Language of document : ECLI:EU:T:2023:822

Rechtssache T216/21

Ryanair DAC
und
Malta Air ltd.

gegen

Europäische Kommission

 Urteil des Gerichts (Achte erweiterte Kammer) vom 20. Dezember 2023

„Staatliche Beihilfen – Von Frankreich im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie zugunsten von Air France gewährte Beihilfe – Staatliche Darlehensgarantie und nachrangiges staatliches Darlehen – Beschluss, mit dem die Beihilfe für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wird – Nichtigkeitsklage – Klagebefugnis – Spürbare Beeinträchtigung der Marktstellung des Klägers – Zulässigkeit – Bestimmung des Begünstigten der Beihilfe bei einer Unternehmensgruppe“

1.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Individuelle Betroffenheit – Kriterien – Beschluss der Kommission, mit dem eine Beihilfe für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wird – Klage eines Konkurrenzunternehmens, das eine spürbare Beeinträchtigung seiner Marktstellung nachweist – Zulässigkeit – Pflicht des Konkurrenzunternehmens, den fraglichen Markt genau zu definieren und die Lage aller auf diesem Markt tätigen Wettbewerber zu vergleichen, um sich von ihnen abzugrenzen – Fehlen

(Art. 263 Abs. 4 AEUV)

(vgl. Rn. 21-50)

2.      Nichtigkeitsklage – Zulässigkeitsvoraussetzungen – Erhebung einer gemeinsamen Klage durch zwei Kläger – Zulässigkeit der Klage eines der Kläger – Erforderlichkeit der Prüfung der Zulässigkeit der Klage des anderen Klägers – Fehlen

(Art. 263 AEUV)

(vgl. Rn. 53)

3.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Ermessen der Kommission – Ermittlung des Beihilfeempfängers – Unternehmensgruppe, die eine wirtschaftliche Einheit bildet – Beurteilungskriterien – Finanzielle, organisatorische, funktionale und wirtschaftliche Verflechtungen zwischen den zu dieser Gruppe gehörenden Unternehmen – Vertraglicher Rahmen und Kontext der in Rede stehenden Beihilfemaßnahmen

(Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV)

(vgl. Rn. 59-68, 81, 82, 101, 102, 111, 136, 143-149)

4.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Ermessen der Kommission – Ermittlung des Beihilfeempfängers – Unmittelbar oder mittelbar begünstigtes Unternehmen – Mittelbarer Vorteil – Begriff – Unterscheidung zwischen mittelbarem Vorteil und sekundären wirtschaftlichen Auswirkungen, die einer Beihilfemaßnahme inhärent sind

(Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV; Bekanntmachung 2016/C 262/1 der Kommission, Rn. 115 und 116)

(vgl. Rn. 152-162)

5.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beihilfen zur Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaats – Beihilfen zur Deckung des unmittelbaren Liquiditätsbedarfs einer Luftfahrtgesellschaft im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie – Beschluss der Kommission, der die Beihilfen für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt – Offensichtlicher Beurteilungsfehler der Kommission bei der Ermittlung der Begünstigten – Fehler, der sich auf die Beurteilung der Vereinbarkeit von Beihilfemaßnahmen mit dem Binnenmarkt auswirken kann

(Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV)

(vgl. Rn. 163-167)

Zusammenfassung

Im April 2020 unterrichtete die Französische Republik die Europäische Kommission über ein Beihilfevorhaben zugunsten der Fluggesellschaft Air France, einer Tochtergesellschaft der Holdinggesellschaft Air France-KLM. Die mitgeteilte Beihilfe bestand zum einen aus einer staatlichen Garantie in Höhe von 90 % für ein von einem Bankenkonsortium gewährtes Darlehen in Höhe von 4 Mrd. Euro und zum anderen aus einem Gesellschafterdarlehen in Höhe von bis zu 3 Mrd. Euro.

