuhalten.

50      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, der zu deren Kapitel VI („Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“) gehört und Art. 1 Buchst. c dieser Richtlinie konkretisiert, vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken dürfen, sofern diese Gründe nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.

51      Art. 29 Abs. 1 der genannten Richtlinie, der speziell die Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Gesundheit beschränkende Maßnahmen betrifft, stellt klar, dass nur bestimmte Krankheiten, nämlich Krankheiten mit epidemischem Potenzial im Sinne der einschlägigen Rechtsinstrumente der WHO und sonstige übertragbare, durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten solche Maßnahmen rechtfertigen können, sofern gegen diese Krankheiten Maßnahmen zum Schutz der Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats – d. h., gemäß Art. 2 Nr. 3 der Richtlinie, des Mitgliedstaats, in den sich der Unionsbürger begibt, um dort sein Recht auf Freizügigkeit oder Aufenthalt auszuüben – getroffen werden.

52      Was erstens Krankheiten betrifft, die auf der Grundlage von Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 die Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Gesundheit beschränkende Maßnahmen rechtfertigen können, ergibt sich aus dem Wortlaut dieser beiden Bestimmungen, dass ein Mitgliedstaat solche Maßnahmen zu nichtwirtschaftlichen Zwecken und unter Beachtung der in Kapitel VI dieser Richtlinie vorgesehenen Bedingungen ausschließlich aufgrund bestimmter Krankheiten treffen kann, die Gegenstand von Maßnahmen zum Schutz seiner eigenen Staatsangehörigen sind, nämlich Krankheiten mit epidemischem Potenzial im Sinne der einschlägigen Rechtsinstrumente der WHO und sonstige übertragbare, durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten.

53      In diesem Rahmen kann ein Mitgliedstaat erst recht auf der Grundlage dieser Bestimmungen die Freizügigkeit beschränkende Maßnahmen erlassen, um eine Bedrohung im Zusammenhang mit einer übertragbaren Infektionskrankheit zu bewältigen, die einen von der WHO anerkannten pandemischen Charakter aufweist.

54      Was das Ausgangsverfahren anbelangt, geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die in Art. 18 des geänderten Ministeriellen Erlasses enthaltenen und die in Rn. 31 des vorliegenden Urteils genannten Maßnahmen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken erlassen wurden, sondern um die Ausbreitung der übertragbaren Infektionskrankheit des Covid‑19, die von der WHO am 11. März 2020 als Pandemie eingestuft worden war und während des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zeitraums noch immer als solche eingestuft war, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu verhindern. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheint es außerdem so zu sein, dass sich diese Maßnahmen in eine Reihe von Maßnahmen einfügen, die zur im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit die Bevölkerung dieses Mitgliedstaats vor der Ausbreitung dieser Krankheit im nationalen Hoheitsgebiet schützen sollten. Eine solche Krankheit scheint daher unter diesem Vorbehalt die in Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 genannten Voraussetzungen für die Rechtfertigung von die Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Gesundheit beschränkenden Maßnahmen zu erfüllen.

55      Was zweitens die Rechte betrifft, die durch die Freizügigkeit beschränkende Maßnahmen nach den Art. 27 bis 32 der Richtlinie 2004/38 beeinträchtigt werden können, ergibt sich zum einen aus Art. 1 Buchst. a in Verbindung mit den Art. 4 und 5 der Richtlinie 2004/38 sowie den Art. 20 und 21 AEUV, die mit dieser Richtlinie umgesetzt werden, dass die „Freizügigkeit“ das Recht umfasst, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben („Recht auf Ausreise“), und das Recht, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einzureisen („Recht auf Einreise“).

56      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 61 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 aufgrund ihres klaren Wortlauts, der ausdrücklich die „Freizügigkeit“ nennt, beide Komponenten dieser Freiheit, nämlich das Recht auf Einreise und das Recht auf Ausreise, im Sinne der Art. 4 und 5 dieser Richtlinie abdecken (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2012, Byankov, C‑249/11, EU:C:2012:608, Rn. 30 bis 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Folglich kann weder der Umstand, dass die Art. 27 und 29 zu Kapitel VI („Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“) der genannten Richtlinie gehören, noch der Umstand, dass Art. 29 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie speziell die Beschränkungen des Rechts auf Einreise betrifft, dazu führen, dass der Anwendungsbereich von Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 allein auf die das Recht auf Einreise betreffende Komponente der Freizügigkeit beschränkt wird.

57      Dies gilt umso mehr, als sich Beschränkungen des Rechts auf Einreise und des Rechts auf Aufenthalt aus Gründen der öffentlichen Gesundheit als unwirksam erweisen könnten, wenn entsprechende Beschränkungen des Rechts auf Ausreise nicht möglich wären. In einem solchen Fall könnte das mit Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 verfolgte Ziel, das darin besteht, es den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, innerhalb der in dieser Richtlinie vorgesehenen Grenzen und Bedingungen die Freizügigkeit zu beschränken, um die Ausbreitung oder die Gefahr der Ausbreitung einer unter die zweitgenannte Bestimmung fallenden Krankheit zu verhüten, zu begrenzen oder einzudämmen, je nach den entsprechenden Umständen gefährdet werden.

58      Zum anderen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass als „Beschränkungen“ der Freizügigkeit der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen alle Maßnahmen anzusehen sind, die die Ausübung dieser Freiheit unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen (vgl. entsprechend Urteile vom 12. Juli 2012, Kommission/Spanien, C‑269/09, EU:C:2012:439, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 21. Dezember 2016, Kommission/Portugal, C‑503/14, EU:C:2016:979, Rn. 40).

59      Unter diesen Umständen umfassen die die Freizügigkeit beschränkenden Maßnahmen, die ein Mitgliedstaat aus Gründen der öffentlichen Gesundheit nach Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 erlassen kann, nicht nur vollständige oder teilweise Einreise- oder Ausreiseverbote betreffend das nationale Hoheitsgebiet, wie etwa ein Verbot der Ausreise aus diesem Hoheitsgebiet, um nicht wesentliche Reisen zu unternehmen. Es kann sich erst recht auch um Maßnahmen handeln, die bewirken, dass das Recht der betroffenen Personen, in dieses Hoheitsgebiet einzureisen oder aus ihm auszureisen, behindert oder weniger attraktiv gemacht wird, wie etwa eine Verpflichtung für Einreisende, sich Screeningtests zu unterziehen und eine Quarantäne einzuhalten.

60      Was drittens die Personen betrifft, gegen die auf der Grundlage der Richtlinie 2004/38 die Freizügigkeit beschränkende Maßnahmen erlassen werden können, ist darauf hinzuweisen, dass diese Richtlinie die Bedingungen für die Ausreise aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats nicht nur für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, sondern auch für Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats regelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2012, Byankov, C‑249/11, EU:C:2012:608, Rn. 30 und 32). Dagegen regelt sie die Voraussetzungen für die Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats nur für Angehörige anderer Mitgliedstaaten (vgl. u. a. Urteil vom 6. Oktober 2021, A [Grenzüberschreitung mit einem Vergnügungsboot], C‑35/20, EU:C:2021:813, Rn. 67 bis 69).

61      Im vorliegenden Fall fallen die vom vorlegenden Gericht in seiner ersten Frage genannten Kategorien von Personen, was das Verbot der Ausreise aus dem Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats bzw. die Beschränkungen der Einreise in dieses Hoheitsgebiet betrifft, in den persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/38.

62      Was viertens die Form der die Freizügigkeit beschränkenden Maßnahmen betrifft, die auf der Grundlage der Richtlinie 2004/38 aus Gründen der öffentlichen Gesundheit erlassen werden können, ist festzustellen, dass weder Art. 27 Abs. 1 noch ihr Art. 29 Abs. 1 dieser Richtlinie dem entgegensteht, dass solche Maßnahmen in Form eines Rechtsakts mit allgemeiner Geltung erlassen werden.

