Language of document : ECLI:EU:C:2021:592

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PRIIT PIKAMÄE

vom 14. Juli 2021(1)((i))

Rechtssache C262/21 PPU

A

gegen

B

(Vorabentscheidungsersuchen des Korkein oikeus [Oberster Gerichtshof, Finnland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Sachlicher Anwendungsbereich – Begriff ‚Zivilsachen‘ – Von einem Elternteil im Namen des minderjährigen Kindes gestellter Antrag auf internationalen Schutz – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Entscheidung über die Überstellung des minderjährigen Kindes in den für die Prüfung des Antrags zuständigen Mitgliedstaat – Antrag auf Rückgabe – Widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes – Art. 2 Nr. 11 – Einstufung – Haager Übereinkommen von 1980 – Gewöhnlicher Aufenthalt – Schaffung von Tatsachen“






I.      Einleitung

1.        Kann eine Entscheidung über die Überstellung eines minderjährigen Kindes, die in Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013(2) im Anschluss an einen von einem Elternteil im Namen dieses Kindes ohne Zustimmung des anderen Elternteils gestellten Antrag auf internationalen Schutz ergangen ist, in den sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003(3) fallen und, wenn ja, kann darin eine internationale Kindesentführung gesehen werden?

2.        Dies ist eine der Fragen, die sich in der vorliegenden Rechtssache stellen, deren Besonderheit darin besteht, dass sie das Verhältnis zwischen zwei Instrumenten des Unionsrechts mit anscheinend ganz verschiedenem Gegenstand und ganz verschiedenen Zielen betrifft; darüber hat der Gerichtshof erstmals zu entscheiden.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980

3.        Art. 3 des Haager Übereinkommens vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980) bestimmt:

„Das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gilt als widerrechtlich, wenn

a)      dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und

b)      dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.

Das unter Buchstabe a genannte Sorgerecht kann insbesondere kraft Gesetzes, aufgrund einer gerichtlichen oder behördlichen Entscheidung oder aufgrund einer nach dem Recht des betreffenden Staates wirksamen Vereinbarung bestehen.“

4.        Art. 12 des Übereinkommens sieht vor:

„Ist ein Kind im Sinn des Artikels 3 widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden und ist bei Eingang des Antrags bei dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde des Vertragsstaats, in dem sich das Kind befindet, eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten verstrichen, so ordnet das zuständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde die sofortige Rückgabe des Kindes an.

Ist der Antrag erst nach Ablauf der in Absatz 1 bezeichneten Jahresfrist eingegangen, so ordnet das Gericht oder die Verwaltungsbehörde die Rückgabe des Kindes ebenfalls an, sofern nicht erwiesen ist, dass das Kind sich in seine neue Umgebung eingelebt hat.

Hat das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates Grund zu der Annahme, dass das Kind in einen anderen Staat verbracht worden ist, so kann das Verfahren ausgesetzt oder der Antrag auf Rückgabe des Kindes abgelehnt werden.“

5.        Art. 13 des Übereinkommens lautet:

„Ungeachtet des Artikels 12 ist das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist,

a)      dass die Person, Behörde oder sonstige Stelle, der die Sorge für die Person des Kindes zustand, das Sorgerecht zur Zeit des Verbringens oder Zurückhaltens tatsächlich nicht ausgeübt, dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt hat oder

b)      dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.

Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde kann es ferner ablehnen, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn festgestellt wird, dass sich das Kind der Rückgabe widersetzt und dass es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen.

Bei Würdigung der in diesem Artikel genannten Umstände hat das Gericht oder die Verwaltungsbehörde die Auskünfte über die soziale Lage des Kindes zu berücksichtigen, die von der zentralen Behörde oder einer anderen zuständigen Behörde des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes erteilt worden sind.“

B.      Unionsrecht

1.      Verordnung Nr. 2201/2003

6.        Der fünfte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:

„Um die Gleichbehandlung aller Kinder sicherzustellen, gilt diese Verordnung für alle Entscheidungen über die elterliche Verantwortung, einschließlich der Maßnahmen zum Schutz des Kindes, ohne Rücksicht darauf, ob eine Verbindung zu einem Verfahren in Ehesachen besteht.“

7.        Im zehnten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 heißt es:

„Diese Verordnung soll weder für Bereiche wie die soziale Sicherheit oder Maßnahmen allgemeiner Art des öffentlichen Rechts in Angelegenheiten der Erziehung und Gesundheit noch für Entscheidungen über Asylrecht und Einwanderung gelten. …“

8.        Der 17. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:

„Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes sollte dessen Rückgabe unverzüglich erwirkt werden; zu diesem Zweck sollte das Haager Übereinkommen [von] 1980, das durch die Bestimmungen dieser Verordnung und insbesondere des Artikels 11 ergänzt wird, weiterhin Anwendung finden. Die Gerichte des Mitgliedstaats, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde oder in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird, sollten dessen Rückgabe in besonderen, ordnungsgemäß begründeten Fällen ablehnen können. Jedoch sollte eine solche Entscheidung durch eine spätere Entscheidung des Gerichts des Mitgliedstaats ersetzt werden können, in dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Sollte in dieser Entscheidung die Rückgabe des Kindes angeordnet werden, so sollte die Rückgabe erfolgen, ohne dass es in dem Mitgliedstaat, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde, eines besonderen Verfahrens zur Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidung bedarf.“

9.        In Art. 1 („Anwendungsbereich“) der Verordnung Nr. 2201/2003 heißt es:

„(1)      Diese Verordnung gilt, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen mit folgendem Gegenstand:

b)      die Zuweisung, die Ausübung, die Übertragung sowie die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Verantwortung.

(2)      Die in Absatz 1 Buchstabe b) genannten Zivilsachen betreffen insbesondere:

a)      das Sorgerecht und das Umgangsrecht,

…“

10.      Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung Nr. 2201/2003 sieht vor:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

7.      ‚elterliche Verantwortung‘ die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Elterliche Verantwortung umfasst insbesondere das Sorge- und das Umgangsrecht;

9.      ‚Sorgerecht‘ die Rechte und Pflichten, die mit der Sorge für die Person eines Kindes verbunden sind, insbesondere das Recht auf die Bestimmung des Aufenthaltsortes des Kindes;

11.      ‚widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes‘ das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes, wenn

a)      dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte,

und

b)      das Sorgerecht zum Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, wenn das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte. Von einer gemeinsamen Ausübung des Sorgerechts ist auszugehen, wenn einer der Träger der elterlichen Verantwortung aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes nicht ohne die Zustimmung des anderen Trägers der elterlichen Verantwortung über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen kann.“

11.      Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„(1)      Beantragt eine sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des Haager Übereinkommens [von 1980], um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so gelten die Absätze 2 bis 8.

(4)      Ein Gericht kann die Rückgabe eines Kindes aufgrund des Artikels 13 [Absatz 1] Buchstabe b) des Haager Übereinkommens von 1980 nicht verweigern, wenn nachgewiesen ist, dass angemessene Vorkehrungen getroffen wurden, um den Schutz des Kindes nach seiner Rückkehr zu gewährleisten.“

2.      Verordnung Nr. 604/2013

12.      Art. 12 der Verordnung Nr. 604/2013 bestimmt:

„(1)      Besitzt der Antragsteller einen gültigen Aufenthaltstitel, so ist der Mitgliedstaat, der den Aufenthaltstitel ausgestellt hat, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.

(3)      Besitzt der Antragsteller mehrere gültige Aufenthaltstitel oder Visa verschiedener Mitgliedstaaten, so sind die Mitgliedstaaten für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz in folgender Reihenfolge zuständig:

a)      der Mitgliedstaat, der den Aufenthaltstitel mit der längsten Gültigkeitsdauer erteilt hat, oder bei gleicher Gültigkeitsdauer der Mitgliedstaat, der den zuletzt ablaufenden Aufenthaltstitel erteilt hat;

b)      der Mitgliedstaat, der das zuletzt ablaufende Visum erteilt hat, wenn es sich um gleichartige Visa handelt;

c)      bei nicht gleichartigen Visa der Mitgliedstaat, der das Visum mit der längsten Gültigkeitsdauer erteilt hat, oder bei gleicher Gültigkeitsdauer der Mitgliedstaat, der das zuletzt ablaufende Visum erteilt hat.