Später, im März 2021, meldete Frankreich bei der Kommission ein Beihilfevorhaben zugunsten von Air France und der Holding Air France-KLM an, das zur Rekapitalisierung dieser beiden Gesellschaften in Höhe von insgesamt 4 Mrd. Euro durch eine Kapitalerhöhung und die Umwandlung des oben erwähnten Gesellschafterdarlehens in ein einer Eigenkapitalbeteiligung der Holding gleichwertiges hybrides Kapitalinstrument bestimmt war.

Durch diese Maßnahmen, die im Rahmen einer Reihe weiterer Beihilfemaßnahmen zur Unterstützung von zur Gruppe Air France-KLM gehörenden Gesellschaften ergriffen wurden, sollte der unmittelbare Liquiditätsbedarf von Air France und der Holding Air France-KLM finanziert werden, um diese Gesellschaften bei der Überwindung der negativen Folgen der Covid-19-Pandemie zu unterstützen.

Mit dem Beschluss vom 4. Mai 2020 (im Folgenden: Beschluss Air France)(1), der im Dezember 2020 und im Juli 2021 berichtigt wurde, und dem Beschluss vom 5. April 2021 (im Folgenden: Beschluss Air France-KLM und Air France)(2) stellte die Kommission fest, dass es sich bei den mitgeteilten Maßnahmen nach Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV(3) und nach ihrer Mitteilung „Befristeter Rahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft angesichts des derzeitigen Ausbruchs von Covid-19“ vom 19. März 2020(4) um mit dem Binnenmarkt vereinbare staatliche Beihilfen handele.

Im Beschluss Air France ging die Kommission davon aus, dass Air France und ihre Tochtergesellschaften die Begünstigten der mitgeteilten Beihilfe seien. Somit wurden weder die Holding Air France-KLM noch ihre anderen Tochtergesellschaften, einschließlich KLM und die von dieser kontrollierten Gesellschaften, als Begünstigte dieser Maßnahme angesehen. Im Beschluss Air France-KLM und Air France ermittelte die Kommission sowohl Air France und deren Tochtergesellschaften als auch die Holding Air France-KLM und ihre Tochtergesellschaften als Begünstigte der mitgeteilten Maßnahme, nicht aber KLM und deren Tochtergesellschaften.

Die Fluggesellschaften Ryanair und Malta Air klagten auf Nichtigerklärung der oben angeführten Beschlüsse der Kommission. Die Achte erweiterte Kammer des Gerichts gibt diesen Klagen statt und stellt fest, dass die Kommission bei der Ermittlung der durch die mitgeteilten Beihilfen Begünstigten einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen und daher gegen Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV verstoßen hat. In diesem Rahmen präzisiert das Gericht, wie die Begünstigten einer Beihilfemaßnahme im Kontext einer Unternehmensgruppe zu ermitteln sind.

Würdigung durch das Gericht

Die Klägerinnen stützten ihre Klage u. a. darauf, dass die Holding Air France-KLM und KLM (im Beschluss Air France) sowie KLM (im Beschluss Air France-KLM und Air France) von den durch die mitgeteilten Maßnahmen Begünstigten ausgenommen wurden.

Insoweit weist das Gericht darauf hin, dass die Kommission bei der Ermittlung der durch eine angemeldete Beihilfemaßnahme Begünstigen zwar über ein weites Ermessen verfügt, jedoch das Unionsgericht nicht nur die sachliche Richtigkeit, die Zuverlässigkeit und die Kohärenz der angeführten Beweise prüfen, sondern auch kontrollieren muss, ob diese Beweise alle heranzuziehenden relevanten Daten darstellen und ob sie die aus diesen gezogenen Schlüsse zu stützen vermögen.

Überdies ergibt sich aus der Rechtsprechung sowie aus der Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe(5), dass mehrere getrennte rechtliche Einheiten für die Zwecke der Anwendung der Beihilfevorschriften als eine wirtschaftliche Einheit angesehen werden können. Zu den für die Bestimmung des Vorliegens einer solchen wirtschaftlichen Einheit zu berücksichtigenden Merkmalen gehören u. a. die finanziellen, organisatorischen, funktionalen und wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den betroffenen Einheiten, die Verträge über die Gewährung der angemeldeten Beihilfe und der Kontext, in dem diese gewährt wird.

