Language of document : ECLI:EU:C:2012:743

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 22. November 2012(1)

Rechtssache C‑258/11

Peter Sweetman,

Irland,

Attorney General,

Minister for the Environment, Heritage and Local Government

gegen

An Bord Pleanala

(Vorabentscheidungsersuchen des irischen Supreme Court)

„Umwelt – Besondere Schutzgebiete – Prüfung der Beeinträchtigung eines geschützten Gebiets durch einen Plan oder ein Projekt – Beeinträchtigung eines Gebiets als solchem“





 Einleitung

1.        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 der Habitatrichtlinie(2) (im Folgenden: Richtlinie). Vor dem Gerichtshof geht es insbesondere um die zutreffende Auslegung von Art. 6 Abs. 3, der Pläne und Projekte betrifft, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Habitatgebiets in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind. Diese Vorschrift ist dann anwendbar, wenn ein solcher Plan oder ein solches Projekt das Gebiet „erheblich beeinträchtigen [könnte]“. Ist dies der Fall, muss die Verträglichkeit für dieses Gebiet geprüft werden. Nur dann, wenn die zuständigen nationalen Behörden aufgrund dieser Prüfung festgestellt haben, dass das Gebiet durch den Plan oder das Projekt „als solches nicht beeinträchtigt“ wird, können sie ihm zustimmen. Das nationale Gericht ersucht um Auslegung der letztgenannten dieser Wendungen.

 Rechtlicher Rahmen

 Recht der Europäischen Union

2.        Art. 1 der Richtlinie enthält folgende Begriffsbestimmungen:

„a)      ‚Erhaltung‘: alle Maßnahmen, die erforderlich sind, um die natürlichen Lebensräume und die Populationen wildlebender Tier- und Pflanzenarten in einem günstigen Erhaltungszustand im Sinne des Buchstabens e) oder i) zu erhalten oder diesen wiederherzustellen.

d)      ‚Prioritäre natürliche Lebensraumtypen‘: die in dem in Artikel 2 genannten Gebiet vom Verschwinden bedrohten natürlichen Lebensraumtypen, für deren Erhaltung der Gemeinschaft aufgrund der natürlichen Ausdehnung dieser Lebensraumtypen im Verhältnis zu dem in Artikel 2 genannten Gebiet besondere Verantwortung zukommt; diese prioritären natürlichen Lebensraumtypen sind in Anhang I mit einem Sternchen (*) gekennzeichnet.

e)      ‚Erhaltungszustand eines natürlichen Lebensraums‘: die Gesamtheit der Einwirkungen, die den betreffenden Lebensraum und die darin vorkommenden charakteristischen Arten beeinflussen und sich langfristig auf seine natürliche Verbreitung, seine Struktur und seine Funktionen sowie das Überleben seiner charakteristischen Arten in dem in Artikel 2 genannten Gebiet auswirken können.

Der ‚Erhaltungszustand‘ eines natürlichen Lebensraums wird als ‚günstig‘ erachtet, wenn

–        sein natürliches Verbreitungsgebiet sowie die Flächen, die er in diesem Gebiet einnimmt, beständig sind oder sich ausdehnen und

–        die für seinen langfristigen Fortbestand notwendige Struktur und spezifischen Funktionen bestehen und in absehbarer Zukunft wahrscheinlich weiterbestehen werden und

–        der Erhaltungszustand der für ihn charakteristischen Arten im Sinne des Buchstabens i) günstig ist.

i)      ‚Erhaltungszustand einer Art‘: die Gesamtheit der Einflüsse, die sich langfristig auf die Verbreitung und die Größe der Populationen der betreffenden Arten in dem in Artikel 2 bezeichneten Gebiet auswirken können.

Der Erhaltungszustand wird als ‚günstig‘ betrachtet, wenn

–        aufgrund der Daten über die Populationsdynamik der Art anzunehmen ist, dass diese Art ein lebensfähiges Element des natürlichen Lebensraumes, dem sie angehört, bildet und langfristig weiterhin bilden wird, und

–        das natürliche Verbreitungsgebiet dieser Art weder abnimmt noch in absehbarer Zeit vermutlich abnehmen wird und

–        ein genügend großer Lebensraum vorhanden ist und wahrscheinlich weiterhin vorhanden sein wird, um langfristig ein Überleben der Populationen dieser Art zu sichern.

j)      ‚Gebiet‘: ein geografisch definierter Bereich mit klar abgegrenzter Fläche.

k)      ‚Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung‘: Gebiet, das in der oder den biogeografischen Region(en), zu welchen es gehört, in signifikantem Maße dazu beiträgt, einen natürlichen Lebensraumtyp des Anhangs I oder eine Art des Anhangs II in einem günstigen Erhaltungszustand zu bewahren oder einen solchen wiederherzustellen und auch in signifikantem Maße zur Kohärenz des in Artikel 3 genannten Netzes ‚Natura 2000‘ und/oder in signifikantem Maße zur biologischen Vielfalt in der biogeografischen Region beitragen kann.

l)      ‚Besonderes Schutzgebiet‘: ein von den Mitgliedstaaten durch eine Rechts- oder Verwaltungsvorschrift und/oder eine vertragliche Vereinbarung als ein von gemeinschaftlicher Bedeutung ausgewiesenes Gebiet, in dem die Maßnahmen, die zur Wahrung oder Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes der natürlichen Lebensräume und/oder Populationen der Arten, für die das Gebiet bestimmt ist, erforderlich sind, durchgeführt werden.“

3.        Art. 2 der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Diese Richtlinie hat zum Ziel, zur Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, für das der Vertrag Geltung hat, beizutragen.

(2)      Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen zielen darauf ab, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse zu bewahren oder wiederherzustellen.

(3)      Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen tragen den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung.“

4.        Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Es wird ein kohärentes europäisches ökologisches Netz besonderer Schutzgebiete mit der Bezeichnung ‚Natura 2000‘ errichtet. Dieses Netz besteht aus Gebieten, die die natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I sowie die Habitate der Arten des Anhang II umfassen, und muss den Fortbestand oder gegebenenfalls die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes dieser natürlichen Lebensraumtypen und Habitate der Arten in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet gewährleisten.

…“

5.        Art. 4 der Richtlinie legt das Verfahren für die Ausweisung der Habitatgebiete nach der Richtlinie fest. Im Wesentlichen gehört dazu die Erstellung einer Liste von geeigneten Gebieten durch jeden Mitgliedstaat, die der Kommission zugeleitet wird (Art. 4 Abs. 1). Auf der Grundlage dieser Informationen erstellt die Kommission dann jeweils im Einvernehmen mit den Mitgliedstaaten den Entwurf einer Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung (GGB) zu dem Zweck, die Gebiete mit einem oder mehreren prioritären natürlichen Lebensraumtyp(en) oder einer oder mehreren prioritären Art(en) auszuweisen. Die Liste der ausgewählten Gebiete wird dann von der Kommission förmlich verabschiedet (Art. 4 Abs. 2). Ist ein Gebiet als solches nach dem Verfahren von Art. 4 Abs. 2 anerkannt worden, so weist der betreffende Mitgliedstaat dieses Gebiet spätestens binnen sechs Jahren als besonderes Schutzgebiet (BSG) aus (Art. 4 Abs. 4). Sobald ein Gebiet jedoch in die Liste der von der Kommission als GGB bestätigten Gebiete aufgenommen ist, gelten für dieses Gebiet die in den Bestimmungen des Art. 6 Abs. 2, 3 und 4 festgelegten Verpflichtungen (Art. 4 Abs. 5).

6.        Art. 6 der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Für die besonderen Schutzgebiete legen die Mitgliedstaaten die nötigen Erhaltungsmaßnahmen fest, die gegebenenfalls geeignete, eigens für die Gebiete aufgestellte oder in andere Entwicklungspläne integrierte Bewirtschaftungspläne und geeignete Maßnahmen rechtlicher, administrativer oder vertraglicher Art umfassen, die den ökologischen Erfordernissen der natürlichen Lebensraumtypen nach Anhang I und der Arten nach Anhang II entsprechen, die in diesen Gebieten vorkommen.