…“

13.      Art. 29 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 lautet:

„Die Überstellung des Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat.

Wenn Überstellungen in den zuständigen Mitgliedstaat in Form einer kontrollierten Ausreise oder in Begleitung erfolgen, stellt der Mitgliedstaat sicher, dass sie in humaner Weise und unter uneingeschränkter Wahrung der Grundrechte und der Menschenwürde durchgeführt werden.

Erforderlichenfalls stellt der ersuchende Mitgliedstaat dem Antragsteller ein Laissez-passer aus. Die Kommission gestaltet im Wege von Durchführungsrechtsakten das Muster des Laissez-passer. Diese Durchführungsrechtsakte werden gemäß dem in Artikel 44 Absatz 2 genannten Prüfverfahren erlassen.

Der zuständige Mitgliedstaat teilt dem ersuchenden Mitgliedstaat gegebenenfalls mit, dass die betreffende Person eingetroffen ist oder dass sie nicht innerhalb der vorgegebenen Frist erschienen ist.“

C.      Finnisches Recht

14.      Die Rückgabe des Kindes ist im Laki lapsen huollosta ja tapaamisoikeudesta 361/1983 (Gesetz über das Sorgerecht und das Umgangsrecht) in der durch das Gesetz 186/1994 geänderten Fassung geregelt. Seine Bestimmungen entsprechen denen des Haager Übereinkommens von 1980.

III. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15.      Aus der Vorlageentscheidung und den Antworten auf die Ersuchen des Gerichtshofs um Vorlage von Dokumenten und Informationen geht hervor, dass sich im Ausgangsrechtsstreit zwei iranische Staatsangehörige gegenüberstehen, die Eltern eines 20 Monate alten Kindes sind.

16.      Im Jahr 2016 wohnten der Vater und die Mutter in Finnland. Dort besaß die Mutter aufgrund familiärer Bindungen (Aufenthaltstitel des Vaters als Arbeitnehmer) einen Aufenthaltstitel für die Dauer von vier Jahren ab dem 28. Dezember 2017. Im Mai 2019 zogen die Eltern nach Schweden, und die Mutter erhielt dort einen Aufenthaltstitel aus familiären Gründen für die Zeit vom 11. März 2019 bis zum 16. September 2020. In Schweden wurde am 5. September 2019 ein gemeinsames Kind geboren, für das beide Eltern gemeinsam sorgeberechtigt waren.

17.      Mit Bescheid vom 11. November 2019 brachten die schwedischen Behörden die Mutter und das Kind in einem Frauenhaus unter, nachdem die Mutter Opfer ehelicher Gewalt geworden war; dieser Bescheid wurde durch Urteil vom 17. Januar 2020 bestätigt. Am 21. November 2019 beantragte der Vater, dem Kind wegen dessen familiärer Bindung zu ihm einen Aufenthaltstitel für Schweden zu erteilen. Am 4. Dezember 2019 stellte auch die Mutter für das Kind einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für Schweden. Am 7. August 2020 beantragte die Mutter bei den zuständigen schwedischen Behörden internationalen Schutz für sich und das Kind, wobei sie sich darauf berief, dass der Vater ihr gegenüber häusliche Gewalt ausgeübt habe und dass sie bei einer Rückkehr in den Iran seitens der Familie des Vaters von Gewalt im Namen der Ehre bedroht wäre. Am 27. August 2020 teilte die Republik Finnland dem Königreich Schweden mit, dass sie gemäß Art. 12 Abs. 3 der Verordnung Nr. 604/2013 für die Prüfung dieses Antrags zuständig sei.

18.      Am 27. Oktober 2020 erklärte die schwedische Einwanderungsbehörde den Asylantrag der Mutter und des Kindes für unzulässig, erklärte den vom Vater für das Kind gestellten Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels wegen familiärer Bindungen für erledigt und beschloss, die Mutter und das Kind gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 nach Finnland zu überstellen. Am 24. November 2020 fand die Überstellung gemäß Art. 29 der Verordnung statt, was zur Aufhebung der Entscheidung über die Inobhutnahme und Unterbringung des Kindes führte. Am 11. Januar 2021 stellte die Mutter in Finnland einen Asylantrag für sich und das Kind, dessen Prüfung noch im Gange ist.

19.      Der Vater erhob am 7. Dezember 2020 Klage gegen die Entscheidung der schwedischen Einwanderungsbehörde vom 27. Oktober 2020, seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für erledigt zu erklären und das Kind nach Finnland zu überstellen. Am 21. Dezember 2020 hob ein schwedisches Gericht den Bescheid wegen fehlender Anhörung des Vaters auf und verwies die Sache an die Behörde zurück. Nach erneuter Prüfung beschloss diese am 29. Dezember 2020, die das Kind betreffenden Verfahren wegen dessen Ausreise aus dem schwedischen Hoheitsgebiet einzustellen. Ein schwedisches Gericht entschied am 6. April 2021 über die vom Vater am 19. Januar 2021 gegen den Beschluss vom 29. Dezember 2020 erhobene Klage; es wies dessen Anträge und insbesondere den Antrag auf Rückgabe des Kindes nach Schweden gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 zurück. Nach den Angaben der schwedischen Einwanderungsbehörde verfügt das Kind derzeit nicht über einen Aufenthaltstitel für Schweden, so dass es nicht in dieses Land einreisen darf.

20.      Parallel dazu hielt ein schwedisches Gericht durch eine im November 2020 ergangene einstweilige Anordnung das gemeinsame Sorgerecht beider Elternteile vorläufig aufrecht. Mit Urteil vom 29. April 2021 sprach dieses Gericht die Scheidung der Eltern aus, übertrug der Mutter mit sofortiger Wirkung das alleinige Sorgerecht für das Kind, wies den Antrag des Vaters auf Einräumung eines Umgangsrechts zurück und stellte fest, dass die genannte einstweilige Anordnung hinfällig sei.

21.      Am 21. Dezember 2020 stellte der Vater beim Hovioikeus (Berufungsgericht) Helsinki einen Antrag auf sofortige Rückgabe des Kindes nach Schweden, den er mit dessen widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten begründete. Am 25. Februar 2021 lehnte dieses Gericht seinen Antrag ab. Der Vater legte dagegen ein Rechtsmittel beim Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof, Finnland) ein, das im Rahmen der Prüfung dieses Rechtsmittels am 23. April 2021 beschlossen hat, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 in Bezug auf das widerrechtliche Verbringen eines Kindes dahin auszulegen, dass es sich um eine Situation im Sinne dieser Vorschrift handelt, wenn ein Elternteil das Kind ohne Zustimmung des anderen Elternteils aufgrund eines auf die Verordnung Nr. 604/2013 gestützten Überstellungsbeschlusses einer Behörde aus dem Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts in einen anderen, für das Verfahren zuständigen Mitgliedstaat verbracht hat?

2.      Ist Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 für den Fall, dass die erste Frage verneint wird, in Bezug auf ein widerrechtliches Zurückhalten dahin auszulegen, dass es sich um eine Situation im Sinne dieser Vorschrift handelt, wenn ein Gericht im Staat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes die Überstellungsentscheidung einer Behörde für nichtig erklärt hat, das Verfahren eingestellt wurde, nachdem das Kind und die Mutter den Staat ihres gewöhnlichen Aufenthalts verlassen haben, aber das Kind, dessen Rückgabe verlangt wird, weder über einen gültigen Aufenthaltstitel im Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts verfügt noch über das Recht, in diesen Staat einzureisen oder sich dort aufzuhalten(4)?

3.      Sofern Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 im Licht der Antwort auf die erste oder die zweite Frage dahin auszulegen ist, dass es sich um ein widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten handelt und das Kind somit in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts zurückzugeben ist, ist Art. 13 Abs. 1 Buchst. b des Haager Übereinkommens von 1980 dann dahin auszulegen, dass er einer Rückgabe des Kindes entgegensteht, weil

a)      ein Säugling, der unmittelbar von seiner Mutter versorgt worden ist, in die schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens im Sinne dieser Bestimmung geraten oder auf andere Weise in eine unzumutbare Lage gebracht würde, wenn er allein zurückkehren würde, oder

b)      das Kind im Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts in Obhut genommen und entweder allein oder zusammen mit seiner Mutter in einem Frauenhaus untergebracht würde, womit eine schwerwiegende Gefahr im Sinne dieser Bestimmung verbunden wäre, dass die Rückgabe zu einem körperlichen oder seelischen Schaden für das Kind führen würde oder es auf andere Weise in eine unzumutbare Lage brächte, oder

c)      das Kind mangels eines gültigen Aufenthaltstitels in eine unzumutbare Lage im Sinne dieser Bestimmung gebracht würde?

