Language of document : ECLI:EU:T:2023:828

Rechtssache T233/22

Ekaterina Islentyeva

gegen

Rat der Europäischen Union

 Urteil des Gerichts (Erste erweiterte Kammer) vom 20. Dezember 2023

„Nichtigkeitsklage – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren – Verbot für nicht in Russland registrierte Luftfahrzeuge, die sich im Eigentum russischer natürlicher oder juristischer Personen, Organisationen oder Einrichtungen befinden oder von diesen gechartert werden oder anderweitig unter deren Kontrolle stehen, im Hoheitsgebiet der Union zu landen, vom Hoheitsgebiet der Union zu starten oder das Hoheitsgebiet der Union zu überfliegen – Art. 4e des Beschlusses 2014/512/GASP – Unzuständigkeit des Gerichts – Art. 3d der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 – Fehlende Klagebefugnis – Unzulässigkeit“

1.      Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine – Beschluss, der die Schließung des Luftraums der Union für bestimmte Luftfahrzeugkategorien beinhaltet – Gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit – Umfang – Art. 4e des Beschlusses 2014/512/GASP – Maßnahmen mit allgemeiner Geltung – Ausschluss

(Art. 275 Abs. 2 AEUV; Beschluss 2014/512/GASP des Rates, Art. 4e)

(vgl. Rn. 20-24, 26-28, 30)

2.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen und sie unmittelbar betreffen – Unmittelbare Betroffenheit – Kriterien – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine – Rechtsakt, der nicht in Russland registrierten Luftfahrzeugen, die sich im Eigentum russischer natürlicher oder juristischer Personen, Organisationen oder Einrichtungen befinden oder von diesen gechartert werden oder anderweitig unter deren Kontrolle stehen, verbietet, im Hoheitsgebiet der Union zu landen, vom Hoheitsgebiet der Union zu starten oder das Hoheitsgebiet der Union zu überfliegen – Klage eines russischen Staatsbürgers, der Inhaber einer privaten Pilotenlizenz ist und keine wirtschaftliche oder finanzielle Kontrolle über ein nicht in Russland registriertes Luftfahrzeug hat – Unzulässigkeit

(Art. 263 Abs. 4 AEUV; Verordnung Nr. 833/2014 des Rates, Art. 3d Abs. 1)

(vgl. Rn. 39, 42-48, 50-54)

Zusammenfassung

Die Klägerin, die sowohl die luxemburgische als auch die russische Staatsangehörigkeit besitzt, ist Inhaberin einer von der Direction de l’aviation civile du Grand-Duché de Luxembourg (Direktion für zivile Luftfahrt im Großherzogtum Luxemburg, im Folgenden: DAC) ausgestellten privaten Pilotenlizenz. Für ihre Flüge im Hoheitsgebiet der Europäischen Union nutzte sie Luftfahrzeuge, die einem luxemburgischen Verein mit Sitz am Flughafen Luxemburg-Findel (Luxemburg) gehörten.

Infolge des Angriffs der Russischen Föderation auf die Ukraine zu Beginn des Jahres 2022 erließ die Union angesichts dieser Lage eine Reihe restriktiver Maßnahmen, darunter den Beschluss 2022/335(1) (im Folgenden: angefochtener Beschluss) und die Verordnung 2022/334(2) (im Folgenden: angefochtene Verordnung).

Diese Rechtsakte zielen darauf ab, Luftfahrzeugen, die von russischen Luftfahrtunternehmen betrieben werden, in Russland registrierten Luftfahrzeugen und nicht in Russland registrierten Luftfahrzeugen, die sich im Eigentum russischer natürlicher oder juristischer Personen, Organisationen oder Einrichtungen befinden oder von diesen gechartert werden oder anderweitig unter deren Kontrolle stehen, die Erlaubnis zu verweigern, im Hoheitsgebiet der Union zu landen, vom Hoheitsgebiet der Union zu starten, oder das Hoheitsgebiet der Union zu überfliegen(3).

Die Europäische Kommission und die Europäische Agentur für Flugsicherheit präzisierten in der Folge, dass sich das mit diesen Rechtsakten eingeführte Verbot gegen privat fliegende Personen mit russischer Staatsangehörigkeit richte, sofern diese Personen das Flugzeug als Pilot kontrollierten. Die DAC stellte zudem klar, dass der in diesen Rechtsakten verwendete Ausdruck „Kontrolle“ weit auszulegen sei, was die tatsächliche und materielle Kontrolle über ein Luftfahrzeug einschließe und sich nicht auf die wirtschaftliche und finanzielle Kontrolle beschränke.