(2)      Die Mitgliedstaaten treffen die geeigneten Maßnahmen, um in den besonderen Schutzgebieten die Verschlechterung der natürlichen Lebensräume und der Habitate der Arten sowie Störungen von Arten, für die die Gebiete ausgewiesen worden sind, zu vermeiden, sofern solche Störungen sich im Hinblick auf die Ziele dieser Richtlinie erheblich auswirken könnten.

(3)      Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebietes in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind, die ein solches Gebiet jedoch einzeln oder in Zusammenwirkung mit anderen Plänen und Projekten erheblich beeinträchtigen könnten, erfordern eine Prüfung auf Verträglichkeit mit den für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungszielen. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung und vorbehaltlich des Absatzes 4 stimmen die zuständigen einzelstaatlichen Behörden dem Plan bzw. Projekt nur zu, wenn sie festgestellt haben, dass das Gebiet als solches nicht beeinträchtigt wird, und nachdem sie gegebenenfalls die Öffentlichkeit angehört haben.

(4)      Ist trotz negativer Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art ein Plan oder Projekt durchzuführen und ist eine Alternativlösung nicht vorhanden, so ergreift der Mitgliedstaat alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen, um sicherzustellen, dass die globale Kohärenz von Natura 2000 geschützt ist. Der Mitgliedstaat unterrichtet die Kommission über die von ihm ergriffenen Ausgleichsmaßnahmen.

Ist das betreffende Gebiet ein Gebiet, das einen prioritären natürlichen Lebensraumtyp und/oder eine prioritäre Art einschließt, so können nur Erwägungen im Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen und der öffentlichen Sicherheit oder im Zusammenhang mit maßgeblichen günstigen Auswirkungen für die Umwelt oder, nach Stellungnahme der Kommission, andere zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses geltend gemacht werden.“

7.        Anhang I der Richtlinie enthält folgenden Eintrag:

„–      8240 * Kalk-Felspflaster“.

 Nationales Recht

8.        Straßenbauvorhaben in Irland unterliegen den Bestimmungen des Roads Act 1993 (Straßengesetz von 1993) (in geänderter Fassung). Sections 50 und 51 dieses Gesetzes in Verbindung mit den European Communities (Environmental Impact Assessment) (Amendment) Regulations 1999 (Verordnung von 1999 über die Umweltverträglichkeitsprüfung in den Europäischen Gemeinschaften [Änderung]) sehen für diese Vorhaben ein Genehmigungsverfahren vor. Nach diesem Verfahren ist die Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung im Sinne der Richtlinie 85/337(3) erforderlich.

9.        Kann ein Straßenbauvorhaben bestimmte Gebiete von ökologischer Bedeutung erheblich beeinträchtigen, unterliegt es überdies den European Communities (Natural Habitats) Regulations 1997 (Verordnung von 1997 über die natürlichen Lebensräume in den Europäischen Gemeinschaften) (in geänderter Fassung) (im Folgenden: Verordnung), durch die die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt wird.

10.      Nach der Definition in Regulation 2 der Verordnung umfasst ein „Europäisches Gebiet“ Gebiete, für die Irland der Kommission vorschlägt, sie als GGB anzuerkennen. Regulation 4 legt ein Verfahren für die Mitteilung von Gebieten innerhalb Irlands fest. Solche Gebiete werden später in die Liste aufgenommen, die gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie der Europäischen Kommission zugeleitet wird.

11.      Regulation 30 der Verordnung bestimmt:

„1.       Steht ein vorgeschlagenes Straßenbauprojekt, für das ein Antrag auf Genehmigung durch den Minister for the Environment [Umweltminister] nach Section 51 des Roads Act 1993 gestellt worden ist, nicht unmittelbar mit der Verwaltung eines Europäischen Gebiets in Verbindung oder ist es hierfür nicht notwendig, könnte es dieses aber für sich allein oder im Zusammenwirken mit anderen Vorhaben erheblich beeinträchtigen, so stellt der Minister for the Environment sicher, dass eine Prüfung der Verträglichkeit mit den für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungszielen durchgeführt wird.

3.       Der Minister for the Environment stimmt dem vorgeschlagenen Straßenbauvorhaben im Hinblick auf das Ergebnis der nach Abs. 1 durchgeführten Prüfung nur zu, wenn er festgestellt hat, dass das betreffende Europäische Gebiet als solches nicht beeinträchtigt wird.

5.       Der Minister for the Environment kann dem vorgeschlagenen Straßenbauvorhaben trotz eines negativen Ergebnisses zustimmen, wenn er davon überzeugt ist, dass eine Alternativlösung nicht vorhanden und das Vorhaben aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses durchzuführen ist.

6. a)       Vorbehaltlich Buchst. b gehören zu den zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses auch solche sozialer oder wirtschaftlicher Art.

b)       Schließt das betreffende Gebiet einen prioritären natürlichen Lebensraum oder eine prioritäre Art ein, kommen als Erwägungen des überwiegenden öffentlichen Interesses nur in Betracht:

(i)      solche im Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen und der öffentlichen Sicherheit,

(ii)      solche im Zusammenhang mit maßgeblichen günstigen Auswirkungen auf die Umwelt oder

(iii) nach Stellungnahme der Kommission andere zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses. “

12.      Gemäß den Ausführungen des nationalen Gerichts haben die innerstaatlichen Vorschriften zur Folge, dass ein Gebiet von dem Tag an, an dem den betroffenen Eigentümern und Besitzern mitgeteilt wird, dass ein Vorschlag vorsieht, dieses Gebiet in eine Liste aufzunehmen, die der Kommission zugeleitet werden soll, einen Schutz genießt, der dem Schutz nach Art. 6 Abs. 2, 3 und 4 der Richtlinie vergleichbar ist. Dieser Schutz gilt also schon, bevor das Gebiet als BBG nach Art. 4 der Richtlinie in die von der Kommission verabschiedete Liste aufgenommen worden ist.

 Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

13.      Mit der Entscheidung 2004/813(4) verabschiedete die Kommission gemäß Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie den Entwurf einer Liste von GGB. Diese Liste enthielt ein Gebiet, das Lough Corrib und umliegende Flächen in der Grafschaft Galway in Irland umfasste. Die Gesamtfläche des Gebiets betrug rund 20 582 Hektar.

14.      Mit der Entscheidung 2008/23(5) hob die Kommission die Entscheidung 2004/813 auf und verabschiedete eine erste aktualisierte Liste von GGB. Diese Liste enthielt das Gebiet bei Lough Corrib mit unveränderter Fläche.

15.      Im Dezember 2006 wies der zuständige Minister innerstaatlich ein erweitertes Gebiet mit einer Fläche von rund 25 253 Hektar bei Lough Corrib aus. Die Erweiterung betrug etwa 4 760 Hektar. Das erweiterte Gebiet umfasst 270 Hektar Kalk-Felspflaster, bei dem es sich um einen in Anhang I der Richtlinie aufgeführten prioritären natürlichen Lebensraumtyp handelt.

16.      Im Dezember 2007 wurde das erweiterte Gebiet in eine Liste aufgenommen, die Irland nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie der Kommission zuleitete.

17.      Mit der Entscheidung 2009/96(6) hob die Kommission die Entscheidung 2008/23 auf und verabschiedete eine zweite aktualisierte Liste der GGB. Diese Liste enthielt das erweiterte Gebiet bei Lough Corrib.

18.      In der Zwischenzeit hatte An Bord Pleanala (die irische Planungsbehörde) (im Folgenden: Bord), die in Irland zuständige nationale Behörde im Sinne von Art. 6 der Richtlinie, am 20. November 2008 eine Entscheidung über die Erteilung einer Genehmigung für den Bau einer geplanten Straße, die durch einen Teil des Gebiets bei Lough Corrib führen sollte, erlassen (im Folgenden: streitige Entscheidung). Das Straßenbauvorhaben ist unter dem Namen „N6 Galway City Outer Bypass road scheme“ [Projekt N6 einer äußeren Umgehungsstraße für die Stadt Galway] bekannt. Der Teil des Gebiets, durch den die Straße führen soll, gehört zu der oben in Nr. 15 erwähnten erweiterten Fläche von 4 760 Hektar.