4.      Sofern im Licht der Antwort auf die dritte Frage die Ablehnungsgründe in Art. 13 Abs. 1 Buchst. b des Haager Übereinkommens von 1980 dahin ausgelegt werden können, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt, ist dann Art. 11 Abs. 4 der Verordnung Nr. 2201/2003 in Verbindung mit Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie dem Begriff des Kindeswohls im Sinne der Verordnung dahin auszulegen, dass in einer Situation, in der das Kind und die Mutter im Staat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes keinen gültigen Aufenthaltstitel und somit kein Recht auf Einreise und Aufenthalt haben, der Staat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes angemessene Vorkehrungen treffen muss, um einen legalen Aufenthalt des Kindes und seiner Mutter in diesem Mitgliedstaat zu gewährleisten?

Ist, wenn im Staat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes eine derartige Verpflichtung besteht, der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten dahin auszulegen, dass er es dem übergebenden Mitgliedstaat erlaubt, sich auf die Erfüllung dieser Verpflichtung durch den Staat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes zu verlassen, oder gebietet das Wohl des Kindes, dass von den Behörden des Staats des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes eine Auskunft über die Maßnahmen, die tatsächlich ergriffen wurden oder werden, eingeholt wird, damit der übergebende Mitgliedstaat u. a. beurteilen kann, ob die Maßnahmen im Hinblick auf das Kindeswohl angemessen sind?

5.      Ist, sofern für den Staat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes die in der vierten Frage bezeichnete Verpflichtung, angemessene Vorkehrungen zu treffen, nicht besteht, Art. 20 des Haager Übereinkommens von 1980 in den in der dritten Vorlagefrage Buchst. a bis c genannten Fallkonstellationen im Licht von Art. 24 der Charta dahin auszulegen, dass er einer Rückgabe des Kindes entgegensteht, weil sie als Verstoß gegen die Grundwerte über den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Sinne von Art. 20 angesehen werden könnte?

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof

22.      Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilverfahren zu unterwerfen. Die Erste Kammer des Gerichtshofs hat am 12. Mai 2021 auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, diesem Antrag stattzugeben.

23.      Am 21. Mai 2021 hat das vorlegende Gericht auf das informelle Auskunftsersuchen des Gerichtshofs geantwortet. Mit Schriftsatz vom 31. Mai 2021 hat die schwedische Regierung die schriftlichen Fragen des Gerichtshofs beantwortet und die von ihm angeforderten Unterlagen vorgelegt.

24.      Die Beklagte des Ausgangsverfahrens, die finnische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Sie und der Kläger des Ausgangsverfahrens haben in der Sitzung vom 28. Juni 2021 mündlich verhandelt.

V.      Würdigung

A.      Zur ersten und zur zweiten Frage

1.      Vorbemerkungen

25.      Erstens geht aus dem Wortlaut der ersten beiden Vorlagefragen hervor, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, welche Folgen eine nach der Verordnung Nr. 604/2013 ergangene Entscheidung über die Überstellung eines Kindes und seiner Mutter für die Einstufung als „widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten“ im Sinne von Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 hat. Diese beiden Fragen weisen somit Gemeinsamkeiten auf, so dass es mir angebracht erscheint, sie zusammen zu prüfen.

26.      Zweitens hat das vorlegende Gericht die Fragen nach der Auslegung von Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 unter der Prämisse gestellt, dass diese Vorschrift auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar ist, was die Beklagte des Ausgangsverfahrens sowie die Kommission bestreiten. Da die Anwendbarkeit der Bestimmungen der Verordnung Nr. 2201/2003 eine Schwierigkeit aufwirft und in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof erörtert worden ist, ist zu prüfen, ob eine Situation wie die in der Vorlageentscheidung beschriebene in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt(5). Wenn ja, werden die für die Einstufung als „widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten“ maßgebenden Kriterien zu prüfen sein.

2.      Zur Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 2201/2003

27.      Die Beklagte des Ausgangsverfahrens macht, unterstützt durch die Kommission, geltend, zum einen gehöre die Anwendung der Verordnung Nr. 604/2013 zur Ausübung hoheitlicher Gewalt durch die Mitgliedstaaten, die nichts mit den zivilrechtlichen Fragen zu tun habe, auf die sich die Verordnung Nr. 2201/2003 beziehe, und zum anderen würden Entscheidungen über das Asyl- und Einwanderungsrecht ausdrücklich vom Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 ausgenommen.

28.      Ich kann mich dem nicht anschließen. Die Verordnung Nr. 2201/2003 gilt nach ihrem Art. 1 Abs. 1 Buchst. b für Zivilsachen, die die Zuweisung, die Ausübung oder die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Verantwortung zum Gegenstand haben. In diesem Rahmen hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass der Begriff „Zivilsachen“ nicht restriktiv zu verstehen ist, sondern als autonomer Begriff des Unionsrechts, der insbesondere alle Anträge, Maßnahmen oder Entscheidungen über die „elterliche Verantwortung“ erfasst, zu denen im Licht des fünften Erwägungsgrundes der Verordnung Maßnahmen zum Schutz des Kindes gehören(6). Im Einklang mit dieser weiten Auslegung hat der Gerichtshof in den Begriff „Zivilsachen“ auch Schutzmaßnahmen einbezogen, die selbst nach dem Recht der Mitgliedstaaten zum öffentlichen Recht gehören(7). Wenn man den Begriff „Zivilsachen“ so versteht, muss deshalb geprüft werden, ob eine Maßnahme, unabhängig von ihrer Einstufung, ihrer Natur nach zum Schutz des Kindes beiträgt.

29.      In Anbetracht dessen bin ich der Ansicht, dass unter den hier gegebenen besonderen Umständen die in Anwendung der Verordnung Nr. 604/2013 erfolgte Überstellung des Kindes in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 fällt. Die Überstellungsentscheidung ist nämlich nicht isoliert zu betrachten, sondern im Rahmen des gesamten Verfahrens, zu dem sie gehört. Daraus folgt, dass die Überstellung nicht von dem Antrag auf internationalen Schutz getrennt werden kann, auf den sie unmittelbar zurückgeht. Im vorliegenden Fall hat der Antrag auf internationalen Schutz zum Gegenstand(8), dem Kind einen dauerhaften Status zu verschaffen, der ihn vor einer ihm möglicherweise drohenden Gefahr schützt. Folglich stellt dieser Antrag eine Maßnahme zum Schutz des Kindes dar und gehört daher zu den „Zivilsachen“ im Sinne von Art. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003.

30.      Dieses Ergebnis wird meines Erachtens nicht durch den zehnten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 in Frage gestellt, wonach diese Verordnung „für Entscheidungen über Asylrecht und Einwanderung“ nicht „gelten soll“. Aus der Verwendung dieser Formulierung(9) schließe ich, dass der Unionsgesetzgeber nicht systematisch alle das Asylrecht betreffenden Entscheidungen von den „Zivilsachen“ ausschließen wollte. Eine solche Analyse steht überdies im Einklang mit dem weiten Ansatz des Gerichtshofs, wonach im Licht des fünften Erwägungsgrundes dieser Verordnung Maßnahmen zum Schutz des Kindes, die dem öffentlichen Recht unterliegen, zu den „Zivilsachen“ gehören.