Im Hinblick hierauf stellt das Gericht zunächst fest, dass die in den angefochtenen Beschlüssen beschriebenen gruppeninternen finanziellen und organisatorischen Verflechtungen bei Air France-KLM darauf hindeuten, dass die verschiedenen eigenständigen juristischen Einheiten innerhalb dieser Gruppe für die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen eine wirtschaftliche Einheit bilden. Insoweit weist das Gericht darauf hin, dass gemäß den Feststellungen der Kommission die Holding Air France-KLM durch unmittelbare oder mittelbare Einflussnahme auf die Verwaltung von Air France und KLM tatsächlich eine Kontrolle über diese ausübt und dadurch an deren wirtschaftlicher Tätigkeit beteiligt ist. Zudem besteht demnach auf Konzernebene der Gruppe Air France-KLM ein Verfahren der zentralisierten Entscheidungsfindung und zumindest in Bezug auf bestimmte wichtige Entscheidungen eine gewisse Abstimmung, die durch gemischte Organe gewährleistet wird, in denen hochrangige Vertreter der Holding Air France-KLM, von Air France und von KLM vertreten sind.

Gegen die Feststellung der Kommission, dass die Holding Air France-KLM, Air France und KLM, soweit es um die Ermittlung der durch die mitgeteilten Beihilfemaßnahmen Begünstigten geht, keine wirtschaftliche Einheit sind, sprechen zudem die zwischen diesen Einheiten bestehenden funktionalen und wirtschaftlichen Verflechtungen. Die Beschreibung dieser Verflechtungen in den angefochtenen Beschlüssen sowie die insoweit von Ryanair und Malta Air vorgetragenen Beispiele zeugen von einer gewissen funktionalen, geschäftlichen und finanziellen Integration und Zusammenarbeit zwischen diesen Einheiten.

Weiter führt das Gericht aus, dass – entgegen dem Vorbringen der Kommission – der vertragliche Rahmen, auf dessen Grundlage die mitgeteilten Maßnahmen sowie die von der Französischen Republik im Zusammenhang mit dem Beschluss Air France-KLM und Air France übernommenen Verpflichtungen erfolgen, einer Qualifikation der Holding Air France-KLM sowie von Air France und KLM als wirtschaftliche Einheit nicht entgegensteht. Das Gericht präzisiert insoweit, dass weder die von der Kommission angeführten Vertragsklauseln noch die von der Französischen Republik übernommenen Verpflichtungen zulassen, den Kreis der durch die mitgeteilten Maßnahmen Begünstigten auf Air France im einen Fall und auf die Holding Air France-KLM und Air France im anderen zu beschränken. In Bezug auf den Beschluss Air France-KLM und Air France betont das Gericht außerdem, dass die Verbesserung der finanziellen Lage der Holding Air France-KLM infolge der mitgeteilten Maßnahme jedenfalls zur Folge hätte, dass für sie und damit auch für ihre Tochtergesellschaft KLM sowie die wiederum von dieser kontrollierten Gesellschaften das Ausfallrisiko ausgeschlossen wird.

Im Hinblick auf den zeitlichen und strukturellen Zusammenhang zwischen den Maßnahmen, die den angefochtenen Beschlüssen zugrunde liegen, stellt das Gericht unter Hinweis darauf, dass der Beschluss Air France-KLM und Air France erlassen wurde, bevor der zweite Berichtigungsbeschluss zum Beschluss Air France erging, zudem fest, dass die Kommission diese Beschlüsse bei der Prüfung der mitgeteilten Maßnahmen hätte berücksichtigen müssen. Daher ist die Kommission die Begründung für die unterschiedliche Ermittlung der durch die mitgeteilten Beihilfemaßnahmen Begünstigten in den angefochtenen Beschlüssen schuldig geblieben.