19.      Wird das Straßenbauvorhaben fortgeführt, werden 1,47 Hektar Kalk-Felspflaster endgültig verloren sein(7). Dieser Verlust träte in der erweiterten Fläche des Gebiets ein, die 85 der im gesamten Gebiet bei Lough Corrib befindlichen 270 Hektar des Kalk-Felspflasters enthält

20.      Bevor der Bord die streitige Entscheidung traf, hatte er einen sachverständigen Prüfer damit beauftragt, (u. a.) die Umweltverträglichkeit des Straßenbauvorhabens für das Gebiet zu prüfen. Im Rahmen seiner Aufgaben untersuchte er das Gebiet über einen Zeitraum von neun Monaten und führte an insgesamt 21 Tagen eine Anhörung durch, bei der die Beteiligten vertreten waren und sich mündlich und/oder schriftlich äußerten. Auf der Grundlage der Untersuchung und der Angaben und Ausführungen, die in der Anhörung gemacht wurden, erstellte der Prüfer einen Bericht und eine Empfehlung, die er dem Bord vorlegte. In diesem Bericht vertrat er die Auffassung, dass der Verlust „von ungefähr 1,5 Hektar“ Kalk-Felspflaster im Verhältnis zu den 85 Hektar Felspflaster gesehen werden müsse, die in der Erweiterung des ursprünglichen Gebiets bei Lough Corrib enthalten seien – wobei diese Erweiterung ein „eigenständiges Untergebiet“ des gesamten Gebiets darstelle –, und nicht im Zusammenhang mit den 270 Hektar Felspflaster, die insgesamt im Gebiet enthalten seien. Er wies auch darauf hin, dass die Fläche mit Kalk-Felspflaster, die infolge des Straßenbauvorhabens entfallen würde, durch Maßnahmen, die zur Verminderung des Felspflasterverlusts ergriffen worden seien, seiner Ansicht nach „erheblich“ (nämlich von 3,8 auf 1,5 Hektar) verringert worden sei. In Bezug auf den Verlust selbst kam der Prüfer zu dem Ergebnis, dass „dieser verhältnismäßig kleine Verlust mengenmäßig keine Beeinträchtigung des Gebiets als solchem darstellt“. Zu Fragen der Fragmentierung und Störung stellte er fest, dass „durch das Vorhaben die Erreichung der Erhaltungsziele des Gebiets nicht ernsthaft berührt und das Gebiet als solches nicht ernsthaft beeinträchtigt wird“.

21.      Der Prüfer kam zudem zu dem Ergebnis, dass „die Beurteilung schwerwiegender nachteiliger Auswirkungen, die geeignete Abhilfemaßnahmen rechtfertigen würden“ nicht vernunftwidrig gewesen sei. Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass sich der Prüfer bei der Verwendung des Begriffs „schwerwiegende nachteilige Auswirkungen“ in seinem Bericht an die Leitlinien der Irish National Roads Authority (staatliche irische Straßenbaubehörde) gehalten hat. Diese Leitlinien hatten zur Folge, dass eine dauerhafte Auswirkung auf ein Gebiet wie das bei Lough Corrib als „schwerwiegende nachteilige Auswirkung“ angesehen werden musste. Die Verwendung dieses Begriffs ist daher als Verweis auf die Dauerhaftigkeit der Auswirkung zu verstehen.

22.      In der streitigen Entscheidung schloss sich der Bord der vom Prüfer vorgenommenen Bewertung der Umweltauswirkungen des Projekts an. Der Bord kam zu dem Ergebnis, dass das Vorhaben „zwar lokal schwerwiegende Auswirkungen auf [das Gebiet bei] Lough Corrib hat, das [Gebiet] als solches aber nicht beeinträchtigt wird. Das Vorhaben … wird daher keine nicht hinzunehmenden Auswirkungen auf die Umwelt haben und mit den maßgeblichen Planungen und der nachhaltigen Entwicklung der Fläche im Einklang stehen.“

23.      Herr Sweetman focht die streitige Entscheidung beim High Court (Irland) an und machte insbesondere geltend, dass der Bord unzutreffend zu dem Ergebnis gelangt sei, dass das Straßenbauprojekt das Gebiet bei Lough Corrib als solches nicht beeinträchtige. Da dieser Antrag im ersten Rechtszug abgewiesen wurde, legte Herr Sweetman Berufung beim Supreme Court ein, der die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt hat:

1.      Welche rechtlichen Kriterien muss die zuständige Behörde anwenden, wenn sie prüft, ob ein Plan oder Projekt im Sinne von Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie „das Gebiet als solches beeinträchtigt“?

2.      Hat die Anwendung des Vorsorgegrundsatzes zur Folge, dass ein solcher Plan oder ein solches Projekt nicht genehmigungsfähig ist, wenn der Plan oder das Projekt einen dauerhaften nicht rückgängig zu machenden Verlust des gesamten betreffenden Lebensraums oder eines Teils desselben nach sich zieht?

3.      In welchem Verhältnis stehen Art. 6 Abs. 4 und die nach Art. 6 Abs. 3 getroffene Entscheidung, dass der Plan oder das Projekt das Gebiet als solches nicht beeinträchtigt, gegebenenfalls zueinander?

24.      Herr Sweetman, der Bord, der Galway County Council und der Galway City Council (im Folgenden zusammen: Kommunalbehörden), Irland, die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. In der mündlichen Verhandlung vom 12. September 2012 waren Herr Sweetman, der Bord, die Kommunalbehörden, Irland, die Regierungen Griechenlands und des Vereinigten Königreichs sowie die Kommission vertreten und haben vor dem Gerichtshof mündliche Erklärungen abgegeben.

 Würdigung

 Zulässigkeit

25.      Als über das Vorhaben entschieden wurde, war die Erweiterung des Gebiets bei Lough Corrib gemäß Regulation 4 der Verordnung innerhalb Irlands mitgeteilt, aber noch nicht in die Liste der von der Kommission als GGB anerkannten Gebiete aufgenommen worden. Das Vorhaben war somit nach Regulation 30, nicht aber nach Art. 6 Abs. 2, 3 und 4 der Richtlinie geschützt(8). Der Supreme Court war sich dessen – da bin ich mir sicher – bei der Vorlage sehr wohl bewusst. Die Kommunalbehörden sind jedoch der Ansicht, die vorgelegten Fragen beträfen daher ausschließlich die Auslegung nationalen Rechts und fielen nicht unter die Zuständigkeit des Gerichtshofs. Der Gerichtshof müsse daher ihre Beantwortung ablehnen.

26.      Meiner Ansicht nach ist eine derart enge Auslegung des Art. 267 AEUV nicht gerechtfertigt.

27.      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht hervor, dass er für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen in Rechtssachen zuständig ist, die nationale Rechtsvorschriften betreffen, die im Hinblick auf die Umsetzung von EU‑Recht erlassen wurden, selbst wenn der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens als solcher nicht nach EU‑Recht zu entscheiden ist.

28.      Dies ist der Fall, wenn sich die streitigen nationalen Bestimmungen nach den im Unionsrecht getroffenen Regelungen richten sollen, soweit die fraglichen Bestimmungen nach nationalem Recht für unmittelbar und unbedingt anwendbar erklärt worden sind. Die Rechtsvorschriften müssen hinreichend genaue Angaben enthalten, aus denen abgeleitet werden kann, dass der nationale Gesetzgeber auf den Inhalt unionsrechtlicher Bestimmungen verweisen wollte. Der Gerichtshof begründet diese Auslegung des Art. 267 AEUV damit, dass die aus dem EU‑Recht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie anzuwenden sind, einheitlich ausgelegt werden sollen, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern(9).

29.      Das bedeutet nicht, dass der Gerichtshof seine Zuständigkeit in jeder Rechtssache annimmt, in der es um die Anwendung von auf EU‑Recht basierenden nationalen Bestimmungen geht. So hat er etwa im Urteil Kleinwort Benson(10) entschieden, dass ein Vorabentscheidungsersuchen, das keine „unmittelbare und unbedingte Verweisung“ auf Bestimmungen des europäischen Rechts enthält, wodurch dieses Recht in der internen Rechtsordnung anwendbar würde, sondern sich darauf beschränkt, seine Vorschriften als Muster zu nehmen, unzulässig ist. Überdies wurden bestimmte Vorschriften des innerstaatlichen Gesetzes fast wörtlich aus dem europäischen Pendant übernommen, während andere davon abwichen und für die Behörden des betreffenden Mitgliedstaats ausdrücklich die Möglichkeit vorgesehen wurde, Änderungen vorzunehmen, die „eine Divergenz [zum Pendant] … herbeiführen sollen“.