63      Da nämlich keine dieser beiden Bestimmungen im Unterschied zu Art. 27 Abs. 2 der genannten Richtlinie vorsieht, dass bei Beschränkungen dieser Freiheit „ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein [darf]“ und dass „[v]om Einzelfall losgelöste Begründungen … nicht zulässig [sind]“, ist festzustellen, dass Beschränkungen dieser Freiheit, die aus Gründen der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt sind, je nach den Umständen und insbesondere der Gesundheitslage als Rechtsakt mit allgemeiner Geltung erlassen werden können, der unterschiedslos jede Person betrifft, die sich in einer von diesem Rechtsakt erfassten Situation befindet.

64      Diese Auslegung wird dadurch bestätigt, dass die unter Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 fallenden Krankheiten, die allein die auf der Grundlage dieser Richtlinie getroffenen, die Freizügigkeit beschränkenden Maßnahmen rechtfertigen können, schon aufgrund ihrer charakteristischen Merkmale ganze Bevölkerungen unabhängig von individuellen Verhaltensweisen betreffen können.

65      Was fünftens die Bedingungen und die Garantien betrifft, mit denen die auf der Grundlage der Richtlinie 2004/38 getroffenen, die Freizügigkeit beschränkenden Maßnahmen einhergehen müssen, ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach Art. 27 Abs. 1 dieser Richtlinie der Mitgliedstaat, der solche Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Gesundheit erlässt, die Bestimmungen des Kapitels VI der Richtlinie, und zwar insbesondere deren Art. 30 bis 32, beachten muss.

66      Zwar beziehen sich die in diesen Art. 30 bis 32 verwendeten Begriffe und Ausdrücke auf beschränkende Maßnahmen, die in Form einer Einzelfallentscheidung erlassen werden.

67      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 73 und 115 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, müssen die in den genannten Art. 30 bis 32 vorgesehenen Bedingungen und Garantien jedoch auch im Fall beschränkender Maßnahmen gelten, die in Form eines Rechtsakts mit allgemeiner Geltung erlassen werden.

68      Hierzu ist festzustellen, dass in den Erwägungsgründen 25 bis 27 der Richtlinie 2004/38, die deren Art. 30 bis 32 widerspiegeln, die Grundsätze und Gründe dargelegt sind, die den in diesen Bestimmungen genannten Bedingungen und Garantien zugrunde liegen. So heißt es im 25. Erwägungsgrund dieser Richtlinie, dass diese Bedingungen und Garantien darauf abzielen, dass einerseits im Fall eines Verbots, in einen anderen Mitgliedstaat einzureisen oder sich dort aufzuhalten, ein hoher Schutz der Rechte des Unionsbürgers und seiner Familienangehörigen gewährleistet ist und andererseits „der Grundsatz eingehalten wird, dass behördliche Handlungen ausreichend begründet sein müssen“. In den Erwägungsgründen 26 und 27 der Richtlinie heißt es in diesem Zusammenhang, dass „stets“ die Möglichkeit bestehen muss, den Rechtsweg zu beschreiten, und dass eine Überprüfung von Aufenthaltsverboten eines Mitgliedstaats im Hinblick auf ihre Aufhebung nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs stets möglich sein muss.

69      Diese Erwägungsgründe bestätigen somit, dass ein Mitgliedstaat, wenn er bei der Umsetzung eines Unionsrechtsakts wie der Richtlinie 2004/38 Maßnahmen erlässt, die die Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken, insbesondere erstens den Grundsatz der Rechtssicherheit beachten muss, der gebietet, dass Rechtsvorschriften klar und bestimmt sowie in ihrer Anwendung für den Einzelnen vorhersehbar sind, damit sie es den Betroffenen ermöglichen, den Umfang der ihnen durch die betreffende Vorschrift auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen, und diese ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. März 2019, Unareti, C‑702/17, EU:C:2019:233, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 17. November 2022, Avicarvil Farms, C‑443/21, EU:C:2022:899, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zweitens muss dieser Mitgliedstaat dem allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz einer guten Verwaltung nachkommen, der u. a. die Pflicht zur Begründung der von den nationalen Behörden erlassenen Handlungen und Entscheidungen vorsieht (Urteil vom 7. September 2021, Klaipėdos regiono atliekų tvarkymo centras, C‑927/19, EU:C:2021:700, Rn. 120 und die dort angeführte Rechtsprechung). Drittens muss er gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) das in deren Art. 47 Abs. 1 verankerte Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf achten, das u. a. das Recht vorsieht, Zugang zu einem Gericht zu erhalten, das über die Befugnis verfügt, die Achtung der durch das Unionsrecht garantierten Rechte sicherzustellen und zu diesem Zweck alle für die Streitigkeit relevanten Tatsachen- und Rechtsfragen zu prüfen (Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).

70      Die Gesamtheit der in den Art. 30 bis 32 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Bedingungen und Garantien stellt somit eine Umsetzung des Grundsatzes der Rechtssicherheit, des Grundsatzes einer guten Verwaltung und des Rechts auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf dar, die sowohl für beschränkende Maßnahmen in Form von Einzelfallentscheidungen als auch in Form von Rechtsakten mit allgemeiner Geltung gelten. In diesem Zusammenhang und da, wie sich aus Rn. 62 des vorliegenden Urteils ergibt, Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 dieser Richtlinie es den Mitgliedstaaten gestatten, aus Gründen der öffentlichen Gesundheit die Freizügigkeit beschränkende Maßnahmen in Form eines Rechtsakts mit allgemeiner Geltung zu erlassen, kann der Umstand, dass die genannten Art. 30 bis 32 Begriffe und Ausdrücke enthalten, die auf in Form einer Einzelfallentscheidung ergangene beschränkende Maßnahmen hindeuten, weder den Anwendungsbereich von Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 dieser Richtlinie in Frage stellen noch bedeuten, dass sie nicht auf beschränkende Maßnahmen anwendbar sind, die in Form eines Rechtsakts mit allgemeiner Geltung getroffen werden.

71      Unter diesen Umständen ist zunächst festzustellen, dass nach Art. 30 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38 jeder Rechtsakt mit allgemeiner Geltung, mit dem die Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Gesundheit beschränkende Maßnahmen erlassen werden, der Öffentlichkeit im Rahmen einer amtlichen Veröffentlichung des ihn erlassenden Mitgliedstaats und über eine ausreichende amtliche Verlautbarung in den Medien in der Weise mitzuteilen ist, dass der Inhalt und die Wirkungen dieses Rechtsakts ebenso verstanden werden können wie die genauen und vollständigen Gründe der öffentlichen Gesundheit, auf die dieser Rechtsakt gestützt wird, und die Rechtsbehelfe und Fristen für die Anfechtung des Rechtsakts konkret genannt werden.

72      Sodann muss der Rechtsakt mit allgemeiner Geltung, damit die in Art. 31 dieser Richtlinie genannten Verfahrensgarantien eingehalten werden, im Rahmen eines gerichtlichen und gegebenenfalls verwaltungsrechtlichen Rechtsbehelfs angefochten werden können. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das nationale Recht in dem Fall, dass es Personen, die sich in einer durch diesen Rechtsakt allgemein definierten Situation befinden, nicht erlaubt, die Gültigkeit eines solchen Rechtsakts unmittelbar im Rahmen eines eigenständigen Rechtsbehelfs zu bestreiten, zumindest – wie dies vorliegend der Fall zu sein scheint – die Möglichkeit vorsehen muss, diese Gültigkeit im Rahmen eines Rechtsbehelfs, dessen Ausgang davon abhängt, inzident zu bestreiten.

73      Des Weiteren ergibt sich aus Art. 30 Abs. 3 der Richtlinie, dass die Öffentlichkeit entweder in dem Rechtsakt selbst oder durch leicht zugängliche kostenlose amtliche Veröffentlichungen oder Websites darüber informiert werden muss, bei welchem Gericht oder bei welcher Verwaltungsbehörde der Rechtsakt mit allgemeiner Geltung gegebenenfalls angefochten werden kann, sowie über die jeweiligen Rechtsbehelfsfristen.