Da sich die Klägerin durch diese Rechtsakte beschwert fühlt, hat sie Klage erhoben und beantragt zum einen die Nichtigerklärung der angefochtenen Verordnung, soweit mit ihr Art. 3d der Verordnung Nr. 833/2014 eingefügt wird, und die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses, soweit mit ihm Art. 4e des Beschlusses 2014/512 eingefügt wird, sowie zum anderen die Zuerkennung des Rechts, ihre private Pilotenlizenz zu nutzen und im Hoheitsgebiet der Union zu landen, vom Hoheitsgebiet der Union zu starten oder das Hoheitsgebiet der Union zu überfliegen.

Mit seinem Urteil stellt das Gericht fest, dass das in Rede stehende Verbot nicht für die „Kontrolle“ eines Flugzeugs durch eine Person mit russischer Staatsangehörigkeit als Pilot gilt, wie die Klägerin geltend gemacht hat. Eine solche Auslegung hat zur Folge, dass die Klägerin nicht befugt ist, eine Klage gegen die angefochtene Verordnung zu erheben, und der Antrag auf Nichtigerklärung dieser Verordnung daher als unzulässig zurückgewiesen wird. Die übrigen Anträge der Klägerin werden wegen Unzuständigkeit des Gerichts zurückgewiesen.

Würdigung durch das Gericht

Als Erstes erklärt sich das Gericht für unzuständig, über den Antrag zu entscheiden, der darauf gerichtet ist, der Klägerin das Recht zuzuerkennen, ihre private Pilotenlizenz zu nutzen und im Hoheitsgebiet der Union zu landen, vom Hoheitsgebiet der Union zu starten oder das Hoheitsgebiet der Union zu überfliegen, da das Gericht im Rahmen der Rechtmäßigkeitskontrolle nach Art. 263 AEUV nicht befugt ist, Feststellungs- oder Bestätigungsurteile zu fällen.

Als Zweites erklärt sich das Gericht auch für unzuständig, über den Antrag auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zu entscheiden, da gemäß Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 2 letzter Satz EUV in Verbindung mit Art. 275 Abs. 2 AEUV und nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs(4) bei Rechtsakten, die auf der Grundlage von Bestimmungen über die GASP erlassen wurden, ihr einzelfallbezogener Charakter den Zugang zu den Unionsgerichten eröffnet.

Im vorliegenden Fall betreffen die in Art. 4e des Beschlusses 2014/512 aufgestellten Verbote jedoch Luftfahrzeuge, die von russischen Luftfahrtunternehmen betrieben werden, in Russland registrierte Luftfahrzeuge und solche, die nicht in Russland registriert sind und sich im Eigentum russischer natürlicher oder juristischer Personen, Organisationen oder Einrichtungen befinden oder von diesen gechartert werden oder anderweitig unter deren Kontrolle stehen. Diese Maßnahmen gelten somit für alle Luftfahrzeuge, die diese objektiven Kriterien erfüllen, und stellen daher keine restriktiven Maßnahmen gegenüber bestimmten natürlichen oder juristischen Personen im Sinne von Art. 275 Abs. 2 AEUV, sondern Maßnahmen mit allgemeiner Geltung dar. Unter diesen Umständen ist das Gericht für die Prüfung ihrer Gültigkeit nicht zuständig.

Als Drittes erklärt das Gericht die Klage für unzulässig, soweit sie auf die Nichtigerklärung der angefochtenen Verordnung gerichtet ist, da die Klägerin nicht befugt ist, eine Klage auf Nichtigerklärung dieses Rechtsakts zu erheben.

Nach Art. 263 Abs. 4 AEUV muss nämlich eine natürliche Person, um gegen eine Maßnahme Klage erheben zu können, von dieser unmittelbar betroffen sein, wobei diese Voraussetzung u. a. verlangt, dass sich die beanstandete Maßnahme unmittelbar auf die Rechtsstellung dieser Person auswirkt.

Im vorliegenden Fall hat das Gericht für die Feststellung, ob die Klägerin unmittelbar von den in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen betroffen ist, eine Auslegung des Begriffs „anderweitige Kontrolle“ eines Luftfahrzeugs vorgenommen – der den Anwendungsbereich von Art. 3d Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2014 teilweise bestimmt – indem es der in der Rechtsprechung vorgesehenen Auslegungsmethode gefolgt ist(5).