30.      Zwar ist der Anwendungsbereich von Regulation 30 der Verordnung auf Vorschläge für Straßenbauvorhaben beschränkt und damit enger als der von Art. 6 Abs. 3 und 4 der Richtlinie, doch ist klar, dass sie sich in diesem Kontext nach den durch diese Bestimmungen getroffenen Regelungen richten soll. Die Anwendung von Regulation 30 erfolgt sowohl unmittelbar als auch unbedingt. Der Titel der Verordnung lässt erkennen, dass mit ihr die Umsetzung einer europäischen Vorschrift in nationales Recht bezweckt wurde(11).

31.      Vor diesem Hintergrund steht meines Erachtens das Bedürfnis im Vordergrund, künftige Auslegungsunterschiede zwischen Regulation 30 der Verordnung und Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie zu vermeiden. Wurde ein Gebiet in die Liste der von der Kommission als GGB anerkannten Gebiete aufgenommen, ist Regulation 30 bei ihrer Anwendung auf dieses Gebiet selbstverständlich gemäß Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie auszulegen. Ebenso ist Regulation 30, unabhängig davon, ob diese Anerkennung für das fragliche Gebiet (bereits) erfolgt ist, im Einklang mit dem nationalen Recht auszulegen und anzuwenden. Folglich müssen die irischen Gerichte bei der Auslegung von Regulation 30 in einer Rechtssache, in der Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie (noch) nicht anwendbar ist, sicher sein, dass sie diese Auslegung nicht später in einer Rechtssache ändern müssen, in der Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie anwendbar ist(12).

32.      Die Kommunalbehörden machen geltend, es fehle die erforderliche europäische Dimension: Da das Gebiet zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht unter Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie gefallen sei, fehle der Kommission die Zuständigkeit zur Abgabe einer Stellungnahme nach Art. 6 Abs. 4. Ich halte diesen Aspekt für unerheblich. Er macht keineswegs das oben in Nr. 31 erwähnte Erfordernis entbehrlich, Auslegungsunterschiede zu vermeiden. Sollte außerdem (bei zutreffender Auslegung von Regulation 30 im Licht der Richtlinie) das Vorhaben nur über Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie fortgeführt werden können, wäre Irland meines Erachtens verpflichtet, entweder das Gebiet aus der oben in Nr. 16 erwähnten Liste der Gebiete zu streichen (wobei unklar ist, wie dies zu geschehen hätte), oder müsste warten, bis das Gebiet ausgewiesen wurde, und sich dann nach Art. 6 Abs. 4 an die Kommission wenden. Dies ist jedoch nur die logische Folge dessen, dass das nationale Recht vor dem eigentlichen Zeitpunkt, zu dem Natura 2000 eingeführt wurde, auf die Erfordernisse der Richtlinie abgestimmt wurde.

33.      Im Licht der vorstehenden Ausführungen war der Supreme Court meiner Meinung nach durchaus berechtigt, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, und es ist angebracht, dass dieser darüber entscheidet.

 Erste Frage

34.      Mit dieser Frage möchte das nationale Gericht wissen, wie Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie, insbesondere die Wendung „das Gebiet als solches … beeinträchtigt“, auszulegen ist.

35.      Wie der Bord in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, ist diese Rechtssache insoweit ungewöhnlich, als ein Großteil der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs Sachverhalte betrifft, bei denen keine angemessene Prüfung im Sinne dieser Vorschrift stattfand, und sich die Frage stellte, ob eine solche Prüfung erforderlich war(13). Dagegen wurde hier eine Prüfung durchgeführt, und niemand macht geltend, dass dies nicht ordnungsgemäß geschehen sei – tatsächlich deutet alles darauf hin, dass große Sorgfalt aufgewendet wurde(14). Es geht vielmehr um das Ergebnis, zu dem diese Prüfung geführt und auf dessen Grundlage der Bord die streitige Entscheidung erlassen hat.

36.      Obwohl die Frage eine einzelne in Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie verwendete Wendung betrifft, ist diese unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet wird, zu verstehen. Ich werde daher auf die Ziele eingehen, die mit der Richtlinie erreicht werden sollen, und mich danach mit den in Art. 6 als Ganzes festgelegten Verpflichtungen befassen.

 Ziele der Richtlinie

37.      Nach ihrem Art. 2 Abs. 1 hat die Richtlinie zum Ziel, durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen zur Sicherung der Artenvielfalt in der Gemeinschaft beizutragen. Art. 2 Abs. 2 sieht weiter vor, dass aufgrund dieser Richtlinie getroffene Maßnahmen darauf abzielen, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten „von gemeinschaftlichem Interesse“ zu bewahren oder wiederherzustellen.

38.      Der Begriff „Erhaltung“ wird in Art. 1 Buchst. a der Richtlinie definiert als „alle Maßnahmen, die erforderlich sind, um die natürlichen Lebensräume … in einem günstigen Erhaltungszustand … zu erhalten oder diesen wiederherzustellen“. Nach Art. 1 Buchst. e wird der Erhaltungszustand eines natürlichen Lebensraums u. a. als „günstig“ erachtet, wenn sein natürliches Verbreitungsgebiet sowie die Flächen, die er in diesem Gebiet einnimmt, beständig sind oder sich ausdehnen und die für seinen langfristigen Fortbestand notwendige Struktur und spezifischen Funktionen bestehen und in absehbarer Zukunft wahrscheinlich weiter bestehen werden.

39.      Hierfür verlangt Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie die Errichtung eines kohärenten europäischen ökologischen Netzes besonderer Schutzgebiete mit der Bezeichnung „Natura 2000“. Dieses Netz soll u. a. den Fortbestand oder gegebenenfalls die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustands der natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet gewährleisten.

40.      Somit besteht ein wesentliches Ziel der Richtlinie darin, natürliche Lebensräume zu bewahren und gegebenenfalls einen günstigen Erhaltungszustand wiederherzustellen. Ein solches Ziel ist – wie im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie festgehalten wird – im Zusammenhang mit einer anhaltenden Verschlechterung in diesen Lebensräumen und der Notwendigkeit, Maßnahmen zu deren Erhaltung zu ergreifen, erforderlich. Dies gilt erst recht für prioritäre natürliche Lebensraumtypen. Nach Art. 1 Buchst. d der Richtlinie sind dies die „vom Verschwinden bedrohten natürlichen Lebensraumtypen“, wobei der Gemeinschaft für deren Erhaltung „besondere Verantwortung“ zukommt.

 Art. 6 der Richtlinie

41.      Art. 6 der Richtlinie ist vor diesem Hintergrund auszulegen. In Bezug auf natürliche Lebensräume sieht er zum einen vor, dass nötige Erhaltungsmaßnahmen im Zusammenhang mit BSG festgelegt (Art. 6 Abs. 1) und Maßnahmen zur Vermeidung der Verschlechterung dieser Lebensräume (Art. 6 Abs. 2) getroffen werden, und legt zum anderen eine Reihe von Verfahren fest, die bei Plänen und Projekten einzuhalten sind, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebiets in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind (Art. 6 Abs. 3 und 4). Ohne diese Bestimmungen bestünde die Gefahr, dass die Begriffe der Erhaltung oder Wiederherstellung, auf denen die Richtlinie beruht, keine praktische Wirksamkeit hätten.

42.      Von den in Art. 6 der Richtlinie beschriebenen Maßnahmen sind die des Abs. 1, die die Festlegung von Erhaltungsmaßnahmen betreffen, für die erste Frage nicht unmittelbar relevant. Durch diese Maßnahmen soll im Wesentlichen sichergestellt werden, dass mehr oder weniger regelmäßig positive Maßnahmen ergriffen werden, um den Erhaltungszustand des fraglichen Gebiets zu wahren und/oder wiederherzustellen.