31.      Über den Wortlaut des zehnten Erwägungsgrundes hinaus, der jedenfalls rechtlich nicht verbindlich ist(10), ergibt sich aus den Bestimmungen der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht, dass Entscheidungen, die das Asylrecht betreffen, grundsätzlich von ihrem Anwendungsbereich ausgeschlossen sind. Zur Stützung dieser Analyse weise ich darauf hin, dass diese Entscheidungen in Art. 1 Abs. 3 der Verordnung, in dem die von ihrem Anwendungsbereich ausgenommenen Bereiche abschließend aufgezählt werden, nicht aufgeführt sind(11). Überdies kann nicht damit argumentiert werden, dass die Aufzählung der Zivilsachen in Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 die das Asylrecht betreffenden Entscheidungen nicht enthalte. Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, impliziert die Verwendung des Wortes „insbesondere“ in Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 nämlich, dass die Aufzählung in dieser Bestimmung lediglich beispielhaft ist(12).

32.      Nach alledem bin ich entgegen dem Vorbringen der Kommission und der Beklagten des Ausgangsverfahrens der Ansicht, dass die das Asylrecht betreffenden Entscheidungen in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 fallen, sofern sie wie im vorliegenden Fall den Charakter einer Maßnahme zum Schutz des Kindes haben.

3.      Zur Einstufung als „widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten“

33.      Nach dem vorstehend beschriebenen Gedankengang ist jedes der Kriterien zu analysieren, anhand deren sich ein Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes als „widerrechtlich“ qualifizieren lässt, und im Licht der Umstände des Einzelfalls ist zu prüfen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind.

34.      Insoweit wird in Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003, dessen Wortlaut dem von Art. 3 des Haager Übereinkommens von 1980 sehr nahekommt, das widerrechtliche Verbringen und Zurückhalten in einer einzigen Definition umschrieben. Gestützt auf diese Definition hat der Gerichtshof ausgeführt, dass ein Verbringen oder Zurückhalten dann widerrechtlich im Sinne von Art. 2 Nr. 11 der Verordnung ist, wenn das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ursprungsmitgliedstaat hatte und wenn das nach dem Recht dieses Mitgliedstaats übertragene Sorgerecht verletzt wird(13). Daraus folgt, dass die Einstufung als „widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten“ im Wesentlichen auf den beiden kumulativen Begriffen des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes und der Verletzung des Sorgerechts beruht. Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, sind daher diese beiden Begriffe nacheinander zu prüfen.

a)      Zum gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes

35.      Der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ findet sich in der Verordnung Nr. 2201/2003 aus zwei verschiedenen Blickwinkeln. Zum einen stellt er nach Art. 2 Nr. 11 und Art. 11 der Verordnung ein Schlüsselelement für die Qualifizierung des „widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens“ und des in einem solchen Fall vorgesehenen Rückgabeverfahrens dar. Zum anderen hat er im Rahmen der Art. 8 bis 10 der Verordnung den Charakter eines allgemeinen Kriteriums für die gerichtliche Zuständigkeit(14). Da der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ in der Verordnung Nr. 2201/2003 einheitlich auszulegen ist, hat der Gerichtshof entschieden, dass seine im Rahmen der Art. 8 und 10 der Verordnung vorgenommene Auslegung auf Art. 2 Nr. 11 und Art. 11 der Verordnung übertragbar ist(15).

36.      Die Verordnung Nr. 2201/2003 enthält keine Definition des „gewöhnlichen Aufenthalts“, auch wenn die Verwendung dieses Adjektivs impliziert, dass der Aufenthalt des Kindes eine gewisse Beständigkeit oder Regelmäßigkeit aufweist(16), und sie verweist auch nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten. Der Gerichtshof hat daraus abgeleitet, dass der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ autonom, unter Berücksichtigung des Kontexts der Bestimmungen der Verordnung Nr. 2201/2003 und des mit ihr verfolgten Ziels auszulegen ist, das nach ihrem zwölften Erwägungsgrund u. a. darin besteht, sie dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe auszugestalten(17).

37.      Auf dieser Grundlage hat der Gerichtshof entschieden, dass unter dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 der Ort zu verstehen ist, an dem sich nach den Umständen des Einzelfalls sein tatsächlicher Lebensmittelpunkt befindet(18). Im Rahmen dieses konkreten Ansatzes sind neben der körperlichen Anwesenheit des Kindes in einem Mitgliedstaat die Faktoren heranzuziehen, die zeigen können, dass es sich nicht nur um eine vorübergehende oder gelegentliche Anwesenheit handelt und dass der Aufenthalt des Kindes Ausdruck einer gewissen Integration in ein stabiles soziales und familiäres Umfeld ist(19). Dabei ist in jedem Einzelfall ein Bündel übereinstimmender Indizien wie die Dauer, die Regelmäßigkeit, die Umstände und Gründe des Aufenthalts des Kindes im Hoheitsgebiet der verschiedenen in Rede stehenden Mitgliedstaaten, Ort und Umstände seiner Einschulung sowie die familiären und sozialen Beziehungen des Kindes in diesen Mitgliedstaaten heranzuziehen(20).

38.      Überdies hat der Gerichtshof, wenn es sich wie hier um ein Kleinkind handelt, entschieden, dass die Beurteilung der Integration des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld nicht von den Umständen des Aufenthalts der Personen losgelöst werden kann, von denen es abhängt(21). Das Umfeld eines Kindes von geringem Alter besteht nämlich weitgehend aus der Familie und wird durch die Bezugsperson oder ‑personen bestimmt, mit denen es zusammenlebt, die es tatsächlich betreuen und die für es sorgen(22) – in der Regel seine Eltern. Wenn ein solches Kind ständig bei seinen Eltern lebt, hängt die Bestimmung seines gewöhnlichen Aufenthalts folglich davon ab, wo sich seine Eltern dauerhaft aufhalten und in ein soziales und familiäres Umfeld integriert sind(23). Zur Feststellung dieses Ortes ist eine Reihe tatsächlicher Gesichtspunkte zu prüfen, zu denen u. a. die Dauer, die Regelmäßigkeit, die Umstände und Gründe des Aufenthalts der Eltern in dem oder den betreffenden Mitgliedstaaten, ihre Sprachkenntnisse, ihre geografische und familiäre Herkunft sowie die familiären und sozialen Beziehungen gehören, die sie dort pflegen. Diese objektiven Indizien können gegebenenfalls durch die Berücksichtigung der Absicht der sorgeberechtigten Eltern, sich mit dem Kind an einem bestimmten Ort niederzulassen, ergänzt werden, wenn sie die tatsächliche Integration der Eltern und damit des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld zum Ausdruck bringt(24).

39.      Wie Generalanwalt Saugmandsgaard Øe in der Rechtssache UD ausgeführt hat, hat der Gerichtshof einen „hybriden“ Ansatz entwickelt, wonach der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes zum einen anhand objektiver, den Aufenthalt des Kindes an einem bestimmten Ort kennzeichnender Faktoren zu ermitteln ist und zum anderen anhand von Umständen, die mit dem Aufenthalt seiner Eltern zusammenhängen, sowie ihren Absichten hinsichtlich des Aufenthaltsorts des Kindes(25). Das vorlegende Gericht wird auf der Grundlage dieser Gesichtspunkte unter Berücksichtigung aller besonderen tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zu prüfen haben, ob sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes unmittelbar vor dem behaupteten widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten in Schweden befand.

40.      Um dem vorlegenden Gericht sachdienliche Hinweise zu geben, möchte ich hinsichtlich der Einstufung als „widerrechtliches Verbringen“ allerdings darauf hinweisen, dass das Kind und seine Mutter am 24. November 2020 nach Finnland überstellt wurden. Zuvor wohnte das Kind seit seiner Geburt am 5. September 2019 in Schweden, während seine sorgeberechtigten Eltern dort seit Mai 2019 lebten und über einen Aufenthaltstitel verfügten. Daraus folgt, dass – vorbehaltlich zusätzlicher, dem vorlegenden Gericht bekannter Gesichtspunkte – erwiesen zu sein scheint, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes vor dem Verbringen in Schweden befand.