Insoweit ist – auch wenn die wörtliche Auslegung dieses Begriffs zu der Annahme führen kann, dass er eine „technische oder betriebliche“ Kontrolle umfasst, so dass das Verbot Luftfahrzeuge betreffen könnte, die von einer natürlichen Person mit russischer Staatsangehörigkeit geführt werden – nach einer systematischen und teleologischen Auslegung dieses Begriffs davon auszugehen, dass er nur eine wirtschaftliche oder finanzielle Kontrolle meint.

Zum einen fügt sich nämlich der Begriff „anderweitige Kontrolle“ eines Luftfahrzeugs in den wirtschaftlichen und finanziellen Kontext des Erlasses der in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen ein. Erstens ändert die angefochtene Verordnung die Verordnung Nr. 833/2014, die sektorspezifische restriktive Maßnahmen wirtschaftlicher Art vorsieht. Zweitens ist der Ausdruck „anderweitig unter Kontrolle stehen“ im Anschluss an die Wendungen „im Eigentum befinden“ und „gechartert werden“ aufgeführt, bei denen es sich um Wendungen handelt, die aus wirtschaftlicher oder finanzieller Sicht relevante Begriffe benennen. Drittens wird der Begriff „Kontrolle“ im Rahmen anderer Bestimmungen der Verordnung Nr. 833/2014 in einem wirtschaftlichen oder finanziellen Sinne verwendet.

Zum anderen besteht das mit der angefochtenen Verordnung verfolgte Ziel insbesondere darin, größtmöglichen Druck auf die russischen Behörden auszuüben, damit sie ihre Aktionen gegen die Ukraine beenden. Die Beschränkungen gegen nicht in Russland registrierte Flugzeuge, die sich im Eigentum befinden, gechartert werden oder anderweitig wirtschaftlich oder finanziell unter Kontrolle stehen, beeinträchtigen die russische Luftfahrtindustrie wirtschaftlich und tragen somit zur Erreichung dieses Ziels bei.

Im Übrigen ist zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit davon auszugehen, dass ein Verbot der Landung im Hoheitsgebiet der Union, des Starts vom Hoheitsgebiet der Union oder ein Überflug des Hoheitsgebiets der Union für Luftfahrzeuge, die „technisch oder betrieblich“ von einem russischen Staatsbürger kontrolliert werden, soweit dieses Verbot auch russische Staatsbürger umfasst, die im Besitz einer privaten Pilotenlizenz sind, offensichtlich ungeeignet hinsichtlich des Ziels wäre, einen solchen Druck auf die russischen Behörden auszuüben.

Daher betrifft der Begriff des nicht in Russland registrierten Luftfahrzeugs, das „anderweitig unter der Kontrolle“ einer russischen natürlichen oder juristischen Person steht, nur alle nicht in Russland registrierten Luftfahrzeuge, die von einer solchen Person aus wirtschaftlicher oder finanzieller Sicht kontrolliert werden.

Da sich die Klägerin des Ausgangsverfahrens nicht in dieser Situation befindet, ist sie von dem Verbot in Art. 3d der Verordnung Nr. 833/2014 in geänderter Fassung nicht unmittelbar betroffen.


1      Beschluss (GASP) 2022/335 des Rates vom 28. Februar 2022 zur Änderung des Beschlusses 2014/512/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl. 2022, L 57, S. 4).


2      Verordnung (EU) 2022/334 des Rates vom 28. Februar 2022 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl. 2022, L 57, S. 1).


3      So heißt es namentlich in Art. 1 Nr. 2 des Beschlusses (GASP) 2022/335, mit dem Art. 4e des Beschlusses 2014/512/GASP des Rates vom 31. Juli 2014 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl. 2014, L 229, S. 13) eingefügt wurde, und in Art. 1 Nr. 2 der Verordnung (EU) 2022/334, mit dem Art. 3d der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 des Rates vom 31. Juli 2014 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl. 2014, L 229, S. 1) eingefügt wurde.


4      Urteil vom 28. März 2017, Rosneft (C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 103).


5      Nach der Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. Urteil vom 10. Juli 2014, D. und G., C‑358/13 und C‑181/14, EU:C:2014:2060, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).