Schließlich weist das Gericht auch das Vorbringen der Kommission zurück, dass die mitgeteilten Beihilfemaßnahmen überdies bloß sekundäre wirtschaftliche Auswirkungen auf die Holding Air France-KLM und ihre anderen Tochtergesellschaften (Beschluss Air France) und auf KLM und ihre Tochtergesellschaften (Beschluss Air France-KLM und Air France) hätten. Insoweit weist das Gericht darauf hin, dass die vorhersehbaren Auswirkungen dieser Maßnahmen bei einer Ex-ante-Betrachtung dafür sprechen, dass die vorgesehene Finanzierungslösung sich auf die Unternehmensgruppe Air France-KLM insgesamt dadurch günstig auswirken kann, dass sie deren Finanzlage insgesamt verbessert. Gemäß der Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe weist eine solche Finanzierungslösung zumindest auf einen mittelbaren Vorteil zugunsten der Unternehmensgruppe Air France-KLM einschließlich KLM und deren Tochtergesellschaften hin.

Nach alledem kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die Kommission einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, als sie die Holding Air France-KLM und ihre anderen Tochtergesellschaften einschließlich KLM und deren Tochtergesellschaften (Beschluss Air France) und KLM und ihre Tochtergesellschaften (Beschluss Air France-KLM und Air France) von den durch die angemeldeten Beihilfemaßnahmen Begünstigten ausgenommen hat. Das Gericht erklärt die angefochtenen Beschlüsse für nichtig, da diese unzutreffende Ermittlung der Begünstigten sich auf die gesamte Würdigung der Vereinbarkeit der mitgeteilten Maßnahmen mit dem Binnenmarkt im Sinne von Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV und des Befristeten Rahmens auswirken kann.


1      Der Beschluss C(2020) 2983 final der Kommission vom 4. Mai 2020 über die staatliche Beihilfe SA.57082 (2020/N) – France – COVID 19 – Encadrement temporaire 107(3)(b) – Garantie et prêt d’actionnaire au bénéfice d’Air France (Frankreich – Covid 19 – Befristeter Rahmen Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV – Garantie und Gesellschafterdarlehen zugunsten von Air France) in der durch die Beschlüsse C(2020) 9384 final vom 17. Dezember 2020 und C(2021) 5701 final vom 26. Juli 2021 geänderten Fassung.


2      Beschluss C(2021) 2488 final der Kommission vom 5. April 2021 über die staatliche Beihilfe SA.59913 – France – COVID 19 – Recapitalisation of Air France and the Air France-KLM Holding (Frankreich – Covid 19 – Rekapitalisierung der Air France und der Air France-KLM Holding) und Beschluss C(2020) 2983 final der Kommission vom 4. Mai 2020 über die staatliche Beihilfe SA.57082 (2020/N) – France – COVID 19 – Cadre temporaire 107(3)(b) – Garantie et prêt d’actionnaire au bénéfice d’Air France (Frankreich – Covid 19 – Befristeter Rahmen Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV – Garantie und Gesellschafterdarlehen zugunsten von Air France) in der durch die Beschlüsse C(2020) 9384 final vom 17. Dezember 2020 und C(2021) 5701 final vom 26. Juli 2021 geänderten Fassung (im Folgenden: angefochtene Beschlüsse).


3      Nach Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV können Beihilfen zur Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaats unter bestimmten Voraussetzungen als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden.


4      Mitteilung der Kommission vom 20. März 2020 über den befristeten Rahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft angesichts des derzeitigen Ausbruchs von Covid-19 (ABl. 2020, C 91 I, S. 1), geändert am 4. April 2020 (ABl. 2020, C 112 I, S. 1), am 13. Mai 2020 (ABl. 2020, C 164, S. 3) und am 29. Juni 2020 (ABl. 2020, C 218, S. 3) (im Folgenden: Befristeter Rahmen).


5      Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne des Artikels 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. 2016, C 262, S. 1).