41.      Dagegen scheint mir unter dem Blickwinkel der Einstufung als „Zurückhalten“ keineswegs festzustehen, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes nach den oben genannten Kriterien unmittelbar vor dem behaupteten widerrechtlichen Zurückhalten weiterhin in Schweden befand. Wie ich bereits hervorgehoben habe, hängt der gewöhnliche Aufenthalt eines Kleinkinds eng mit dem der Referenzpersonen zusammen, mit denen es lebt, die es tatsächlich betreuen und die für es sorgen. Aus den dem Gerichtshof übermittelten Angaben ergibt sich aber, dass das Kind wegen der von den schwedischen Behörden im Anschluss an das Verhalten des Vaters getroffenen Entscheidungen fast keinen Kontakt mehr zu ihm hat und bei seiner Mutter lebt. Im Übrigen weise ich darauf hin, dass die Verbringung des Kindes nach Finnland infolge einer unmittelbar vollstreckbaren Überstellungsentscheidung auf dem von der Mutter im Namen des Kindes gestellten Antrag auf internationalen Schutz beruht und dass sich das Kind seit seiner Überstellung mit seiner Mutter in diesem Land aufhält(26) und nicht nach Schweden einreisen oder sich dort aufhalten darf. Meines Erachtens können solche Gesichtspunkte, die von der Verankerung des Kindes in Finnland zeugen, bei der Bestimmung seines gewöhnlichen Aufenthalts in sachdienlicher Weise berücksichtigt werden und sich als entscheidend für die Schlussfolgerung erweisen, dass kein widerrechtliches Zurückhalten vorliegt.

b)      Zur Verletzung des Sorgerechts

42.      Aus Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 ergibt sich, dass das Verbringen oder Zurückhalten des Kindes widerrechtlich ist, wenn dadurch die tatsächliche Ausübung eines Sorgerechts beeinträchtigt wird, das nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Mit anderen Worten setzt die Widerrechtlichkeit des Verbringens oder Zurückhaltens eines Kindes für die Zwecke der Anwendung der Verordnung Nr. 2201/2003 notwendigerweise das Bestehen eines durch das anwendbare nationale Recht verliehenen Sorgerechts voraus, das durch das Verbringen oder Zurückhalten verletzt wurde.

43.      Im vorliegenden Fall möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das im Rahmen einer Überstellung erfolgte Verbringen des Kindes in den für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat und sein Verbleib in diesem Staat eine Verletzung des Sorgerechts darstellen können. Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, muss nicht nur der Begriff „Sorgerecht“ klar umrissen, sondern vor allem der Begriff der Verletzung dieses Rechts näher definiert werden. Zum letztgenannten Punkt weise ich vorab darauf hin, dass das Verbringen des Kindes auf der Verordnung Nr. 604/2013 beruht; dieser Umstand zeigt meines Erachtens, dass die Verletzung des Sorgerechts notwendigerweise voraussetzt, dass dem für das widerrechtliche Verbringen oder Zurückhalten Verantwortlichen die Schaffung von Tatsachen anzulasten ist.

1)      Tatsächliche Ausübung eines Sorgerechts

44.      Auf der Grundlage der Definition in Art. 2 Nr. 9 der Verordnung Nr. 2201/2003 hat der Gerichtshof entschieden, dass der Begriff „Sorgerecht“ ein einheitlich auszulegender autonomer Begriff ist und dass das Sorgerecht für die Zwecke der Anwendung dieser Verordnung jedenfalls das Recht des Sorgerechtsinhabers umfasst, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen(27). Während der Begriff des Sorgerechts im Unionsrecht definiert wird, verweist Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 für die Bestimmung des Inhabers dieses Rechts auf die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Nach dem Wortlaut dieses Artikels hängt die Widerrechtlichkeit des Verbringens oder Zurückhaltens eines Kindes nämlich davon ab, dass ein Sorgerecht „aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte“. Folglich unterliegt die Übertragung des Sorgerechts auf beide Elternteile oder auf einen von ihnen allein dem Recht des Ursprungsmitgliedstaats.

45.      Daraus folgt, dass das vorlegende Gericht zu klären haben wird, ob der Vater über ein von dem Mitgliedstaat, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, eingeräumtes Sorgerecht verfügte, aufgrund dessen er berechtigt war, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen. Hierzu weise ich darauf hin, dass nach den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen das Sorgerecht bis zum Urteil vom 29. April 2021, mit dem ein schwedisches Gericht der Mutter mit sofortiger Wirkung das alleinige Sorgerecht zuerkannt hat, vom Vater und von der Mutter gemeinsam ausgeübt wurde(28).

46.      Zu diesem ersten rechtlichen Kriterium des Bestehens des Sorgerechts kommt ein zweites Kriterium faktischerer Art hinzu. Nach Art. 2 Nr. 11 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 ist das Verbringen oder Zurückhalten nur dann widerrechtlich, wenn das Sorgerecht „zum Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, wenn das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte“. Diese zusätzliche Voraussetzung ist logisch, da die Einstufung als „widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten“ die Anwendung des in der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehenen Mechanismus der sofortigen Rückgabe des Kindes impliziert. Würde es ausreichen, dass das Sorgerecht theoretisch besteht, obwohl es keine oder nur sehr wenige konkrete Ausprägungen hat, stünde die Durchführung eines Verfahrens zur sofortigen Rückgabe nicht im Einklang mit dem Ziel dieser Verordnung, die grundlegenden Interessen des Kindes zu schützen.

47.      Der Gerichtshof hatte meines Wissens noch keine Gelegenheit, die Bedeutung des Kriteriums der tatsächlichen Ausübung des Sorgerechts ausdrücklich zu präzisieren. Generalanwalt Saugmandsgaard Øe hat jedoch in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache UD indirekt eine Definition dieses Begriffs vorgeschlagen, indem er ausgeführt hat, „dass der Elternteil, der die Sorge für das Kind nicht tatsächlich ausübt (auch wenn er Träger der elterlichen Verantwortung ist), nur insoweit zu dessen familiärem Umfeld gehört, als das Kind immer noch regelmäßigen Kontakt zu ihm hat“(29). Überdies findet sich der Begriff der tatsächlichen Ausübung des Sorgerechts auch im Haager Übereinkommen von 1980, in dessen Art. 3 widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten nahezu gleichlautend mit Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 definiert wird. Wie aus dem Erläuternden Bericht zu diesem Übereinkommen hervorgeht, ist die tatsächliche Ausübung des Sorgerechts, die anhand der besonderen Umstände jedes Einzelfalls zu prüfen ist, weit zu verstehen(30) und entspricht den Situationen, in denen sich der Sorgeberechtigte mit der Personensorge für das Kind befasst, auch wenn sie im konkreten Fall aus berechtigten Gründen nicht zusammen wohnen(31).

48.      Ich leite daraus ab, dass ein Elternteil das Sorgerecht tatsächlich ausübt, wenn er sich um die Personensorge des Kindes kümmert und regelmäßigen Kontakt zu ihm hat. Bei der Prüfung und Anwendung dieses Kriteriums sind allerdings Vorsicht und Strenge geboten, um jeder missbräuchlichen Verwendung zur Rechtfertigung des Verbringens oder Zurückhaltens eines Kindes vorzubeugen, denn sonst würde gegen das mit der Verordnung Nr. 2201/2003 verfolgte Ziel des Schutzes des Kindeswohls verstoßen. Im Rahmen seiner Beurteilung wird das vorlegende Gericht zu berücksichtigen haben, dass das Kind erst zwei Monate alt war, als wegen der Gewalttätigkeit des Vaters entschieden wurde, es zusammen mit seiner Mutter in einem Frauenhaus aufzunehmen, und dass der Vater seitdem nach den Angaben der schwedischen Behörden nur sporadisch Kontakt zu dem Kind hatte.

2)      Schaffung von Tatsachen durch die Mutter des Kindes

49.      Zur Substantiierung dieser Voraussetzung ist auf den Sinn des Begriffs „widerrechtliches Verbringen“ im Haager Übereinkommen von 1980 und in der Verordnung Nr. 2201/2003 abzustellen. In Bezug auf das Übereinkommen hat die Kommission zutreffend darauf hingewiesen, dass sich nach Nr. 11 des Erläuternden Berichts zum Haager Übereinkommen von 1980 die in Betracht kommenden Situationen aus der Schaffung von Tatsachen mit dem Ziel ergeben, künstliche internationale gerichtliche Zuständigkeiten zu begründen, um das Sorgerecht für ein Kind zu erlangen. Diese Erwägung wird in den Nrn. 12 bis 15 des Erläuternden Berichts näher ausgeführt; aus ihnen geht im Wesentlichen hervor, dass das widerrechtliche Verbringen, aufgrund dessen das Kind dem familiären und sozialen Umfeld entzogen wird, in dem sich sein Leben abspielte, darauf abzielt, von den Behörden des Landes, in das das Kind verbracht wurde, das Sorgerecht zu erlangen. Mit anderen Worten möchte derjenige, der für das widerrechtliche Verbringen verantwortlich ist, mehr oder weniger künstliche gerichtliche Zuständigkeiten herbeiführen, um die rechtliche Anerkennung der von ihm geschaffenen Tatsachen zu erreichen.