74      Zweitens müssen die Mitgliedstaaten, wie es im 31. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 heißt, diese Richtlinie unter Beachtung des in der Charta verankerten Diskriminierungsverbots umsetzen. Was das Ausgangsverfahren betrifft, geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervor und wurde von keiner Partei im Verfahren vor dem Gerichtshof geltend gemacht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden beschränkenden Maßnahmen unter Missachtung dieses Grundsatzes erlassen oder angewandt worden wären.

75      Sechstens und letztens sieht Art. 31 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2004/38 vor, dass die Betroffenen im Aufnahmemitgliedstaat einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde einlegen können müssen, um u. a. die Verhältnismäßigkeit einer Entscheidung bestreiten zu können, die aus Gründen der öffentlichen Gesundheit gegen sie ergangen ist.

76      Aus diesen Bestimmungen ergibt sich somit, dass jede die Freizügigkeit beschränkende Maßnahme, die aus Gründen der öffentlichen Gesundheit auf der Grundlage von Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 erlassen wird, verhältnismäßig sein muss. Dieses Erfordernis ergibt sich auch aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt, zu beachten, wenn sie einen Unionsrechtsakt wie die Richtlinie 2004/38 umsetzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 31).

77      Das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit gebietet konkret die Prüfung, ob Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erstens zur Erreichung der verfolgten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung, im vorliegenden Fall des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, geeignet sind, zweitens in dem Sinne auf das absolut Erforderliche beschränkt sind, dass diese Zielsetzung vernünftigerweise nicht ebenso wirksam mit anderen Mitteln, die die den Betroffenen garantierten Rechte und Freiheiten weniger beeinträchtigen, erreicht werden kann, und drittens nicht außer Verhältnis zu dieser Zielsetzung stehen, was insbesondere eine Gewichtung der Bedeutung dieser Zielsetzung und der Schwere des Eingriffs in diese Rechte und Freiheiten impliziert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

78      Bei der Beurteilung der Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Bereich der öffentlichen Gesundheit durch einen Mitgliedstaat ist zu berücksichtigen, dass unter den vom AEU-Vertrag geschützten Gütern und Interessen die Gesundheit und das Leben von Menschen den höchsten Rang einnehmen und dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, zu bestimmen, auf welchem Niveau sie den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten wollen und wie dieses Niveau erreicht werden soll. Da dieses Niveau sich von einem Mitgliedstaat zum anderen unterscheiden kann, ist den Mitgliedstaaten ein entsprechender Beurteilungsspielraum zuzuerkennen. Folglich bedeutet der Umstand, dass ein Mitgliedstaat Bestimmungen erlässt, die weniger streng sind als die in einem anderen Mitgliedstaat erlassenen, nicht, dass Letztere unverhältnismäßig wären (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Oktober 2018, Roche Lietuva, C‑413/17, EU:C:2018:865, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 10. März 2021, Ordine Nazionale dei Biologi u. a., C‑96/20, EU:C:2021:191, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

79      Ferner ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Mitgliedstaaten, wenn das Vorliegen und der Umfang von Gefahren für die menschliche Gesundheit ungewiss sind, nach dem Vorsorgeprinzip die Möglichkeit haben müssen, Schutzmaßnahmen zu treffen, ohne abwarten zu müssen, bis das Vorliegen dieser Gefahren umfassend belegt ist. Insbesondere müssen die Mitgliedstaaten alle Maßnahmen treffen können, die eine Gefahr für die Gesundheit weitest möglich verringern (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. März 2018, CMVRO, C‑297/16, EU:C:2018:141, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 19. November 2020, B S und C A [Vermarktung von Cannabidiol (CBD)], C‑663/18, EU:C:2020:938, Rn. 90).

80      Außerdem müssen die Mitgliedstaaten, wenn sie beschränkende Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Gesundheit erlassen, in der Lage sein, geeignete Beweise beizubringen, darzulegen, dass sie tatsächlich eine Untersuchung zur Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der fraglichen Maßnahmen durchgeführt haben, und alle sonstigen Nachweise zu erbringen, die ihre Argumentation stützen können. Eine solche Beweislast darf allerdings nicht so weit gehen, dass die zuständigen nationalen Behörden positiv belegen müssten, dass sich das legitime Ziel mit keiner anderen vorstellbaren Maßnahme unter den gleichen Bedingungen erreichen ließe (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Dezember 2015, Scotch Whisky Association u. a., C‑333/14, EU:C:2015:845, Rn. 54 und 55 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

81      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, das allein für die Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits und die Auslegung des nationalen Rechts zuständig ist, zu prüfen, ob die in der ersten Vorlagefrage genannten beschränkenden Maßnahmen dem in Rn. 77 des vorliegenden Urteils genannten Erfordernis der Verhältnismäßigkeit genügten. Der Gerichtshof, der dazu aufgerufen ist, dem nationalen Gericht zweckdienliche Antworten zu geben, ist jedoch befugt, dem vorlegenden Gericht auf der Grundlage der Akten des Ausgangsverfahrens und der vor ihm abgegebenen schriftlichen Erklärungen Hinweise zu geben, die diesem Gericht eine Entscheidung ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. September 2022, Cilevičs u. a., C‑391/20, EU:C:2022:638, Rn. 72 und 73 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

82      Was erstens die Eignung solcher Maßnahmen zur Erreichung des Ziels des Schutzes der öffentlichen Gesundheit im Kontext einer von der WHO als Pandemie eingestuften Krankheit betrifft, wird das vorlegende Gericht zu prüfen haben, ob – in Anbetracht der zur im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit, d. h. im Juli 2020, allgemein anerkannten wissenschaftlichen Daten zum Covid‑19-Virus, der Entwicklung der Ansteckungen und der durch dieses Virus verursachten Todesfälle sowie unter Berücksichtigung des Grads der Unsicherheit, die insoweit herrschen konnte – der Erlass dieser Maßnahmen und die Kriterien für ihre Durchführung angesichts der Überlastung oder der Gefahr einer Überlastung des nationalen Gesundheitssystems sowie der Sommerperiode, die durch eine Zunahme der Freizeit- und Urlaubsreisen, die einen Anstieg der Ansteckungen befördern können, gekennzeichnet ist, geeignet waren, die Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung des betreffenden Mitgliedstaats zu begrenzen oder sogar einzudämmen, wie dies sowohl die wissenschaftliche Gemeinschaft als auch die Unionsorgane und die WHO anzuerkennen schienen.

83      Das vorlegende Gericht wird auch zu berücksichtigen haben, dass sich die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden beschränkenden Maßnahmen in den Rahmen entsprechender Maßnahmen der anderen Mitgliedstaaten einfügten, die von der Union im Rahmen ihrer unterstützenden Zuständigkeiten nach Art. 168 AEUV im Bereich der Beobachtung, Meldung und Bekämpfung schwerer grenzüberschreitender Bedrohungen und schwerer Krankheiten begleitet und koordiniert wurden.

84      Zudem ist darauf hinzuweisen, dass beschränkende Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nur dann als geeignet angesehen werden können, die Erreichung des verfolgten Ziels der öffentlichen Gesundheit zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht werden, es zu erreichen, und wenn sie in kohärenter und systematischer Weise durchgeführt werden (Urteil vom 7. September 2022, Cilevičs u. a., C‑391/20, EU:C:2022:638, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung).

85      Hierzu ist, wie der Generalanwalt in den Nrn. 103 bis 105 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht zum einen festzustellen, dass die beschränkenden Maßnahmen, auf die sich die erste Vorlagefrage bezieht, dem Anliegen entsprochen zu haben scheinen, dieses Ziel zu erreichen, da sie Teil einer umfassenderen Strategie zur Eindämmung der Ausbreitung von Covid‑19 in der Bevölkerung des betreffenden Mitgliedstaats waren, die auch andere Maßnahmen umfasste, nämlich beispielsweise – wie aus der Vorlageentscheidung und den schriftlichen Erklärungen der belgischen Regierung hervorgeht – Maßnahmen zur Isolierung infizierter Personen und zur Rückverfolgung ihrer Kontakte, Maßnahmen zur Begrenzung von Reisen innerhalb des Hoheitsgebiets dieses Mitgliedstaats sowie die Schließung von Veranstaltungsorten und Freizeiteinrichtungen sowie bestimmter Geschäfte.