43.      Art. 6 Abs. 2, 3 und 4 der Richtlinie dienen einem anderen Zweck. Abs. 2 sieht eine übergreifende Pflicht zur Vermeidung von Verschlechterungen oder Störungen vor. In den Abs. 3 und 4 werden dann die Verfahren festgelegt, die bei Plänen oder Projekten einzuhalten sind, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebiets in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwenig sind (und somit nicht unter Abs. 1 fallen), die dieses Gebiet aber erheblich beeinträchtigen könnten. Somit zielen diese drei Absätze zusammen darauf ab, einer Schädigung des Gebiets vorzubeugen oder (in Ausnahmefällen, wenn ein Schaden aus zwingenden Gründen hinzunehmen ist) diesen Schaden auf ein Mindestmaß zu verringern. Die Absätze sind daher als Ganzes auszulegen.

44.      Nach Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie sind die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet, den bestehenden Zustand zu erhalten(15). Der Gerichtshof hat die Vorschrift als eine Bestimmung beschrieben, die „es erlaubt, dem wesentlichen Ziel der Erhaltung und des Schutzes der Qualität der Umwelt einschließlich des Schutzes der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen zu entsprechen, und eine allgemeine Schutzpflicht festlegt, die darin besteht, Verschlechterungen und Störungen zu vermeiden, die sich im Hinblick auf die Ziele dieser Richtlinie erheblich auswirken könnten“(16). Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie enthält keine absolute Verpflichtung in dem Sinne, dass danach sichergestellt werden müsste, dass am fraglichen Gebiet – gleich zu welcher Zeit – keinerlei Veränderungen vorgenommen werden. Diese Verpflichtung ist vielmehr an den für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungszielen zu messen(17), da das Gebiet derentwegen ausgewiesen worden ist. Daher müssen alle geeigneten Maßnahmen getroffen werden, um eine Gefährdung dieser Ziele zu vermeiden. So wird die Authentizität des Gebiets als natürlicher Lebensraum mit allem, was sich daraus für die biologische Vielfalt der Umwelt ergibt, erhalten. Für gütige Nachsicht besteht kein Raum.

45.      Dagegen befasst sich Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie nicht mit der laufenden Bewirtschaftung des Gebiets. Er findet nur Anwendung, wenn ein Plan oder Projekt nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebiets in Verbindung steht oder hierfür nicht notwendig ist. Er sieht eine zweistufige Prüfung vor. Auf der ersten Stufe ist zu bestimmen, ob der fragliche Plan oder das fragliche Projekt das „Gebiet … erheblich beeinträchtigen [könnte]“.

46.      Ich möchte hier kurz unterbrechen, um festzustellen, dass man zwar möglicherweise beim Wortlaut der englischen Sprachfassung „likely to have [an] effect“(18) unmittelbar an das Erfordernis der Bestimmung eines Wahrscheinlichkeitsgrads denken könnte – d. h., man könnte annehmen, dass er eine unmittelbare und wohlmöglich genaue Bestimmung der Auswirkungen verlangt, die dieser Plan oder dieses Projekt auf das Gebiet haben könnte –, aber die in anderen Sprachfassungen gewählte Wendung ist schwächer. So verwendet etwa die französische Sprachfassung den Begriff „susceptible d’affecter“, in der deutschen Sprachfassung heißt es „beeinträchtigen könnten“, im Niederländischen ist die Rede davon, dass ein Plan oder ein Projekt „gevolgen kan hebben“, während im Spanischen der Ausdruck „pueda afectar“ verwendet wird. Jede dieser Sprachfassungen legt nahe, dass eine niedrigschwellige Prüfung durchgeführt wird und es lediglich um die Frage geht, ob dieser Plan oder dieses Projekt Auswirkungen haben kann. In diesem Sinne ist das englische „likely to“ zu verstehen(19).

47.      Folglich führt die Möglichkeit einer erheblichen Beeinträchtigung des Gebiets dazu, dass es einer Prüfung im Sinne von Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie bedarf(20). Das auf dieser Stufe bestehende Erfordernis, dass der Plan oder das Projekt zu einer erheblichen Beeinträchtigung führen könnte, löst also die Verpflichtung aus, eine Prüfung durchzuführen. Eine solche Beeinträchtigung muss nicht festgestellt werden; wie Irland ausführt, ist es lediglich erforderlich, zu ermitteln, ob es eine solche Beeinträchtigung geben könnte.

48.      Mit dem Erfordernis, dass die fragliche Beeinträchtigung „erheblich“ sein muss, soll eine Geringfügigkeitsschwelle festgelegt werden. Pläne oder Projekte, die das Gebiet nicht nennenswert beeinträchtigen, sind damit ausgeschlossen. Fielen alle Pläne und Projekte, die das Gebiet irgendwie beeinträchtigen könnten, unter Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie, würden Arbeiten in oder nahe dem Gebiet aufgrund einer Überregulierung unmöglich.

49.      Die Schwelle auf der ersten Stufe des Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie ist also besonders niedrig. Sie dient lediglich als Auslöser, um zu ermitteln, ob eine Prüfung der Auswirkungen des Plans oder Projekts auf die Erhaltungsziele des Gebiets durchgeführt werden muss. Zweck dieser Prüfung ist es, den fraglichen Plan oder das fragliche Projekt auf der Grundlage dessen, was der Gerichtshof als die „besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse“ bezeichnet hat, gründlich zu durchdenken(21). Auch Mitglieder der Allgemeinheit dürfen zu einer Stellungnahme aufgefordert werden. Deren Ansichten können aufgrund ihrer das fragliche Gebiet betreffenden Ortskenntnis und anderer relevanter Hintergrundinformationen, die sonst für die mit der Durchführung der Prüfung befassten Stellen nicht verfügbar wären, oft zu wertvollen praktischen Erkenntnissen führen.

50.      Mit dieser sachverständigen Prüfung ist zu ermitteln, ob der fragliche Plan oder das fragliche Projekt „das Gebiet als solches beeinträchtigt“, da die zuständigen nationalen Behörden auf dieser Grundlage entscheiden müssen. Die Schwelle auf dieser (zweiten) Stufe ist merklich höher als die auf der ersten Stufe. Dies liegt daran, dass (vereinfacht ausgedrückt) die Frage nicht lautet „sollen wir uns die Mühe einer Kontrolle überhaupt machen?“ (die Frage auf der ersten Stufe), sondern eher „was wird mit dem Gebiet geschehen, wenn dieser Plan oder dieses Projekt fortgeführt wird; und steht dies im Einklang mit der ‚Wahrung oder Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustands‘ des betroffenen Lebensraums oder der betroffenen Art?“. Im vorliegenden Fall steht außer Streit, dass ein Teil des Lebensraums für immer verloren sein wird, wenn das Straßenbauvorhaben fortgeführt wird. Es fragt sich lediglich, ob das Vorhaben genehmigt werden kann, ohne die Schwelle zu überschreiten und die übrigen Aspekte von Art. 6 Abs. 3 (und erforderlichenfalls von Art. 6 Abs. 4) der Richtlinie ins Spiel zu bringen.

51.      Es ist jedoch klar, dass die auf dieser Stufe von Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie festgelegte Schwelle nicht zu hoch sein darf, weil die Prüfung unter strenger Einhaltung des Vorsorgegrundsatzes durchzuführen ist. Dieser Grundsatz findet Anwendung, wenn das Vorliegen und der Umfang von Gefahren ungewiss sind(22). Die zuständigen nationalen Behörden dürfen einen Plan oder ein Projekt nur dann genehmigen, wenn sie Gewissheit darüber erlangt haben, dass er/es sich nicht nachteilig auf das betreffende Gebiet als solches auswirkt. Bestehen weiterhin Zweifel daran, ob nachteilige Auswirkungen ausbleiben, muss die Genehmigung versagt werden(23).

52.      Wie soll in dieser Wendung die Bezugnahme auf das Gebiet „als solches“ ausgelegt werden?

53.      Auch hier empfiehlt es sich, kurz zu unterbrechen, um auf die voneinander abweichenden Sprachfassungen des Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie aufmerksam zu machen. Die englische Sprachfassung verwendet einen abstrakten Begriff – ein Ansatz, wie er z. B. auch im Französischen (intégrité) und im Italienischen (integrità) zu finden ist. Andere Sprachfassungen sind konkreter. Der deutsche Wortlaut etwa nimmt Bezug auf das Gebiet „als solches“. Die niederländische Fassung spricht von „natuurlijke kennmerken“ (natürliche Eigenschaften) des Gebiets.