50.      Das gleiche Verständnis des widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens ergibt sich auch aus einer Prüfung der Urteile des Gerichtshofs zur Auslegung der Verordnung Nr. 2201/2003. Insoweit hat der Gerichtshof ausgeführt, „dass ein widerrechtliches Verbringen des Kindes im Anschluss an eine einseitige Entscheidung eines Elternteils … dem Kind meist die Möglichkeit [nimmt], regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu dem anderen Elternteil zu pflegen“(32). Aufgrund des gleichen Gedankengangs hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Bestimmungen der Verordnung Nr. 2201/2003, insbesondere soweit sie die sofortige Rückgabe des Kindes betreffen, verhindern sollen, „dass ein Elternteil seine Position in Bezug auf die Sorge für das Kind stärkt, indem er sich durch die Schaffung von Tatsachen der Zuständigkeit der Gerichte entzieht, die nach den insbesondere in der Verordnung vorgesehenen Regeln über die elterliche Verantwortung für das Kind zu entscheiden haben“(33).

51.      Aus diesen Ausführungen ergibt sich, dass die Verletzung des Sorgerechts, die zu einem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten führt, im Haager Übereinkommen von 1980 und in der Verordnung Nr. 2201/2003 in gleicher Weise verstanden wird. Im Sinne beider Rechtstexte besteht die Verletzung des Sorgerechts im Wesentlichen in einem widerrechtlichen Verhalten, das es dem für das Verbringen oder Zurückhalten des Kindes verantwortlichen Elternteil ermöglicht, die Regeln über die internationale gerichtliche Zuständigkeit zu umgehen. Aus alledem schließe ich, dass die Feststellung eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens entgegen dem Vorbringen der finnischen Regierung nicht allein von der rein materiellen (objektiven) Feststellung abhängt, dass das Kind ohne Zustimmung des Inhabers oder Mitinhabers des Sorgerechts vom Ort seines gewöhnlichen Aufenthalts weggebracht oder zurückgehalten worden ist. Darüber hinaus muss die Verletzung des Sorgerechts darauf beruhen, dass der für das Verbringen oder Zurückhalten des Kindes verantwortliche Elternteil Tatsachen geschaffen hat, die entgegen dem Wohl des Kindes dazu dienen, diesem Elternteil einen praktischen oder rechtlichen Vorteil zulasten des anderen Elternteils zu verschaffen.

52.      Die Besonderheit des vorliegenden Falles besteht darin, dass das Kind im Rahmen einer in Anwendung der Verordnung Nr. 604/2013 getroffenen Entscheidung, den Betroffenen und seine Mutter dem für die Prüfung der von ihr gestellten Anträge auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, verbracht wurde. Insoweit ist hervorzuheben, dass nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU(34) jeder geschäftsfähige Erwachsene befugt sein muss, im eigenen Namen einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Minderjährige müssen nach Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 das Recht haben, in den Mitgliedstaaten, in denen sie verfahrensfähig sind, im eigenen Namen internationalen Schutz zu beantragen, und in allen an diese Richtlinie gebundenen Mitgliedstaaten über einen volljährigen Vertreter, z. B. über einen Elternteil oder einen anderen volljährigen Familienangehörigen, einen solchen Antrag zu stellen. Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass es nach der Unionsregelung sowohl zulässig ist, dass mehrere Familienangehörige je einen Antrag auf internationalen Schutz stellen, als auch, dass einer von ihnen seinen Antrag zugleich im Namen eines minderjährigen Familienangehörigen stellt(35).

53.      Nach Art. 20 der Verordnung Nr. 604/2013 wird das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats durch die Stellung eines solchen Antrags eingeleitet. Nach Art. 20 Abs. 3 ist die Situation eines mit dem Antragsteller einreisenden Minderjährigen, der der Definition des Familienangehörigen entspricht, untrennbar mit der Situation seines Familienangehörigen verbunden und fällt in die Zuständigkeit des Mitgliedstaats, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz dieses Familienangehörigen zuständig ist, auch wenn der Minderjährige selbst kein Antragsteller ist, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient. Der Gerichtshof hat entschieden, dass die letztgenannte Bestimmung, soweit kein Beweis für das Gegenteil vorliegt, die Vermutung begründet, dass es dem Wohl des Kindes dient, seine Situation als untrennbar mit der seiner Eltern verbunden anzusehen(36).

54.      Die zuständige nationale Behörde, die mit einem solchen Antrag auf internationalen Schutz befasst ist, hat die Zuständigkeit für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz nicht einem nach Belieben des Klägers bestimmten Mitgliedstaat zu übertragen, sondern unter Berücksichtigung des Kindeswohls die vom Unionsgesetzgeber in Kapitel III der Verordnung Nr. 604/2013 festgelegten Kriterien für die Bestimmung des für die Prüfung des Antrags zuständigen Mitgliedstaats anzuwenden(37). Auf der Grundlage dieser Kriterien kann der Mitgliedstaat, bei dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, unter den in den Art. 21, 23 und 24 der Verordnung Nr. 604/2013 vorgesehenen Voraussetzungen einen anderen Mitgliedstaat um die Aufnahme oder Wiederaufnahme des Antragstellers ersuchen. Ist der ersuchte Staat nach den Überprüfungen gemäß den Art. 22 und 25 dieser Verordnung der Auffassung, dass er für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, wird der Antragsteller gemäß Art. 26 der Verordnung in diesen Staat überstellt.

55.      Diese Überstellungsentscheidung ist, vorbehaltlich der Inanspruchnahme der in Art. 27 der Verordnung Nr. 604/2013 vorgesehenen Rechtsbehelfe, für den Antragsteller verbindlich; er kann unter den in Art. 28 Abs. 2 der Verordnung vorgesehenen Voraussetzungen inhaftiert werden, um das Überstellungsverfahren sicherzustellen, wenn erhebliche Fluchtgefahr besteht. Nach Art. 29 der Verordnung ist die Überstellung durchzuführen, sobald dies praktisch möglich ist, spätestens jedoch innerhalb von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahmegesuchs durch den ersuchten Mitgliedstaat.

56.      Aus dieser Analyse ergibt sich, dass die Anwendung der in der Verordnung Nr. 604/2013 vorgesehenen objektiven Bestimmungskriterien für den Antragsteller, der sich nicht in dem für den Antrag auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat aufhält, die Durchführung eines für ihn verbindlichen Überstellungsverfahrens impliziert. Unter diesen Umständen kann die in Anwendung von Art. 29 der Verordnung Nr. 604/2013 erfolgte Überstellung eines Kindes im Anschluss an einen Antrag auf internationalen Schutz, der für das Kind von nur einem sorgeberechtigten, ebenfalls von der Überstellungsentscheidung erfassten Elternteil gestellt wurde, für sich genommen keine Verletzung dieses Rechts im Sinne von Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 darstellen. In einem solchen Fall ergibt sich das Verbringen des Kindes nämlich nicht aus der Schaffung von Tatsachen durch diesen Elternteil, sondern aus der Durchführung einer gesonderten Regelung, deren Anwendung sowohl für die Mitgliedstaaten als auch für die Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, zwingend ist.

57.      Etwas anderes würde gelten, wenn ein Elternteil unter dem Deckmantel eines für das Kind und sich selbst gestellten Antrags auf internationalen Schutz in Wirklichkeit Tatsachen schaffen wollte, um die in der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehenen Regeln für die gerichtliche Zuständigkeit zu umgehen(38). Für die Beurteilung der Frage, ob Tatsachen geschaffen wurden, ist zwar jedenfalls das nationale Gericht zuständig, das alle besonderen Umstände des Einzelfalls zu prüfen hat, doch scheint es mir angesichts der vom vorlegenden Gericht und von den Parteien übermittelten Informationen keinen Beleg für ein solches widerrechtliches Verhalten zu geben(39).