86      Zum anderen scheinen die genannten beschränkenden Maßnahmen in kohärenter und systematischer Weise durchgeführt worden zu sein, da unstreitig ist, dass alle nicht wesentlichen Reisen zwischen Belgien und jedem anderen Mitgliedstaat, der nach für diese Staaten unterschiedslos geltenden Kriterien als Hochrisikogebiet eingestuft worden war, grundsätzlich verboten waren und jeder Reisende, der von einem solchen Mitgliedstaat aus nach Belgien einreiste, verpflichtet war, sich Screeningtests zu unterziehen und eine Quarantäne einzuhalten.

87      Was zweitens die Erforderlichkeit beschränkender Maßnahmen wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden im Hinblick auf das verfolgte Ziel der öffentlichen Gesundheit betrifft, wird das vorlegende Gericht zu prüfen haben, ob diese Maßnahmen auf das absolut Erforderliche beschränkt wurden und ob es nicht Mittel gab, die die Freizügigkeit weniger beeinträchtigt hätten, aber ebenso wirksam gewesen wären, um dieses Ziel zu erreichen.

88      Insoweit ist zur Frage der Beschränkung dieser Maßnahmen auf das absolut Erforderliche festzustellen, dass die Maßnahme des Verbots der Ausreise nicht sämtliche Reisen der betroffenen Personen betraf, sondern nur nicht wesentliche Reisen dieser Personen, und zwar nur mit Ziel in Mitgliedstaaten, die als Hochrisikogebiete angesehen wurden, wobei die Liste dieser Länder, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, anhand der jeweils letzten damals verfügbaren Daten häufig aktualisiert wurde. Somit konnte jede Person, die sich in diesem Hoheitsgebiet aufhielt, noch frei zum einen nicht wesentliche Reisen in Mitgliedstaaten, die nicht als Hochrisikogebiete eingestuft waren, und zum anderen unbedingt notwendige Reisen im Sinne der in Rn. 26 des vorliegenden Urteils genannten Liste in die als Hochrisikogebiete eingestuften Mitgliedstaaten unternehmen. Die belgische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass auch andere Reisen, einschließlich grenzüberschreitender Reisen, die in dieser Liste nicht aufgeführt seien, wie Fahrten zum Einkaufen von Lebensmitteln, als unbedingt notwendige Reisen angesehen worden seien, was zu prüfen jedoch Sache des vorlegenden Gerichts ist.

89      Außerdem scheinen die Screening- und Quarantänemaßnahmen, die jedem Reisenden auferlegt wurden, der aus einem als Hochrisikogebiet eingestuften Mitgliedstaat in das nationale Hoheitsgebiet einreiste, auf das absolut Erforderliche beschränkt gewesen zu sein, da sie präventiv und vorübergehend Reisende aus Mitgliedstaaten betrafen, in denen diese einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt waren, um infizierte Personen bei ihrer Einreise in das nationale Hoheitsgebiet zu erkennen und einer Ausbreitung des Virus durch potenziell ansteckende Personen vorzubeugen.

90      Was ferner die Frage betrifft, ob es weniger einschneidende, aber ebenso wirksame Maßnahmen gegeben hätte, ist auf den Beurteilungsspielraum hinzuweisen, über den die Mitgliedstaaten im Bereich des Schutzes der öffentlichen Gesundheit aufgrund des in Rn. 79 des vorliegenden Urteils angeführten Vorsorgeprinzips verfügen. Unter diesen Umständen wird sich das vorlegende Gericht auf die Prüfung zu beschränken haben, ob es offensichtlich ist, dass unter Berücksichtigung insbesondere der Informationen, die zur im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit über das Covid‑19-Virus vorlagen, Maßnahmen wie die Verpflichtung zur räumlichen Distanzierung und/oder zum Tragen von Masken sowie die Verpflichtung eines jeden, regelmäßig Screeningtests vorzunehmen, genügt hätten, um das gleiche Ergebnis wie die beschränkenden Maßnahmen zu gewährleisten, auf die sich die erste Vorlagefrage bezieht (vgl. entsprechend Urteil vom 1. März 2018, CMVRO, C‑297/16, EU:C:2018:141, Rn. 70).

91      Insoweit wird das vorlegende Gericht zu berücksichtigen haben: die epidemiologische Lage in Belgien zur im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit, den Umfang der Überbeanspruchung oder Überlastung des belgischen Gesundheitssystems, die Gefahr eines unkontrollierbaren oder drastischen Anstiegs von Ansteckungen ohne die in der ersten Vorlagefrage genannten beschränkenden Maßnahmen, den Umstand, dass bestimmte Personen, die Träger der Krankheit waren, asymptomatisch sein, sich in der Inkubationszeit befinden oder sich bei Screeningtests als negativ erweisen konnten, die Notwendigkeit, möglichst viele Personen einzubeziehen, um die Ausbreitung der Krankheit in der Bevölkerung einzudämmen, und infizierte Personen zu isolieren, sowie die kombinierten Wirkungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden beschränkenden Maßnahmen und der in der vorstehenden Randnummer genannten Maßnahmen im Hinblick auf den Schutz der Bevölkerung.

92      Was drittens die Frage der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne von beschränkenden Maßnahmen wie den in der ersten Vorlagefrage genannten betrifft, wird das vorlegende Gericht zu prüfen haben, ob diese Maßnahmen – in Anbetracht der Auswirkungen, die sie auf die Freizügigkeit der Unionsbürger und von deren Familienangehörigen, auf deren durch Art. 7 der Charta garantiertes Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und auf die in Art. 16 der Charta verankerte unternehmerische Freiheit von juristischen Personen wie Nordic Info haben konnten – nicht außer Verhältnis zum verfolgten Ziel der öffentlichen Gesundheit standen.

93      Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung, wie das in Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 genannte Ziel des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, durch eine nationale Maßnahme nicht verfolgt werden darf, ohne dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sie mit den von dieser Maßnahme betroffenen Grundrechten und Grundsätzen, wie sie in den Verträgen und der Charta verankert sind, in Einklang gebracht werden muss, und zwar, indem eine ausgewogene Gewichtung dieser dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung auf der einen und der fraglichen Rechte und Grundsätze auf der anderen Seite vorgenommen wird, um sicherzustellen, dass die durch diese Maßnahme verursachten Unannehmlichkeiten nicht außer Verhältnis zu den verfolgten Zielsetzungen stehen. Daher ist die Möglichkeit, eine Einschränkung der durch die Art. 7 und 16 der Charta garantierten Grundrechte und des in Art. 3 Abs. 2 EUV, in den Art. 20 und 21 AEUV, wie sie durch die Richtlinie 2004/38 umgesetzt werden, sowie in Art. 45 der Charta verankerten Grundsatzes der Freizügigkeit zu rechtfertigen, in der Weise zu beurteilen, dass die Schwere des mit einer solchen Einschränkung verbundenen Eingriffs bestimmt und geprüft wird, ob die mit ihr verfolgte, dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung in angemessenem Verhältnis zur Schwere des Eingriffs steht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 26. April 2022, Polen/Parlament und Rat, C‑401/19, EU:C:2022:297, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).