54.      Trotz dieser sprachlichen Unterschiede scheint es mir um denselben Aspekt zu gehen. Maßgeblich ist die Wesenseinheit des Gebiets. Anders ausgedrückt: Der Begriff „als solches“ ist als Bezugnahme darauf zu verstehen, dass die grundlegenden Eigenschaften des betreffenden Gebiets durchgängig uneingeschränkt und zuverlässig vorliegen.

55.      Bei der Unversehrtheit, die erhalten werden soll, muss es sich um die „des Gebiets“ handeln. Im Zusammenhang mit einem natürlichen Lebensraum meint dies ein Gebiet, das im Hinblick auf das Erfordernis ausgewiesen wurde, den günstigen Erhaltungszustand des fraglichen Lebensraums zu erhalten (oder wiederherzustellen). Dies wird besonders wichtig, wenn es sich bei dem fraglichen Gebiet, wie im vorliegenden Fall, um einen prioritären natürlichen Lebensraum handelt(24).

56.      Folglich kommt es auf die grundlegenden Eigenschaften des Gebiets, derentwegen es ausgewiesen wurde, und die mit ihnen einhergehenden Erhaltungsziele an. Bei der Ermittlung, ob das Gebiet als solches beeinträchtigt ist, hat sich der Entscheidungsträger im Wesentlichen zu fragen, warum gerade dieses Gebiet ausgewiesen wurde und welches seine Erhaltungsziele sind. In der vorliegenden Rechtssache erfolgte die Ausweisung zumindest auch, weil es in dem Gebiet Kalk-Felspflaster gibt – eine vom Verschwinden bedrohte natürliche Ressource, die nicht mehr ersetzt werden kann, wenn sie erst einmal zerstört ist, und die darum unbedingt geschützt werden muss.

57.      Schließlich muss das Gebiet als solches durch die Auswirkung „beeinträchtigt“ werden. Die auf der zweiten Stufe nach Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie durchzuführende Prüfung kann in bestimmten Fällen ergeben, dass die Auswirkungen, die der Plan oder das Projekt auf das Gebiet hat, neutral oder sogar günstig sind. Sind die Auswirkungen aber nachteilig, kann der Plan oder das Projekt nicht fortgeführt werden – jedenfalls nicht nach dieser Bestimmung.

58.      Was sind nun nachteilige oder „beeinträchtigende“ Auswirkungen? Hier kann es hilfreich sein, zwischen drei Fallgestaltungen zu unterscheiden.

59.      Ein Plan oder Projekt kann einen zeitlich begrenzten Verlust an Lebensqualität zur Folge haben, der vollständig wieder rückgängig gemacht werden kann – mit anderen Worten: Das Gebiet kann binnen kurzer Zeit wieder in seinen eigentlichen Erhaltungszustand zurückversetzt werden. Zu denken ist beispielsweise an einen Graben, der über die Ecke eines Gebiets gegraben wird, um eine unterirdische Rohrleitung zu verlegen. Sofern jede Störung des Gebiets ausgeglichen werden kann, ist (nach meinem Verständnis) das Gebiet als solches nicht beeinträchtigt.

60.      Umgekehrt jedoch sind meines Erachtens Maßnahmen, die zur dauerhaften Zerstörung eines Teils des Lebensraums führen, dessentwegen das Gebiet ausgewiesen wurde, definitionsgemäß als beeinträchtigend einzustufen. Die für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungsziele könnten aufgrund dieser Zerstörung grundlegend – und irreversibel – gefährdet sein. Der diesem Vorabentscheidungsersuchen zugrunde liegende Sachverhalt fällt unter diese Kategorie.

61.      Die dritte Fallgestaltung betrifft Pläne oder Projekte, deren Auswirkungen auf das Gebiet zwischen diesen beiden Extremen liegen. Vor dem Gerichtshof wurde nicht näher erörtert, ob (nicht) davon auszugehen wäre, dass solche Pläne oder Projekte „das Gebiet als solches … [beeinträchtigen]“. Ich halte es für besser, diesen Aspekt offenzulassen und in einer späteren Rechtssache darüber zu entscheiden.

62.      Nehmen wir einmal an, ein Plan oder Projekt überschreitet die Schwelle des Art. 6 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie. Dann ist über eine etwaige Fortführung nach Art. 6 Abs. 4 nachzudenken. Das Eingreifen dieser Bestimmung wird ausgelöst durch „negative Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung“. Diese Wendung ist, damit Art. 6 der Richtlinie als zusammenhängendes Ganzes einen Sinn ergibt, dahin auszulegen, dass Abs. 4 genau da ansetzt, wo Abs. 3 aufhört, also wo der fragliche Plan oder das fragliche Projekt nicht nach Art. 6 Abs. 3 fortgeführt werden kann.

63.      Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie besteht, wie deren Art. 6 Abs. 3, aus zwei Teilen. Der erste Teil gilt für Pläne oder Projekte, die den Anforderungen von Art. 6 Abs. 3 nicht genügen. Der zweite findet nur dann Anwendung, wenn das betreffende Gebiet einen prioritären natürlichen Lebensraum oder eine prioritäre Art einschließt.

64.      Bei dem erstgenannten – allgemeinen – Anforderungskatalog kann der Plan oder das Projekt nur fortgeführt werden, wenn zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses gegeben sind und eine Alternativlösung nicht vorhanden ist(25). Zudem hat der betreffende Mitgliedstaat alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die globale Kohärenz von Natura 2000 geschützt ist. Die Kommission muss zwar über die ergriffenen Ausgleichsmaßnahmen unterrichtet werden, ist aber als solche nicht am Verfahren beteiligt. Mit anderen Worten: Die Rechtsvorschrift erkennt an, dass es außergewöhnliche Umstände geben kann, unter denen ein Schaden oder eine Zerstörung eines geschützten natürlichen Lebensraums erforderlich sein kann; wird jedoch ein solcher Schaden oder eine solche Zerstörung dauerhaft zugelassen, drängt sie auf einen vollständigen Ausgleich der Folgen für die Umwelt(26). Somit bleibt der bestehende Zustand oder was den Umständen entsprechend als diesem möglichst nahekommend erreicht werden kann, erhalten.

65.      Der zweite Teil ist enger. Die Gründe, aus denen ein Plan oder Projekt fortgeführt werden kann, sind enger gefasst, und es kann erforderlich sein, dass die zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats für die Fortführung des Verfahrens eine Stellungnahme der Kommission einholen(27).

66.      Zwar sind die Anforderungen des Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie bewusst strenger, aber es ist darauf hinzuweisen, dass sie keine unüberwindbaren Hindernisse für eine Genehmigung darstellen. Die Kommission hat in der mündlichen Verhandlung betont, dass von den bisher bei ihr eingegangen 15 bis 20 Anträgen auf Abgabe einer Stellungnahme nach dieser Bestimmung nur in einer Stellungnahme negativ entschieden worden sei.

67.      In diesem Gesamtzusammenhang scheint mir eine Auslegung von Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie, die zu einem geringeren Schutzniveau als dem in Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie vorgesehenen führt, falsch zu sein. Es wäre mit dem von Art. 6 geschaffenen Zusammenhang unvereinbar, bei der Durchführung eines Plans oder Projekts nach Art. 6 Abs. 4 vom Mitgliedstaat zu verlangen, dass er „alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen [ergreift]“, um sicherzustellen, dass die globale Kohärenz von Natura 2000 geschützt ist, und dem Mitgliedstaat gleichzeitig die Fortführung unbedeutenderer Projekte nach Art. 6 Abs. 3 zu erlauben, obwohl sie dauerhafte oder lang anhaltende Schäden oder Zerstörungen zur Folge haben können. Durch eine solche Auslegung würde auch das von der Kommission als „Tod durch 1 000 Schnitte“ bezeichnete Phänomen nicht verhindert, d. h. ein kumulativer Verlust des Lebensraums infolge einer Vielzahl oder zumindest einer Reihe niedrigschwelliger Projekte, deren Fortführung im selben Gebiet genehmigt wird(28).

68.      Die vorstehende Beurteilung folgt im Wesentlichen der Argumentation von Herrn Sweetman, Irlands und der Kommission. Der Bord, die Kommunalbehörden und das Vereinigte Königreich verfolgen einen anderen Ansatz, der sich eng am Wortlaut von Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie orientiert. Insbesondere betonen sie den zweistufigen Prozess gemäß dieser Bestimmung. Jede Stufe sei eigenständig und müsse dahin verstanden werden, dass sie eine eigenständige Bedeutung habe und einen eigenen Zweck verfolge.