58.      Aus den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen ergibt sich nämlich kein tatsächlicher Anhaltspunkt dafür, dass die Mutter das Asylverfahren missbraucht hätte, um die in der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehenen Regeln für die gerichtliche Zuständigkeit zu umgehen(40). Hervorzuheben ist, dass die Mutter, nachdem sie bereits am 4. Dezember 2019 in Schweden einen Aufenthaltstitel für das Kind beantragt hatte, am 7. August 2020 im gleichen Land internationalen Schutz für sich selbst und ihr Kind beantragte. Dass die Mutter den Vater des Kindes nicht über den bei den schwedischen Behörden gestellten Antrag auf internationalen Schutz und dessen Fortgang informierte, stellt für sich genommen keinen Beweis für ihre betrügerische Absicht dar, zumal dieses Verhalten im Kontext mit Befürchtungen wegen der früheren ehelichen Gewalttaten steht. Wie das vorlegende Gericht hervorhebt, hat die Mutter noch am 2. September 2020 bei einem schwedischen Gericht einen Antrag auf Übertragung des ausschließlichen Sorgerechts gestellt, obwohl die Einwanderungsbehörde ihr bereits mitgeteilt hatte, dass die Republik Finnland für ihren Antrag auf internationalen Schutz für sich und das Kind zuständig sei. Außerdem hat sich die Mutter zwar freiwillig nach Finnland begeben, doch geschah dies aufgrund einer bindenden Überstellungsentscheidung, wobei davon auszugehen ist, dass sie zu deren Anfechtung nicht verpflichtet war(41) und sich der Überstellung erst recht nicht entziehen konnte.

59.      Im Einklang mit dieser Überstellungsentscheidung blieben die Mutter und das Kind anschließend ununterbrochen in Finnland, dem für die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat, in dem das Verfahren derzeit im Gange ist, wobei am 27. Mai 2021 eine Anhörung der Mutter des Kindes stattfand. Es gab weder ein Gesuch noch eine Entscheidung über die Wiederaufnahme von Mutter und Kind in Schweden, so dass sie nach wie vor die Rechtsstellung von Personen haben, die internationalen Schutz beantragt haben und sich in Finnland, dem für die Prüfung ihres Antrags zuständigen Staat, aufhalten. Mit Urteil vom 6. April 2021, das nach Angaben der Beklagten des Ausgangsverfahrens am 12. Mai 2021 rechtskräftig wurde, wies ein schwedisches Verwaltungsgericht den auf die Verordnung Nr. 604/2013 gestützten Antrag des Vaters des Kindes auf dessen Rückgabe zurück. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass derzeit weder die Mutter noch das Kind über einen Aufenthaltstitel in Schweden verfügt und dass ein für Familiensachen zuständiges Gericht dieses Mitgliedstaats der Mutter das alleinige Sorgerecht für das Kind übertragen und den Antrag des Vaters auf Gewährung von Umgang zurückgewiesen hat.

60.      Meines Erachtens sind solche Umstände geeignet, eine Verletzung des Sorgerechts und damit die Einstufung als „widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten“ auszuschließen.

B.      Zur dritten, zur vierten und zur fünften Frage

61.      Die dritte, die vierte und die fünfte Vorlagefrage betreffen die Voraussetzungen, unter denen ein mit einem Antrag auf Rückgabe befasstes Gericht diesen Antrag gemäß Art. 13 Abs. 1 Buchst. b des Haager Übereinkommens von 1980 und Art. 11 Abs. 4 der Verordnung Nr. 2201/2003 ablehnen kann, um den Schutz des Kindes sicherzustellen.

62.      Schon aus dem Wortlaut des Vorabentscheidungsersuchens ergibt sich, dass diese Fragen bedingten Charakter haben. Sie stellen sich nur dann, wenn die Antwort auf die ersten beiden Fragen den Schluss zuließe, dass unter den Umständen des Ausgangsverfahrens die Einstufung als „widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten“ des Kindes im Sinne von Art. 2 Nr. 11 der Verordnung in Betracht kommt. Wie in den vorliegenden Schlussanträgen meines Erachtens zweifelsfrei dargelegt worden ist, kommt eine solche Einstufung aber nicht in Betracht. Die dritte, die vierte und die fünfte Vorlagefrage sind daher nicht zu beantworten. Im Übrigen weise ich darauf hin, dass die Beklagte des Ausgangsverfahrens in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, dass das Rechtsmittel des Vaters gegen das Urteil vom 29. April 2021, mit dem der Mutter das alleinige Sorgerecht für das gemeinsame Kind übertragen wurde, zurückgewiesen worden sei; sofern dies zutrifft, dürften die Erörterungen vor dem vorlegenden Gericht in Bezug auf die Rückkehr des Kindes nach Schweden als beendet zu betrachten sein.

VI.    Ergebnis

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof, Finnland) wie folgt zu beantworten:

Die Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens, in der ein Kind und seine Mutter sich infolge einer Überstellungsentscheidung, die von der zuständigen Behörde des Ursprungsmitgliedstaats im Einklang mit der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, getroffen wurde, in einen Mitgliedstaat begeben haben und dort geblieben sind, nicht als widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten des Kindes im Sinne von Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 angesehen werden kann, es sei denn, es wäre erwiesen, dass die Mutter unter dem Deckmantel eines für das Kind gestellten Antrags auf internationalen Schutz Tatsachen geschaffen hat, um die in der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehenen Regeln für die gerichtliche Zuständigkeit zu umgehen; dies hat das vorlegende Gericht anhand aller besonderen Umstände des Einzelfalls zu prüfen.


1      Originalsprache: Französisch.


i      Die Nrn. 39 und 47 sowie die Fn. 18 und 33 des vorliegenden Textes sind geändert worden, nachdem er erstmals online gestellt wurde.


2      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31).


3      Verordnung des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).


4      Wiedergegeben wird hier die vom vorlegenden Gericht in seiner Antwort vom 21. Mai 2021 auf das informelle Auskunftsersuchen des Gerichtshofs umformulierte Fassung der zweiten Vorlagefrage.


5      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Dezember 2014, McCarthy u. a. (C‑202/13, EU:C:2014:2450, Rn. 30), vom 25. Juli 2018, Alheto (C‑585/16, EU:C:2018:584, Rn. 67), und vom 12. März 2020, VW (Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand bei Nichterscheinen vor Gericht) (C‑659/18, EU:C:2020:201, Rn. 22 und 23).


6      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. November 2007, C (C‑435/06, EU:C:2007:714, Rn. 46 bis 51), vom 21. Oktober 2015, Gogova (C‑215/15, EU:C:2015:710, Rn. 26), und vom 19. September 2018, C.E. und N.E. (C‑325/18 PPU und C‑375/18 PPU, EU:C:2018:739, Rn. 55)


7      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. November 2007, C (C‑435/06, EU:C:2007:714, Rn. 34, 50 und 51), vom 2. April 2009, A (C‑523/07, EU:C:2009:225, Rn. 24 und 27 bis 29), und vom 26. April 2012, Health Service Executive (C‑92/12 PPU, EU:C:2012:255, Rn. 60 und 61).


8      Im Urteil vom 21. Oktober 2015, Gogova (C‑215/15, EU:C:2015:710, Rn. 28), hat der Gerichtshof entschieden, dass auf den Gegenstand einer Klage abzustellen ist, um festzustellen, ob sie in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 fällt. Im vorliegenden Fall würde es fast genügen, den Wortlaut des fraglichen Antrags heranzuziehen.


9      Die Worte „nicht gelten soll“ sind zu unterscheiden von der verbindlicheren Formulierung „nicht gilt“.


10      Urteil vom 25. November 2020, Istituto nazionale della previdenza sociale (Familienleistungen für langfristig Aufenthaltsberechtigte) (C‑303/19, EU:C:2020:958, Rn. 26).