94      Das vorlegende Gericht wird im Ausgangsverfahren in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit des Verbots, aus dem belgischen Hoheitsgebiet auszureisen, um nicht wesentliche Reisen zu unternehmen, zu berücksichtigen haben, dass die so bewirkte Beschränkung der Freizügigkeit sowie des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens nicht jegliche Ausreise aus diesem Hoheitsgebiet verhinderte, da sie auf nicht wesentliche Reisen – wie etwa, im vorliegenden Fall, Freizeit- bzw. Urlaubsreisen – beschränkt war, dass sie, wie aus der in Rn. 26 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Liste unbedingt notwendiger Reisen hervorgeht, Reisen, die aus zwingenden familiären Gründen gerechtfertigt waren, nicht verbot und dass die Ausreiseverbote aufgehoben wurden, sobald der betreffende Bestimmungsmitgliedstaat auf der Grundlage einer regelmäßigen Neubewertung seiner Lage nicht mehr als Hochrisikogebiet eingestuft wurde.

95      Des Weiteren ist in Bezug auf juristische Personen wie Nordic Info, deren unternehmerische Freiheit, insbesondere ihre Freiheit, Freizeit- und Urlaubsreisen zwischen Belgien und als Hochrisikogebiete eingestuften Mitgliedstaaten anzubieten, eingeschränkt wurde, vorbehaltlich der Prüfung durch das vorlegende Gericht festzustellen, dass eine Maßnahme, die jede Ausreise aus dem belgischen Hoheitsgebiet, um nicht wesentliche Reisen zu unternehmen, verbietet, im Hinblick auf die verfolgte Zielsetzung des Schutzes der öffentlichen Gesundheit verhältnismäßig zu sein scheint, da es angesichts der ernsten gesundheitlichen Lage, die sich aus der Covid‑19-Pandemie ergab, nicht unvernünftig erschien, nicht wesentliche Reisen in solche Mitgliedstaaten vorübergehend zu verbieten, bis sich die gesundheitliche Lage in diesen Mitgliedstaaten verbessert hatte, so dass die Ausreise aus dem nationalen Hoheitsgebiet und gegebenenfalls die Rückkehr erkrankter Personen in dieses Hoheitsgebiet und damit die unkontrollierte Ausbreitung dieser Pandemie zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten sowie innerhalb dieses Hoheitsgebiets verhindert wurden.

96      Zur Verhältnismäßigkeit der obligatorischen Screening- und Quarantänemaßnahmen für Reisende, die aus einem als rote Zone eingestuften Mitgliedstaat nach Belgien einreisten, ist zum einen festzustellen, dass Screeningmaßnahmen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden aufgrund der Schnelligkeit der Tests nur in begrenztem Maße in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens dieser Reisenden sowie das Recht auf Freizügigkeit eingreifen konnten, während sie zur Identifizierung von Personen, die Träger des Covid‑19-Virus waren, und damit zur Erreichung des Ziels beitrugen, die Ausbreitung dieses Virus zu begrenzen und einzudämmen.

97      Zum anderen beschränkte eine obligatorische Quarantäne, die jedem Reisenden auferlegt wurde, der aus einem als Hochrisikogebiet eingestuften Mitgliedstaat in das belgische Hoheitsgebiet einreiste, unabhängig davon, ob er mit dem Virus infiziert war oder nicht, zwar das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie die Bewegungsfreiheit, über die der Reisende infolge der Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit grundsätzlich verfügt, drastisch ein. Jedoch scheint eine solche Quarantäne, vorbehaltlich der Prüfung durch das vorlegende Gericht, auch im Hinblick auf das Vorsorgeprinzip verhältnismäßig zu sein, da zum einen eine nicht unerhebliche Wahrscheinlichkeit bestand, dass ein solcher Reisender Träger dieses Virus war, und, insbesondere wenn er sich in der Inkubationsphase befand oder asymptomatisch war, ohne eine solche Quarantäne andere Personen außerhalb seines Haushalts anstecken würde, und zum anderen die Screeningtests sich als falsch negativ erweisen konnten.

98      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Art. 27 und 29 in Verbindung mit den Art. 4 und 5 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung mit allgemeiner Geltung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die aus Gründen der öffentlichen Gesundheit im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Covid‑19-Pandemie zum einen Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit verbietet, von diesem Mitgliedstaat aus nicht wesentliche Reisen in andere Mitgliedstaaten zu unternehmen, die von diesem Mitgliedstaat auf der Grundlage der restriktiven Gesundheitsmaßnahmen oder der epidemiologischen Lage in diesen anderen Mitgliedstaaten als Hochrisikogebiete eingestuft worden sind, und zum anderen Unionsbürgern, die nicht Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats sind, die Verpflichtung auferlegt, sich bei der Einreise aus einem dieser anderen Mitgliedstaaten in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats Screeningtests zu unterziehen und eine Quarantäne einzuhalten, sofern diese nationale Regelung alle in den Art. 30 bis 32 dieser Richtlinie genannten Bedingungen und Garantien, die in der Charta verankerten Grundrechte und Grundsätze, insbesondere das Diskriminierungsverbot, sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet.

 Zur zweiten Frage

99      Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. So gesehen kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat. Der Umstand, dass ein nationales Gericht eine Vorlagefrage ihrer Form nach unter Bezugnahme auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, hindert den Gerichtshof nämlich nicht daran, diesem Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung über die bei ihm anhängige Rechtssache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei der Formulierung seiner Fragen darauf Bezug genommen hat oder nicht. Der Gerichtshof hat insoweit aus allem, was das einzelstaatliche Gericht vorgelegt hat, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 20. April 2023, BVAEB [Anpassung der Ruhebezüge], C‑52/22, EU:C:2023:309, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

100    Aus den Ausführungen des vorlegenden Gerichts geht hervor, dass die zweite Frage im Zusammenhang mit zwei von Nordic Info vorgebrachten Argumenten gestellt wird, wonach die Kontrolle der Beschränkungen des Ein- und Ausreiserechts, die die belgische Regelung Personen auferlegte, die nicht wesentliche Reisen aus oder in andere, als Hochrisikogebiete eingestufte Staaten des Schengen-Raums unternahmen, zum einen einer Grenzübertrittskontrolle gleichkam und unter Verstoß gegen Art. 23 des Schengener Grenzkodex aus Gründen der öffentlichen Gesundheit durchgeführt wurde und zum anderen auf die Wiedereinführung einer Kontrolle an den Binnengrenzen im Schengen-Raum unter Verstoß gegen Art. 25 des Schengener Grenzkodex hinauslief.

101    Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob die Art. 22, 23 und 25 des Schengener Grenzkodex dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die aus Gründen der öffentlichen Gesundheit im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Covid‑19-Pandemie unter der Kontrolle der zuständigen Behörden und unter Androhung von Sanktionen das Überschreiten der Binnengrenzen dieses Mitgliedstaats, um nicht wesentliche Reisen aus oder in als Hochrisikogebiete eingestufte Staaten des Schengen-Raums zu unternehmen, verbietet.

102    Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 67 Abs. 2 AEUV, der zu Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des AEUV-Vertrags gehört, die Union sicherstellt, dass Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert werden. Nach Art. 77 Abs. 1 Buchst. a AEUV entwickelt die Union eine Politik, mit der sichergestellt werden soll, dass Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit beim Überschreiten der Binnengrenzen nicht kontrolliert werden. Die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen ist, wie aus dem zweiten Erwägungsgrund des Schengener Grenzkodex hervorgeht, Teil des in Art. 26 AEUV genannten Ziels der Union, einen Raum ohne Binnengrenzen aufzubauen, in dem der freie Personenverkehr durch auf der Grundlage von Art. 77 Abs. 2 Buchst. e AEUV erlassene Rechtsakte der Union, wie den Schengener Grenzkodex, gewährleistet wird (vgl. entsprechend Urteile vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 48 und 49, sowie vom 21. Juni 2017, A, C‑9/16, EU:C:2017:483, Rn. 30 und 31).

103    In diesem Zusammenhang wird in Art. 22 des Schengener Grenzkodex auf den Grundsatz hingewiesen, dass die Binnengrenzen im Sinne von Art. 2 Nr. 1 des Schengener Grenzkodex unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden dürfen.