69.      Ich möchte diesen anderen Ansatz wie folgt zusammenfassen.

70.      Bei der Auslegung von Art. 6 der Richtlinie sind Abs. 1 und 2 auf der einen und Abs. 3 und 4 auf der anderen Seite voneinander abzugrenzen. Erstere betreffen die laufende Bewirtschaftung des Gebiets. Letztere befassen sich dagegen mit Plänen und Projekten, die nicht mit der Verwaltung des Gebiets in Verbindung stehen. Sie können daher als Ausnahmen zu den Abs. 1 und 2 gesehen werden. Bei der Beurteilung eines solchen Plans oder Projekts ist zunächst zu überlegen, ob er das Gebiet erheblich beeinträchtigen kann. Das Wort „kann“ würde in diesem Kontext dahin ausgelegt, dass es eine Wahrscheinlichkeitsprüfung einschließt (wenn auch auf der Grundlage des Vorsorgegrundsatzes – das scheint mir nicht streitig zu sein). Ein Plan oder Projekt, bei dem keine erhebliche Beeinträchtigung angenommen werde, könnte fortgeführt werden, ohne dass es einer Verträglichkeitsprüfung bedürfte.

71.      Umgekehrt wäre eine Prüfung erforderlich, wenn eine erhebliche Beeinträchtigung vorhergesagt würde. Bei der Erledigung dieser Aufgabe, also bei der Ermittlung, ob ein Plan oder Projekt „das Gebiet als solches beeinträchtigt“, wäre zu bedenken, dass dieser Ausdruck mehr als „das Gebiet beeinträchtigen“ bedeuten muss. Ebenso muss „erheblich beeinträchtigen“ mehr bedeuten als „beeinträchtigen“, da sonst der Unterschied zwischen der Stufe, auf der eine Prüfung durchzuführen ist, und der Stufe, auf der die Genehmigung zu versagen ist, aufgehoben würde.

72.      Auf dieser Grundlage trägt der Bord vor, die Entscheidung über die Genehmigung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Straßenbauvorhabens sei ordnungsgemäß erlassen worden.

73.      Die Ausführungen der Parteien, die entsprechend dem eben beschriebenen Ansatz argumentieren, sind gut herausgearbeitet. Sie sollten sicher nicht abgetan werden.

74.      Ich halte diesen Ansatz jedoch für falsch. Insbesondere konzentriert er sich auf den isoliert betrachteten Wortlaut von Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie und berücksichtigt nicht den weiter gehenden Zusammenhang, in dem diese Vorschrift zu sehen ist. Dadurch begründet er ein inhärentes und unauflösbares Spannungsverhältnis, weil die Fortführung bestimmter Projekte nach Art. 6 Abs. 3 genehmigt würde, während die unter Art. 6 Abs. 4 fallenden Projekte nur fortgeführt werden dürften, wenn Maßnahmen zum vollständigen Ausgleich ergriffen werden. Außerdem setzt sich dieser Ansatz in keiner Weise mit dem Argument des „Todes durch 1 000 Schnitte“ auseinander.

75.      Dieses Vorbringen kann auch nicht mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Urteil Waddenvereniging und Vogelbeschermingsvereniging(29) in Einklang gebracht werden. Der Gerichtshof wollte bei seiner Feststellung in Randnr. 35, dass durch Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie eine gleichzeitige Anwendung der allgemeinen Schutznorm des Art. 6 Abs. 2 überflüssig werde, nicht auf die Unterschiede zwischen diesen Vorschriften hinweisen. Vielmehr wollte er ihre Ähnlichkeit betonen. Aus diesem Gedanken heraus stellte er in Randnr. 36 weiter fest, dass „die nach Artikel 6 Absatz 3 der [R]ichtlinie erteilte Genehmigung eines Planes oder Projektes … notwendigerweise voraus[setzt], dass befunden worden ist, dass der Plan oder das Projekt das betreffende Gebiet als solches nicht beeinträchtigt und daher auch nicht geeignet ist, Verschlechterungen oder erhebliche Störungen im Sinne von Artikel 6 Absatz 2 hervorzurufen“. Aus dem gleichen Grund stellte der Gerichtshof im Urteil Kommission/Spanien fest, dass Art. 6 Abs. 2 und 3 der Richtlinie „dasselbe Schutzniveau gewährleisten sollen“(30).

76.      Nach alledem sollte die erste Frage dahin beantwortet werden, dass für die Feststellung, ob ein Plan oder Projekt, auf den/das Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie Anwendung findet, ein Gebiet als solches beeinträchtigt, zu ermitteln ist, ob dieser Plan oder dieses Projekt sich nachteilig auf die grundlegenden Bestandteile des betreffenden Gebiets auswirkt, wobei die Gründe für die Ausweisung des Gebiets und die mit ihnen einhergehenden Erhaltungsziele zu berücksichtigen sind. Um als „beeinträchtigend“ zu gelten, muss die fragliche Auswirkung dauerhaft oder lang anhaltend sein. Bei dieser Ermittlung ist der Vorsorgegrundsatz anzuwenden.

 Zweite Frage

77.      Mit dieser Frage möchte das nationale Gericht wissen, ob nach dem Vorsorgegrundsatz die Genehmigung eines Plans oder Projekts versagt werden muss, wenn er/es einen dauerhaften, nicht rückgängig zu machenden Verlust des gesamten betreffenden natürlichen Lebensraums oder eines Teils desselben nach sich zöge. Wie sich implizit aus der Frage ergibt, kann der betreffende Grundsatz bei der von den nationalen Behörden nach Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie vorzunehmenden Prüfung eine gesonderte Rolle spielen. Das Gericht geht demnach davon aus, dass, wird dieser Grundsatz nicht herangezogen, ein anderes Ergebnis erzielt werden kann, als wenn er angewandt wird.

78.      Ich habe die Anwendung des Vorsorgegrundsatzes oben in Nr. 51 beschrieben. Wie die Kommunalbehörden ausgeführt haben, handelt es sich dabei insoweit um einen Verfahrensgrundsatz, als er den vom Entscheidungsträger zu wählenden Ansatz beschreibt und kein bestimmtes Ergebnis verlangt.

79.      Der Gerichtshof hat im Urteil Waddenvereniging und Vogelbeschermingsvereniging festgestellt, dass Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie den Vorsorgegrundsatz einschließe(31). Wie das Vereinigte Königreich ausgeführt hat, folgt daraus, dass es im Aufbau dieses Artikels keine Auslegungslücke gibt, die durch die Anwendung dieses Grundsatzes zu füllen wäre. Außerdem fällt somit die Tatsache, dass der Grundsatz für die Feststellung maßgeblich ist, ob eine zuständige Behörde eine Beeinträchtigung eines Gebiets als solches ausschließen kann, nicht unter die Vorfrage, was diese Prüfung bedeutet.

80.      Daher ist die Beantwortung der zweiten Frage nicht erforderlich.

 Dritte Frage

81.      Mit dieser Frage möchte das nationale Gericht wissen, in welchem Verhältnis Art. 6 Abs. 3 zu Art. 6 Abs. 4 steht.

82.      Auf dieses Verhältnis bin ich oben eingegangen(32) und habe dem nichts hinzuzufügen.

 Ergebnis

83.      Aufgrund vorstehender Überlegungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom nationalen Gericht vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

Für die Feststellung, ob ein Plan oder Projekt, auf den/das Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen Anwendung findet, ein Gebiet als solches beeinträchtigt, ist zu ermitteln, ob dieser Plan oder dieses Projekt sich nachteilig auf die grundlegenden Bestandteile des betreffenden Gebiets auswirkt, wobei die Gründe für die Ausweisung des Gebiets und die mit ihnen einhergehenden Erhaltungsziele zu berücksichtigen sind. Um als „beeinträchtigend“ zu gelten, muss die fragliche Auswirkung dauerhaft oder lang anhaltend sein. Bei dieser Ermittlung ist der Vorsorgegrundsatz anzuwenden.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 –      Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. L 206, S. 7).


3–      Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. L 175, S. 40).