11      Urteil vom 13. Oktober 2016, Mikołajczyk (C‑294/15, EU:C:2016:772, Rn. 29). Ferner ist zum Wortlaut des zehnten Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 2201/2003 festzustellen, dass den Erwägungsgründen eines Unionsrechtsakts nicht nur die rechtliche Verbindlichkeit fehlt, sondern dass sie auch weder herangezogen werden können, um von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsakts abzuweichen, noch, um diese Bestimmungen in einem Sinne auszulegen, der ihrem Wortlaut offensichtlich widerspricht (Urteil vom 25. November 2020, Istituto nazionale della previdenza sociale [Familienleistungen für langfristig Aufenthaltsberechtigte], C‑303/19, EU:C:2020:958, Rn. 26).


12      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. November 2007, C (C‑435/06, EU:C:2007:714, Rn. 30).


13      Vgl. Urteil vom 9. Oktober 2014, C (C‑376/14 PPU, EU:C:2014:2268, Rn. 47).


14      Zu weiteren Einzelheiten dieser Unterscheidung vgl. die Schlussanträge von Generalanwalt Wahl in der Rechtssache OL (C‑111/17 PPU, EU:C:2017:375, Nrn. 44 bis 51).


15      Vgl. Urteile vom 9. Oktober 2014, C (C‑376/14 PPU, EU:C:2014:2268, Rn. 54), und vom 8. Juni 2017, OL (C‑111/17 PPU, EU:C:2017:436, Rn. 41).


16      Vgl. Urteile vom 22. Dezember 2010, Mercredi (C‑497/10 PPU, EU:C:2010:829, Rn. 44), und vom 17. Oktober 2018, UD (C‑393/18 PPU, EU:C:2018:835, Rn. 45).


17      Vgl. Urteile vom 2. April 2009, A (C‑523/07, EU:C:2009:225, Rn. 34 und 35), vom 22. Dezember 2010, Mercredi (C‑497/10 PPU, EU:C:2010:829, Rn. 44 bis 46), vom 9. Oktober 2014, C (C‑376/14 PPU, EU:C:2014:2268, Rn. 50), vom 8. Juni 2017, OL (C‑111/17 PPU, EU:C:2017:436, Rn. 40), vom 28. Juni 2018, HR (C‑512/17, EU:C:2018:513, Rn. 40), und vom 17. Oktober 2018, UD (C‑393/18 PPU, EU:C:2018:835, Rn. 45).


18      Vgl. Urteil vom 28. Juni 2018, HR (C‑512/17, EU:C:2018:513, Rn. 41 und 42).


19      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. April 2009, A (C‑523/07, EU:C:2009:225, Rn. 37 und 38), vom 22. Dezember 2010, Mercredi (C‑497/10 PPU, EU:C:2010:829, Rn. 44 und 47 bis 49), vom 9. Oktober 2014, C (C‑376/14 PPU, EU:C:2014:2268, Rn. 51), vom 8. Juni 2017, OL (C‑111/17 PPU, EU:C:2017:436, Rn. 42 und 43), und vom 28. Juni 2018, HR (C‑512/17, EU:C:2018:513, Rn. 41).


20      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. April 2009, A (C‑523/07, EU:C:2009:225, Rn. 39), und vom 28. Juni 2018, HR (C‑512/17, EU:C:2018:513, Rn. 43).


21      Vgl. Urteil vom 22. Dezember 2010, Mercredi (C‑497/10 PPU, EU:C:2010:829, Rn. 53 bis 55).


22      Vgl. Urteil vom 8. Juni 2017, OL (C‑111/17 PPU, EU:C:2017:436, Rn. 45).


23      Vgl. Urteil vom 28. Juni 2018, HR (C‑512/17, EU:C:2018:513, Rn. 45).


24      Vgl. Urteile vom 2. April 2009, A (C‑523/07, EU:C:2009:225, Rn. 40), und vom 8. Juni 2017, OL (C‑111/17 PPU, EU:C:2017:436, Rn. 46 und 47).


25      Vgl. die Schlussanträge von Generalanwalt Saugmandsgaard Øe in der Rechtssache UD (C‑393/18 PPU, EU:C:2018:749, Nr. 52).


26      Nach den Angaben der Mutter des Kindes besucht es tagsüber eine finnische Kinderkrippe und spricht bereits in dem für ein Kind seines Alters möglichen Umfang Finnisch. Im Urteil vom 9. Oktober 2014, C (C‑376/14 PPU, EU:C:2014:2268, Rn. 56), hat der Gerichtshof klargestellt, dass das Erfordernis, das Kindeswohl zu gewährleisten, die Berücksichtigung tatsächlicher Gesichtspunkte impliziert, die eine gewisse Integration des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld seit seinem Verbringen belegen.


27      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Oktober 2010, McB. (C‑400/10 PPU, EU:C:2010:582, Rn. 41).


28      Das Erlöschen des gemeinsamen Sorgerechts mit Wirkung vom 29. April 2021 hat zur Folge, dass die Einstufung als „widerrechtliches Zurückhalten“ jedenfalls nur für die Zeit vom 24. November 2020 bis zum 29. April 2021 möglich wäre.


29      Vgl. die Schlussanträge von Generalanwalt Saugmandsgaard Øe in der Rechtssache UD (C‑393/18 PPU, EU:C:2018:749, Nr. 94).


30      Eine Analyse der in der Datenbank Incadat (Verzeichnis der Rechtsprechung der Gerichte der Vertragsstaaten des Haager Übereinkommens von 1980) enthaltenen Entscheidungen zeigt, dass dieses weite Verständnis des Begriffs „tatsächliche Ausübung des Sorgerechts“ von den Gerichten der Mitgliedstaaten herangezogen wird.


31      Erläuternder Bericht zum Haager Übereinkommen von 1980, Pérez-Vera, E., Nrn. 72, 73 und 115 (https://assets.hcch.net/docs/a5fb103c-2ceb-4d17 87e3-a7528a0d368c.pdf).


32      Urteile vom 23. Dezember 2009, Detiček (C‑403/09 PPU, EU:C:2009:810, Rn. 56), und vom 1. Juli 2010, Povse (C‑211/10 PPU, EU:C:2010:400, Rn. 64).


33      Urteil vom 8. Juni 2017, OL (C‑111/17 PPU, EU:C:2017:436, Rn. 63). Vgl. in diesem Sinne auch Urteile vom 23. Dezember 2009, Detiček (C‑403/09 PPU, EU:C:2009:810, Rn. 57), und vom 9. Oktober 2014, C (C‑376/14 PPU, EU:C:2014:2268, Rn. 67). In den Urteilen vom 1. Juli 2010, Povse (C‑211/10 PPU, EU:C:2010:400, Rn. 43), und vom 24. März 2021, SS (C‑603/20 PPU, EU:C:2021:231, Rn. 45), verwendet der Gerichtshof den expliziteren und klareren gemeinsamen Begriff der Entführung, der auch in der Überschrift des Haager Übereinkommens von 1980 vorkommt.


34      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).


35      Vgl. Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova (C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 53 bis 55).


36      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Januar 2019, M.A. u. a. (C‑661/17, EU:C:2019:53, Rn. 87 bis 90).


37      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash (C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 54).


38      Im Urteil vom 18. Dezember 2014, McCarthy u. a. (C‑202/13, EU:C:2014:2450, Rn. 54), hat der Gerichtshof klargestellt, dass der Nachweis einer missbräuchlichen Praxis zumindest die Prüfung erfordert, ob der Betroffene versucht hat, einen aus der Unionsregelung resultierenden Vorteil zu erlangen, indem er die Voraussetzungen dafür künstlich geschaffen hat.


39      Außerdem erscheint mir angesichts dessen, dass die Kenntnis und das Verständnis des komplexen Mechanismus, den die Verordnung Nr. 604/2013 zur Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats vorsieht, objektiv schwierig sind und dass das Ergebnis eines solchen Verfahrens ungewiss ist, eine Strategie, die auf eine Umgehung der Bestimmungen dieser Norm zum Zweck der Schaffung künstlicher Anknüpfungen an die internationale gerichtliche Zuständigkeit abzielt, wenig realistisch.


40      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juni 2017, OL (C‑111/17 PPU, EU:C:2017:436, Rn. 64).


41      Im Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash (C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 54), hat der Gerichtshof im Übrigen klargestellt, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 einem „forum shopping“, das durch das Dublin-System vermieden werden soll, nicht gleichgestellt werden kann.