104    Art. 23 („Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets“) Buchst. a des Schengener Grenzkodex bestimmt wiederum, dass das Ausbleiben der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nicht die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts berührt, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat; dies gilt auch in Grenzgebieten. Somit verbietet diese Bestimmung in Verbindung mit Art. 2 Nr. 11 und Art. 22 des Schengener Grenzkodex zwar den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten, ihre polizeilichen Befugnisse zur Durchführung von Kontrollen an den Grenzübergangsstellen im Sinne von Art. 2 Nr. 8 des Schengener Grenzkodex auszuüben, um zu überprüfen, ob die betreffenden Personen mit ihrem Fortbewegungsmittel und den von ihnen mitgeführten Sachen in das nationale Hoheitsgebiet einreisen oder aus diesem Hoheitsgebiet ausreisen dürfen, jedoch wahrt sie das Recht der Mitgliedstaaten, innerhalb des nationalen Hoheitsgebiets, einschließlich der Grenzgebiete, Kontrollen durchzuführen, die durch die Ausübung polizeilicher Befugnisse gerechtfertigt sind, sofern diese Ausübung nicht die gleiche Wirkung wie eine solche Überprüfung hat.

105    Des Weiteren ist festzustellen, dass Art. 25 des Schengener Grenzkodex die Möglichkeit der Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen der Union als Ausnahme von dem in Art. 22 des Schengener Grenzkodex festgelegten Grundsatz vorsieht, auf den in Rn. 103 des vorliegenden Urteils hingewiesen worden ist. Auf der Grundlage dieses Art. 25 können die Mitgliedstaaten somit im Fall einer ernsthaften Bedrohung ihrer öffentlichen Ordnung oder ihrer inneren Sicherheit während bestimmter Höchstzeiträume vorübergehend Kontrollen an allen oder bestimmter Abschnitten ihrer Binnengrenzen, wie sie in Art. 2 Nr. 1 des Schengener Grenzkodex definiert sind, wiedereinführen, wobei diese Wiedereinführung nur als letztes Mittel erfolgen darf. In jedem Fall darf die Dauer einer solchen vorübergehenden Wiedereinführung nicht über das Maß hinausgehen, das zur Bewältigung dieser Bedrohung unbedingt erforderlich ist, und muss in einem angemessenen Verhältnis zu dieser Bedrohung stehen, wobei die Art der zu diesem Zweck vorzunehmenden Bewertung und das zu befolgende Verfahren insbesondere in den Art. 26 bis 28 des Schengener Grenzkodex detailliert geregelt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. April 2022, Landespolizeidirektion Steiermark [Höchstdauer von Kontrollen an den Binnengrenzen], C‑368/20 und C‑369/20, EU:C:2022:298, Rn. 54, 63, 67 und 68).

106    Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten sowie aus den Angaben der belgischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung hervor, dass die nationalen Behörden zur im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit Kontrollen durchgeführt haben, um die Einhaltung des durch Art. 18 des geänderten Ministeriellen Erlasses aufgestellten Verbots des Überschreitens der Binnengrenzen zu überprüfen.

107    Außerdem hat die belgische Regierung in Beantwortung einer Frage des Gerichtshofs ausgeführt, dass die Kontrollen der Ein- und Ausreiseverbote für das belgische Hoheitsgebiet zur im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit wie folgt durchgeführt worden seien: Auf Flughäfen und Bahnhöfen seien Reisende, die Flüge bzw. Verbindungen zwischen Belgien und als Hochrisikogebiete eingestuften Staaten des Schengen-Raums genutzt hätten, stichprobenartig kontrolliert worden, während auf den Straßen zu den normalen Arbeitszeiten stichprobenartige Grenzkontrollen von mobilen Teams durchgeführt worden seien, wobei der Personenbeförderung in Bussen besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden sei.

108    Die Europäische Kommission hat ihrerseits im Verfahren vor dem Gerichtshof angegeben, am 4. Juni 2020 eine Mitteilung des Königreichs Belgien erhalten zu haben, aus der hervorgehe, dass dieser Mitgliedstaat während des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zeitraums die Durchführung von Kontrollen an den Binnengrenzen eingestellt habe.

109    Unter diesen Umständen wird das vorlegende Gericht zum einen zu prüfen haben, ob, wenn die Kontrollen des in Rn. 33 des vorliegenden Urteils genannten Verbots des Überschreitens der Grenzen innerhalb des belgischen Hoheitsgebiets einschließlich Grenzgebieten durchgeführt wurden, die Ausübung der polizeilichen Befugnisse, aufgrund deren diese Kontrollen durchgeführt wurden, nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen im Sinne von Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex hatte, und zum anderen, ob das Königreich Belgien, als diese Kontrollen an den Binnengrenzen durchgeführt wurden, sämtliche in den Art. 25 bis 28 des Schengener Grenzkodex genannten Voraussetzungen für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen beachtet hat.

110    Insoweit kann der Gerichtshof dem nationalen Gericht auf dessen Vorabentscheidungsersuchen hin sachdienliche Hinweise für seine Entscheidung geben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, Victorinox, C‑179/21, EU:C:2022:353, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

111    Was erstens Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex betrifft, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Einhaltung des Unionsrechts, insbesondere der Art. 22 und 23 des Schengener Grenzkodex, durch die Schaffung und Wahrung eines Rechtsrahmens zu sichern ist, der gewährleistet, dass die praktische Ausübung der polizeilichen Befugnisse im Sinne des genannten Art. 23 Buchst. a nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann (vgl. entsprechend Urteile vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 21. Juni 2017, A, C‑9/16, EU:C:2017:483, Rn. 37).

112    Art. 23 Buchst. a Satz 2 Ziff. i bis iv des Schengener Grenzkodex liefert aufgrund des Wortes „insbesondere“ am Anfang dieses Satzes Anhaltspunkte, die es ermöglichen, die Mitgliedstaaten bei der Durchführung ihrer polizeilichen Befugnisse und des in der vorstehenden Randnummer genannten Regelungsrahmens so zu leiten, dass die Ausübung dieser Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat.

113    Was erstens den Anhaltspunkt in Art. 23 Buchst. a Satz 2 Ziff. i des Schengener Grenzkodex betrifft, wonach die polizeilichen Maßnahmen keine „Grenzkontrollen zum Ziel“ haben dürfen, hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass sich aus Art. 2 Nrn. 10 bis 12 des Schengener Grenzkodex ergibt, dass dieses Ziel zum einen darauf gerichtet ist, sich zu vergewissern, dass die betreffenden Personen in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats einreisen oder aus ihm ausreisen dürfen, und zum anderen darauf, diese Personen daran zu hindern, sich den Grenzübertrittskontrollen zu entziehen. Es handelt sich um Kontrollen, die systematisch oder stichprobenartig durchgeführt werden dürfen (vgl. entsprechend Urteil vom 13. Dezember 2018, Touring Tours und Travel und Sociedad de Transportes, C‑412/17 und C‑474/17, EU:C:2018:1005, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

114    Im vorliegenden Fall scheinen sich die Ziele, die mit den Kontrollen verfolgt wurden, die zur Gewährleistung der Einhaltung von Art. 18 des geänderten Ministeriellen Erlasses durchgeführt wurden, in bestimmten wesentlichen Punkten von denen zu unterscheiden, die mit Grenzübertrittskontrollen verfolgt werden. Wie in Rn. 106 des vorliegenden Urteils ausgeführt, bestand der Zweck dieser Kontrollen zwar darin, zu überprüften, ob Personen, die die Grenzen zu überschreiten beabsichtigten oder überschritten hatten, das belgische Hoheitsgebiet verlassen oder in dieses einreisen durften. Nach dem Wortlaut des geänderten Ministeriellen Erlasses bestand der Hauptzweck dieser Kontrollen jedoch darin, dringlich die Ausbreitung von Covid‑19 in diesem Gebiet zu begrenzen und – in Anbetracht der im Übrigen für alle aus einem als rote Zone eingestuften Staat des Schengen-Raums in dieses Gebiet einreisenden Personen vorgesehenen Verpflichtung, sich Screeningtests zu unterziehen und eine Quarantäne einzuhalten – die Identifizierung und Überwachung dieser Personen sicherzustellen.