4–      Entscheidung 2004/813/EG der Kommission vom 7. Dezember 2004 gemäß der Richtlinie 92/43/EWG des Rates zur Verabschiedung der Liste von Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung in der atlantischen biogeografischen Region (ABl. L 387, S. 1).


5–      Entscheidung 2008/23/EG der Kommission vom 12. November 2007 gemäß der Richtlinie 92/43/EWG des Rates zur Verabschiedung einer ersten aktualisierten Liste von Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung in der atlantischen biogeografischen Region (ABl. 2008, L 12, S. 1).


6–      Entscheidung 2009/96/EG der Kommission vom 12. Dezember 2008 gemäß der Richtlinie 92/43/EWG des Rates zur Verabschiedung einer zweiten aktualisierten Liste von Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung in der atlantischen biogeografischen Region (ABl. 2009, L 43, S. 466).


7 – Die Kommission macht geltend, dass diese Zahl ungenau sei und eine zu geringe dem Vorhaben zum Opfer fallende Fläche Kalk-Felspflaster angebe. Dieser Aspekt wird jedoch weder ausdrücklich noch stillschweigend in der Vorlageentscheidung angesprochen. Soweit dieser Aspekt eine Tatsachenfrage betrifft, kann sich der Gerichtshof nicht mit ihr befassen. Soweit das Vorbringen der Kommission zu diesem Aspekt Auslegungs- und somit Rechtsfragen aufwirft, fallen diese weder in den Rahmen der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen, noch bedarf es ihrer Beantwortung, um sich mit diesen Fragen zu befassen. Daher werde ich nicht weiter auf sie eingehen.


8 – Die streitige Entscheidung erging am 20. November 2008. Die Entscheidung der Kommission, das erweiterte Gebiet in die aktualisierte Liste der GGB aufzunehmen, wurde am 12. Dezember 2008, also rund drei Wochen nach der streitigen Entscheidung, getroffen.


9 – Vgl. insoweit grundsätzlich Urteil vom 21. Dezember 2011, Cicala (C‑482/10, Slg. 2011, I‑14139, Randnrn. 17 bis 19).


10–      Urteil vom 28. März 1995, Kleinwort Benson (C‑346/93, Slg. 1995, I‑615, Randnr. 16).


11 – Vgl. insoweit Urteil vom 22. Dezember 2008, Les Vergers du Vieux Tauves (C‑48/07, Slg. 2008, I‑10627, Randnr. 22).


12 – Was jetzt für das erweiterte Gebiet bei Lough Corrib tatsächlich der Fall ist.


13–      Vgl. etwa Urteile vom 4. Oktober 2007, Kommission/Italien (C‑179/06, Slg. 2007, I‑8131), vom 4. März 2010, Kommission/Frankreich (C‑241/08, Slg. 2010, I‑1697), vom 14. Januar 2010, Stadt Papenburg (C‑226/08, Slg. 2010, I‑131), und vom 16. Februar 2012, Solvay u. a. (C‑182/10).


14–      Vgl. oben, Nrn. 20 bis 22.


15 – Vgl. u. a. Urteile vom 7. September 2004, Waddenvereniging und Vogelbeschermingsvereniging (C‑127/02, Slg. 2004, I‑7405, Randnr. 32), vom 14. Oktober 2010, Kommission/Österreich (C‑535/07, Slg. 2010, I‑9483, Randnr. 58), und vom 24. November 2011, Kommission/Spanien (C‑404/09, Slg. 2011, I‑11853, Randnr. 127).


16–      Siehe Urteil Stadt Papenburg, oben in Fn. 13 angeführt (Randnr. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).


17 – Vgl. insoweit Urteil Waddenvereniging und Vogelbeschermingsvereniging, oben in Fn. 15 angeführt (Randnr. 46).


18 – Als die Richtlinie im Mai 1992 erlassen wurde, hatte die Europäische Gemeinschaft folgende Amtssprachen: Dänisch, Deutsch, Griechisch, Englisch, Spanisch, Französisch, Italienisch, Niederländisch und Portugiesisch. Der Wortlaut der Richtlinie ist somit in jeder dieser Sprachversionen verbindlich.


19 – Vgl. Urteil vom 1. April 2004, Borgmann (C‑1/02, Slg. 2004, I‑3219), zu dem Erfordernis, eine Vorschrift nach dem Zusammenhang und dem Zweck der Regelung auszulegen, zu der sie gehört, wenn die verschiedenen Sprachfassungen einer EU-Vorschrift voneinander abweichen (Randnr. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. in Bezug auf die Schwierigkeiten, zu denen unterschiedliche Sprachfassungen führen können, auch meine Schlussanträge vom 6. März 2008, Emirates Airlines (C‑173/07, Slg. 2008, I‑5237).


20 – Ein Beispiel dafür, zu welcher Art von Verwirrung diese schlecht formulierte Vorschrift führen kann, liefert meines Erachtens das Urteil Waddenvereniging und Vogelbeschermingsvereniging, oben in Fn. 15 angeführt. In Randnr. 41 spricht der Gerichtshof davon, dass bei der „bloßen Wahrscheinlichkeit“ von erheblichen Auswirkungen eine Prüfung erforderlich sei. In Randnr. 43 nimmt er Bezug darauf, dass „die Wahrscheinlichkeit oder die Gefahr“ solcher Auswirkungen bestehe. In Randnr. 44 verwendet er den Ausdruck „bei Zweifeln“. Diese letztgenannte Wendung scheint mir die Lage am besten zum Ausdruck zu bringen.


21–      Urteil Waddenvereniging und Vogelbeschermingsvereniging, oben in Fn. 15 angeführt (Randnr. 54).


22–      Urteil vom 5. Mai 1998, National Farmers’ Union u. a. (C‑157/96, Slg. 1998, I‑2211, Randnr. 63).


23 – Vgl. insoweit Urteil Waddenvereniging und Vogelbeschermingsvereniging, oben in Fn. 15 angeführt (Randnrn. 56 bis 59).


24–      Vgl. insoweit oben, Nr. 40.


25–      Vgl. insoweit Urteil Solvay u. a., oben in Fn. 13 angeführt (Randnrn. 71 ff.).


26 – Vgl. für ein Beispiel von Maßnahmen, die keine geeigneten Ausgleichsmaßnahmen darstellen, Nr. 29 meiner Schlussanträge vom 3. Mai 2007, Kommission/Italien (C‑388/05, Slg. 2007, I‑7555). Ich lasse die grundsätzliche Frage offen, wie festzustellen ist, was gegebenenfalls geeignete Ausgleichsmaßnahmen sind.


27 – Die Rechtsvorschrift nimmt Bezug auf die Entscheidung, die die Kommission im Wege einer Stellungnahme statt eines Beschlusses trifft. Die Entscheidung ist daher für die Beteiligten nicht unmittelbar verbindlich. Es steht der Kommission dennoch frei, Durchsetzungsmaßnahmen gegen einen Mitgliedstaat zu ergreifen, der ihrer Stellungnahme zuwiderhandelt oder anderen eine solche Zuwiderhandlung ermöglicht. Auch kann sich ein geschädigter Dritter mit einem entsprechenden Antrag an ein nationales Gericht wenden.


28 – Die Erörterung in der mündlichen Verhandlung betraf z. T. die Frage, ob dieses Phänomen eine Rolle spielt, wenn nach Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie ermittelt wird, ob „das Gebiet als solches beeinträchtigt wird“. Meines Erachtens darf es in diesem Zusammenhang keine Rolle spielen. Die hierfür maßgeblichen Kriterien sind oben in den Nrn. 50 bis 60 dargelegt. Weitere Ausführungen sind nicht erforderlich.


29–      Oben in Fn. 15 angeführt. Stellt sich bei einem Plan oder Projekt später heraus, dass er/es zu Verschlechterungen oder Störungen führen kann, obwohl kein von den zuständigen nationalen Behörden zu vertretender Fehler vorliegt, ist Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie anzuwenden, um sicherzustellen, dass die Unversehrtheit des Gebiets wiederhergestellt wird (vgl. insoweit Randnr. 37 des Urteils).


30–      Oben in Fn. 15 angeführt (Randnr. 142).


31–      Oben in Fn. 15 angeführt (Randnr. 58).


32–      Vgl. Nrn. 62 ff.