115    In Anbetracht dieses Hauptzwecks kann nicht davon ausgegangen werden, dass Kontrollen, die durchgeführt wurden, um die Einhaltung von Art. 18 des geänderten Ministeriellen Erlasses sicherzustellen, eine nach Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex verbotene gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Juni 2017, A, C‑9/16, EU:C:2017:483, Rn. 46 und 51).

116    Außerdem wurden die Verkehrskontrollen im vorliegenden Fall zwar offenbar hauptsächlich in Grenzgebieten durchgeführt, doch genügt dieser Umstand allein nicht für die Feststellung, dass die Ausübung der polizeilichen Befugnisse die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hatte. In Art. 23 Buchst. a Satz 1 des Schengener Grenzkodex wird nämlich ausdrücklich auf die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts auch in Grenzgebieten Bezug genommen (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Juni 2017, A, C‑9/16, EU:C:2017:483, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

117    Was zweitens den Anhaltspunkt in Art. 23 Buchst. a Satz 2 Ziff. ii des Schengener Grenzkodex betrifft, wonach die polizeilichen Maßnahmen „auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen“ müssen, ist darauf hinzuweisen, dass in dieser Bestimmung zwar nur von „Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit“ die Rede ist, Art. 23 Buchst. a dieses Kodex jedoch aufgrund des Wortes „insbesondere“ am Anfang seines zweiten Satzes weder eine abschließende Auflistung der Voraussetzungen, die polizeiliche Maßnahmen erfüllen müssen, um nicht als Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen angesehen zu werden, noch eine abschließende Auflistung der Ziele, die mit diesen polizeilichen Maßnahmen verfolgt werden dürfen, oder des Gegenstands, auf den sie sich beziehen können, enthält (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Juni 2017, A, C‑9/16, EU:C:2017:483, Rn. 48). Dies muss umso mehr gelten, als die polizeilichen Befugnisse gemäß Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex „nach Maßgabe des nationalen Rechts“ definiert sind und folglich andere Bereiche als den der öffentlichen Sicherheit im Sinne von Satz 2 Ziff. ii dieser Bestimmung erfassen können.

118    Daher kann der Umstand, dass Gefahren für die öffentliche Gesundheit in Art. 23 Buchst. a Satz 2 Ziff. ii des Schengener Grenzkodex nicht ausdrücklich erwähnt sind, für sich genommen nicht bedeuten, dass, während Fragen der öffentlichen Gesundheit nach Maßgabe des nationalen Rechts in die polizeilichen Befugnisse fallen können und die aufgrund dieser Befugnisse ergriffenen Maßnahmen auf allgemeine polizeiliche Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche oder erwiesene Gefahren für die öffentliche Gesundheit, wie eine Pandemie oder ein Pandemierisiko, gestützt werden können, sich ein Mitgliedstaat nicht nach Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex auf den Bereich der öffentlichen Gesundheit berufen kann.

119    Zu dem Umstand, dass die polizeilichen Maßnahmen nach Art. 23 Buchst. a Satz 2 Ziff. ii des Schengener Grenzkodex auf „allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen“ in dem betreffenden Bereich, d. h. im vorliegenden Fall einer Gefahr für die öffentliche Gesundheit, beruhen müssen, ist darauf hinzuweisen, dass dieses Erfordernis nicht erfüllt ist, wenn die Kontrollen auf der Grundlage eines Verbots allgemeinen Charakters angeordnet werden, unabhängig vom Verhalten der betreffenden Personen und von Umständen, aus denen sich die Gefahr einer Beeinträchtigung dieses Bereichs ergibt (vgl. entsprechend Urteil vom 13. Dezember 2018, Touring Tours und Travel und Sociedad de Transportes, C‑412/17 und C‑474/17, EU:C:2018:1005, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

120    Zwar geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die betreffenden Kontrollen zur im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit auf der Grundlage eines Verbots mit einem solchen allgemeinen Charakter und unabhängig vom Verhalten der Reisenden durchgeführt wurden, doch ist festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung sich in den Kontext einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Gesundheit einfügte, nämlich einer Pandemie, die durch ein Virus gekennzeichnet war, das in verschiedenen Bevölkerungsgruppen zum Tod führen und das nationale Gesundheitssystem überbeanspruchen oder gar überlasten konnte. Außerdem ist zum einen der Hauptzweck zu berücksichtigen, der sowohl mit diesem Verbot als auch mit den damit einhergehenden Kontrollmaßnahmen verfolgt wurde, nämlich die Ausbreitung oder die Gefahr einer Ausbreitung des Virus in einer Weise zu begrenzen oder einzudämmen, dass so viele Menschenleben wie möglich bewahrt blieben, und zum anderen die extreme Schwierigkeit oder gar die Unmöglichkeit, im Voraus zu bestimmen, welche Personen, die verschiedene Fortbewegungsmittel benutzen würden, aus Mitgliedstaaten kämen, die als Hochrisikogebiete eingestuft waren, oder sich in solche Mitgliedstaaten begeben würden. Unter diesen Umständen genügt es für die Zwecke von Art. 23 Buchst. a Satz 2 Ziff. ii des Schengener Grenzkodex, dass die Kontrollen im Hinblick auf Umstände, die objektiv die Gefahr einer schwerwiegenden und ernsthaften Beeinträchtigung der öffentlichen Gesundheit begründeten, und auf der Grundlage der allgemeinen Kenntnisse beschlossen und durchgeführt wurden, die die Behörden über die Ein- und Ausreisegebiete des nationalen Hoheitsgebiets hatten, durch die eine große Zahl der Reisenden, die von dem genannten Verbot betroffen waren, wahrscheinlich reisen würden.

121    Was drittens die Anhaltspunkte in Art. 23 Buchst. a Satz 2 Ziff. iii und iv des Schengener Grenzkodex betrifft, wonach polizeiliche Maßnahmen „in einer Weise konzipiert [sein] und durchgeführt werden [müssen], die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen [der Union] unterscheidet“ und „auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden [müssen]“, geht aus den Erläuterungen der belgischen Regierung in Beantwortung einer schriftlichen Frage des Gerichtshofs hervor, dass alle im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kontrollen nach dem Zufallsprinzip und somit „auf der Grundlage von Stichproben“ durchgeführt wurden, was zu prüfen jedoch Sache des vorlegenden Gerichts ist. Das vorlegende Gericht wird jedoch außerdem zu prüfen haben, ob diese Kontrollen in einer Weise konzipiert waren und durchgeführt wurden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen der Union unterscheidet, was eine detaillierte Prüfung der in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehenen Konkretisierungen und Einschränkungen betreffend die Intensität, die Häufigkeit und die Selektivität dieser Kontrollen bedeutet (vgl. entsprechend Urteil vom 13. Dezember 2018, Touring Tours und Travel und Sociedad de Transportes, C‑412/17 und C‑474/17, EU:C:2018:1005, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).

122    Obgleich dem Gerichtshof insoweit keine Informationen vorliegen, ist zumindest festzustellen, dass im Kontext einer Pandemie wie der in Rn. 120 des vorliegenden Urteils beschriebenen und unter Berücksichtigung des bereits in der vorgenannten Randnummer angeführten Umstands, dass es äußerst schwierig oder gar unmöglich sein kann, im Voraus zu bestimmen, welche Personen, die verschiedene Fortbewegungsmittel benutzen, aus Mitgliedstaaten kommen würden, die als Hochrisikogebiete eingestuft sind, oder sich in solche Mitgliedstaaten begeben würden, dem betroffenen Mitgliedstaat bei der Gestaltung und Durchführung der Kontrollen ein gewisser, auch durch das Vorsorgeprinzip gerechtfertigter Beurteilungsspielraum in Bezug auf die Intensität, die Häufigkeit und die Selektivität dieser Kontrollen eingeräumt werden muss. Dieser Beurteilungsspielraum darf jedoch nicht so weit gehen, dass die so konzipierten und durchgeführten Kontrollen nicht „eindeutig“ von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen der Union unterschieden werden können und einen solchen systematischen Charakter aufweisen.

123    Was zweitens die Frage der vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen im Sinne der Art. 25 ff. des Schengener Grenzkodex betrifft, ist festzustellen, dass der Wortlaut von Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex zwar, wie in Rn. 117 des vorliegenden Urteils ausgeführt, insoweit offen ist, als er das Recht der Mitgliedstaaten wahrt, polizeiliche Befugnisse auch im Bereich der öffentlichen Gesundheit auszuüben, Art. 25 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex sich aber ausdrücklich auf die Möglichkeit der Mitgliedstaaten bezieht, im Fall einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit vorübergehend wieder Grenzkontrollen einzuführen.

124    Da die durch die letztgenannte Bestimmung eingeführte Ausnahme von Art. 22 des Schengener Grenzkodex eng auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. April 2022, Landespolizeidirektion Steiermark [Höchstdauer von Kontrollen an den Binnengrenzen], C‑368/20 und C‑369/20, EU:C:2022:298, Rn. 64 und 66 sowie die dort angeführte Rechtsprechung), kann eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit als solche die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen nicht rechtfertigen.

125    Allerdings ist, wie der Generalanwalt in Nr. 154 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, davon auszugehen, dass ein Mitgliedstaat, wenn eine Gesundheitsgefahr eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung und/oder der inneren Sicherheit darstellt, zur Bewältigung dieser ernsthaften Bedrohung vorübergehend wieder Kontrollen an seinen Binnengrenzen einführen darf, sofern die übrigen Voraussetzungen der Art. 25 ff. des Schengener Grenzkodex eingehalten werden.

126    Aus den Begriffen „öffentliche Ordnung“ und „innere Sicherheit“, wie sie in der Rechtsprechung des Gerichtshofs konkretisiert worden sind, geht nämlich hervor, dass eine Gesundheitsgefahr in bestimmten Fällen eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Ordnung und/oder die innere Sicherheit darstellen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 2010, Josemans, C‑137/09, EU:C:2010:774, Rn. 65). So setzt zum einen der Begriff der öffentlichen Ordnung voraus, dass außer der Störung der sozialen Ordnung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Zum anderen entspricht der Begriff „innere Sicherheit“ dem inneren Aspekt der öffentlichen Sicherheit eines Mitgliedstaats und umfasst insbesondere die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung und die Beeinträchtigung der militärischen Interessen oder unmittelbare Bedrohungen der Ruhe und der physischen Sicherheit der Bevölkerung (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 65 und 66 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 2. Mai 2018, K. und H. F. [Aufenthaltsrecht und Vorwürfe von Kriegsverbrechen], C‑331/16 und C‑366/16, EU:C:2018:296, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

127    Eine Pandemie von einem Ausmaß wie die Covid‑19-Pandemie, die durch eine übertragbare Krankheit gekennzeichnet ist, die in verschiedenen Bevölkerungsgruppen zum Tod führen und die nationalen Gesundheitssysteme überbeanspruchen oder gar überlasten kann, kann ein grundlegendes Interesse der Gesellschaft berühren, nämlich das Interesse, das Leben der Bürger zu sichern und gleichzeitig das reibungslose Funktionieren des Gesundheitssystems und die angemessene Versorgung der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, und berührt darüber hinaus sogar das Überleben eines Teils der Bevölkerung, insbesondere der am stärksten gefährdeten Personen. Unter diesen Umständen kann eine solche Situation als ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung und/oder der inneren Sicherheit im Sinne von Art. 25 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex eingestuft werden.

128    Sollte das vorlegende Gericht im vorliegenden Fall feststellen, dass die belgischen Behörden während des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zeitraums an den Binnengrenzen Überprüfungen oder Kontrollen vorgenommen haben, so wird es in Anbetracht dessen, dass diese Überprüfungen oder Kontrollen, wie in Rn. 127 des vorliegenden Urteils ausgeführt, darauf abzielten, eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit zu bewältigen, zu prüfen haben, ob die weiteren in den Art. 25 bis 28 des Schengener Grenzkodex genannten und in Rn. 105 dieses Urteils im Wesentlichen zusammengefassten Voraussetzungen erfüllt waren.

129    Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Art. 22, 23 und 25 des Schengener Grenzkodex dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats, die aus Gründen der öffentlichen Gesundheit im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Covid‑19-Pandemie unter der Kontrolle der zuständigen Behörden und unter Androhung von Sanktionen das Überschreiten der Binnengrenzen dieses Mitgliedstaats, um nicht wesentliche Reisen aus oder in als Hochrisikogebiete eingestufte Staaten des Schengen-Raums zu unternehmen, verbietet, nicht entgegenstehen, sofern es sich bei diesen Kontrollmaßnahmen um die Ausübung polizeilicher Befugnisse, die nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben darf, im Sinne von Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex handelt oder der Mitgliedstaat, falls es sich bei diesen Maßnahmen um Kontrollen an den Binnengrenzen handeln sollte, die in den Art. 25 bis 28 des Schengener Grenzkodex genannten Voraussetzungen für die vorübergehende Wiedereinführung solcher Kontrollen beachtet hat, wobei die von einer solchen Pandemie ausgehende Gefahr einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit im Sinne von Art. 25 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex entspricht.

 Kosten

130    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.      Die Art. 27 und 29 in Verbindung mit den Art. 4 und 5 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG

sind dahin auszulegen, dass

sie einer Regelung mit allgemeiner Geltung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die aus Gründen der öffentlichen Gesundheit im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Covid19-Pandemie zum einen Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit verbietet, von diesem Mitgliedstaat aus nicht wesentliche Reisen in andere Mitgliedstaaten zu unternehmen, die von diesem Mitgliedstaat auf der Grundlage der restriktiven Gesundheitsmaßnahmen oder der epidemiologischen Lage in diesen anderen Mitgliedstaaten als Hochrisikogebiete eingestuft worden sind, und zum anderen Unionsbürgern, die nicht Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats sind, die Verpflichtung auferlegt, sich bei der Einreise aus einem dieser anderen Mitgliedstaaten in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats Screeningtests zu unterziehen und eine Quarantäne einzuhalten, sofern diese nationale Regelung alle in den Art. 30 bis 32 dieser Richtlinie genannten Bedingungen und Garantien, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundrechte und Grundsätze, insbesondere das Diskriminierungsverbot, sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet.

2.      Die Art. 22, 23 und 25 der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) in der durch die Verordnung (EU) 2017/2225 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2017 geänderten Fassung

sind dahin auszulegen, dass

sie einer Regelung eines Mitgliedstaats, die aus Gründen der öffentlichen Gesundheit im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Covid19-Pandemie unter der Kontrolle der zuständigen Behörden und unter Androhung von Sanktionen das Überschreiten der Binnengrenzen dieses Mitgliedstaats, um nicht wesentliche Reisen aus oder in als Hochrisikogebiete eingestufte Staaten des Schengen-Raums zu unternehmen, verbietet, nicht entgegenstehen, sofern es sich bei diesen Kontrollmaßnahmen um die Ausübung polizeilicher Befugnisse, die nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben darf, im Sinne von Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex handelt oder der Mitgliedstaat, falls es sich bei diesen Maßnahmen um Kontrollen an den Binnengrenzen handeln sollte, die in den Art. 25 bis 28 des Schengener Grenzkodex genannten Voraussetzungen für die vorübergehende Wiedereinführung solcher Kontrollen beachtet hat, wobei die von einer solchen Pandemie ausgehende Gefahr einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit im Sinne von Art. 25 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex entspricht.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Niederländisch.